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Kapitel 1

Wenn ich an Beerdigungen dachte, waren sie immer trüb. Düsteres Wetter, Wolken, vielleicht auch Regen. Welke, trockene Pflanzen, kahle Bäume. Ganz gewiss brachte ich Beerdigungen nicht mit Sonnenschein, fröhlichem Vogelgezwitscher und bunten Frühlingsblumen in Verbindung.

Doch genauso war das Begräbnis meiner besten Freundin Kira.

Ich konnte es immer noch nicht glauben, auch nicht in dem Moment, als ich eine rosa Orchidee auf das frische Grab legte. Kira hatte Orchideen geliebt und rosa war bei diesen Blumen ihre Lieblingsfarbe gewesen. Auch ihr Sarg war mit rosa Orchideen und weißen Lilien geschmückt gewesen. Es hätte ihr gefallen. Der Gedanke trieb mir die Tränen in die Augen. Kira würde nie wieder etwas gefallen. Ich wischte mir über die Wangen und blickte mich um. Die anderen Trauergäste waren bereits fort, ich sah noch zwei Mädchen um eine Ecke biegen. Außer Kiras Familie und ihren engsten Freunden waren auch noch viele Mitschüler hier gewesen. Die Nachricht ihres Todes hatte uns alle geschockt und die meisten konnten gar nicht glauben, dass Kira sich selber das Leben genommen haben sollte.

Ich glaubte es auch nicht.

Kira war so glücklich gewesen in den letzten Wochen. Wir standen kurz vor dem Abi, ihre Noten waren prima und seit kurzem war sie mit ihrem neuen Freund Jonathan zusammen gewesen, der sie regelrecht auf Händen trug. Warum hätte sie sich in dieser Situation umbringen sollen? Zudem gab es noch etwas, was mich an einem Selbstmord zweifeln ließ. Unwillkürlich wanderte meine Hand zu meiner schwarzen Tasche, die ich heute mitgenommen hatte und in der mein Handy ruhte. Als mir Kiras Mutter erzählt hatte, dass man Kira im Park tot aufgefunden hatte, waren mir die letzten Nachrichten meiner besten Freundin sofort eingefallen und ich hatte sie erst Kiras Eltern und dann auch der Polizei gezeigt.

Kira hatte sich verfolgt gefühlt.

Sie hatte mir das auch geschrieben, aber ich hatte alles nur auf den Prüfungsstress geschoben. Zwar war Kira schon immer eine gute Schülerin gewesen, aber hier ging es nicht mehr nur um eine einfache Klassenarbeit, hier ging es um unser Abi. Natürlich wollten wir da beide besonders gut abschneiden und ich hatte einfach gedacht, dass sie nervös war und sich ihre Sorgen so bemerkbar machten. Mittlerweile machte ich mir Vorwürfe, dass ich ihre Ängste nicht ernster genommen hatte. Warum hatte ich bloß alles so abgewiegelt? Wir hätten mit ihren Eltern und der Polizei reden müssen, sicher hätten die doch etwas tun können. Vielleicht war es ein Stalker gewesen, der Kira für sich wollte und sie aus Eifersucht umgebracht hatte, weil sie mit Jonathan zusammen war. Möglicherweise hatte ich zu viele Krimis gelesen und schaute zu viele Nachrichten, aber ausschließen konnte man so etwas nun auch nicht. Immerhin war es doch ein sehr seltsamer Zufall, dass sie mir diese Nachrichten schickte und nur wenige Tage später tot war.

Ich verabschiedete mich leise von Kira und machte mich auf den Heimweg. Kiras Eltern hatten keine große Trauerfeier nach der eigentlichen Beerdigung geplant, sie wollten den Tag mit der Familie verbringen, was ich auch verstehen konnte. Ich hätte es wohl nicht anders gewollt, wäre ich an ihrer Stelle gewesen. Am Haupttor erwartete mich eine Überraschung. Jonathan stand dort, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben und den Blick auf den Friedhof gerichtet. Als er mich erblickte, nahm er die Hände aus den Taschen und machte einen Schritt auf mich zu.

„Hey“, begrüßte er mich, als ich ihn erreicht hatte.

„Hey.“ Einen Moment standen wir schweigend da, bis er auf die Straße wies.

„Soll ich dich mitnehmen?“

„Hast du hier extra auf mich gewartet?“ stellte ich eine Gegenfrage, setzte mich aber auch direkt wieder in Bewegung. Jonathan steckte die Hände zurück in seine Jackentaschen und zuckte kurz mit den Schultern.

„Ich … vielleicht.“ Gesprächig schien er nicht zu sein, aber das konnte ich verstehen, an diesem Tag auf jeden Fall. Seine Freundin war vor wenigen Tagen tot aufgefunden worden und heute war ihre Beerdigung gewesen. Ich war auch nicht sehr gesprächig heute, zu viel ging mir im Kopf rum. Zu all diesen Gedanken kam nun auch noch die Frage, warum Jonathan auf mich gewartet hatte. Aber eigentlich konnte ich es mir fast denken. Sicher wollte er über Kira sprechen und ich war immerhin ihre beste Freundin gewesen. Allerdings war mir gerade nicht danach mich mit irgendwem über Kira zu unterhalten. Wir erreichten seinen Wagen und er öffnete die Beifahrertür für mich.

„Danke“, murmelte ich, bevor ich einstieg und mich anschnallte. Jonathan nahm auf dem Fahrersitz Platz und startete den Wagen, schnallte sich aber erst an, als er bereits angefahren war. Er vergaß das Anschnallen gerne mal, erinnerte ich mich an eine von Kiras vielen Erzählungen über ihn. Wieder begannen meine Augen zu brennen. Kira fehlte mir, ich konnte immer noch nicht so richtig realisieren, dass sie tot war und ich sie nie wiedersehen würde. Ich drehte den Kopf zur Seite und blinzelte ein paar Mal, da ich nicht vor Jonathan weinen wollte. Wobei es in dieser Situation wohl verständlich gewesen wäre, wenn ich weinte.

Anweisungen für den Weg brauchte Jonathan nicht, immerhin hatten Kira und ich in der gleichen Straße gewohnt. Als wir an Kiras Elternhaus vorbeikamen, wanderte mein Blick direkt nach oben. Kiras Zimmer lag im oberen Stockwerk, aber auf der Rückseite des Hauses, sodass ich ihr Fenster nicht sehen konnte. Jonathan hielt schließlich vor unserem Haus und ich schnallte mich ab.

„Danke“, sagte ich leise und er nickte leicht.

„Gerne“, entgegnete er genauso leise. Dann griff er in seine Hosentasche und holte einen kleinen Zettel hervor, den er mir reichte. „Falls du magst … vielleicht hilft es uns, wenn wir uns ein wenig unterhalten.“ Ich nahm den Zettel entgegen, auf dem in klarer, sauberer Handschrift sein Name und seine Handynummer standen.

„Okay“, murmelte ich. „Aber nicht heute. Es ist … einfach zu frisch.“

„Das kann ich verstehen“, versicherte er und musterte mich aus blauen Augen, von denen Kira so viel geschwärmt hatte. „Aber wenn dir danach ist, ruf einfach an.“

„Okay. Dann bis bald“, verabschiedete ich mich. Er erwiderte den Gruß und ich stieg aus, um zum Haus zu gehen. Dort schaute ich noch einmal zu Jonathan und hob kurz die Hand. Er winkte zurück und fuhr dann wieder los, während ich ins Haus ging. Meine Eltern waren mit meiner kleinen Schwester auch bei Kiras Beerdigung gewesen, doch ich hatte nicht mit ihnen gehen, sondern noch etwas bleiben wollen. Daher waren sie auch schon da, Lena saß in der Wohnküche und malte, während Mama das Essen vorbereitete.

„Paula, hallo“, begrüßte sie mich und umarmte mich kurz.

„Hey …“ Ich lächelte schwach und nickte in Richtung der Treppe. „Ich zieh mich eben um, dann helf ich dir.“

„Ach, ich bin schon fast fertig, danke, Liebes“, winkte meine Mutter ab. Sorge lag in ihren Augen, wohl kein Wunder, immerhin war meine beste Freundin von wenigen Tagen gestorben und Mama machte sich sicher einfach Gedanken, wie es mir ging.

„Okay. Bis gleich.“ Ich ging nach oben und hing meine Tasche an einen der Haken, die an meiner Tür angebracht waren, dann schlüpfte ich aus dem schwarzen Kleid und der Strumpfhose, die ich angezogen hatte. Es war warm genug heute, dass ich keine Jacke gebraucht hatte, was auch gut so war, denn ich hatte tatsächlich keine schwarzen Jacken. Eine dunkelgraue Jeansjacke hatte ich, aber die fand ich wenig passend für eine Beerdigung. Rasch zog ich mir eine Jeans und ein schlichtes Shirt an und trat danach an meinen Schreibtisch. Das Foto von Kira und mir, das ich hier stehen hatte, war mir wieder ins Auge gefallen. Wir hatten es bei der letzten Klassenfahrt aufgenommen und trugen beide bunte Strohhüte, die wir am Strand des italienischen Ortes gekauft hatten, in dem wir gewesen waren. Mein Strohhut hing neben der riesigen Weltkarte, die ich an der Wand am Kopfende meines Bettes aufgehängt hatte. Kleine Pins mit weißen Köpfen steckten in der Karte und zeigten die Orte an, die Kira und ich nach der Schule hatten besuchen wollen. Italien steckte voll mit diesen Pins, wir liebten beide das Land, das Essen, die Sprache, einfach alles. Wir hatten auch beide in der Schule Italienisch gewählt und würden darin geprüft werden.

Nein.

Ich würde darin geprüft werden. Kira nicht.

Mir schossen Tränen in die Augen und ich setzte mich in meinen Schreibtischstuhl, um ihnen dieses Mal freien Lauf zu lassen. Als ich plötzlich eine Berührung auf meiner Schulter spürte, zuckte ich etwas zusammen, aber ein Blick zur Seite verriet mir, dass es Lena war. Sie legte die Arme um mich und ihren Kopf auf meine Schulter.

„Sei doch nicht mehr traurig. Kira ist doch nicht ganz weg. Sie wartet mit Oma und Tante Sophie auf uns und passt auf uns auf“, sagte sie und ich lächelte schwach. Lena war schon süß, aber ich konnte ihre Überzeugung nicht wirklich teilen. Anders als sie glaubte ich aber auch nicht an Gott, das hatte ich noch nie. Wir waren beide getauft, aber ich hatte nie in die Kindergottesdienste oder den Religionsunterricht gewollt, im Gegensatz zu meiner kleinen Schwester, die dies alles liebte. Abgesehen von diesem Unterschied waren wir uns aber recht ähnlich und ich hätte Lena um Nichts auf der Welt eingetauscht.

„Ich komm gleich runter, Kleine“, versprach ich und Lena zog einen Schmollmund bei dieser Betitelung.

„Ich bin nicht klein!“

„Kleiner als ich …“

„Aber die größte in meiner Klasse!“

„Dennoch kleiner als ich!“

„Und ich bin größer als Pia und die ist älter als ich!“

„Die zwei Monate machen nicht viel aus“, meinte ich und musste tatsächlich leise lachen. Es gab eigentlich nur einen Grund, warum Lena unbedingt groß sein wollte: Sie wollte wie ich die großen Pferde auf dem Reiterhof reiten, auf dem wir angemeldet waren. Kira und ich hatten mit sechs Jahren gemeinsam das Reiten begonnen und Lena hatte es vor ein paar Jahren auch unbedingt ausprobieren wollen. Eigene Pferde hatten wir nicht, aber Kira und ich hatten beide Pflegepferde. Kurz fragte ich mich, wer sich nun um Philomena, Kiras Pflegepferd, kümmern würde. Ihre Besitzerin Meike wohl nicht, sie arbeitete in einer anderen Stadt und kam nur selten zu ihren Eltern hier zu Besuch. Sie war immer völlig zufrieden mit Kira gewesen und hatte auch schon mal im Scherz gesagt, dass Philomena eigentlich schon Kiras Pferd war. Sie war auch völlig geschockt gewesen, als ich ihr von Kiras Tod erzählt hatte. Ich hatte es Katja, Kiras Mutter, angeboten auf dem Reiterhof Bescheid zu geben und mich um Philomena zu kümmern, bis Meike jemanden gefunden hatte.

„Irgendwann bin ich größer als du“, meinte Lena und ich fuhr ihr durch die Haare.

„Bestimmt. Geh schon mal runter, ich muss noch mal ins Bad“, sagte ich und Lena nickte, bevor sie mein Zimmer verließ und die Treppe runterpolterte. Ich ging ins Bad, das am Ende des Ganges lag, um mir kurz das Gesicht zu waschen. Mimi, eine unserer Katzen, thronte auf der Heizung und beobachtete mich, nur um mir in die Arme zu springen, als ich fertig war. „Hallo, Süße“, murmelte ich und vergrub das Gesicht in ihrem braungrau getigerten Fell. Sie begann leise zu schnurren und ich hielt sie einfach eine Weile so im Arm, bevor ich mich in Bewegung setzte und nach unten ging. Brina, unsere älteste Katze, schloss sich uns an und maunzte lauthals in der Küche, um auf sich aufmerksam zu machen. Lena kümmerte sich gleich um sie und ich ließ Mimi auch runter, die gleich leise maunzend zu meiner Schwester wuselte, um sich ebenfalls ein paar Streicheleinheiten abzuholen. Sie kuschelte von unseren vier Katzen am liebsten und war eigentlich immer bei jemanden von uns zu finden. Besonders gerne saß sie abends auf dem Bauch meines Vaters, während er einen Film schaute. Ihm folgte sie schon immer auf Schritt und Tritt. Dass sie jetzt nicht bei ihm war, sprach dafür, dass er im Garten war. Unsere Katzen konnten alle rausgehen, aber Mimi setzte nie einen Fuß vor die Tür. Höchstens saß sie an der offenen Terrassentür und blickte raus.

„Paula, holst du Papa? Er ist im Garten“, bestätigte Mama meine unausgesprochene Vermutung und ich nickte, bevor ich durch das Wohnzimmer zur Terrasse ging. Die Tür war offen und ich sah auch direkt meinen Vater, der sich an einigen Beeten zu schaffen machte.

„Papa, Essen ist fertig“, sprach ich ihn an und er erhob sich.

„Ich komm schon“, sagte er und klopfte sich etwas Erde von den Händen ab.

„Die musst du aber noch waschen“, meinte ich und er lächelte leicht.

„Okay, überredet“, erwiderte er. Gemeinsam gingen wir wieder rein und ich schloss die Terrassentür hinter uns. Zwar konnten wir von der Wohnküche aus auch direkt ins Wohnzimmer schauen, aber sicher war sicher. In unserem Stadtteil war in den letzten Wochen vermehrt eingebrochen worden, daher hatten unsere Eltern uns eingetrichtert, dass wir Türen und Fenster verschlossen halten sollten, wenn wir nicht im Raum waren oder gar das Haus verließen. Wir aßen schweigend und ich kehrte danach auch direkt in mein Zimmer zurück. Heute war mir einfach nicht nach Gesellschaft. Ich setzte mich in meinen Schreibtischsessel und schaltete meinen Laptop ein, um ein wenig Musik zu hören. Mein Kater Vino sprang mir auf den Schoß und rieb sein Köpfchen an meinem Bauch, was mich lächeln ließ.

„Hey, mein Süßer …“ Ich begann ihn hinter den Ohren zu kraulen, was er mit einem leisen Schnurren quittierte. Er rollte sich auf meinem Schoß ein und ich fuhr mit dem Kraulen fort, mit der freien Hand schaltete ich eine meiner Playlists ein. Danach lehnte ich mich zurück und schloss die Augen. Die ganzen Ereignisse der letzten Tage gingen mir durch den Kopf. Die Nachricht von Kiras Tod, der Besuch danach bei ihren Eltern, das Gespräch mit ihnen und der Polizei, die Beerdigung … Wieder fragte ich mich, ob ich etwas hätte tun können, was Kiras Tod verhindert hätte. Warum hatte ich sie bloß nicht überredet mit ihren Eltern zu reden? Vielleicht würde sie dann jetzt noch leben und dieser irre Stalker wäre nun im Gefängnis.

Wer es wohl gewesen war?

Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Kira sich selbst umgebracht hatte. Doch das hieß auch, dass jemand anderes es gewesen war. Vielleicht sogar jemand, den wir kannten. Vor diesem Gedankengang schreckte ich jedoch zurück. Ich wollte mir nicht vorstellen, dass jemand, den wir kannten, ein Mörder war. Früher oder später würde ich es wohl eh erfahren, immerhin ermittelte die Polizei noch immer. Auch das war eine Bestätigung für mich, dass ich Recht hatte und es kein Selbstmord gewesen war. Wenn sie sich sicher wären, dass es Selbstmord gewesen war, hätten die Polizisten doch ihre Ermittlungen schon abgeschlossen. Ob sie schon jemanden in Verdacht hatten?

Kira hatte nur von einem Gefühl gesprochen, sie hatte nie Nachrichten oder Briefe erhalten oder jemanden gesehen, somit gab es da auch nichts, was die Polizei hätte prüfen oder verfolgen können. Ich überlegte, ob sich jemand komisch verhalten hatte in letzter Zeit. Kiras Exfreund fiel mir wieder als erstes ein, aber da er ja selber mit Kira Schluss gemacht hatte, war er vermutlich nicht eifersüchtig und hatte ihr nachgestellt. Dennoch hatte ich ihn der Polizei genannt, als ich ihnen von Kiras Nachrichten erzählt hatte. Sonst fiel mir da auch einfach niemand ein. Niemand hatte sich irgendwie seltsam oder anders verhalten als sonst, Kira hatte mit niemandem Streit gehabt, nichts. Auch sie selber war wie immer gewesen, bis sie eines Tages plötzlich damit herausplatzte, dass sie sich verfolgt fühlte.

Ich griff mit einer Hand nach meinem Handy, um mir die letzten Nachrichten meiner besten Freundin anzusehen. Vino gab ein leises schnaufendes Brummen von sich, er war eingeschlafen. Ich musste lächeln und schoss erst einmal ein Foto von ihm, bevor ich mich den Nachrichten widmete und sie mir noch einmal durchlas. Den einen Tag schwärmte Kira noch von Jonathan, wie lieb und fürsorglich er doch war, und schon am nächsten Tag schrieb sie mir, dass sie sich schon den ganzen Tag verfolgt fühlte. Auch wenn ich die Nachrichten fast schon auswendig kannte, las ich sie mir alle noch einmal durch in der Hoffnung, irgendwo etwas zu erkennen, was mir bisher entgangen war, doch da war nichts. Kira hatte nie jemanden gesehen und es gab niemanden, den sie verdächtigt hätte.

Leise seufzend wechselte ich von den Nachrichten zu meinen Bildern. Dort waren auch viele Aufnahmen von Kira. Die letzten Bilder, die ich von ihr aufgenommen hatte, waren auf dem Reiterhof entstanden, zwei Tage vor ihrem Tod. Sie hatte von Meike Geld überwiesen bekommen, um einen neuen Sattel für Philomena zu kaufen, und diesen hatten wir Meike präsentieren wollen. Kira sah einfach nur glücklich aus, wie sie neben der gescheckten Stute stand und sich als Model versuchte. Nein. Sie hatte sich definitiv nicht selbst umgebracht. Ich schluckte und schaute in Kiras strahlende Augen auf dem letzten Bild, welches sie auf Philomenas Rücken zeigte. Irgendwer hatte meine beste Freundin umgebracht.

Und ich hoffte, dass derjenige schon bald im Gefängnis landen würde.

 

Kapitel 2

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Ich musste wieder zur Schule und ich wollte es auch, immerhin rückten die Abschlussprüfungen immer näher. Zudem lenkte mich das Lernen ab, sodass ich nicht ständig darüber nachgrübelte, was passiert war, wer Kira umgebracht hatte und vor allem warum. Auch meine anderen Freundinnen versuchten möglichst nicht über Kira zu sprechen. Als ich eines Abends schließlich eine kleine Pause vom Lernen machte, fiel mir Jonathans Angebot wieder ein. Ich zog die Schreibtischschublade auf, in der ich den Zettel mit seiner Handynummer aufbewahrte, und überlegte, ob ich ihn wirklich mal anrufen sollte. Zwar wollte ich mich ablenken und nicht ständig darüber grübeln, wer Kira umgebracht hatte, aber ich wollte auch gerne wissen, ob Jonathan vielleicht etwas an meiner besten Freundin aufgefallen war.

Daher speicherte ich seine Nummer in meinem Handy ab und rief ihn an, doch ich bekam nur die Mitteilung, dass der Teilnehmer gerade nicht zu erreichen war. Na gut, ich konnte es ja ein anderes Mal versuchen. Doch erst am nächsten Mittwoch fiel es mir wieder ein. Ich war auf dem Reiterhof gewesen und alles dort hatte mich an Kira erinnert. Zu Hause versuchte ich es also erneut bei Jonathan und dieses Mal meldete er sich bereits nach dem zweiten Klingeln.

„Ja?“

„Jonathan, ich bin es … Paula“, begrüßte ich ihn.

„Ah, Paula, hallo. Wie geht es dir?“ fragte er fast ein wenig zögernd, was ich auch nachvollziehen konnte. Kiras Tod war noch nicht lange her, vermutlich befürchtete er mit dieser Frage in ein Fettnäpfchen zu treten.

„Ganz okay. Und dir?“

„Auch …“

„Hör mal … Ist dir irgendwie was an Kira aufgefallen?“ fragte ich schließlich direkt ohne weiter zu zögern. Immerhin hatte ich ihn ja deswegen angerufen.

„Aufgefallen? Was meinst du?“ wollte Jonathan wissen und er klang verwundert.

„Ja … also, war sie irgendwie anders? Hat sie … etwas gesagt?“ führte ich aus.

„Nein. Also, na ja, sie war etwas angespannt, aber sie meinte, das liegt nur an den bevorstehenden Prüfungen“, erklärte Jonathan.

„Angespannt? Wie meinst du das?“ hakte ich nach und er atmete tief durch.

„Na ja … da war dieser Abend, als wir im Kino waren und als wir wieder raus sind, hat sie sich die ganze Zeit umgesehen. Ich hab sie auch gleich gefragt, ob was nicht stimmt, und sie meinte nur, sie wäre etwas nervös, weil in letzter Zeit doch öfter mal Überfälle in der Gegend waren“, erzählte er schließlich. „Und sie war auch sehr oft so geistesabwesend, aber das lag wohl einfach am Lernstress. Zumindest meinte sie das.“

„Verstehe“, murmelte ich.

„Wieso fragst du?“ wollte Jonathan nun wissen und ich seufzte leise.

„Ich … glaub einfach nicht, dass sie sich selbst umgebracht hat“, sagte ich. „Sie war total glücklich mit dir, sie hat super Noten, alles war super … Und dann soll sie sich einfach umbringen? Nein. Das kann nicht sein.“ Er schwieg einen Moment, bevor ich ihn schließlich auch seufzen hörte.

„Ich kann es auch nicht glauben. Aber … das würde auch heißen, dass jemand Kira umgebracht hat“, meinte er und ich nickte, bevor ich mich auf mein breites Fensterbrett setzte und nach draußen blickte. Es wurde langsam dunkel. Die Dämmerung war schon immer Kiras liebste Tageszeit gewesen.

„Ja. Ist nur die Frage, wer es war und warum“, entgegnete ich.

„Das ist einfach unglaublich. Ich meine … man liest ja immer mal so etwas in den Nachrichten, aber ich hätte nie gedacht mal selber so etwas zu erleben“, gab Jonathan mit leiser Stimme von sich. „Warum sollte denn jemand Kira umbringen?“

„Ich weiß es nicht. Glaub mir, wüsste ich es oder hätte jemanden im Verdacht, ich hätte es schon der Polizei gesagt“, erklärte ich. Kurz zögerte ich, gab mir dann aber einen Ruck. „Kira hat mir erzählt, dass sie sich verfolgt gefühlt hat. Ich … ich habe mir nichts dabei gedacht, ich dachte, das kommt vom ganzen Prüfungsstress. Ich bin doch so dämlich! Wenn ich sie dazu gebracht hätte mit ihren Eltern und der Polizei zu reden, könnte sie noch leben …“

„Paula, mach dir doch keine Vorwürfe. Das würde Kira auch nicht wollen. Und ich denke, jeder hätte doch erst einmal gedacht, dass es der Stress ist“, versuchte Jonathan mich zu trösten und ich seufzte auf.

„Ja … aber ich bin ihre beste Freundin und ich hab alles einfach so locker genommen und gesagt, sie soll sich keine Gedanken machen. Nach den Prüfungen sei alles wieder gut … von wegen …“

„Du wolltest sie beruhigen und ihr die Sorgen nehmen.“

„Ja, schon. Dennoch … ach, ich weiß auch nicht.“ Ich nestelte am Saum meines Shirts herum. Vielleicht waren die Vorwürfe, die ich mir machte, wirklich sinnlos, aber ich kam einfach nicht von dem Gedanken weg, dass ich Kira hätte helfen können, dass sie noch leben könnte, hätten wir ihre Eltern und die Polizei informiert.

„Wenn es tatsächlich so ist, dass jemand sie umgebracht hat, findet die Polizei diese Person auch“, meinte Jonathan. So sicher wie er klang, war ich mir da nicht. Sicher gab es viele ungelöste Mordfälle. Und vielleicht würde die Polizei die Ermittlungen auch bald einstellen, immerhin hatte es einen Abschiedsbrief gegeben. Allerdings war dieser getippt gewesen, weswegen ihre Eltern auch nicht überzeugt waren, dass er wirklich von Kira war. Ich war es auch nicht. Vielleicht war es auch nur Verzweiflung, die uns dies denken ließ, aber ich war mir sicher, Kira hätte einen Abschiedsbrief von Hand geschrieben. Ihr Mörder konnte das nicht tun, die Handschrift hätte verraten, dass der Brief nicht von Kira war, und sie hatte er wohl auch nicht zwingen können. Wenn sie ohnehin dem Tod ins Auge geblickt hatte, warum hätte sie ihrem Mörder dann auch noch diesen Gefallen tun sollen?

„Hoffentlich“, antwortete ich Jonathan mit etwas Verspätung. „Ich muss mich aber langsam fürs Bett fertig machen. Muss morgen früh raus …“

„Okay. Dann schlaf gut, Paula.“

„Danke, du auch.“ Ich beendete das Telefonat und stand auf, um mein Handy auf den Nachttisch zu legen, bevor ich ins Bad ging und mir die Zähne putzte. Zurück in meinem Zimmer zog ich mich um und schlüpfte unter die Decke, wo ich noch etwas Musik hörte, bevor ich schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

Der nächste Tag war trüb, die dunkelgrauen Wolken versprachen Regen. Ich hatte Glück, ich kam trocken zur Schule und von dort zum Reiterhof, wo ich mich wie so oft um Philomena und Fergus, mein Pflegepferd, kümmerte. Es lenkte mich ab bei ihnen zu sein, auch wenn Philomena mich immer an Kira erinnerte. Als ich den Hof schließlich wieder verlassen wollte, stellte ich fest, dass es angefangen hatte zu regnen, und ein Blick in meine Tasche verriet mir, dass ich meinen Schirm vergessen hatte. Ganz toll. Ich hatte grad keine Lust im Regen bis zur Bushaltestelle zu laufen, die ein ganzes Stück vom Hof entfernt lag, also betrat ich über eine Seitentür den Gebäudetrakt, der für die Verwaltungsbüros genutzt wurde. Hier war immer wer und es gab hier auch ein paar Ersatzschirme, wenn man mal einen brauchte. Leider musste ich feststellen, dass mir das Glück nicht hold war. Alle Schirme waren verliehen. Zudem hatte Tina, eine der Reitlehrerinnen, die hier gerade die Pläne für die nächsten Wochen durchging, eine noch blödere Nachricht für mich: Der Bus in meine Richtung fiel aus, es hatte einen Verkehrsunfall gegeben und der Bus wurde umgeleitet.

Leise brummelnd ging ich auf den Flur, da ich Tina nicht weiter beim Betrachten der Pläne stören wollte, und zog mein Handy aus der Tasche, um meine Mutter anzurufen. Doch ich verwarf die Idee gleich wieder, als ich die Uhrzeit sah. Sie würde gerade auf dem Weg zu ihrem Gymnastikkurs sein und konnte mich somit nicht von hier abholen. Der Regen war mittlerweile noch stärker geworden und ich seufzte tief. Da würde mir nicht viel übrig bleiben als da raus zu gehen. Ich würde den Bus in die andere Richtung nehmen und dort umsteigen, wo mein Bus umgeleitet wurde. Mein Blick fiel erneut auf mein Handy und meine Kontakte.

Jonathan hatte ein Auto.

Sicher, wir verstanden uns ganz gut, aber wir waren nicht beste Freunde, da war es sicher seltsam, wenn ich ihn anrief und ihn fragte, ob er mich abholen könnte. Aber bis ich die Haltestelle erreicht hätte, wäre ich völlig durchnässt gewesen. Zusammen mit der Kälte, die wieder herrschte, zog ich mir womöglich noch eine Erkältung zu. Kurz vor meinen Abschlussprüfungen war dies das Letzte, was ich wollte. Kurz entschlossen drückte ich den Anrufbutton. Jonathan meldete sich etwas atemlos nach dem sechsten Klingeln, als ich es gerade aufgeben wollte.

„Paula, hi …“

„Hey, Jonathan. Du, hör mal, das klingt jetzt total bescheuert, aber ich sitz hier fest. Hast du Zeit und Lust mich abzuholen?“ überfiel ich ihn auch direkt.

„Äh … wie …? Wo sitzt du fest?“ fragte Jonathan etwas verwirrt, was ich durchaus nachvollziehen konnte. Ich wäre auch verwirrt gewesen, hätte ich einen solchen Anruf von jemandem bekommen, der nicht zu meinem engsten Freundeskreis gehörte.

„Ich bin auf dem Reiterhof und mein Bus wird umgeleitet. Und ich hab leider grad niemanden, der mich abholen könnte. Meine Mutter ist beim Sport und mein Vater arbeitet noch“, erklärte ich.

„Ah … Hey, klar, kein Thema. Ich bin schon unterwegs“, erwiderte Jonathan und ich hörte ein Rascheln und gleich darauf eine Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde. Er wollte mich tatsächlich abholen. Kira hatte Recht gehabt, er war wirklich zu lieb. Ihr Ex hätte mich ausgelacht und schließlich einfach aufgelegt, hätte ich ihn um so einen Gefallen gebeten. Wir beendeten das Gespräch, da Jonathan beim Fahren nicht telefonieren wollte, und ich ging wieder in den Stall rüber, um mich noch ein wenig mit Fergus zu beschäftigen. Der sandfarbene Wallach schnaufte leise, als ich zu ihm in die Box schlüpfte, und rieb seinen Kopf an meiner Schulter.

„Na, Großer, da bin ich schon wieder“, sagte ich leise und kraulte ihn sanft an der Wange, was er besonders gerne mochte. Einige Boxen weiter waren ein paar Mädchen damit beschäftigt ihre Pferde für die Reitstunde vorzubereiten, ich hörte sie kichern und über etwas reden, aber ich verstand keine Worte. So waren Kira und ich auch immer gewesen, wir hatten Fergus und Philomena immer nebeneinander gestellt, um sie zu putzen und sie zu satteln und aufzutrensen, und während dieser Arbeiten hatten wir über Gott und die Welt getratscht. Ich vergrub das Gesicht an Fergus' Hals und stand einfach eine Weile so da, bis schließlich mein Handy vibrierte. Fragend blickte ich auf das Display und nahm den eingehenden Anruf direkt entgegen, als ich erkannte, dass er von Jonathan kam.

„Hey, Jonathan.“

„Hey, ich bin da. Ich steh auf dem Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude“, sagte er und ich löste mich von Fergus.

„Okay, bin gleich da“, sagte ich und verließ die Box. Nachdem ich sie ordentlich verriegelt hatte, ging ich in den Verwaltungstrakt rüber. An der Eingangstür erwartete mich eine Überraschung, dort stand Jonathan, einen tropfenden Schirm in der Hand.

„Ich dachte, ich hol dich direkt hier ab“, sagte er. „Da draußen beginnt die Sintflut.“

„Hab ich befürchtet“, meinte ich. Gemeinsam traten wir nach draußen und Jonathan spannte den Schirm auf. Es war einer dieser großen Stockschirme, sodass wir bequem unter ihn passten. Ich war aber froh, als ich schließlich im Wagen saß, besonders als Jonathan den Motor startete und die Heizung einschaltete.

„So ein Mistwetter“, gab er dabei von sich.

„Aber echt. Und ausgerechnet heute vergesse ich meinen Schirm“, seufzte ich.

„Na ja, der hätte dir auch nichts gebracht. Du meintest doch, dein Bus fährt nicht. Oder wird umgeleitet.“

„Schon, aber ich hätte in die andere Richtung fahren können und dann dort, wo er umgeleitet wird, umsteigen können. Aber ganz ohne Schirm … Bei dem Wetter hol ich mir doch bloß eine Grippe oder so.“

„Und das wäre jetzt vor den Prüfungen echt mies.“

„Eben. Danke, Jonathan. Du hast echt was gut bei mir.“

„Ach was. Das mach ich gerne.“ Wir unterhielten uns noch ein wenig über meine bevorstehenden Prüfungen und Jonathan erzählte mir davon, wie es bei seinem Abitur vor zwei Jahren gewesen war. Seine Schilderung von seinem Physiklehrer, der ihnen auf den letzten Drücker noch jede Menge Wissen vermitteln wollte, erinnerte mich an unsere Geschichtslehrerin, der in diesem Schuljahr auch eingefallen war, dass es noch einige Themen gab, die wir dringend bearbeiten musste. Das Gespräch lenkte mich von meinen Gedanken an Kira ab, was eine angenehme Abwechslung war. Ich hatte zu viel über ihren Tod nachgedacht, was mir ja doch nichts brachte. Wenn Kira tatsächlich umgebracht worden war, dann war das eine Sache für die Polizei. Die würden ihren Mörder finden. Lieber wollte ich an die schönen Zeiten mit Kira denken, auch wenn es mich traurig stimmte, dass wir nie wieder gemeinsam etwas erleben würden. Keine gemeinsamen Ausritte mehr, kein gemeinsames Fluchen auf unsere Chemielehrerin, keine Filmmarathons an freien Tagen. Nichts davon.

Angestrengt drängte ich diese Gedanken beiseite und versuchte mich auf Jonathan zu konzentrieren. Er erzählte gerade davon, dass er in diesem Jahr noch sein Studium beginnen wollte. Bisher hatte er gejobbt, um schon mal ein bisschen was anzusparen, da ihn seine Eltern nicht unterstützen konnten. Fast hatte ich ein schlechtes Gewissen. Meine Eltern waren sicher nicht reich, aber sie hatten über die Jahre genug angespart, dass ich mir wegen meines Studiums keine Gedanken machen musste. Nun, zumindest nicht viele. Ich würde wohl auch jobben müssen, aber meine Eltern konnten mich unterstützen.

„Kira hat mir erzählt, dass ihr beide Geschichte studieren wollt“, sagte Jonathan schließlich und ich nickte.

„Ja, das war unser Plan. Auch wenn wir nicht so ganz sicher waren, was wir danach machen wollten“, erklärte ich und lächelte schief. „Lehramt kommt jedenfalls nicht in Frage. Da müsste ich eigentlich noch mal schauen.“

„Es gibt sicher Berufe, die du danach machen kannst“, meinte Jonathan. „Vielleicht in einem Museum oder als Journalistin bei einem Magazin oder so. Meine Cousine hat Jura studiert und schreibt nun für eine Zeitschrift.“

„Echt? Cool.“

„Ja, aber sie hatte wohl auch Glück. Läuft ja nicht immer so, dass man auch gleich einen Job bekommt.“

„Leider nicht. Meine Tante ist eigentlich Steuerfachangestellte und arbeitet nun als Buchhalterin“, erzählte ich und zog die Nase kraus. „Ich hab auch schon überlegt, ob ich nicht ins Ausland gehe. Das macht sich ja auch immer gut im Lebenslauf. Aber meine Schwester würde mich total vermissen.“

„Hmm … Aber du kannst ja deine Zukunft nicht davon abhängig machen, ob dich jemand vermisst oder ob du jemanden vermisst“, wandte Jonathan ein. „Und es ist ja nicht so, dass man aus der Welt ist. Es gibt Handys und Internet, ihr könntet täglich miteinander sprechen.“

„Stimmt schon. Und es wäre ja auch nur ein Auslandssemester“, meinte ich. „Ans Auswandern hab ich ja nun auch nicht gedacht.“

„Dann ist es ja auch absehbar“, sagte Jonathan und lächelte leicht. „Also, ich würde diese Idee nicht gleich aufgeben. Und deine Schwester freut sich bestimmt, wenn du ihr tolle Klamotten mitbringst von wo auch immer.“ Ich musste leise lachen.

„Lena ist zehn, sie interessiert sich noch nicht für Klamotten“, entgegnete ich.

„Dann … Spielzeug?“ Jonathan lachte ebenfalls. „Ich weiß nicht, was zehnjährige Mädchen so mögen.“

„Verschiedenes. Lena liebt jedenfalls Pferde, Katzen und Inlineskates“, erläuterte ich schmunzelnd. „Ihre Freundinnen mögen auch alles mögliche und einige haben auch schon angefangen sich für Mode zu interessieren. Kann bei Lena auch nicht mehr lange dauern.“ Jonathan nickte.

„Ja, irgendwann beginnt das“, sagte er und bog in die Straße ein, in der ich wohnte. Er hielt vor unserem Haus und griff nach hinten, um mir den Schirm zu reichen. „Hier, nimm ihn. Ich hab noch einen Ersatzschirm hier.“

„Danke“, erwiderte ich und ergriff den Schirm. „Auch noch mal für die Fahrt.“

„Gern geschehen“, sagte er mit einem kleinen Lächeln. Wir verabschiedeten uns und ich schlüpfte aus dem Auto, um sofort den Schirm aufzuspannen und die paar Schritte bis zu unserer Haustür zu laufen. Hier drehte ich mich kurz um und sah, wie Jonathan wegfuhr. Kira hatte mit ihm wirklich einen Glücksgriff getan. Vielleicht wäre noch etwas richtig Ernstes aus den Beiden geworden.


Kapitel 3

„Und, was machen die Prüfungen?“ Jonathan sah mich fragend an und ich schnaufte leise, während ich mich zu ihm setzte. Wir hatten uns auf einen Kaffee verabredet, wie so oft in den letzten Wochen. Es tat uns beiden gut über Kira und ihren Tod zu reden, hatten wir festgestellt, und so hatten wir viel telefoniert oder uns getroffen. Manchmal kam er auch auf den Reiterhof mit, aber vor Pferden hatte er doch so einigen Respekt und näherte sich ihnen kaum. Sie waren ihm einfach zu groß und er fürchtete immer einen Biss oder einen Tritt. Ich fand es angenehm, dass er so ehrlich diesbezüglich war. Mein Exfreund hatte immer groß getönt, dass er keine Angst vor Tieren hatte und als er einmal mit mir auf dem Hof gewesen war, hatte er sich keine drei Meter an Fergus heran getraut, dabei war der Wallach das friedlichste Tier auf dem Hof. Henrik, mein Ex, hatte hinterher noch behauptet, er hätte mich bloß nicht stören wollen, aber der Ausdruck in seinen Augen hatte Bände gesprochen.

„Sie sind böse“, antwortete ich und Jonathan lachte leise.

„Das kommt mir bekannt vor. Es sind sicher Verwandte von meinen Prüfungen“, sagte er amüsiert und ich grinste.

„Das kann gut sein“, stimmte ich zu. Wir bestellten beide Kaffee und unterhielten uns ein wenig über Belanglosigkeiten, bis er kam. Als wir unsere Tassen vor uns hatten, holte Jonathan eine kleine Schachtel aus seiner Tasche.

„Hör mal … ich weiß, das klingt total komisch, aber … na ja …“, begann er herum zu drucksen und schob mir schließlich die Schachtel zu. „Die hatte ich für Kira geholt. Ich kam nur leider nicht mehr dazu sie ihr zu geben und … ich wollte ihre Eltern auch nicht fragen, ob ich sie ihr mit ins Grab geben kann. Das kam mir so … na ja … unpassend vor. Wir waren ja noch nicht wirklich so lange zusammen und sie wollten das vielleicht auch nicht und ich wollte sie nicht stören …“ Neugierig nahm ich die Schachtel und öffnete sie. In ihr lag eine schlichte Silberkette mit einem kleinen Anhänger, dessen Motiv mir bekannt vorkam. Diese Schnörkel hatte ich doch auf jeden Fall schon mal irgendwo gesehen. Vielleicht war mir die Kette ja mal in einem Laden aufgefallen?

„Wow … Die ist hübsch. Kira hätte sich gefreut“, stellte ich fest und schluckte den Kloß runter, der sich in meiner Kehle bildete.

„Das hatte ich gehofft“, sagte Jonathan leise. „Ich hatte ihr schon mal ein Armband geschenkt mit einem ähnlichen Motiv und dachte mir, dass die Kette gut dazu passt.“

„Ihr Armband, klar!“ Auf Jonathans fragenden Blick lächelte ich verlegen. „Ach, ich dachte gerade nur, dass ich das Muster auf dem Anhänger kenne. Bestimmt von Kiras Armband. Du glaubst gar nicht, wie sie von dem geschwärmt hat. Du hast ganz genau ihren Geschmack getroffen.“ Jonathan lächelte erfreut, aber auch ein wenig traurig.

„Es freut mich, dass es ihr so gefallen hat“, murmelte er.

„Hat es“, bekräftigte ich und sah ihn schließlich fragend an. „Und was ist mit der Kette?“ Er fuhr sich kurz durch die Haare.

„Na ja … Würdest du sie aufbewahren wollen für Kira? Meine Mutter hat sie neulich entdeckt und meinte, ich solle sie wieder verkaufen. Kira ist doch schließlich tot und wird sie nicht mehr tragen und … na ja …“ Er zuckte mit den Schultern. „Versteh mich nicht falsch, ich liebe meine Mutter, aber manchmal fehlt ihr echt das Mitgefühl.“

„Das ist wirklich hart. Immerhin ist Kiras Tod noch gar nicht so lange her“, sagte ich und Jonathan nickte.

„Eben. Ich weiß nicht, ob ich die Kette nicht vielleicht in einem Jahr oder so doch verkaufen würde, aber jetzt will ich das noch nicht. Deswegen dachte ich mir, dass ich dich frage“, meinte er und lächelte schief. „Niemand würde sich wundern, wenn er bei einem Mädchen eine Kette entdeckt.“

„Wahrscheinlich nicht“, stimmte ich zu und schloss die Schachtel wieder. „Ich kann sie gerne aufbewahren. Und wenn du sie doch irgendwann zurück haben möchtest, sag einfach Bescheid.“

„Klar, mach ich.“ Wir widmeten uns unserem Kaffee und unterhielten uns weiterhin über alles Mögliche. Schule, Filme, Musik und natürlich auch über Kira. Jonathan war heute an ihrem Grab gewesen und zeigte mir ein Foto von den Orchideen, die er ihr gebracht hatte. Sie waren wunderschön und hätten Kira auf jeden Fall gefallen. Ich war auch regelmäßig an ihrem Grab, am letzten Sonntag war ich dort zufällig ihrer Mutter begegnet und wir hatten uns unterhalten. Von ihr hatte ich dabei auch erfahren, dass die Polizei noch immer ermittelte, und sie hatte mir auch von einer Sache erzählt, die ich bisher nicht gewusst hatte: Auf der Dose, in der die Schlaftabletten gewesen waren, die Kira genommen hatte, hatte man keine Fingerabdrücke von Kira gefunden. Katja hatte mir das Versprechen abgenommen niemandem davon zu erzählen, da dies zu den Ermittlungen gehörte und sie diese nicht gefährden wollte, sodass ich gerade mit mir kämpfte. Jonathan war immerhin Kiras Freund gewesen, es interessierte ihn bestimmt, dass es tatsächlich einen Beweis gab, dass Kira keinen Selbstmord begangen hatte.

Allerdings hatte ich Katja ein Versprechen gegeben. Sie hatte mir auch nur davon erzählt, weil ich für sie zur Familie gehörte, sie hatte gesagt, ich sei wie eine zweite Tochter für sie. Bei der Erinnerung an das Gespräch mit ihr bildete sich wieder ein dicker Kloß in meinem Hals. Ich konnte das Versprechen, das ich ihr gegeben hatte, nicht brechen, auch wenn ich Jonathan gerne Gewissheit gegeben hätte, dass Kira sich wirklich nicht selber umgebracht hatte.

Aus einem Kaffee wurden schließlich noch zwei weitere, bis wir schließlich das Café verließen und Jonathan mich nach Hause fuhr. In meinem Zimmer setzte ich mich auf meinen Schreibtischsessel und sah mir noch einmal die Kette an. Vorsichtig strich ich über den filigran gearbeiteten Anhänger mit den kleinen, roten Steinen und betrachtete kurz ihr Funkeln im Licht. Schließlich steckte ich die Kette wieder in ihre schlichte Schachtel und legte diese neben meinen Schmuckkasten im Schrank, um mich meinen Schulsachen zu widmen. Die alles entscheidenden Abiprüfungen rückten näher, was wir jetzt hatten, waren nur Tests und Vorbereitungen. Allerdings waren die meisten meiner Mitschüler schon total erschöpft und standen ziemlich neben sich. Wir freuten uns alle auf die letzte Prüfung, danach konnten wir wieder entspannen.

Ein Maunzen ertönte und schon im nächsten Moment saß Vino auf meinem Schoß. Lächelnd kraulte ich ihn hinter den Ohren und er tänzelte schnurrend auf mir herum, bis er endlich eine bequeme Position hatte und sich hinsetzte. Während ich ihn weiter hinter den Ohren kraulte, zählte ich ihm italienische Vokabeln auf, was er mit weiterem Schnurren beantwortete.

„Hmm, heißt das nun, dass die richtig sind oder was willst du mir sagen?“ grinste ich und Vino sah mich fragend an, bevor er leise maunzte. „Ja, du hast Recht, die sind alle richtig. So … Was als nächstes? Mathe? Chemie? Deutsch?“ Ich entschied mich für Chemie und zog mein Heft zu mir heran. So richtig motiviert war ich nicht, aber ich wollte mir die Sachen noch einmal ansehen. „Weißt du eigentlich, wie froh ich bin, dass die Prüfungen bald sind und ich dann alles hinter mir habe?“ Vino schnurrte, was mir ein Lächeln entlockte. Es mochte seltsam sein mit seiner Katze zu sprechen, aber ich tat es gerne. Und Vino reagierte ja auch immer darauf. Dass er mich wirklich verstand, bezweifelte ich, aber er spürte sicher, wie es mir ging. An dem Tag, als ich von Kiras Tod erfahren hatte, war er auch die ganze Zeit bei mir gewesen. Ich erinnerte mich, wie er sich an mich gekuschelt und später auch stillgehalten hatte, als ich mein Gesicht in seinem Fell vergraben hatte. Sein Schnurren hatte mich ein wenig beruhigt und Vino war seitdem besonders anhänglich, als wollte er sicher gehen, dass es mir gut ging.

Schließlich ließ ich von meinen Schulsachen ab und ging mit Vino auf dem Arm zu meinem Bett rüber. Ich machte es mir bequem und Vino kuschelte sich so an mich, dass sein Kopf an meinem Hals zu ruhen kam. Sein Schnurren wiegte mich in einen Schlaf, der sich als sehr unruhig herausstellte und aus dem ich kurz nach Mitternacht aufschreckte. Schläfrig richtete ich mich auf, da ich mich erinnerte, dass ich mich nicht umgezogen hatte. Ich stellte mein Handy an und im Licht des Displays schlüpfte ich aus meinen Sachen und zog meinen Pyjama an. Vino saß noch immer auf meinem Bett und beobachtete mich, um sich gleich wieder an mich zu schmiegen, als ich mich wieder hinlegte. Er maunzte leise und kläglich, vermutlich beschwerte er sich, dass ich gerade aufgestanden war. Ich drückte ihm einen Kuss auf den Kopf.

„Alles gut, schlafen wir, Schatz“, murmelte ich müde und griff nach meinem Handy, um es auszustellen, dabei sah ich, dass ich ein paar Nachrichten bekommen hatte. Aber die konnte ich mir auch morgen ansehen. Vino maunzte erneut und ich brummte leise. „Ja, ich weiß, ich hab dich geweckt, aber jetzt ist Zeit zum Schlafen. Und wenn du nun weiter rummaunzt, werfe ich dich raus.“ Vino war meine Drohung wohl egal, denn er maunzte erneut, doch ich war auch zu müde, um ihn tatsächlich vor die Tür zu setzen. Daher zog ich bloß die Decke über uns und schloss die Augen. „Hab dich auch lieb, du Nuss.“ Zum Glück stellte Vino sein Maunzen nun ein und begann wieder zu schnurren und schon bald war ich wieder eingeschlafen.

Erst am Morgen, als ich mich gerade für die Schule fertig machte, fiel mir auf, wie ungewöhnlich Vinos nächtliches Verhalten doch gewesen war. Er war verschmust und ruhig, meist maunzte er nur, wenn er hungrig war, und auch dann nicht immer. In der Nacht jedenfalls hatte er noch nie etwas anderes als sein sanftes Schnurren von sich gegeben. Bevor ich also zur Schule aufbrach, schaute ich noch einmal nach ihm, da ich mir doch etwas Sorgen machte, ob er vielleicht krank war. Aber er wirkte gesund und munter, daher gab ich ihm bloß einen Abschiedskuss auf den Kopf und machte mich auf den Weg zur Schule. Unterwegs schaute ich mir meine Nachrichten an. Bis auf die Nachricht meiner Mitschülerin und Freundin Britta gab es nichts Interessantes, auf das ich sofort antworten wollte. Britta arbeitete mit einigen unserer Mitschüler an unserem Jahrbuch und fragte an, ob ich Bilder von Kira hatte. Sie wollten gerne eine eigene Seite für sie machen, hatten aber nicht viele Bilder von ihr, wo sie alleine abgebildet war. Ich antwortete ihr, dass wir ja gleich in der Schule darüber reden konnten.

Da wir allerdings heute keine gemeinsamen Kurse hatten, musste das Gespräch bis zur Pause warten. Ich schrieb ihr am Anfang der Pause, dass ich zu dem Kiosk wollte, der im Erdgeschoss unserer Schule betrieben wurde. Als ich dort ankam, wartete sie bereits auf mich und wir begrüßten uns mit einer kurzen Umarmung.

„Lisa und Björn hatten die Idee und wir fanden sie alle ganz schön“, erklärte Britta, während wir uns in die zum Glück noch kurze Schlange einreihten. „Aber wir haben kaum Fotos, wo Kira alleine zu sehen ist. Wir haben ja meist Gruppenfotos gemacht oder eben beim Unterricht oder so.“

„Ich hab bestimmt einige Fotos von ihr“, erwiderte ich und Britta lächelte.

„Danke, das wäre uns echt eine Hilfe“, sagte sie und ein fragender Ausdruck schlich in ihre Augen. „Glaubst du, dass es für ihre Eltern okay ist, wenn wir das so machen?“

„Bestimmt. Aber ich kann sie gerne mal fragen und dir dann schreiben“, schlug ich vor und sie nickte.

„Das wäre prima“, meinte sie.

„Hmm, oder warte mal …“ Ich zog mein Handy aus der Tasche und tippte rasch eine kurze Nachricht für Katja ein, in der ich ihr schilderte, was Britta und die anderen vom Team Jahrbuch machen wollten, und sie fragte, ob das für sie und Matthias, ihren Mann, auch in Ordnung war. Vielleicht sah sie die Nachricht auch gleich, dann musste Britta nicht lange auf eine Antwort warten. Als wir an die Reihe kamen, kaufte ich mir ein Brötchen und einen Kakao, Britta nahm einen Vanilledrink. Danach setzten wir uns an einen freien Tisch und unterhielten uns ein wenig. Britta zeigte mir auch ein paar der Entwürfe für das Jahrbuch, wobei sie mir auch erklärte, dass sie sich für das Titelbild noch nicht einig waren. Mir gefielen die Entwürfe alle nicht besonders, aber ich musste ja auch nicht am Jahrbuch arbeiten und nichts davon aussuchen.

Nach der Pause trennten wir uns wieder. Da meine nächste Stunde ausfiel, blieb ich hier sitzen und holte mir noch einen Kaffee vom Kiosk. Danach widmete ich meinen Unterlagen, bis mich das Vibrieren meines Handys von diesen ablenkte. Katja hatte mir geantwortet und ich lächelte leicht, als ich ihre Nachricht las.

//Das würde uns sehr freuen und wir möchten auch ein Exemplar. Ich lege ein paar Fotos bereit, du kannst sie jederzeit abholen.//

Ich antwortete ihr auch gleich, dankte ihr und versprach heute nach der Schule zu ihnen zu kommen. Da wir fast Nachbarn waren, würde es auch kein großer Umweg für mich werden. Der Tag zog sich hin, niemand hatte noch wirklich Lust auf Unterricht, da die Abschlussprüfungen so kurz bevorstanden. Als unser Lehrer uns in der letzten Stunde etwas früher gehen ließ, waren wir alle froh darüber, und ich beeilte mich zur Bushaltestelle zu kommen. Britta hatte ich auch bereits Bescheid gegeben, dass ich ihr morgen ein paar Fotos mitbringen würde. Katja erwartete mich bereits und lud mich auf einen Kaffee ein. Ich nahm gerne an und setzte mich mit ihr in die Wohnküche, die unserer von der Größe und dem Aufbau her ähnelte, nur etwas anders eingerichtet war. Vor allem die Farben waren anders. Meine Mutter hatte sich für ein warmes Orange als Hauptfarbe entschieden, während Katja auf helles Silbergrau und Metallicblau setzte.

Wir unterhielten uns kurz über die Schule, anschließend reichte Katja mir eine blaue Mappe, in der die Fotos von Kira waren, die sie ausgesucht hatte. Sie zeigte mir auch, welches Foto ihr und Matthias am besten gefiel und welches sie somit am liebsten im Jahrbuch veröffentlicht sehen wollten. Ich kannte das Bild, es zeigte Kira beim letzten Urlaub mit ihrer Familie in der Toskana. Sie strahlte regelrecht in die Kamera und trug ihr Lieblingskleid mit dem violettgrauen Karomuster. Damals hatte sie sich gerade die Haare getönt und ihr eigentlich blondes Haar wies das gleiche Violett wie ihr Kleid auf. Katjas Augen schimmerten feucht, während wir das Bild betrachteten.

„Die Polizei findet schon heraus, wer ihr das angetan hat“, murmelte ich leise. „Das bringt Kira nicht zurück, aber derjenige gehört einfach ins Gefängnis.“

„Ich hoffe es, Paula“, seufzte Katja und zupfte ein Blatt von der Küchenrolle ab, um sich die Augen abzutupfen. „Aber sie haben kaum Hinweise. Sie war an dem Tag nicht verabredet, sie hatte keine Nachrichten auf ihrem Handy … Die Polizei hat überprüft, ob da gelöschte Daten drauf sind, aber da war nichts. Hätten sie nicht festgestellt, dass auf der Dose keine Fingerabdrücke von Kira sind, hätten sie es einfach als Selbstmord eingestuft und die Ermittlungen längst eingestellt.“

„Und was ist mit dem Brief? Kann man nicht überprüfen, ob es da Fingerabdrücke gibt?“ fragte ich.

„Haben sie, aber da war auch nichts. Das Papier ist auch nichts Besonderes. Einfach handelsübliches Druckerpapier, wie es Tausende, ach was sag ich denn, Millionen von Leuten haben. Wir haben die gleiche Marke“, erklärte Katja mit bitterer Stimme. „Aber da darauf auch keine Fingerabdrücke sind, nimmt die Polizei es zumindest als Indiz gegen einen Selbstmord. Du glaubst gar nicht, wie froh ich sein werde, wenn das alles endlich vorbei ist. Immer wieder diese Gespräche mit der Polizei und die Nachricht, dass sie doch noch nichts Neues haben … Es ermüdet mich, Paula.“

„Das glaub ich dir“, sagte ich mitfühlend und drückte kurz ihren Arm. Ich hätte ihr gerne etwas Aufmunterndes gesagt, aber da war einfach nichts. Nicht immer wandte sich alles zum Guten, nicht alle Mordfälle wurden aufgelöst, nicht alle Täter bekamen ihre gerechte Strafe. Das Leben war eben kein Film oder Buch, bei dem man wusste, dass es ein Happy End geben würde, weil sich ein anonymer Zeuge meldete oder sich der Täter irgendwie selber verriet. Nein. Hier war es viel wahrscheinlicher, dass Kiras Familie nie erfahren würde, wer sie umgebracht hatte.

Wir unterhielten uns noch eine Weile, bevor ich mich schließlich verabschiedete und nach Hause ging. Dort widmete ich mich erst einmal meinen Schulsachen und Vino, der sich wie so oft zu mir setzte und mich beobachtete. Wie so oft war es schon wieder zu spät, als ich endlich schlafen ging, aber ich hatte mich mittlerweile daran gewöhnt zu wenig zu schlafen. Hoffentlich würde sich das nach dem Abi bessern. Andererseits würde ein Studium wohl kaum einfacher werden als das Abi. Doch zumindest konnte ich mir da die Zeit selber einteilen, zumindest nach allem, was ich mir bisher alles über das Studium angelesen und von anderen gehört hatte. Mit den Gedanken bei meiner zukünftigen Uni und einem schnurrenden Vino im Arm schlief ich schließlich ein.


Kapitel 4

Am nächsten Morgen machte ich mich etwas früher auf den Weg, da ich mich mit Britta verabredet hatte, um ihr vor der ersten Stunde schon mal die Bilder zu geben. In der Nacht hatte Vino mich zwei Mal geweckt, das erste Mal, weil er sich aus meinen Armen gewunden hatte, das zweite Mal, als er zurückgekommen war. Ich wunderte mich ein wenig über die plötzliche nächtliche Aktivität meines Katers. Vielleicht war er nur auf dem Katzenklo gewesen, aber ich nahm mir erneut vor dies zu beobachten. Er war noch jung, aber vielleicht hatte er ja irgendwas und ich wollte in diesem Fall auch rechtzeitig zum Tierarzt mit ihm. Vielleicht war ich übervorsichtig, aber vor einigen Jahren hatten wir schon einmal zwei Katzen verloren, weil meine Eltern nicht gleich zum Tierarzt gegangen waren. Ich wollte das nicht noch einmal so erleben.

Als ich die Schule erreichte, wartete Britta am Haupteingang bereits auf mich. An ihrem Gesichtsausdruck merkte ich gleich, dass etwas nicht stimmte. Irgendwie wirkte sie angespannt, auch wenn sie mir ein Lächeln zur Begrüßung schenkte. Ich zog gleich die Mappe heraus, die ich für Britta mitgenommen hatte, und reichte sie ihr.

„Hier, die hat Katja herausgesucht“, sagte ich. „Das Foto ganz oben hätten sie und Matthias am liebsten im Jahrbuch.“ Britta öffnete die Mappe und schaute hinein. Ihr Lächeln änderte sich für einen Moment, wurde weicher und irgendwie entspannter. Als sie mich wieder ansah, bemerkte ich aber wieder diese Anspannung in ihren Augen. „Was ist los? Ist etwas passiert?“ fragte ich schließlich direkt und Britta zuckte leicht mit den Schultern.

„Nein… nicht direkt. Also… es ist echt albern“, druckste sie herum.

„Aber irgendwas ist los“, stellte ich fest und sie seufzte leise auf.

„Na ja… ich hab vorhin ein Gespräch zwischen Sarah und Vivien mitbekommen“, begann sie und sah mich ratlos an, als wisse sie nicht so genau, wie fortfahren sollte. „Es ging um dich“, fuhr sie etwas leiser fort. „Und Jonathan. Sie meinten, es sei ganz schön geschmacklos, dass du dich mit ihm triffst.“ Ich konnte Britta nur völlig irritiert ansehen.

„Geschmacklos? Warum denn?“

„Na ja…“ Britta blickte mich unsicher an. „Weil er doch Kiras Freund ist… war.“

„Ja, und…?“ Doch dann dämmerte es mir und ich stöhnte entnervt auf. „Himmel, Britta… Wir sind nur Freunde. Wir treffen uns und unterhalten uns über Kira, sonst nichts. Ich hab echt kein Interesse an ihm.“

„Oh…“ Dieser kleine Ton aus Brittas Mund verriet mir, dass es wohl genau darum in dem Gespräch der beiden gegangen war. Ich konnte echt nicht glauben, dass sie so etwas dachten. Konnten Mädchen und Jungs sich nun nicht mehr einfach nur treffen und unterhalten, ohne dass gleich alle annahmen, es liefe etwas zwischen ihnen? Das war doch total bescheuert. Ich hätte mich doch nicht an Kiras Freund herangemacht. Nie, wenn es nach mir ging, aber auf jeden Fall nicht so kurz nach ihrem Tod. Für die Zukunft konnte ich natürlich nicht jetzt schon abschließend sprechen, aber zumindest jetzt war ich mir dessen absolut sicher.

„Wie gesagt, das ist rein freundschaftlich. Ich kann immerhin mit meinen Eltern und Kiras Eltern über sie reden. Er nicht. So gut kennt er ihre Eltern nicht und möchte sie jetzt nicht belästigen“, erklärte ich.

„Verstehe“, sagte Britta und lächelte entschuldigend. „Tut mir wirklich leid. Ich war mir da irgendwie… na ja… unsicher. Sie klangen so überzeugt…“

„Ich sag ja, wir treffen uns schon, aber eben nur freundschaftlich“, stellte ich noch einmal klar und Britta nickte.

„Ich hab gleich die ersten beiden Stunden mit Sarah zusammen. Da sprech ich sie mal darauf an. Nicht, dass sie das noch weitertratschen und ein Gerücht in die Welt setzen“, meinte ich.

„Danke dir.“ Wir verabschiedeten uns und ich eilte los, weil ich vor dem Unterricht noch auf die Toilette wollte. Mit Sarah und Vivien hatte ich heute keine gemeinsamen Kurse, ich konnte also nur in den Pausen mit ihnen sprechen, wenn sie während dieser nicht das Schulgebäude verließen. Das taten viele Schüler, insbesondere wenn auf die Pause eine Freistunde folgte. Es war nicht weit bis in die Innenstadt und das verlockte natürlich die Freizeit dort zu verbringen. Der Unterricht raste dieses Mal nur so an mir vorbei, viele unserer Lehrer wollten in diesen letzten Stunden möglichst alles an Stoff wiederholen, was wir in den letzten Jahren gelernt hatten, was ich als unmöglich ansah. Aber es half natürlich in der Schule schon alles zu wiederholen, denn so konnte ich mich zu Hause auf all das konzentrieren, was mir nicht so gut lag.

In der letzten Stunde erhielt ich eine Nachricht von Jonathan, ob ich Lust auf einen Kaffee hätte, aber ich sagte ihm ab, da ich auf den Reiterhof wollte. Wir verabredeten uns aber für den Samstag. Das Gespräch mit Britta von diesem Morgen fiel mir wieder ein und ich schnaufte leise, als ich mein Handy wegsteckte. Es war, wie ich es schon zu ihr gesagt hatte: Die Treffen mit Jonathan waren rein freundschaftlich. Immerhin war er Kiras Freund gewesen, ich hatte einfach kein Interesse an ihm. Klar war er sehr nett und freundlich. Ich wusste nicht, ob ich so entschlossen gewesen wäre, dass es nur eine Freundschaft war, wäre er nicht Kiras Freund gewesen. Bei dieser Überlegung biss ich mir auf die Unterlippe. Nein, diesem Gedankengang wollte ich nicht weiter folgen. Er war nun einmal Kiras Freund gewesen und Schluss.

Am Abend saß ich müde an meinem Schreibtisch und blätterte lustlos durch meine Chemieunterlagen. Meike hatte mittlerweile eine Reiterin gefunden, die Philomena als Pflegepferd übernehmen wollte. Ich kannte Frederika nur flüchtig, aber sie kam gut mit den Pferden zurecht und sie hatte sich heute mit mir um Philomena gekümmert. Dieses Wochenende würde Meike auch kommen, um alles Weitere mit Frederika zu klären. Ich überlegte auch bereits die Pflege für Fergus abzugeben, immerhin wusste ich nicht, wohin es mich verschlagen würde nach dem Abi. Vielleicht würde ich bleiben und hier studieren, wenn ich aber umzog, würde ich auf jeden Fall mein Pflegepferd abgeben müssen. Aber auch wenn ich blieb, wusste ich noch nicht, ob ich mit dem Studium Zeit für Fergus haben würde.

Vinos Maunzen riss mich aus meinen Gedanken und ich kraulte ihn kurz am Kopf, bevor ich mich wieder meinen Unterlagen widmete. Ich wollte noch ein paar Sachen wiederholen, bevor ich gleich schlafen ging. Als ich auf meinen Notizblock schaute, runzelte ich irritiert die Stirn. In kleinen, zittrigen Buchstaben, die zum Ende hin immer verschwommener wurden, stand dort ein Name. Grit Wen… Der Rest war ziemlich unleserlich. Wenke? Wende? Ich konnte es wirklich nicht sagen. Warum schrieb ich diesen Namen? Zudem kannte ich niemanden mit dem Namen Grit. Hatte ich Britta schreiben wollen? Aber warum sollte ich ihren Namen in meinen Notizblock kritzeln? Außerdem sah es auch nicht nach meiner Schrift aus. Dies ließ sich vielleicht ja damit erklären, dass ich in Gedanken gewesen war.

Das erklärte aber nicht den Namen.

Grit. Wenke oder Wende. So sehr ich mir auch den Kopf zerbrach, mir fiel niemand mit diesem Namen ein. Ich gähnte leise und schob meine Unterlagen zusammen. Sicher war ich einfach nur müde gewesen und hatte irgendwas vor mich hingekritzelt. Auch wenn ich niemanden kannte, der so hieß, bedeutete das nicht, dass ich den Namen nicht mal irgendwo aufgeschnappt hatte. Vielleicht hieß die Freundin eines Mitschülers so und mein Unterbewusstsein hatte diesen Namen jetzt wieder ausgespuckt. Vino tappte auf meine Unterlagen und schnupperte an ihnen, um mich anschließend beinahe schon anklagend anzumaunzen.

„Ich lerne morgen weiter, du kleines Monster. Jetzt geh ich schlafen“, sagte ich und gab ihm einen Kuss auf den Kopf, bevor ich ins Bad ging, um mich umzuziehen und mir die Zähne zu putzen. Als ich zurückkam, lag Vino bereits eingerollt neben meinem Kissen. Ich machte es mir bequem und sofort kuschelte mein Kater sich in meine Arme. Er schnurrte leise und ich begann ihn sanft am Hals zu kraulen. Mein Blick wanderte durch die Dunkelheit zu meinen Unterlagen. Mich ließ die Frage nicht los, warum ich diesen fremden Namen in meinen Block geschrieben hatte. Selbst wenn einer meiner Mitschüler eine Freundin mit diesem Namen haben sollte, warum kritzelte ich ihren Namen in meinen Block?

Leise seufzend tastete ich zum Nachttisch und ergriff mein Handy. Schnell war der Internetbrowser geöffnet und ich tippte Grit Wenke ein. Es gab mehrere Treffer, was zu erwarten gewesen war. Schließlich war das kein so außergewöhnlicher Name, dass es ihn nur einmal geben würde. Grit Wende ergab ein ähnliches Ergebnis und so gab ich schließlich noch den Namen meiner Heimatstadt ein, woraufhin mir jedoch Grit Wendel in Köln vorgeschlagen wurde. Die folgenden Suchergebnisse ließen mich für einen Moment den Atem anhalten.

Der erste Treffer war von einer Lokalzeitung. „16jährige stürzt von Brücke - Unfall oder Mord?“ stand da und zeigte ein Mädchen, welches älter wirkte als 16 Jahre. Rote Haare umrahmten ein auffallend hübsches Gesicht mit dunkel geschminkten Augen und roten Lippen. Dem Artikel zufolge hatte ein Jogger früh am Morgen bei seiner Runde durch den Park bei einer Brücke jemanden liegen sehen. Laut seiner Aussage hatte er im ersten Moment an einen Obdachlosen gedacht, doch als er sich der Brücke genähert hatte, hatte er bemerkt, dass es ein Mädchen war. Ich überflog den weiteren Artikel, in dem geschildert wurde, was weiterhin passiert war und das die Polizei Ermittlungen aufnehmen würde.

Ich scrollte wieder rauf zu dem Bild und musterte Grit erneut genau. Sie war mir nicht bekannt und die Zeitung war eine Kölner Lokalzeitung. In Köln war ich noch nie gewesen, sodass ich ihr auch nicht zufällig mal begegnet sein würde. Ich klickte zu den Treffern zurück und fand noch einige Artikel zu Grits Tod, die ich kurz überflog. Letztlich hatte die Polizei den Schluss gezogen, dass Grits Tod ein Unfall gewesen war. Auf ihrem Handy hatte man einige Selfies gefunden, die sie auf dem Geländer der Brücke sitzend zeigten, und es wurde vermutet, dass sie dabei in die Tiefe gestürzt war. Ein tragischer, trauriger Unfall. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Artikel noch gar nicht so alt waren. Der älteste war vom 4. Januar diesen Jahres.

Das erklärte aber immer noch nicht, wieso ich Grits Namen in meinen Notizblock geschrieben hatte.

Der nächste Schultag war furchtbar. Ich hatte noch lange wach gelegen und darüber gegrübelt, wie ich auf den Namen kam. Hatte ich vielleicht den Artikel irgendwann mal gelesen und es war mir jetzt unbewusst wieder eingefallen? Grits Tod war auch in einer größeren Tageszeitung in einem kleinen Beitrag behandelt worden, ausgeschlossen war es also nicht. Ich konnte mich zwar beim besten Willen nicht daran erinnern, aber man vergaß ja auch vieles direkt wieder. Jedoch war ich mir sicher, dass ich mich an solch einen Artikel erinnert hätte. Man las nun einmal nicht so oft vom Tod eines Mädchens, das fast im gleichen Alter war, da vergaß man so etwas nicht einfach wieder. Vielleicht wurde es von anderen Dingen verdrängt, aber spätestens beim erneuten Lesen hätte ich mich doch erinnert.

Ich war im Unterricht ziemlich abgelenkt, da meine Gedanken einfach immer wieder zu den Artikeln und Grit abschweiften. In den Pausen saß ich beim Kiosk, trank einen Kaffee und googelte erneut nach Grit, doch wirklich was Neues ergab sich daraus auch nicht. Die Artikel waren mir schlicht unbekannt und auch die weiteren Bilder, die Grit zeigten, sagten mir einfach nichts. Selbst wenn wir uns irgendwann einmal zufällig auf der Straße begegnet sein sollten, erinnerte ich mich nicht daran, und ihren Namen hatte ich ganz sicher vorher nie gehört.

Grit Wendel.

Die ganze Geschichte verwirrte mich. Hätte ich irgendeinen Namen aufgeschrieben, den ich kannte, dann hätte ich einfach vermutet, dass ich in diesem Moment an diese Person gedacht hatte. Aber ich kannte Grit nicht. Wie kam ich da auf ihren Namen? Ich konnte mir da keinen Reim drauf machen und das war es, was mich so unruhig machte. Irgendwoher musste ich ihn ja kennen. Vielleicht hatte ich den Namen ja auch falsch interpretiert. Immerhin war der Nachname kaum leserlich. Aber eine Suche nach Grit Wenke in meiner Heimatstadt ergab keine nennenswerten Treffer, genauso wenig die Varianten Weuke, Weude, Wente und Weute, was ich alles noch aus dem Nachnamen las, den ich in meinen Block geschmiert hatte. Es gab eine Gerta Wentel in unserer Stadt, stellte ich fest, ihr gehörte ein Friseursalon. Den kannte ich allerdings auch nicht, daher bezweifelte ich, dass ich unbewusst an diesen gedacht hatte. Und der Vorname war sehr leserlich, da stand eindeutig Grit.

Auch auf dem Heimweg dachte ich über den Namen in meinem Notizblock nach und rief noch einmal einen Artikel zu Grits Tod auf, als stünde hier die Antwort auf die Frage, wieso ich ihn aufgeschrieben hatte. Natürlich war dem nicht so, vielmehr fragte ich mich nun auch wieder, warum so ein junges Mädchen sterben musste. Sicher, die Polizei ging von einem Unfall aus, dennoch war es einfach schrecklich, was passiert war. Meine Gedanken wanderten von Grit auch direkt zu Kira. Zwei junge Mädchen, beide tot, auch wenn die Gründe unterschiedlich waren. Dennoch waren zwei junge Menschen einfach aus dem Leben gerissen worden.

Ich versuchte meine Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. In wenigen Tagen fanden unsere Abschlussprüfungen statt und ich musste lernen. Zwar hatte ich bereits das Gefühl, dass ich alles schon mindestens hundert Mal wiederholt hatte, aber ich wollte einfach sicher gehen, dass ich nichts übersah. Chemie räumte ich dabei die meiste Zeit ein, da ich da am Schwächsten war. Dagegen ignorierte ich aber Englisch und Geschichte ein wenig, da dies meine besten Fächer waren. Ich musste daran denken, dass Kira und ich eigentlich zusammen gelernt hätten, und ein Seufzen entkam mir. Die Gedanken an meine beste Freundin würden mich wohl nicht so schnell wieder loslassen. Vermutlich war das aber normal, wenn man jemanden, den man so sehr gemocht hatte, auf diese Weise verlor. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie es Kiras Familie gehen mochte. Sie würden sicher ihr ganzes Leben damit zu kämpfen haben, dass sie eine Tochter und eine Schwester verloren hatten.

Vino riss mich aus meinen Gedanken, indem er sich wie so oft auf meinen Schoß schlich, doch statt sich wie sonst auch zusammenzurollen und zu dösen richtete er sich etwas auf und leckte mir über das Kinn, was mich lachen ließ.

„Na, schmeck ich?“ fragte ich belustigt und kraulte ihn sanft am Hals, bevor ich mein Gesicht in seinem Fell vergrub. Er maunzte leise, was jedoch direkt in ein leises, zufriedenes Schnurren überging. Vino war ein verschmustes Monster und meist war ich sein bevorzugter Schmusemensch, wie ich es nannte. Vielleicht lag es daran, dass ich ihn damals bei der Züchterin ausgesucht hatte. Sie hatte ihre Zucht aufgelöst und Kira und ich hatten die Anzeige zufällig gefunden. Meine Eltern hatten eigentlich im Tierheim nach einer weiteren Katze gucken wollen, aber ich hatte mich auf Anhieb in die hübschen Katzen verliebt und meinen Eltern so lange in den Ohren gelegen, bis sie sich mit der Züchterin in Verbindung setzten. Das war nun sechs Jahre her, Vino war damals gerade mal drei Jahre alt gewesen, aber bereits genauso verschmust wie heute. Er hatte sich sofort gut mit Brina und Mimi vertragen und auch mit Finchen hatte es keine Probleme gegeben, als wir sie zu uns geholt hatten.

Ich war froh die kleine Bande zu haben. Wenn es mir schlecht ging, waren sie für mich da, vor allem mein Vino, der fast jede Nacht bei mir schlief. Ohne ihn hätte ich die letzten Tage und Wochen nicht so gut überstanden. Wenn ich daran dachte, dass ich ihn wohl hier lassen musste, wenn ich für mein Studium tatsächlich umzog, dann spürte ich Trauer in mir aufsteigen. Umziehen ohne Kira, wie wir es eigentlich geplant hatten, weg von meiner Familie, kein Vino und keine Katzen mehr, kein Fergus mehr. Es würde sich in so kurzer Zeit schon so vieles ändern. Irgendwie war ich mir gerade nicht ganz sicher, ob ich das wirklich wollte. Ich konnte ja auch hier bleiben und hier studieren. Damit würde ich zumindest bei meiner Familie bleiben können und musste auch Vino nicht zurücklassen. Ob ich fürs Reiten dann noch Zeit haben würde, würde ich dann ja sehen. Leise seufzte ich in Vinos Fell und sein Schnurren wurde lauter. Er hatte vermutlich gespürt, wie sich meine Gefühle gerade verändert hatten, und wollte mich trösten.

„Schon gut, Vino… ist nur das Übliche. Zukunftsängste. Und ich vermisse Kira“, murmelte ich in sein weiches Fell, bevor ich das Gesicht hob und meinen Kater ansah. „Aber nun geh ich schlafen.“ Ich gab ihm einen Kuss auf den Kopf und ließ ihn los, um ins Bad zu gehen. Ich zog mich um und putzte mir die Zähne, danach kehrte ich wieder in mein Zimmer zurück. Vino saß auf meinem Schreibtisch und streckte sich in die Luft, um gegen meinen Schrank zu hauen. Ich musste grinsen. Katzen waren seltsam, ganz eindeutig. Aber besser, er tobte sich jetzt aus, als dass er mich wieder aus dem Schlaf riss. Ich schaltete das Licht aus und schlüpfte in der Dunkelheit ins Bett, nur um gleich darauf Gesellschaft von Vino zu haben, der sich leise schnaufend eine bequeme Position in meinen Armen suchte. Es dauerte nicht lange, bis ich einschlief.

Der Name Grit Wendel verfolgte mich dieses Mal in meine Träume.


Kapitel 5

Zwar war ich am nächsten Morgen nicht so gerädert wie am Vortag, aber mich ließ die Frage nicht los, was es mit dem fremden Namen in meinem Notizblock auf sich hatte, der sich als leises Wispern durch meine Träume gezogen hatte. Auch als mein Handywecker klingelte, glaubte ich noch immer eine leise Stimme zu hören, die „Grit Wendel“ flüsterte. Ich schüttelte den Kopf, um so die Reste meiner Träume auch von mir abzuschütteln, danach machte ich mich für die Schule fertig. Während ich mich anzog, schlug Vino mit einer Pfote in die Luft. Vielleicht hing da eine Spinne, mit der er gerade spielte. Ich musste selten Spinnen oder Käfer aus meinem Zimmer entfernen, unsere Katzen jagten sie tatsächlich gerne und hielten das Haus so sauber. Allerdings störten mich Spinnen auch nicht weiter, Nachtfalter fand ich viel schlimmer. Aber ein Nachtfalter hätte nicht ruhig in der Luft gehangen.

Auf dem Weg zur Schule bekam ich eine Nachricht von Britta, die mir mitteilte, dass sie einen ersten Entwurf für Kiras Seite hatten. Wir trafen uns am Haupteingang und sie gab mir eine Kopie, damit ich das Okay von Kiras Eltern einholte. Sie würden die Seite sicher mögen. Eigentlich war es sogar eine Doppelseite. Die erste zeigte das Foto von Kira im Urlaub, auf der anderen waren ein paar Zitate und Anekdoten von Kira drin. Britta und die anderen vom Jahrbuchteam hatten schon das ganze Jahr über alles mögliche gesammelt und notiert für das Jahrbuch, sodass sie auch für Kiras Seite genug Material hatten. Ich musste leise lachen, als ich einen der Sprüche von Kira las. „Mathe? Latte? Ich weiß, was mir lieber ist.“ Daneben war ein Foto von Kira mit einer großen Kaffeetasse abgebildet. Eigentlich war sie keine große Kaffeetrinkerin gewesen, aber sie hatte eine Schwäche für Latte Macchiato gehabt.

Während des Unterrichts blickte ich immer mal wieder auf den Entwurf, sodass ich den Ausführungen meiner Lehrer nicht so richtig folgen konnte, da mich die Gedanken an meine beste Freundin ablenkten. Ein Gutes hatte dies allerdings - ich musste nicht mehr ständig über Grit Wendel nachdenken. Erst später, als ich in meinen Notizblock schaute, fiel mir alles wieder ein. Allerdings wollte ich momentan nicht mehr über Grit nachdenken, ich wollte Kiras Grab besuchen. Am Friedhof angekommen ging ich in die Gärtnerei, die an den Friedhof angrenzte, und kaufte eine rosafarbene Orchidee. Die Angestellte machte sie für mich zurecht und ich machte mich schließlich auf den Weg zu Kira. Als ich auf den Abschnitt einbog, wo ihr Grab lag, sah ich bereits jemanden dort stehen. Es war eine Frau, aber Katja konnte es nicht sein, deren Haare waren nicht ganz so lang. Je näher ich Kiras Grab kam, desto sicherer war ich, dass ich diese Frau nicht kannte. Sie war noch jung, nur wenige Jahre älter als ich, und sie blickte traurig auf Kiras Grab. Als ich neben sie trat, blickte sie auf.

„Hallo“, begrüßte ich sie und auch gleichzeitig Kira, danach legte ich die Orchidee auf ihr Grab. Wie immer, wenn ich hier war, stiegen mir Tränen in die Augen. Dieses Mal blinzelte ich sie weg, da ich nicht vor der fremden Frau weinen wollte.

„Hallo“, erwiderte diese meinen Gruß und ich blickte sie fragend an.

„Wer sind Sie?“ fragte ich schließlich direkt und die Frau sah mich überrascht an, dann lächelte sie schwach.

„Mein Name ist Mareike Langer“, stellte sie sich vor.

„Sind Sie eine Freundin von Kira?“ bohrte ich nach, da ich mich einfach fragte, was die Frau hier machte. Sie war mir nicht bekannt, eine Verwandte von Kira war sie wohl nicht. Vom Reiterhof war sie auch nicht, aber irgendwoher musste sie Kira ja kennen. Zumindest konnte ich mir nicht vorstellen, dass man einfach an ein fremdes Grab ging.

„Nein. Ich … habe vor einigen Tagen einen Artikel über Kiras Tod in der Zeitung entdeckt“, erzählte Mareike und ich sah sie weiterhin fragend an. Sie atmete tief durch und holte etwas aus ihrer Handtasche. Es war ein ausgeschnittener Zeitungsartikel. Ich erinnerte mich natürlich an ihn. Darin wurde über Kiras Tod berichtet und gerätselt, was passiert war. Schließlich war die Polizei von Anfang an nicht ganz sicher gewesen, dass es sich um Selbstmord handelte, auch wenn ich nicht wirklich wusste, woran sie das festgemacht hatten. Aber immerhin war das ihr Job, sie wussten natürlich, was sie taten und warum sie so etwas vermuteten. Mareike wies auf das Bild von Kira, das nur wenige Tage vor ihrem Tod entstanden war. „Ihr Armband ist mir aufgefallen“, fuhr sie mit leiser Stimme fort. „Meine Schwester hatte das gleiche.“

„Und …? Das werden sicher viele haben“, meinte ich. Ich verstand nicht wirklich, warum Mareike an Kiras Grab kam, nur weil ihre Schwester das gleiche Armband wie meine beste Freundin gehabt hatte. Mareike atmete tief durch.

„Meine Schwester wurde vor dreizehn Jahren getötet“, erklärte sie leise.

„Das … tut mir leid“, murmelte ich. Allerdings machte das alles immer noch keinen Sinn für mich. Was wollte Mareike hier?

„Danke.“ Mareike atmete erneut tief durch und fuhr sich durch die Haare. „Als ich den Artikel sah, stellte ich mir alles etwas einfacher vor“, gab sie schließlich zu. „Aber das ist es nicht. Ich … Tut mir leid. Ich sollte gehen. Du möchtest bestimmt ungestört sein. Kira war sicher eine Freundin von dir.“

„Ja, meine beste Freundin“, erwiderte ich. „Ich bin übrigens Paula Michels.“

„Freut mich dich kennenzulernen. Und es tut mir leid, dass du deine Freundin so verlieren musstest“, sagte Mareike leise.

„Danke.“ Ich schluckte den Kloß runter, der sich bei ihren Worten in meiner Kehle gebildet hatte, und sah sie fragend an. „Aber warum sind Sie denn nun hier?“

„Du kannst mich gerne duzen“, bot Mareike an und wich so meiner Frage ein wenig aus, bevor sie schließlich leise seufzte. „Ich … kann das gar nicht so wirklich erklären. Es ist … es klingt verrückt.“

„Versuch es“, sagte ich. „Ich meine … du kannst nicht solche Andeutungen machen und hier am Grab meiner besten Freundin auftauchen und denken, dass ich mir da keine Fragen stelle und nicht darüber nachdenke.“

„Ich weiß“, seufzte Mareike auf. „Ich erwähnte, dass meine Schwester das gleiche Armband hatte. Als man sie damals fand, war es weg. Die Polizei ging davon aus, dass der Täter es mitgenommen hat. Vielleicht als Andenken oder so.“ Sie musterte mich mit einem dunklen Blick. „Mir ließ das alles damals keine Ruhe. Immer, wenn in den Zeitungen etwas über Unfälle oder Todesfälle berichtet wurde, habe ich sie gelesen und die Artikel aufbewahrt. Und dabei fielen mir noch zwei weitere Todesfälle auf. Beides Mädchen, beide trugen das gleiche Armband wie meine Schwester.“

„Und du hast da eine Verbindung gesehen“, vermutete ich.

„Ja. Ich hab es meinen Eltern und der Polizei erzählt, aber niemand nahm mich da wirklich ernst. Ich war erst dreizehn und hatte vor kurzem meine Schwester verloren. Alle nahmen an, ich suchte nur einen Weg, um diesen Verlust zu verarbeiten. Es gab ja auch keine Verbindung zwischen meiner Schwester und den beiden Mädchen außer dem Schmuck. Und den konnten sie ja irgendwo in einem Laden erworben haben. So Modeschmuck kommt doch ständig wieder neu auf und sieht sich manchmal eben auch sehr ähnlich“, erzählte Mareike und warf ihr langes Haar zurück. „Aber mich ließ der Gedanke nie los, dass es da eine Verbindung geben musste. Ich habe auch nie damit aufgehört mir Artikel zu Todesfällen durchzulesen. So stieß ich auch auf den Artikel über Kiras Tod. Und auf ihr Bild.“

„Also hat dich das Bild wieder an deine Schwester erinnert“, stellte ich fest.

„Das auch. Aber ich habe auch die Hoffnung, dass man Isabelles Mörder endlich findet, auch wenn es so lange her ist“, sagte Mareike. „Ich weiß, es ist vermutlich der berühmte Strohhalm, an den ich mich klammere, aber ich könnte beschwören, dass es das gleiche Armband ist. Und ich bin mir sicher, dass das irgendwas zu bedeuten hat.“

„Nimm es mir nicht übel, aber das klingt irgendwie nach so einem Krimi mit einem Serientäter“, meinte ich und Mareike nickte.

„Irgendwie so etwas vermute ich auch. Drei Mädchen, mit Kira vier, die so jung ums Leben kamen, alle drei mit dem gleichen Armband? Das soll Zufall sein? Zudem sind meine Schwester und die anderen beiden Mädchen kurz nacheinander gestorben“, erläuterte sie. „Ich habe auch andere Artikel gesehen, wo es auch um den Tod junger Mädchen ging, aber keines von ihnen hatte solch ein Armband. Aber bei zweien habe ich ähnlichen Schmuck gesehen. Das Muster ist doch sehr einprägsam.“

„Warum gehst du damit nicht zur Polizei?“ fragte ich.

„Nicht, bevor ich nicht mehr Hinweise habe. Oder sogar Beweise“, antwortete Mareike entschlossen. „Ich will nicht wieder abgewimmelt werden.“

„Na ja … aber ein Serientäter müsste schon mehr als vier Mädchen getötet haben. Und er muss sie doch wegen irgendeiner Gemeinsamkeit aussuchen“, überlegte ich. Ich konnte Mareike verstehen, dass sie den Mörder ihrer Schwester hinter Gitter wissen wollte, mir wäre es nicht anders gegangen, hätte jemand Lena umgebracht. Es ging mir ja auch mit Kiras Tod nicht anders. Ich wollte ihn aufgeklärt wissen, wollte, dass ihr Mörder ins Gefängnis kam und nie wieder dort herauskam.

„Ich vermute ja, dass er das hat“, entgegnete Mareike. „Ich habe die ganzen Artikel nicht hier, sonst würde ich sie dir alle zeigen. Wie gesagt, das Armband fiel mir immer zuerst auf, weil Isa auch so eins hatte. Aber wie gesagt, ich habe zwei Artikel gesehen, in denen die Mädchen Ketten trugen, die mit dem Muster zu dem Armband passen.“ Ich sah sie fragend an und wies auf den Weg.

„Wollen wir ein Stück gehen?“ Ich wollte einfach nicht weiter an Kiras Grab über diese Dinge sprechen. Mareike nickte und wir setzten uns in Bewegung. Ich schlug den Weg ein, der zum Haupttor führte. „Ich wäre schon neugierig die Artikel zu sehen“, gab ich zu. „Ich will schließlich auch, dass Kiras Mörder gefasst wird. Und wenn es da jemanden gibt, der junge Mädchen tötet, die den gleichen Schmuck tragen …“ Mich erfasste ein Schauder. Diese Vorstellung war grauenvoll.

„Ich habe die Mappe mitgenommen, als ich hierher gefahren bin, aber ich habe sie im Hotel gelassen“, erklärte Mareike. „Ich kann sie dir gerne zeigen. Es gibt unten vor dem Hotel ein Café, das hat besseren Kaffee und Kuchen als das hoteleigene Café.“

„Okay, gerne.“ Ich warf einen Blick auf meine Uhr. „Aber heute hab ich nicht mehr so viel Zeit dafür, ich muss noch zu Kiras Eltern wegen unseres Jahrbuchs.“

„Ich bin noch ein paar Tage hier. Wie sieht es morgen aus?“ fragte Mareike.

„Morgen ist okay“, antwortete ich. Mareike zog einen kleinen Notizzettel aus ihrer Tasche und schrieb mir die Adresse ihres Hotels auf. Ich kannte die Straße, von meiner Schule aus war es nicht einmal sehr weit bis dahin.

„Vielleicht verrenne ich mich wirklich in etwas“, gab Mareike zu, während wir dem Haupttor entgegen gingen. „Aber du kennst es doch sicher auch, wenn du ein Gefühl hast und dich deine Gefühle nie getrogen haben.“

„Hmm, ich hab das weniger, aber ich weiß, was du meinst“, sagte ich.

„Ich wünsche mir einfach, dass ich endlich abschließen kann“, murmelte Mareike.

„Das glaub ich dir. Es muss schrecklich sein, wenn die eigene Schwester getötet wurde und der Mörder immer noch frei herumläuft“, meinte ich. „Wer weiß, wie viele Morde derjenige noch verübt hat.“ Wir gingen gemeinsam bis zur Bushaltestelle, dort verabschiedeten wir uns, da Mareike eine andere Linie nehmen musste. Ich machte mich auf den Heimweg und stand nur wenig später vor Kiras Elternhaus. Auf mein Klingeln hin öffnete mir Janick, Kiras jüngerer Bruder. Er ließ mich rein und erklärte mir, dass seine Mutter in der Küche war, danach trampelte er die Treppe hoch und ich hörte gleich darauf eine Tür zuknallen. Nachdem ich meine Schuhe ausgezogen hatte, ging ich in die Küche rüber.

„Hallo, Katja.“

„Hallo, Paula. Was führt dich her?“ Katja wies auf den Küchentisch. „Setz dich doch. Möchtest du etwas trinken?“

„Nein, danke. Ich wollte nur eben den Entwurf für das Jahrbuch vorbeibringen“, erwiderte ich und holte die Kopien aus meiner Tasche. Ich legte sie nebeneinander auf den Küchentisch und Katja kam zu mir rüber, um sie sich anzusehen. Ein warmes, aber zugleich trauriges Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

„Danke“, sagte sie leise. „Das sieht schon toll aus.“

„Wie gesagt, es ist noch nur ein Entwurf. Britta wollte gerne wissen, ob das für euch auch so okay ist“, meinte ich.

„Matthias kommt heute später, aber ich zeig ihm die Seiten dann gleich und schreib dir direkt. Dann kannst du deiner Mitschülerin morgen Bescheid geben.“ Katja strich sanft über die erste Seite mit der Großaufnahme von Kira. „Mir gefällt es aber sehr und ich denke, Matthias wird es auch gefallen.“

„Okay, dann geh ich rüber. Ich muss noch lernen.“ Wir verabschiedeten uns und ich ging die wenigen Meter zu uns rüber. Von der Begegnung mit Mareike hatte ich Katja nicht erzählen wollen, da ich selbst noch nicht wusste, was ich davon hielt. Vielleicht hatte Mareike wirklich recht und es gab einen Serientäter, dem sowohl ihr Schwester als auch nun Kira zum Opfer gefallen waren. Dreizehn Jahre waren nun auch nicht ein so langer Zeitraum, dass der damalige Täter bereits an Altersschwäche gestorben sein würde, jedenfalls nicht, wenn er nicht damals schon alt gewesen war. Ich war gespannt, was Mareike alles gesammelt hatte.


Kapitel 6

„Nun… Das sind die Artikel von damals“, begann Mareike, nachdem wir kurzen Smalltalk gehalten und auf unsere Bestellungen gewartet hatten. Da unsere Tassen nun vor uns standen, gab es keinen Grund unser eigentliches Thema weiter zu umgehen. Sie öffnete die große, schwarze Mappe und ich konnte sehen, dass sie die gesammelten Artikel ordentlich eingeheftet hatte. Es begann mit zwei Artikeln über den Tod ihrer Schwester Isabelle. Auf dem Foto konnte man ihr Armband nicht sehen, aber Mareike hatte ein paar Fotos ihrer Schwester mit in die Mappe gepackt. Auf einem davon war das Armband gut zu erkennen und es sah dem von Kira wirklich sehr ähnlich. Ich hätte in diesem Moment tatsächlich gesagt, dass es ihm nicht nur ähnlich sah, sondern dass es tatsächlich die gleichen Modelle waren. Ich blätterte weiter und stellte fest, dass die nächsten beiden Opfer auch das gleiche Armband trugen, ganz so, wie Mareike es mir gestern gesagt hatte.

„Na ja… es sieht wirklich so aus wie Kiras Armband“, gab ich zu und sah Mareike fragend an. „Aber warum sollte da ein Zusammenhang bestehen?“

„Ich weiß es nicht“, entgegnete Mareike frustriert. „Es ist einfach ein Gefühl. Hier, schau doch. Sie waren alle 16 oder 17 Jahre alt, hatten alle dieses Armband… Ich finde das schon seltsame Zufälle. Und hier…“ Sie blätterte weiter und tippte schließlich auf einen Artikel, der ebenfalls aus dem Todesjahr ihrer Schwester stammte. Auf dem Bild war eine hübsche junge Blondine abgebildet, die fröhlich in die Kamera lachte. Sie trug eine Kette, auf die Mareike nun wies. „Schau dir das Muster an. Es passt genau zu dem Armband.“ Ich runzelte die Stirn und drehte die Mappe etwas zu mir, um mir das Foto etwas genauer anzusehen. Mareike hatte Recht, stellte ich fest. Vielleicht handelte es sich bei dem Schmuck um ein Set…

Die Kette, die Jonathan Kira hatte schenken wollen, fiel mir wieder ein.

„Kira… Ihr Freund wollte ihr auch so eine Kette schenken“, hörte ich mich sagen und blickte zu Mareike. „Sie sieht genauso aus. Dieses Muster mit den Steinen würde ich immer erkennen.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass solcher Modeschmuck so lange hält oder wieder neu produziert wird nach einigen Jahren“, meinte Mareike mit nachdenklicher Miene. „Vielleicht haben sie den Schmuck immer von ihrem Mörder bekommen…?“

„Kiras Freund ist erst 19. Er kann deine Schwester nicht getötet haben“, erwiderte ich und tippte auf das Datum des Zeitungsartikels vor uns. „Damals war er gerade mal sechs Jahre alt.“ Mareike seufzte auf und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

„Das war auch nur so eine Idee“, sagte sie und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. „Die Opfer damals kamen auch alle aus verschiedenen Städten. Natürlich könnte der Mörder, wenn es wirklich immer derselbe war, herumgereist sein.“

„Vielleicht jemand, der viel auf Geschäftsreisen war“, überlegte ich und blätterte weiter in der Mappe. Mareike hatte sehr viele Artikel gesammelt, die über Morde an jungen Frauen und Mädchen berichteten, aber nicht alle hatten das gleiche Armband wie Kira oder Mareikes Schwester. Auch die Kette sah ich nicht mehr, bis ich einen Artikel jüngeren Datums entdeckte. Diesen hatte ich nicht gelesen, aber ich erkannte das rothaarige Mädchen auf dem Bild.

Grit Wendel. Und sie trug diese Kette.

„Hier bin ich mir auch nicht sicher“, begann Mareike, aber ich hörte ihre Worte nur wie durch Watte. Ich hatte noch immer keine Erklärung dafür, warum ich Grits Namen in mein Notizbuch geschrieben hatte, und nun entdeckte ich einen Artikel über sie in dieser Mappe. „Es ist die gleiche Kette, deswegen fiel mir das auch auf. Aber hier ist sich die Polizei wohl sehr sicher, dass es ein Unfall war.“

„Ja“, murmelte ich und versuchte mich auf Mareike zu konzentrieren. „Irgendwie seh ich aber immer noch keinen wirklichen Zusammenhang. Der Schmuck könnte auch Zufall sein. Vor allem, wenn es bei Grit ein Unfall war, passt das doch wirklich nicht zu deiner Theorie.“

„Und wenn es doch kein Unfall war?“ hakte Mareike nach. „Wenn da jemand war und sie gestoßen hat?“ Ich blickte auf Grits Bild und seufzte leise auf.

„Und dann hat er ihr ihre Kette gestohlen? Warum…? Weil er den Schmuck so toll findet? Oder ein Erinnerungsstück haben möchte, eine… eine Trophäe?“ Ich schüttelte den Kopf. „So schrecklich das auch alles ist, ich kann einfach keine Verbindung sehen. Und nur weil sie den gleichen Schmuck tragen, wird sie doch niemand umbringen.“

„Vielleicht doch“, beharrte Mareike und beugte sich etwas zu mir vor. „Vielleicht hatte derjenige eine Freundin, die auch solchen Schmuck trug und ihn verlassen hat. Und jetzt wird er immer daran erinnert, wenn er ein Mädchen mit dem Schmuck sieht.“ Okay, sie hatte eine Theorie, die sicherlich passen könnte. Ich war vielleicht nicht der größte Fan von Krimis und Thrillern, aber ich hatte auch schon einige gesehen und die Motive der Mörder waren oft sehr merkwürdig und für mich nicht nachzuvollziehen. Dennoch fragte ich mich auch, ob das alles nicht wirklich an den Haaren herbeigezogen war, weil Mareike einfach den Tod ihrer Schwester nicht verkraftet hatte. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie das sein musste. Sicher, ich hatte meine beste Freundin verloren und das tat verdammt weh, aber Lena… Das wäre sicher noch etwas gänzlich anderes. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken.

„Ich weiß nicht…“, sagte ich zögernd und musterte Mareike. „Du machst dir viele Gedanken darüber, oder?“

„Natürlich. Immerhin wurde meine Schwester umgebracht und ihr Mörder ist immer noch auf freiem Fuß. Wer weiß, wie viele Morde er noch begangen hat. Oder begehen wird.“ Mareike seufzte tief auf und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Ich tat es ihr gleich und stellte fest, dass mein Cappuccino fast kalt geworden war. Kein Wunder, wir hatten ja auch mehr geredet als uns unseren Getränken gewidmet. „Es gibt so viele Verrückte auf der Welt. Und manche Täter werden immer wieder rückfällig.“ Ich sah auf den Artikel über Grit und seufzte leise auf. Sollte ich Mareike sagen, dass ich ihren Namen in meinen Notizblock geschrieben hatte? Das beschäftigte mich immer noch, da ich einfach wissen wollte, wie ich auf ihren Namen gekommen war. Mareike schien zu merken, dass ich über etwas nachdachte, denn sie sah mich fragend an. „Was ist los?“ Ich biss mir auf die Unterlippe und tippte auf den Artikel über Grit.

„Ich hab ihren Namen in meinen Block geschrieben“, begann ich. „Allerdings kenne ich sie nicht und ich hatte auch vorher keinen Artikel über ihren Tod gelesen. Daher frag ich mich einfach, wie ich auf ihren Namen komme.“

„Vielleicht hast du den Artikel mal in der Zeitung gesehen“, überlegte Mareike.

„Nein. Ich hätte mich sicher an ihr Bild erinnert“, widersprach ich. „Und hätte ich den Artikel gelesen, hätte ich mich doch wieder daran erinnert, als ich ihn noch mal gelesen hab.“

„Vermutlich.“ Mareike musterte mich nachdenklich und zog schließlich die Mappe näher zu sich. „Ich habe auch weiterhin Artikel gesammelt, aber bei keinem habe ich ähnlichen Schmuck entdeckt. Kira und Grit sind die einzigen aus diesem Jahr. Auch schon zu viele…“ Sie seufzte tief auf und schüttelte den Kopf. „Ich weiß ja, dass es nicht viel ist, aber mich lässt einfach das Gefühl nicht los, dass da ein Zusammenhang besteht. Vielleicht bin ich auch durch meinen Beruf geschädigt.“

„Wieso, was machst du denn?“ fragte ich, froh über die kleine Ablenkung. Auch wenn ich wissen wollte, wer Kiras Mörder war und wie ich auf Grits Namen kam, war ich froh, wenn sich meine Gedanken mal nicht um diese beiden Themen drehten.

„Ich bin Journalistin“, eröffnete Mareike und zog die Nase kraus. „Dadurch, dass ich immer alle Zeitungen durchforstet habe, fing ich auch an mich für Journalismus zu interessieren und irgendwie kam später dann nichts anderes mehr für mich in Frage.“

„Ich muss mir auch langsam Gedanken machen, was ich nach dem Abi mache“, gab ich zu. Ganz sicher war ich mir immer noch nicht, auch wenn Geschichte immer noch ganz oben stand. Aber würde ich damit auch später einen Job kriegen? Mir fiel eines der Gespräche mit Jonathan ein, in welchem er mich ermuntert hatte ins Ausland zu gehen, wenn ich das doch wollte. Vielleicht sollte ich das wirklich machen. Ein Jahr im Ausland als Au Pair oder so. So konnte ich meine Sprachkenntnisse aufbessern und mir in Ruhe überlegen, was ich wollte. Zwar war es immer Geschichte gewesen, was Kira und ich hatten studieren wollen, aber ich musste mir auch überlegen, was dann nach dem Studium kommen würde. Und außer Lehramt fiel mir bei Geschichte nichts weiter ein. Da würde ich wohl noch ein wenig genauer im Internet recherchieren müssen.

„Noch gar keine Ideen?“ fragte Mareike und ich schüttelte den Kopf.

„Nein… Und dabei sind die Abschlussprüfungen schon bald“, gestand ich kläglich und seufzte. „Eigentlich wollten Kira und ich Geschichte studieren. Und ich will das ja immer noch. Aber ich weiß auch nicht, ob ich dann hinterher auch einen Job finde. Und was hab ich von einem Studium, wenn ich hinterher keinen Arbeitsplatz kriege?“

„Bei Geschichte kenn ich mich nicht so aus, aber da gibt es sicher auch einiges, was du machen kannst. Vielleicht auch für Geschichtsmagazine schreiben, in Museen oder einem Archiv arbeiten… Es gibt bestimmt Möglichkeiten“, sagte Mareike mit einem aufmunternden Lächeln, welches ich schwach erwiderte.

„Ich werde mal einfach im Internet schauen. Vielleicht geh ich auch für ein Jahr ins Ausland“, eröffnete ich. „Dann hab ich noch etwas mehr Zeit mir Gedanken darüber zu machen, was ich will.“ Mein Blick fiel auf die Mappe und ich seufzte leise auf. „Kira und ich wollten eigentlich zusammen studieren. Und zusammen reisen. Wir wollten nach Italien.“ Ich atmete tief durch und schüttelte leicht den Kopf. „Und nun weiß ich nicht, ob ich das alles alleine kann.“ Erst als ich dies ausgesprochen hatte, wurde mir bewusst, was mich schon die ganze Zeit unterschwellig beschäftigt hatte. Konnte ich den Träumen folgen, die ich mit meiner besten Freundin gesponnen hatte? Würde ich Geschichte studieren, würde ich mich immer fragen, wie es wäre, wenn Kira noch leben und wir gemeinsam studieren würde. Wenn ich Italien bereiste, würde ich immer meine beste Freundin vermissen. Würde ich so ein Studium oder eine Reise überhaupt genießen können?

„Das kannst du bestimmt“, sagte Mareike leise. „Vielleicht ja tatsächlich noch nicht in diesem Jahr. Überleg dir das mit dem Auslandsjahr. Ich war ein Jahr in Mexiko. Es war wirklich eine spannende Zeit und für mich mal etwas ganz anderes.“

„Mexiko?“

„Ja, ich wollte weit weg, in ein ganz anderes Land. Drei meiner Freundinnen haben auch ein Auslandsjahr gemacht, zwei in Frankreich und eine in Dänemark. Und das war nicht so wirklich, was ich mir vorstellte“, erzählte Mareike und lächelte schief. „Warum also nicht Mexiko? Venezuela und Neuseeland standen auch noch zur Wahl. Ich habe am Ende einfach ausgelost.“

„Ich möchte noch in so viele Länder reisen, da werde ich wohl auch die Qual der Wahl für ein Auslandsjahr haben“, seufzte ich auf. „Vielleicht lose ich es auch aus. Ich muss nur mal schauen, was es da für Möglichkeiten gibt.“

„Ich war ganz klassisch als Au Pair dort und fand es toll. Ich schreibe immer noch mit meinen damaligen Gasteltern und den Kindern. Die älteste Tochter will auch für ein Jahr als Au Pair hierher kommen und ich werde ihr auch helfen, so weit ich kann. Es ist wirklich schön so Freundschaften zu knüpfen und mal Einblicke in andere Kulturen zu bekommen. Ich will dich nicht überreden, aber überleg es dir. Es ist einfach ein Gewinn für einen selbst.“

„Das denke ich auch. Aber ich mache mir Gedanken wegen meiner Schwester. Sie würde mich wohl sehr vermissen.“

„Hmm… Mittels Internet bist du aber nicht aus der Welt. Mach deine Entscheidung nicht von deiner Schwester abhängig. Außerdem… je nachdem, wohin du gehst, findet sie es vielleicht sogar richtig toll, weil du ihr coole Sachen mitbringen kannst“, meinte Mareike und zwinkerte mir zu.

„Na ja… Lena würde sich am Meisten über ein eigenes Pferd freuen, aber das kann ich ihr nicht mitbringen“, stellte ich grinsend fest. „Unsere Eltern erlauben ihr ja auch noch kein eigenes Pflegepferd. Sie ist erst zehn. Wenn sie mit zwölf noch beim Reiten ist, überlegen sie es sich noch mal.“

„Nun, auch ein hübsches Reiteroutfit, das du ihr mitbringst und das es so hier nicht gibt, findet sie sicher toll. Immerhin hätte das nicht jede ihrer Freundinnen.“

„Das stimmt allerdings. Sie schwärmt immer von Cowboyhüten. Würde ich also nach Amerika gehen, wüsste ich schon, was ich ihr mitbringen könnte.“ Eine Weile unterhielten wir uns noch, auch die Artikel in Mareikes Mappe waren wieder Thema unseres Gespräches, aber da kamen wir nicht wirklich weiter. Sie hatte bloß ein Gefühl und ich sah einfach keine Gemeinsamkeit. Vielleicht hatte Mareike ja tatsächlich Recht, aber so wirklich glauben konnte ich es nicht. Als ich schließlich zu Hause in meinem Zimmer saß, schaltete ich meinen Laptop ein und öffnete den Internetbrowser, da ich mich ein wenig informieren wollte, was es außer Au Pair noch für Möglichkeiten gab. Während ich noch überlegte, was ich als Suchbegriffe eingeben sollte, öffnete sich meine Tür und ein Blick dorthin verriet mir, dass es Lena war, die mich fast schon ein wenig schuldbewusst ansah.

„Ich weiß ja, ich soll fragen“, begann sie und bestätigte mir, dass sie wohl etwas ausgefressen hatte.

„Ja, sollst du… Aber worum geht es denn?“

„Na ja, Vino hat vorhin vor deinem Zimmer so gemaunzt und da hab ich ihn auch reingelassen…“ Lena kam zu mir rüber, die Hände hinter ihrem Rücken versteckt. „Er ist auf deinen Tisch gesprungen und hat auf den Schrank gehauen. Ich dachte, da ist vielleicht was drin, ein Spielzeug oder so. Vino ist manchmal so komisch.“

„Hmm, schon… Aber nun sag schon, was ist los?“ hakte ich nach und Lena hielt mir eine Hand hin. Zögernd öffnete sie die Faust, die sie geballt hatte, und eine Kette wurde sichtbar. Die Kette, die ich für Jonathan aufbewahrte.

„Ich hab den Schrank geöffnet und Vino hat nach der Schachtel da drin gehauen. Sie ist runtergefallen und aufgegangen und da hab ich die Kette gesehen und sie ist echt voll schön und ich wollte nur mal schauen, wie sie bei mir aussieht, und da hab ich sie wohl vergessen“, sprudelte es aus Lena heraus und ich seufzte lautlos auf, bevor ich die Kette an mich nahm. „Bist du jetzt sauer?“

„Nein, natürlich nicht“, beruhigte ich meine kleine Schwester und sie lächelte schon wieder.

„Die Kette ist echt schön. Leihst du sie mir mal?“ fragte sie und ich schüttelte den Kopf, was das Lächeln aus ihrem Gesicht wischte.

„Die Kette gehört eigentlich Kira. Ihr Freund wollte sie ihr schenken und hat mich gebeten sie aufzubewahren“, erklärte ich und strich Lena über die Haare. „Deswegen kann ich sie dir nicht leihen.“

„Ach so.“ Das Lächeln kehrte auf Lenas Lippen zurück. „Vielleicht weiß er noch, wo er die Kette her hat. Glaubst du, Mama und Papa würden mir so eine kaufen?“

„Vielleicht. Ich frag ihn mal und wenn wir wissen, wo es sie gibt, fragst du Mama und Papa“, entgegnete ich und nun strahlte Lena regelrecht.

„Das wäre toll. Vielleicht gibt es sie auch mit blauen Steinen. Die sind ja alle rot und durchsichtig, das ist auch schön, aber mit blau fände ich sie noch toller. Ach ja… Und was Vino eigentlich wollte, weiß ich auch nicht. Er hat bloß noch an der Schachtel geschnüffelt und ist dann raus gelaufen.“

„So sind Katzen…“ Lena nickte mir zu, bevor sie mit fröhlicher Miene aus meinem Zimmer stürmte. Ich bezweifelte jedoch, dass unsere Eltern ihr so eine Kette kaufen würden. Auch wenn es nur Modeschmuck war, sah die Kette für eine Zehnjährige viel zu schick und elegant aus. Vielleicht würde ich Lena die Kette schenken, wenn es sie denn noch zu kaufen gab. Es würde sich sicher gut als Abschiedsgeschenk machen, wenn ich wirklich ein Auslandsjahr machen sollte.


Kapitel 7

Die Prüfungen waren die Hölle. Ich hatte am Morgen, als ich vor der ersten Prüfung mit den anderen vor dem Klassenraum auf unseren Lehrer wartete, das Gefühl, ich hätte alles vergessen, was ich jemals gelernt hatte. Schlimmer noch … alles wirbelte wild durcheinander und ergab für mich einfach keinen Sinn mehr. Wenigstens war meine erste Prüfung in Geschichte und so legte sich meine Nervosität, als ich schließlich die Fragen durchlas. Bei Chemie wurde mir zeitweise so übel, dass ich glaubte, ich würde mich gleich auf meinen Tisch übergeben, und vor Italienisch flüchtete ich tatsächlich auf die Toilette, weil ich heulen musste. Nicht wegen Italienisch, ich war gut in dem Fach. Nein.

Es traf mich wieder mit voller Wucht, dass Kira eigentlich mit mir die Prüfungen gemacht hätte.

Wir hätten morgens gemeinsam gezittert und uns hinterher darüber ausgetauscht, was wir geschrieben hatten, um uns zu ärgern, wenn wir feststellten, dass wir etwas vergessen hatten. Die Aufsichtslehrerin fragte mich sogar, ob ich wirklich in der Lage sei die Prüfung mitzuschreiben. Ich musste wirklich grauenvoll aussehen. Wenigstens lagen danach ein paar freie Tage vor mir, bevor es in die mündliche Prüfung ging.

Mit Jonathan und Mareike blieb ich in natürlich Kontakt, aber für ein Treffen hatte ich keine Zeit und auch einfach nicht die Nerven. Beide hatten Verständnis dafür und Jonathan schickte mir vor den Prüfungen immer kurze, aufmunternde Nachrichten. Als er mich auf ein Eis nach den Prüfungen einlud, zögerte ich jedoch, da ich an mein Gespräch mit Britta denken musste. Ich wollte nicht, dass jemand meine Treffen mit Jonathan falsch interpretierte, aber ich fand ihn nett und wäre Kira noch am Leben gewesen, wären Jonathan und ich ohnehin sicher auch Freunde gewesen. Das jetzt auszuschließen, weil Kira tot war, fand ich albern.

Da Mareikes Urlaub schließlich auch endete und sie wieder nach Hause fahren musste, konnten wir uns nicht mehr treffen, aber sie versprach mich auf dem Laufenden zu halten, was ihre Vermutung anging. Ich war immer noch skeptisch. Der Schmuck war einfach nur Schmuck, es musste ihn hundertfach, ach was, tausendfach geben. Wenn es da jemanden gab, der junge Mädchen mit diesem Schmuck tötete, hatte derjenige viel zu tun.

Allerdings ließ mich dieses Thema nicht mehr los und einen Tag vor meiner mündlichen Prüfung schickte ich Mareike meine Adresse mit der Bitte mir ihre Unterlagen als Kopie zu schicken. Nur wenige Minuten später erhielt ich ihre Antwort, sie sagte zu und warnte mich vor, dass sie bereits einen neuen Artikel hatte, der zu ihrem Verdacht passte. Ich schauderte, als ich das las.

>Was? Wo? Hast du einen Link?<

Dieses Mal kam Mareikes Antwort schneller, als hätte sie bloß gewartet, dass ich danach fragte. Der Link führte zu einer Berliner Zeitung. Ich setzte mich an meinen Laptop und gab den Namen der Zeitung in den Browser ein. Schnell hatte ich den Artikel gefunden und konnte hier das Foto besser betrachten. Es zeigte eine etwas melancholisch blickende Dunkelhaarige, doch ein Armband oder eine Kette sah ich nicht. Den Artikel überflog ich nur rasch, bevor ich Mareike wegen des Schmucks anschrieb.

>Sieh dir den Ring an ihrem Ringfinger an.< Auf die Ringe hatte ich nicht geachtet, die Dunkelhaarige, Aylin, wie mir der Artikel verraten hatte, trug mehrere davon. Aber da war tatsächlich einer, der ein vertrautes Schnörkelmuster mit eingesetzten roten Steinen aufwies. Ich zögerte, dann holte ich die Kette aus dem Schrank und verglich sie mit dem Ring. Es war nicht zu leugnen, dass die Schmuckstücke zusammenpassten. Aber das war doch einfach albern. Es waren Zufälle. Der Schmuck war vielleicht einfach gerade in.

War er vor dreizehn Jahren auch in, als Mareikes Schwester getötet wurde? hörte ich eine kleine Stimme in mir und rieb mir über das Gesicht. Nachdenklich griff ich nach meinem Handy, aber ich wollte nicht Mareike schreiben. Jonathan war mein Ziel.

>Hi. Sag mal, wo hast du eigentlich die Kette für Kira gekauft?< Ich zögerte vor dem Absenden. Vermutlich würde er sich wundern, dass ich dies fragte. Und eigentlich brachte es mir doch auch gar nichts, wenn ich wusste, aus welchem Laden die Kette stammte. Es gab unzählige Läden, die solchen Modeschmuck verkauften. Dennoch wollte ich es einfach wissen. >Lena gefällt die Kette und ich will ihr eine schenken, wenn ich tatsächlich mein Auslandsjahr mache.< Das war ein plausibler Grund und es stimmte ja auch, obwohl ich mir grad nicht sicher war, ob ich Lena so eine Kette schenken wollte. Wenn da draußen ein Verrückter war, der Mädchen umbrachte, die eine solche Kette trugen … Nein, da musste meine Schwester leider verzichten. Sie war zwar nicht im Alter der anderen Opfer, aber wer wusste schon, was im Kopf dieses Mörders vor sich ging? Immerhin war es auch ziemlich bescheuert seine Opfer nach ihrem Schmuck auszusuchen.

Aber suchte er sie wirklich nach ihrem Schmuck aus?

Ich betrachtete das Foto von Aylin. Sie hatte äußerlich keine Ähnlichkeit mit Kira oder Grit, so wie auch die beiden keine Ähnlichkeiten aufwiesen. Auch Mareikes Schwester Isabelle ähnelte keiner der drei. Frisur und Haarfarbe waren immer unterschiedlich, so dass ich nicht sagen konnte, dass sie der gleiche Typ wären. Aylin stach mit ihren wilden Locken am meisten heraus, wenn man sie verglich, aber auch Grits rote Haare machten es schwer Ähnlichkeiten zu finden. Langsam glaubte ich, dass Mareike vielleicht doch Recht haben könnte. Der Schmuck blieb eine Gemeinsamkeit.

Mein Handy piepte und ich griff automatisch danach. Eine Antwort von Jonathan. Für einen Moment wollte ich sie mir gar nicht durchlesen. Es würde nichts bringen. Modeschmuck wurde doch überall verkauft, selbst manche Supermärkte hatten kleine Regale mit Modeschmuck. Ich wischte über den Bildschirm meines Handys und rief schließlich Jonathans Nachricht auf.

>Ich hab sie aus einem Antiquitätenladen. Ich hatte das Armband schon da gefunden und gehofft, es gibt noch mehr, was Kira gefallen könnte.< Ein Antiquitätenladen? Okay, das hatte ich nun nicht erwartet. Ich biss mir auf die Unterlippe. Das klang nun nicht nach Modeschmuck, der massenhaft verkauft wurde. Vermutlich war die Kette aus echtem Silber, sonst hätte dieser Laden sie nicht genommen. Aber half mir das weiter? Ich beschloss es auf jeden Fall Mareike weiterzuleiten. Und ich wollte die Adresse des Ladens, fuhr es mir durch den Kopf. Kurz überlegte ich, was ich Jonathan schreiben sollte, dann kam mir eine Idee.

>Ah, okay. Welcher Laden war es denn? Vielleicht haben sie da ja noch was Ähnliches für Lena. Die Kette ist ja doch etwas zu edel für eine Zehnjährige.< Es tat mir leid Jonathan nicht die Wahrheit zu sagen, aber wie ich es schon von Katja und auch später von Mareike gehört hatte, war es wohl besser, wenn nicht zu viele Leute von unserem Verdacht wussten. Ich behielt mein Handy in der Hand und nur wenige Sekunden später hatte ich die Adresse.

>Die haben da schon ein paar schöne Sachen. Und gar nicht so teuer, wie man denken könnte. Ist so eine Mischung aus Antiquitätenladen und Second Hand Shop.<

>Ich kenn den, da war ich schon ein paar Mal mit Kira.< Sie hatte gerne in den alten Sachen gestöbert und einmal ein gutes Schnäppchen mit einem alten Globus gemacht. Mein Handy vibrierte, wieder eine Nachricht von Jonathan.

>Ja, wir waren da auch mal. Deswegen hatte ich ja die Idee ihr von da etwas zu holen.< Ich musste lächeln. Dann hatte er ihr mit dem Armband gleich noch mehr Freude gemacht. Kira hatte sich gleichermaßen für alles Neue, aber eben auch für alte Dinge interessiert. Sie hätte nie ihr komplettes Zimmer mit Antiquitäten vollgestellt, aber der Globus hatte sie begeistert und sie hatte auch überlegt ihre Eltern zu überreden ihr eine alte Truhe zu schenken, die sie da entdeckt hatte. Für Bücher oder anderes hätte sie sich in der Ecke ihres Zimmers gut gemacht. Ich wusste auch, dass sie Schmuck geliebt hatte, auch gerade alter Schmuck hatte ihr gefallen. Meine Gedanken wanderten weiter.

Vielleicht war sie auch alleine öfter in dem Laden gewesen und dem Besitzer oder einem Angestellten aufgefallen. Vielleicht hatte sie demjenigen gefallen und er hatte versucht mit ihr zu flirten, aber sie hatte ihn abgewiesen. Und solch ein Antiquitätenhändler kam doch sicher gut rum, er konnte ja sicher nicht nur in seinem Laden warten, dass ihm jemand etwas verkaufte.

Mir wurde schlecht bei diesen Überlegungen. Das klang so an den Haaren herbeigezogen, nach etwas, was in einem Film oder einer dieser Krimiserien oder einer Soap passieren würde. Rasch schrieb ich Jonathan noch eine Nachricht, dass ich zu tun hatte, danach rief ich Mareike an. Das hier war nichts, was ich kurz in einem Text erläutern konnte. Sie meldete sich bereits nach dem dritten Klingeln.

„Hey, Paula. Was gibt es?“

„Ich hab grad von Jonathan gehört, wo er die Kette und das Armband her hat. Aus einem Antiquitätenladen. Und da war Kira auch öfter, wir waren da auch zusammen, und solche Antiquitätenhändler reisen doch sicher viel und vielleicht hat er was mit dem Mord an Kira und den anderen Mädchen zu tun.“ Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus und ich biss mir auf die Unterlippe. Mareikes Verdacht hatte mich wohl doch mehr in seinen Klauen, als ich geglaubt hatte.

„Okay, noch mal. Kiras Freund hat den Schmuck aus einem Antiquitätenladen.“

„Genau. Ich wollte wissen, wo er ihn her hat, auch wenn es eigentlich Blödsinn ist, ich meine, so Modeschmuck gibt es doch überall. Aber wenn es bei deiner Schwester der gleiche Schmuck war, ist es vielleicht kein Modeschmuck, so unechtes Zeug läuft doch an mit der Zeit. Und wenn das alles nun echter Schmuck ist, erklärt das, warum so ein Laden ihn nimmt, oder?“

„Na ja, Antiquitätenläden nehmen eigentlich nur Antiquitäten und nur weil etwas alt ist, ist es nicht gleich eine Antiquität.“ Mareike klang irritiert und ich war froh sie angerufen zu haben. Wenn ich schon am Telefon so wirr klang, wäre eine Textnachricht wohl noch weniger verständlich gewesen.

„Nein, aber der Laden ist auch zum Teil so ein Second Hand Shop. Aber was ich meine, ist eben, dass so ein Antiquitätenhändler viel reist, um irgendwo Sachen anzusehen und zu kaufen, oder?“ Sie brummte zustimmend und ich nickte, auch wenn sie es nicht sehen konnte. „Und die Berichte, die du gesammelt hast, sind ja auch aus verschiedenen Städten. Vielleicht war der Händler da. Vielleicht hat er versucht … mit Kira zu flirten und sie hat ihn abgewiesen und er war sauer und hat angefangen sie zu stalken. Sie fühlte sich ja beobachtet. Klingt das sehr wirr?“

„Es klingt nicht ganz unmöglich“, entgegnete Mareike langsam, als würde sie nachdenken. „Du hast schon Recht, Antiquitätenhändler reisen viel. Vielleicht hat er diesen Schmuck schon länger in seinem Laden. Ich weiß leider nicht, woher Isabelle ihr Armband hatte. Das hat mich damals nicht so interessiert. Vielleicht weiß meine Mutter es noch.“

„Ich möchte in den Laden gehen“, hörte ich mich sagen, als würde gar nicht ich sprechen, sondern jemand anders. Die ganze Situation war irgendwie unwirklich. Verdächtigte ich wirklich einen völlig Fremden, weil er Schmuck verkaufte? Schmuck, den ich an mehreren Todesopfern gesehen hatte. Ich rieb mir mit der freien Hand über das Gesicht.

„Paula, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Wenn etwas an deinem Verdacht dran sein sollte und das irgendein perverses Arschloch ist, das auf junge Mädchen steht, könnte er auch ein Auge auf dich werfen.“ Mareike klang besorgt und ich seufzte leise auf. Sie hatte natürlich Recht. Das hier war kein Spiel, kein Film, bei dem ich auf Pause drücken konnte. Meine beste Freundin war umgebracht worden, genau wie andere junge Mädchen, alle in einem ähnlichen Alter … in dem ich auch war. Vielleicht war es tatsächlich nicht der Schmuck, vielleicht war der Mörder einfach ein perverses Arschloch, wie Mareike gerade so schön gesagt hatte. Der Schmuck konnte ein Zufall sein, ein dummer Zufall, der nun auf ihn wies. Für uns vielleicht ein glücklicher Zufall. Aber würde die Polizei uns zuhören? Irgendwie bezweifelte ich das, es war doch mehr als dürftig, was wir im Moment vorzuweisen hatten.

„Ich hab morgen eh meine mündliche Prüfung. Das geht vor. Danach treff ich mich mit einigen Freunden. Auf den Reiterhof muss ich auch wieder. So bald geh ich da eh nicht hin.“

„Ich habe Montag und Dienstag frei. Ich setz mich Freitag ins Auto und komm rüber. Dann geh ich in den Laden. Versprich mir, dass du bis dahin nicht alleine dahin gehst, ja?“ Mareikes eindringliche Stimme machte mir nur erneut klar, dass es eine bescheuerte Idee war diesem Verdacht alleine nachzugehen. Ich war keine Polizistin, keine Detektivin, ich war nur eine Schülerin, die gerade ihr Abi machte und den Mörder ihrer besten Freundin hinter Gittern wissen wollte. In Filmen funktionierte es gut mit den jugendlichen Helden, aber die Realität sah anders auf. In der Realität waren solch jugendliche Möchtegernhelden vermutlich schnell tot. Ich schauderte.

Wer wusste denn, ob ich dem Mörder nicht schon aufgefallen war?

Wenn ich Recht hatte mit meinem Verdacht, hatte der Händler mich ja gesehen, als ich mit Kira in seinem Laden gewesen war. Es war ein älterer Mann gewesen, das wusste ich noch, auch wenn ich ihn nicht mehr richtig hätte beschreiben können. Groß, schlank, ergrautes Haar, wie so viele Männer. Er war mir weder sonderlich sympathisch, aber auch nicht unsympathisch gewesen. Eigentlich war er mir kaum weiter aufgefallen, sonst hätte ich mich jetzt wohl besser an ihn erinnern können. Aber er war auf jeden Fall alt genug, dass er vor dreizehn Jahren Mareikes Schwester getötet haben könnte.

„Okay, ich verspreche es.“


Kapitel 8

„Wahnsinn, endlich durch mit der Scheiße!“ Jubelnd warf Britta die Arme in die Luft und ich schmunzelte. Ich hatte noch auf sie gewartet, da wir zusammen mit einigen anderen aus unserem Jahrgang etwas trinken gehen wollten nach der Prüfung. Auch ich fühlte mich erleichtert. Die mündliche Prüfung lag endlich hinter uns, ich hatte mein Abi in der Tasche, auch wenn es die offiziellen Zeugnisse erst in ein paar Tagen geben würde, und die Schule war vorbei.

Ich musste wieder einmal an Kira denken. Sie wäre jetzt eigentlich bei uns gewesen, hätte sich mit uns gefreut und wir hätten an unseren Plänen geschmiedet. Eine Reise nach Italien, bevor wir unser Studium begannen. Alleine wollte ich nicht fahren, zumindest hatte ich bisher nicht mehr gewollt. Aber während ich mit Britta darauf gewartet hatte in den Prüfungsraum aufgerufen zu werden, hatten wir uns über meine Idee mit dem Auslandsjahr unterhalten und sie hatte mich darauf gebracht, dass ich das auch in Italien machen konnte.

Morgen wollte ich mit meinen Eltern darüber sprechen. Sie würden vermutlich nichts dagegen haben, wenn ich ihnen meine Überlegungen genau darlegte. Der Reise mit Kira hatten sie ja auch schon zugestimmt, wenn auch unter der Bedingung, dass ich mein Abi schaffte. Am Bestehen der Prüfungen hatte ich auch nicht wirklich gezweifelt, auch wenn ich an den Prüfungstagen immer nervös gewesen war.

Aber heute wollten wir einfach nur feiern. Der Abiball stand auch noch bevor, heute war es bloß ein Treffen mit ein paar Freunden aus meinem Jahrgang. Die anderen unterhielten sich angeregt, ich warf nur gelegentlich etwas ein und hörte sonst eher schweigend zu. Sonst hatte ich mich gerne an den Gesprächen beteiligt, seit Kiras Tod jedoch war ich ruhiger geworden, wie ich selber gemerkt hatte. Vermutlich war das normal. Wir erreichten gerade die Bushaltestelle, als mein Handy klingelte. Ich warf einen Blick auf das Display und erwartete eine Nachricht von Mareike oder Jonathan, die mich nach dem Ergebnis der Prüfung fragten, aber da blinkte unsere Festnetznummer. Meine Eltern hätten mich über ihre Handys angerufen, also war das wohl Lena. Ich meldete mich und ging ein paar Schritte von meinen Freunden weg, um Lena besser verstehen zu können.

„Hey, was gibt’s?“

„Paula …?“ Lenas Stimme war leise, ein undeutliches Wispern und ich runzelte die Stirn.

„Lena? Was ist los?“

„Hier … hier ist jemand. Mama ist einkaufen und hier ist jemand. Da war ein Schatten am Fenster. Und Mama und Papa haben doch gesagt, dass hier so oft eingebrochen wurde. Ich hab Angst, Paula.“ Das konnte ich deutlich hören, das musste sie mir gar nicht erst sagen.

„Okay, Süße, mach dir keine Sorgen, ich ruf die Polizei und komm gleich nach Hause. Hast du alles abgeschlossen? Die Wohnungstür? Die Terrassentür?“ Sie bejahte und ich atmete erleichtert aus. „Gut. Dann geh jetzt in dein Zimmer und schließ dich dort ein. Es ist alles gut, Süße. Mama kommt bestimmt auch gleich und die Polizisten auch. Ich muss jetzt aber auflegen, damit ich die Polizei anrufen kann, hörst du? Keine Angst.“

„Okay … komm schnell, ja?“

„Natürlich.“ Ich bemerkte Brittas fragenden Blick, winkte aber ab, da ich erst einmal die Polizei anrufen wollte. Es meldete sich zum Glück sofort jemand und ich schilderte, was ich gerade von Lena gehört hatte. Der Mann versicherte mir, dass gleich ein Streifenwagen zu unserer Adresse fahren würde.

„Paula? Was ist los?“ Britta und die anderen sahen mich alarmiert an.

„Ich muss nach Hause. Lena ist grad allein und irgendwer schleicht durch unseren Garten. Ihr habt es gehört, ich hab die Polizei gerufen, aber ich kann Lena nicht allein lassen. Tut mir leid.“

„Quatsch, muss es nicht. Geh schon.“ Ich hob grüßend die Hand und wechselte die Straßenseite, da ich den Bus in die andere Richtung nehmen musste, wenn ich nach Hause wollte. Er hielt zum Glück gerade auf die Haltestelle zu und ich stieg ein, kaum dass sich die Türen geöffnet hatten. Nervös blieb ich bei der Tür stehen und schaute auf mein Handy, bevor ich auf unser Festnetztelefon anrief. Lena meldete sich sofort, sie musste das Telefon mitgenommen haben.

„Paula? Er kratzt an der Tür!“ Sie weinte und mein Herz machte einen Satz. Vermutlich war es tatsächlich ein Einbrecher, der gesehen hatte, dass unsere Mutter das Haus verlassen hatte und nun glaubte, es sei niemand mehr da. Sie schloss immer ab, wenn sie kurz einkaufen ging und Lena allein im Haus blieb. Nicht um Lena einzuschließen, meine Schwester hatte ihren eigenen Schlüssel und konnte jederzeit rausgehen. Nein, es war eine Vorsichtsmaßnahme wegen der ganzen Einbrüche der letzten Wochen. Ich schloss die Tür ja auch immer ab, wenn ich allein zu Hause war und in meinem Zimmer saß.

„Die Polizei ist unterwegs und ich bin auch gleich zu Hause. Bleib in deinem Zimmer, Lena, ja?“ Gedanklich flehte ich den Bus an schneller zu fahren und hoffte, dass es nicht ausgerechnet jetzt einen Stau oder einen Falschparker gab. Ich blieb am Telefon, aber wir sprachen kaum, Lena weinte nur still vor sich hin. Als der Bus endlich an meiner Haltestelle hielt, drängte ich mich nach draußen, kaum dass die Türen sich zu öffnen begannen, und rannte los. Ich sah den Streifenwagen sofort, als ich in unsere Straße einbog. Er war leer, aber als ich auf unser Grundstück lief, sah ich einen Polizisten von hinten kommen. Er sah mir fragend entgegen und ich hob das Handy.

„Ich hatte angerufen“, keuchte ich und wies auf das Haus. „Meine Schwester ist allein da. Haben Sie den Einbrecher?“

„Hier war niemand mehr. Einbrecher geben es schnell auf, wenn sie merken, dass sie nicht so leicht in ein Haus oder eine Wohnung kommen.“ Der Mann sah mich fragend an. „Und wie ist Ihr Name?“

„Paula“, antwortete ich und seine Miene verriet mir, dass das nicht reichte. Natürlich nicht. Himmel, ich stand ja völlig neben mir. „Paula Michels. Ich wohne hier. Meine Schwester ist drin, ich muss zu ihr. Sie hat Angst.“ Der Polizist begleitete mich zur Haustür, sein Kollege kam nun auch dazu. Nachdem ich aufgeschlossen hatte, gingen die beiden vor. Sie wollten sichergehen, dass niemand drin war, auch wenn sie keine Einbruchspuren bemerkt hatten. Fauchen begrüßte uns, dann sprangen zwei unserer Katzen von uns weg. Es ging zu schnell, als dass ich sie erkannt hatte, aber ihr Verhalten erschreckte mich. Sie fauchten sonst niemanden an, auch keine Gäste, die das erste Mal kamen. Vielleicht hatten sie sich wie Lena erschrocken, als der Einbrecher an der Tür gerüttelt hatte.

Die beiden Polizisten durchsuchten rasch das Erdgeschoss, den Keller und schließlich auch die erste Etage. Ich schlich ihnen nach, als sie nach oben gingen, und als sie Entwarnung gaben, eilte ich die letzten Stufen rauf und lief zu Lenas Zimmer, um sachte an ihre Tür zu klopfen.

„Lena, Süße, ich bin es, du kannst aufmachen“, rief ich gleichzeitig, damit sie sich nicht noch mehr erschreckte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ich hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde, und schon im nächsten Moment hing Lena in meinen Armen und ein maunzender Vino strich um unsere Beine. Sie weinte bitterlich und ich drückte sie fest an mich. „Alles gut, hier ist niemand. Hörst du? Es ist gut.“

„Ist … ist er weg?“ schluchzte Lena und blickte zu mir hoch, die Augen rot vom Weinen.

„Ja, ist er. Siehst du, die Polizei ist da.“ Ich wies auf die beiden Polizisten, die auf dem Flur standen und gerade von Brina beschnuppert wurden.

„Lena heißt du, richtig?“ Der jüngere der beiden Männer lächelte gewinnend und Lena nickte schniefend. „Ich bin Tobias, Lena. Hör mal, erzähl mir doch, was passiert ist.“ Sie schniefte noch einmal und wischte sich die Tränen weg.

„Ich hab in der Küche gesessen und gemalt. Mama ist nur kurz zum Einkaufen gefahren, ich wollte nicht mit. Das ist immer doof so spät, da ist es dann voll.“ Sie klammerte sich wieder an mich. „Und dann war da ein Schatten am Fenster. Als ob jemand vorbeigeht. Oder wenn ein Vogel da landet. Also auf dem Fensterbrett. Aber dann war an der Terrasse auch ein Schatten und Vino hat gefaucht. Das macht er sonst nie. Und Mimi hat sich unter dem Sofa versteckt und ist dann nach oben gelaufen.“

„Das sind unsere Katzen“, erklärte ich bei dem fragenden Blick des Polizisten und er nickte. Sein Kollege machte sich währenddessen Notizen. Ich hörte, wie unten die Tür geöffnet wurde, und Lenas Griff um mich wurde fester, lockerte sich aber, als die Stimme unserer Mutter durch den Flur erklang.

„Lena, bin wieder da.“

„Mama!“ Lena ließ mich los und rannte die Treppe nach unten. Ich folgte mit den beiden Polizisten und blickte in das erst verdutzte, dann besorgte Gesicht meiner Mutter.

„Was ist passiert?“

„Ihre Tochter hat einen versuchten Einbruch gemeldet. Bei unserem Eintreffen befand sich aber niemand mehr auf dem Grundstück.“ Ich sah, wie sich bei den Worten des Polizisten der Griff meiner Mutter um Lena festigte.

„Ich war doch nur kurz einkaufen … nur zum Supermarkt“, wisperte sie mit bleicher Miene.

„Einbrecher nutzen Ihre Chancen. Vermutlich dachte er, es sei niemand mehr im Haus und wollte sehen, ob irgendwo eine Tür oder ein Fenster offenstehen.“

„Wir halten alle Fenster geschlossen, wenn wir nicht im Raum sind. Die Terrassentür hat ein Schloss, wir schließen sie auch immer ab, wenn wir nicht unten sind.“ Meine Mutter atmete tief durch. „Das machen wir insbesondere alles, seit hier in der Nachbarschaft öfter eingebrochen wurde. Wir haben auch eine Alarmanlage, aber sicher ist sicher.“

„Lena, hast du jemanden gesehen?“ Der jüngere Polizist, Tobias, wandte sich wieder an meine Schwester, die aber den Kopf schüttelte.

„Nein. Nur einen Schatten. Und da waren Schritte auf der Terrasse. Und da hab ich mir das Telefon genommen und Paula angerufen.“ Sie sah Tobias unsicher an. „Ich hätte gleich Sie anrufen müssen, oder? Mama und Papa haben gesagt, wenn es brennt oder irgendwas passiert, soll ich die Polizei rufen. Tut mir leid.“

„Schon gut, du warst sicher sehr erschrocken.“

„Ja. Das nächste Mal ruf ich Sie dann an.“

„Hoffen wir, dass das nicht sein muss.“ Tobias zwinkerte ihr zu und sie lächelte ein wenig. Der Schrecken schien von ihr zu weichen, jetzt da sie nicht mehr alleine war und die Polizisten ihr versichert hatten, dass hier niemand war, der nicht hier sein durfte.

Sie stellten uns noch einige Fragen, aber Lena konnte nicht mehr erzählen, als sie bereits getan hatte. Ihr war nur der Schatten aufgefallen und sie hatte Angst bekommen, was ich verstehen konnte. Ich war siebzehn und hätte Angst bekommen, wäre ich allein im Haus gewesen, während draußen jemand herumschlich.

„Die Kellerfenster haben wir zum Glück eh vergittert, damit nicht zufällig eine freilaufende Katze oder andere Tiere eindringen können“, erklärte meine Mutter und strich Lena über die Haare. „Aber ich werde noch heute mit meinem Mann reden, dass wir noch Extraschlösser anbringen. Es ist erschreckend, dass diese Leute sich mitten am Tag so etwas trauen.“

„Sie würden sich doch wundern, was wir da alles erleben, Frau Michels. Manche Einbrecher tarnen sich als Handwerker und dringen so in ein Haus ein. Die Nachbarn wundern sich nur selten, wenn Handwerker herumlaufen. Dem kann man ein wenig vorbeugen, indem man seine Nachbarn zum Beispiel bei längerer Abwesenheit, also alles, was über die gewöhnliche Zeit hinausgeht, informiert, dass man keine Handwerker und auch sonst niemanden erwartet. Aber da gibt es unzählige Tipps. Schauen Sie sich einfach mal auf unserer Webseite um. Da haben wir auch viele Links, die zu weiteren hilfreichen Seiten führen.“

„Schrecklich.“ Meine Mutter seufzte und nickte leicht. „Das werde ich. Danke.“ Die Polizisten verabschiedeten sich und ich blickte fragend zu meiner Mutter und Lena.

„Möchtest du einen Kaffee? Und du einen Kakao?“

„Oh ja!“ Lena löste sich von meiner Mutter und holte ihre Lieblingstasse aus dem Schrank, um sich selber einen Kakao zu machen. Meine Mutter nickte mir dankbar zu und begann die Einkäufe auszupacken, die vergessen auf einem Stuhl standen, während ich einen Kaffee aufsetzte.

„Das nächste Mal kommst du mit, Lena“, sagte sie dabei und blickte zu meiner Schwester. „Auch wenn es nur kurz ist und der Laden voll ist. Wenn du keine Lust hast mit durch den Laden zu laufen, kannst du in der Bäckerei warten und ich geb dir mein Handy, da kannst du darauf spielen. Aber du kommst mit.“

„Ja, Mama.“ Dass Lena so widerspruchslos zustimmte, war ein deutliches Zeichen, wie sehr das Erlebnis sie erschreckt hatte. Einkaufen langweilte sie einfach. Es war natürlich etwas anderes, wenn sie nur kurz reinging, um etwas zu naschen zu holen, aber auf den Wocheneinkauf hatte sie nie Lust und blieb meist mit mir zu Hause.

Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr und überlegte, ob ich noch zu meinen Freunden fahren sollte, entschied mich aber dagegen. Nach diesem Erlebnis wollte ich bei Lena sein. Und der Abiball kam ja auch noch, da konnte ich mit ihnen unsere bestandenen Prüfungen feiern. Das Auslandsjahr fiel mir dabei ein und ich sah fragend zu meiner Mutter, während der Kaffee durchlief. Eigentlich hatte ich morgen mit meinen Eltern darüber reden wollen, aber es sprach wohl nichts dagegen, wenn ich mich schon mal etwas vortastete.

„Mama? Gilt es eigentlich, dass ich nach dem Abi nach Italien darf?“ Sie sah überrascht zu mir, lächelte dann aber leicht.

„Natürlich. Papa und ich haben dir das doch versprochen.“

„Okay. Und … wenn ich nun was anderes möchte?“ Ich nahm eine Tasse für sie aus dem Schrank und stellte sie zusammen mit der Kaffeesahne auf den Tisch. Meine Mutter setzte sich und sah mich genauso neugierig an wie Lena.

„Und das wäre?“

„Ich hab überlegt, ob ich nicht ein Auslandsjahr machen soll. Dann kann ich meine Sprachkenntnisse verbessern und solange überlegen, ob ich wirklich Geschichte studieren will. Also, ich will es schon, aber gleichzeitig weiß ich nicht, was ich mit Geschichte hinterher machen kann und Lehrerin will ich nicht werden.“

„Ein Auslandsjahr? Dann bist du ein Jahr weg? Das ist doof.“ Ich hatte es ja geahnt, dass Lena das nicht toll finden würde, und seufzte leise auf.

„Solch ein Auslandsjahr ist nicht schlecht“, entgegnete meine Mutter und lächelte leicht, als Lena eine Schnute zog. „Paula kann anrufen, wir können skypen, uns Nachrichten am Handy schicken. Sie macht einfach einen langen Urlaub.“

„Urlaub machen wir doch alle zusammen. Das ist doof, wenn sie weg ist, dann kommt sie auch nicht mit in den Urlaub.“

„Ich weiß ja, dass das lange ist. Aber es wäre für mich jetzt echt gut. Dann hab ich noch Zeit zu überlegen, was ich mache. Und Mama hat ja Recht, in Kontakt bleiben wir so oder so. Sieh mal, wenn ich zum Studieren wegziehe, bin ich auch nicht mehr hier.“ Lena brummte nur und sah mich skeptisch an.

„Du kannst auch hier studieren. Es gibt hier eine Uni, das weiß ich. Wir waren da.“ Ich verkniff mir ein Lachen und setzte mich zu den beiden an den Tisch.

„Ich weiß. Aber man nicht alles an jeder Uni studieren. Und ein Jahr ist nun auch nicht so lang. Hey … wer weiß, vielleicht bist du auch schon größer als ich, wenn ich dann wieder da bin.“ Zumindest klangen die Worte meiner Mutter sehr danach, dass sie nichts dagegen hatte und meine Eltern zogen da immer an einem Strang – also würden sie mir wohl das Auslandsjahr erlauben.

„Und wohin möchtest du? Was stellst du dir denn vor? Ganz klassisch Au Pair oder etwas anderes?“

„Ja, genau“, wandte ich mich meiner Mutter zu und nickte. „Gibt auch andere Möglichkeiten, aber ich denke, das würde mir schon gefallen. Und ich dachte an Italien.“

„Ah. Ich war jetzt ganz bei Englisch und sah dich schon nach Australien verschwinden.“

„Nein, Englisch kann ich auch so überall anwenden. Aber ich will in Italienisch besser werden. Hey, es ist sicher nicht schlecht, wenn ich später einen Job suche und zeigen kann, dass ich fließend Italienisch spreche. Ist was anderes als nur Englisch.“

„Oh, du musst mich gar nicht mit solch vernünftigen Argumenten überzeugen. Ich finde, dass es eine gute Idee ist und es ist eine Bereicherung.“ Damit war es entschieden. Ich durfte mein Auslandsjahr machen.


Kapitel 9

Zum Glück hatte ich am nächsten Tag frei. Lena hatte nach dem ganzen Erlebnis nicht allein in ihrem Zimmer schlafen wollen und war zu mir gekommen. Wir hatten uns noch einen Film angesehen und über mein Auslandsjahr gesprochen. Mein Vater hatte auch nichts dagegen und ich wollte meinen Eltern gleich morgen mehr Infos zeigen, deswegen hatte ich noch ein wenig im Internet gesurft, als Lena schon schlief. Ich fand kaum Platz, als ich ins Bett kroch, Lena streckte Arme und Beine weit aus und Vino sah mich beinahe strafend an, weil nicht ich in meinem Bett lag.

Mein Schlaf war auch ein wenig unruhig. An Vinos leichte Bewegungen war ich gewöhnt, sie störten mich nicht, aber meine Schwester war da etwas anderes. Größer, schwerer und deutlich zappeliger auch im Schlaf. Dass ich wirre Träume von Kira und Grit hatte, wunderte mich nach dem Aufwachen nicht. Ich blieb noch einen Moment liegen, bevor ich mich aufrichtete und herzhaft gähnte. Lena war bereits weg, sie musste heute immerhin zur Schule.

Noch immer etwas verschlafen ging ich ins Bad, um mir die Zähne zu putzen und zu duschen. Ich hatte mir mein Handy mitgenommen und Musik angemacht, wie ich es oft machte, wenn ich duschte, aber nach wenigen Sekunden machte ich die Musik wieder aus. Nach dem Einbruchsversuch bei uns war ich nervös und ich wollte es hören, falls jemand draußen herumlief oder an Türen oder Fenstern rüttelte. Im Moment war ich allein im Haus, meine Eltern waren arbeiten und Lena noch bis mittags in der Schule.

Ich schüttelte die Gedanken ab. Der Einbrecher würde es wohl nicht direkt heute wieder versuchen. Dennoch ertappte ich mich dabei unter der Dusche die Ohren zu spitzen und mich zu beeilen. Da ich nun endlich wieder Zeit hatte, wollte ich auf den Reiterhof. Fergus fehlte mir und ich wollte mich heute um ihn kümmern. Zum Glück hatte ich für die Zeit meiner Prüfungen jemanden auf dem Hof gefunden, der das übernommen hatte.

Meine Haare ließ ich offen, sie konnten auch an der Luft trocknen, und eilte nur in ein Handtuch gewickelt rasch in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Auch hier lauschte ich weiter auf verdächtige Geräusche, obwohl ich mir langsam albern vorkam. Vermutlich räumte der Einbrecher gerade eine Straße weiter ein Haus aus, während ich hier angespannt auf jede Kleinigkeit achtete. Aber ich konnte mich einfach nicht entspannen. Lenas Erlebnis gestern hatte deutlich gezeigt, dass wir genauso wenig sicher waren wie die Nachbarn, bei denen bereits eingebrochen worden war. Und auch der Gedanke an Kiras Tod – den Mord an ihr – ließ mich nicht los und spukte in meinem Hinterkopf herum.

Fertig angezogen ging ich runter in die Küche und machte mir ein Brot. Erst als ich aß, merkte ich, wie hungrig ich war, so dass noch zwei Brote folgten, bevor ich mich auf den Weg zum Reiterhof machte. Vorher ging ich jedoch noch einmal durch das Haus und schaute nach, ob überall die Fenster verschlossen waren. Natürlich waren sie das, meine Mutter hatte sicher darauf geachtet, bevor sie zur Arbeit gefahren war. Auch die Terrassentür war verriegelt und so verließ ich endlich das Haus.

Fergus freute sich mich zu sehen, zumindest deutete ich sein Verhalten so. Er stupste mich mit den Nüstern sacht gegen die Schulter und den Bauch und prustete leise, als ich ihn zwischen den Ohren kraulte. Da wir gutes Wetter hatten, beschloss ich mit ihm auszureiten. Rasch gab ich in der Verwaltung Bescheid, bevor ich Fergus putzte und sattelte. Er schüttelte den Kopf, als ich anfing, stand dann aber still und genoss wohl das Putzen.

Der Ausritt machte Spaß. Ich hatte es vermisst mit Fergus den Reiterweg entlangzutraben. Ein Stück ließ ich ihn auch galoppieren, verlangsamte dann aber wieder. Die Natur um mich herum, der warme Frühlingstag, Fergus‘ vertraute Bewegungen, das alles ließ mich für einen Moment vergessen, was alles passiert war. Nur Kiras Fehlen erinnerte mich doch daran. Wir waren gerne zusammen ausgeritten.

Eine Weile ließ ich Fergus im Schritt gehen und hing meinen Gedanken nach. In den letzten Wochen hatte sich so verdammt viel verändert. Meine beste Freundin war tot, sehr wahrscheinlich umgebracht. Ihr Mörder lief noch immer frei herum und vielleicht hatte er noch andere Morde begangen. Ich hatte mein Abi in der Tasche, würde ein Auslandsjahr machen und mein Leben damit noch weiter umkrempeln. Ein wenig machte mir das alles Angst, stellte ich fest. Etwas, was ich bisher niemandem außer Kira gesagt hatte. Ihr war es genauso gegangen. Unser Leben als Schülerinnen endete und auch wenn wir uns auf das Studium gefreut hatten, waren wir auch beide nervös gewesen.

Und nun ging ich dem Ganzen alleine entgegen.

Mir wäre wohler gewesen das alles mit Kira zu machen. Sie hätte vielleicht auch ein Auslandsjahr mitgemacht. Oh, das war sogar sehr wahrscheinlich. Ich konnte es mir vorstellen, wie wir gemeinsam etwas in Italien gesucht hätten und dann auch gemeinsam aufgebrochen wären. Das würde leider nicht passieren. Ich fuhr mir mit einer Hand über das Gesicht, um die Tränen wegzuwischen, die mir gekommen waren und mir nun langsam die Sicht nahmen.

„Ich vermisse dich, Kira.“ Ich freute mich, dass Mareike kommen wollte. So gern ich in den Antiquitätenladen wollte, so unwohl war mir auch bei dem Gedanken diesen alleine zu besuchen. Wenn Mareikes Verdacht stimmte und auch an meinem Verdacht etwas dran war, dann war dort möglicherweise ein Mörder. Da sollte ich lieber nicht seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Wenn der Händler tatsächlich etwas mit dem Mord an Kira zu tun hatte, hatte ich wohl Glück gehabt, dass ihm bei unseren Besuchen Kira aufgefallen war und nicht ich. Es war makaber und natürlich freute ich mich nicht, dass es Kira und nicht mich erwischt hatte, aber es hätte eben auch andersherum sein können.

Statt Kira könnte ich nun in meinem Grab liegen.

Und wenn die ganzen Morde wirklich zusammenhingen, konnte das immer noch passieren, denn Kira, Grit und Aylin hatten keinerlei Ähnlichkeiten miteinander gehabt. Nach dem Äußeren schien der Mörder also nicht zu gehen, also konnte er mich auch genauso als sein nächstes Opfer herauspicken. Mir wurde kalt bei diesem Gedanken und ich bekam eine Gänsehaut. Sich so unsicher zu fühlen war widerlich. Wenn das so weiterging, würde ich bald anfangen hinter jeder Ecke den Mörder zu vermuten.

Ich atmete tief durch und versuchte mich zu beruhigen. Wir hatten noch gar keine Beweise, es war alles bisher nur ein großes Gewirr aus Verdächtigungen und Überlegungen, was passiert sein könnte. Die ganzen „vielleicht“ und „es könnte so sein“ halfen nicht, eigentlich taten sie nur eines: Sie machten mich nervös. Ich sollte abwarten, was Mareike bei ihrem Besuch in dem Laden herausfand, ob sie überhaupt etwas herausfinden würde. Wenn sie irgendwas fand, was ein Beweis sein konnte, konnten wir damit zur Polizei gehen, die würden sich um alles Weitere kümmern und ich konnte endlich meine Gedanken abstellen.

Zurück im Stall kümmerte ich mich ausgiebig um Fergus und unterhielt mich kurz mit einer der anderen Reiterinnen. Es war wie früher, wenn ich mit Kira auf dem Reiterhof gewesen war, nur dass mir ihre Kommentare und ihr Lachen fehlten. Als ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle machte, piepte mein Handy. Ich hatte eine Nachricht von Mareike bekommen. Sie hatte sich früher freigenommen und würde schon morgen da sein. Mein Herz machte einen Satz.

Je früher sie kam, desto früher würde sie in den Laden gehen.

Rasch schrieb ich ihr zurück, da ich wissen wollte, ob sie wieder im gleichen Hotel unterkommen würde, was sie auch gleich bejahte. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag und ich ging weiter. Ganz sicher war ich mir gerade nicht, ob ich froh war oder nicht. Doch, ich war froh, aber ich war auch unglaublich nervös. Wenn Mareike nichts fand, was sie der Polizei sagen konnte, saßen wir wieder vor einem großen Nichts.

Ein Rascheln neben mir ließ mich zusammenzucken, doch im nächsten Moment lachte ich über mich selbst. Himmel, ich war viel zu angespannt. Vermutlich war da ein Tier gewesen, ein Vogel oder eine streunende Katze vielleicht. Früher waren mir die Geräusche um mich herum auch nicht so deutlich aufgefallen, das hatte sich mit dem versuchten Einbruch geändert. Zu Hause konnte ich das ja auch verstehen, da war ich eben ängstlich, aber hier draußen war das echt albern. Als ob im Gebüsch jemand auf mich lauerte.

Wobei die Bepflanzung hier doch recht dicht war. Wenn man nicht genau hinsah, sondern einfach zur Bushaltestelle ging, wie ich es eigentlich immer tat, konnte man es übersehen, sollte da doch jemand hocken. Ich schluckte schwer und beschleunigte meine Schritte. Es war albern, natürlich war es das, aber egal wie oft ich mir das auch sagte, es half nicht dabei die kalten Schauer zu verjagen, die mir über den Rücken liefen. Ich wurde erst langsamer, als ich den Weg verließ, der zum Reiterhof führte, und die Haltestelle im Blick hatte. Eine ältere Frau mit einem träge dahockenden Mops wartete dort und irgendwie beruhigte mich das.

Kein Mörder würde zuschlagen, wenn ein Zeuge in der Nähe war. Zumindest nahm ich das an. Vielleicht würde er Zeugen allerdings auch einfach töten. Ich atmete tief durch und versuchte mich von diesen Gedanken abzulenken. Kiras Mörder war sicher nicht hinter mir her, ich machte mich hier nur verrückt.

Ich holte mein Handy aus meiner Tasche und klappte die Schutzhülle auf. Ein bisschen im Internet surfen oder eines der Spiele würden mir helfen auf andere Gedanken zu kommen. Ich hatte eine Nachricht von Jonathan bekommen. Er wollte wissen, ob ich Lust hatte ihn am Samstag zu treffen, da nun meine Prüfungen vorbei waren. Da ich nicht wusste, wann ich mich mit Mareike treffen würde, vertröstete ich ihn auf ein anderes Mal und schlug gleich das Wochenende darauf vor. Es dauerte nicht lange, bis seine Antwort kam.

>Da besuche ich einen Freund. Vielleicht das Wochenende danach?< Mein Bus kam und ich stieg ein, bevor ich Jonathan antwortete.

>Da hab ich Abiball. Ach, wir finden schon einen Tag.< Er stimmte mir gleich zu und wir schrieben noch über ein paar Belanglosigkeiten, bis er sich schließlich verabschiedete, weil er noch etwas zu erledigen hatte. Unser Gespräch hatte geholfen mich abzulenken. Vermutlich waren meine Ängste ganz normal in dieser Situation und sicher würden sie sich auch bald wieder legen. Ich durfte mich nur nicht selber verrückt machen.

Zu Hause angekommen zog ich mich erst einmal um und warf meine Reithose in die Wäsche. Meine Mutter und Lena waren auch schon zu Hause und Lena jammerte, wie unfair es war, dass sie Hausaufgaben machen musste und ich nicht.

„In ein paar Jahren musst du das auch nicht mehr.“ Ich grinste sie an und sie streckte mir die Zunge raus, bevor sie mit ihrem Kakao in ihr Zimmer ging. Vino folgte mir in die Küche und hüpfte dort direkt auf die Heizung, während ich Kaffee aufsetzte.

„Ah, Paula, hast du nachher noch was vor?“

„Was hast du vor?“ Meine Mutter lachte bei der direkten Gegenfrage und rührte in der Sauce, die sie gerade ansetzte.

„Ich wollte zu Katja auf einen Kaffee und ich will Lena nicht allein lassen.“

„Ich hab nichts vor. Geh ruhig und grüß sie von mir.“

„Danke, Liebes. Denk dran abzuschließen, wenn du nach oben gehst.“

„Mama, das mach ich immer.“

„Ich weiß. Dieser Einbruchsversuch hat mich einfach nur noch nervöser gemacht. Ich mag mir das gar nicht vorstellen. Einbrecher. Und Lena war allein.“ Meine Mutter schüttelte den Kopf und seufzte leise.

„Aber sie sind nicht reingekommen. Und sicher versuchen sie es nicht so schnell wieder hier.“ Ich versuchte meiner Stimme einen aufmunternden Ton zu geben, auch wenn ich mir schon Sorgen machte, dass sie es eben doch noch einmal versuchen würden. „Vielleicht sollten wir eine Kamera über der Haustür anbringen“, schlug ich einem Impuls nach vor und meine Mutter sah mich überrascht an. „Mit einem Warnhinweis, dass das Grundstück videoüberwacht wird. Das schreckt doch sicher ab.“

„Das ist eine gute Idee. Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich auch einen Hund anschaffen. Aber wer soll sich um ihn kümmern? Gassi gehen, Erziehung, Beschäftigung …“ Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Das ist nicht mal nebenbei getan.“

„Und vielleicht verträgt er sich auch nicht mit unseren Katzen.“ Der Kaffee war fertig und ich füllte ihn in eine Kanne um. Meine Mutter wollte keinen, daher goss ich nur mir eine Tasse ein, gab Milch und Zucker dazu und nahm einen Schluck. Meine Mutter nickte und stellte den Herd aus.

„Das kommt noch dazu.“

„Ich geh rauf, wenn sonst nichts ist.“

„Na ja, das Essen ist fertig, aber wenn du nichts davon möchtest, bleibt mehr für Lena und mich.“

„Ich bleibe wohl doch noch.“ Grinsend stellte ich meine Tasse ab und ging nach oben, um meine Schwester zu holen, die aus dem Fenster stierte statt ihre Hausaufgaben zu machen.

„Hey, Träumerin, aufwachen. Essen ist fertig.“

„Hm? Oh, cool. Ich hab Hunger.“ Strahlend sprang Lena auf und eilte an mir vorbei. Brina, die auf ihrem Fensterbrett saß, schnurrte zufrieden die Luft an, was mich schmunzeln ließ. Katzen waren eindeutig seltsam. Ich ließ die Tür zu Lenas Zimmer offen, falls Brina auch nach draußen wollte, und ging nach unten. Lena schaufelte sich bereits einen Berg Nudeln auf den Teller und schaute etwas miesepetrig auf die Sauce. „Da sind Pilze drin. Ich mag keine Pilze.“

„Seit wann das nicht mehr?“ fragte ich und nahm den Topf mit Nudeln von ihr entgegen. Sie zuckte mit den Schultern.

„Ich mag sie eben nicht mehr.“ Sie nahm sich ein paar Löffel Sauce, wobei sie genau darauf achtete, keine Pilze auf ihren Teller zu bekommen, danach reichte sie mir den Topf. Ich war nicht so wählerisch und schmunzelte nur, als Lena mir einen Pilz auf den Teller legte, der es doch in ihre Nudeln geschafft hatte. Auch unsere Mutter lächelte.

„Okay, ich merk es mir, keine Pilze für dich in nächster Zeit.“


Kapitel 10

„Okay, du gehst rein, fragst, ob sie ähnlichen Schmuck wie die Kette haben und siehst dich etwas um“, fasste ich zusammen, was Mareike und ich gerade besprochen hatten. Sie nickte langsam.

„Vielleicht krieg ich raus, woher sie die Kette hatten. Im Moment ist das ja unser einziger Anhaltspunkt.“ Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und seufzte leise. Überzeugt von ihrem Plan wirkte sie nicht, ich war es allerdings auch nicht. So sehr ich auch endlich in diesen Laden wollte, so sehr zweifelte ich daran, dass wir wirklich etwas finden würden. Wenn Kiras Mörder auch mit dem Mord an Isabelle, Grit und Aylin zu tun hatte, wäre es ziemlich blöd von ihm gewesen den Schmuck zu behalten. Andererseits tauchte eben dieser Schmuck immer wieder auf. Mittlerweile vier tote Mädchen, die ähnlichen Schmuck getragen hatten – das konnte kein Zufall sein, da musste ich Mareike einfach zustimmen.

„Ich will eigentlich immer noch mitkommen.“

„Nein.“ Mir war klar gewesen, dass Mareike widersprechen würde, aber ganz aufgeben wollte ich es nicht.

„Ich wollte doch eh etwas für Lena suchen. Außerdem war ich doch schon mal da. Mit Kira. Ich denke nicht, dass ich dem Händler irgendwie aufgefallen bin.“

„Paula, wenn dieser Händler irgendwas mit den Morden zu tun hat, ist es zu gefährlich, wenn du da auch auftauchst. Er scheint ja eine Vorliebe für Mädchen in deinem Alter zu haben. Kira, Grit, Aylin, damals Isabelle – alle sechzehn bis achtzehn Jahre alt.“ Mareike schüttelte den Kopf und stellte ihre Tasse ab. „Nein. Ich will nicht, dass du ihm möglicherweise nun auch noch ins Auge fällst.“

„Vielleicht ist er ja auch unschuldig.“

„Vielleicht. Aber das wissen wir noch nicht. Wir brauchen etwas, was wir der Polizei geben können, damit die ihn dann vernehmen. Mehr als die Tatsache, dass Kiras Freund dort das Armband gekauft hat. Wir haben ja nicht einmal den Beweis, dass es das gleiche Armband ist. Der Schmuck könnte immer noch zufällig ähnlich aussehen. Vermutlich sind es keine Einzelteile.“

„Und wenn doch? Wenn er den Schmuck nach den Morden immer wieder mitgenommen hat?“

„Als Trophäe?“ Sie sah mich fragend an und ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Also … ich hatte noch ein wenig nachgedacht. Es ist vielleicht albern oder weit hergeholt, aber vielleicht gehörte der Schmuck seiner Frau oder seiner Schwester. Na, jemandem, der ihm wichtig war. Und nun schaut er immer, wer den Schmuck hat und wenn ihm die Person nicht gefällt, tötet er sie. Damit sie das Andenken an diese andere Person nicht beschmutzt oder so.“ Mareike brummte leise und schüttelte den Kopf.

„Klingt interessant, hat aber einen Haken. Woher soll er gewusst haben, wem Kiras Freund das Armband gibt? Wenn ich mich richtig erinnere, hast du gesagt, er hat es dort als Überraschung gekauft?“ Ich nickte bloß zustimmend und sie zuckte mit den Schultern. „Dann hätte er ihn beobachten müssen, um zu sehen, wem er das Armband gibt. Ich bezweifle nämlich, dass er ihn im Laden danach gefragt haben wird. Und selbst wenn, wird er ihm kaum ein Bild von Kira gezeigt haben, oder?“

„Vermutlich nicht.“ Seufzend rührte ich in meinem Kaffee und fuhr mir durch die Haare. Wenn Polizeiarbeit auch so aussah, dass man rätselte und überlegte, nach Motiven suchte und einen Täter nach dem anderen durchleuchtete, dann war dies endgültig von der Liste möglicher Berufe gestrichen. Zwar hatte ich es ohnehin nie in Erwägung gezogen, aber wer wusste schon, wohin mich meine Überlegungen geführt hätten während meines Auslandsjahrs? „Okay, was anderes. Ich mache mein Auslandsjahr.“

„Hey, das ist prima. Und wo geht es hin?“ Mareike sah mich neugierig an und lächelte.

„Nach Italien. Als Au Pair. Also so hab ich es geplant, ich muss nur noch was finden. Aber meine Eltern sind damit einverstanden. Nur Lena nicht, wie ich es erwartet hatte.“

„Sie wird schon damit zurechtkommen. Ein Jahr klingt erst einmal nach viel, aber wenn es soweit ist, wird sie selber mit der Schule genug zu tun haben, dass es doch nicht so lang ist.“ Mareikes Lächeln wurde etwas breiter. „Italien ist außerdem nun echt nicht so weit weg. Ich weiß nicht, wie deine Eltern da so sind, aber vielleicht machen sie auch mal dort Urlaub in der Zeit und ihr könnt euch zumindest sehen.“

„Lena würde das wohl gefallen. Ach, wir werden ja sehen.“ Ich freute mich auf jeden Fall darauf. Noch hatte ich meinen Eltern nicht erzählt, dass ich nach einem Nebenjob suchte, um mir ein bisschen Geld zu verdienen, bis es losging. Zwar bekam ich ausreichend Taschengeld von meinen Eltern, aber ich wusste ja nicht, was mich in Italien erwartete. Sicher hatten sie nichts dagegen, wenn ich nun nach der Schule ein wenig jobbte.

„Okay.“ Mareike warf einen Blick auf ihre Uhr. „Er macht gleich auf. Ich fahr jetzt los und ruf dich an, wenn ich wieder raus bin.“

„Gut.“ Wir verabschiedeten uns voneinander und Mareike verließ das kleine Café, in dem wir uns getroffen hatten. Ich holte mein Handy aus meiner Tasche, um auf die Uhr zu schauen, und runzelte kurz die Stirn. Der Akku war ziemlich runtergegangen, dabei war er voll geladen gewesen, als ich das Haus verlassen hatte, und ich hatte das Handy kaum benutzt seitdem. Den Übeltäter hatte ich schnell gefunden, ich hatte vergessen den Internetbrowser zu schließen. Der musste wohl den Akku verbraucht haben.

Brummend wischte ich das Display mit dem Saum meines Shirts ab, da mein Spiegelbild darin seltsam aussah. Die Fingerabdrücke vom ständigen Tippen und Wischen ließen es irgendwie verzerrt wirken. Ich musste mir angewöhnen es regelmäßiger zu säubern. Und vielleicht sollte ich nach dem Eincremen der Hände etwas warten, bis ich an meinem Handy herumspielte.

Rasch leerte ich schließlich meine Tasse, bevor ich das Café ebenfalls verließ. Auch wenn ich Mareike letztlich doch zugestimmt hatte nicht mitzukommen, wollte ich doch in den Laden. Natürlich nicht direkt jetzt, wo sie dort war, aber ich würde abwarten, bis sie den Laden verließ und mir eine Nachricht schickte, dann würde ich selber hinfahren. Besser gesagt hatte ich vor in der Nähe des Ladens zu warten. Es gab dort in der Nähe eine Bäckerei, einen Imbiss und ein Café, ich würde mir die Zeit vertreiben können.

Vielleicht war es leichtsinnig, aber ich wollte einfach selber in den Laden. Und da ich das eh plante, hatte ich auch letztlich doch nachgegeben. Warum sollte ich auch mit Mareike diskutieren, wenn ich eh in den Laden gehen wollte? Außerdem hieß es doch, dass vier Augen mehr sahen als zwei, also war es gar nicht schlecht, wenn ich auch hinging.

Natürlich versuchte ich mich mit diesen Gedanken bloß zu beruhigen. Ich war nervös. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass der Händler oder einer seiner Angestellten etwas mit den Morden zu tun hatte. Und wenn der Mörder tatsächlich wahllos junge Mädchen tötete, konnte ich genauso gut sein nächstes Opfer werden. Aber ich konnte den Gedanken einfach nicht abschütteln selber in den Laden zu gehen.

Ich stieg in den Bus und fuhr die kurze Strecke bis zu dem Antiquitätenladen. Mareikes Auto stand ganz in der Nähe und mich durchfuhr ein siedend heißer Stich, dann sah ich aber, dass sie nicht drinnen saß. Rasch ging ich in eine Bäckerei, in der es einen kleinen Cafébereich gab, und holte mir einen Cappuccino, mit dem ich mich so setzte, dass ich auf die Straße schauen konnte.

Eigentlich war es Blödsinn, was ich hier machte. Mareike war jetzt in dem Laden und ich würde kaum mehr herausfinden als sie. Außerdem verhielt ich mich gerade wie eine dieser albernen Gänse aus den Filmen, die meinten alles auf eigene Faust herausfinden zu müssen. In Filmen war das spannend, da es ja sonst kaum eine interessante Handlung geben würde, aber ich befand mich nicht in einem Film.

Seufzend fuhr ich mir durch die Haare. Ich verstand ja selber nicht, warum ich so dringend in den Laden wollte. Es sollte reichen, wenn Mareike da rein ging. Als Journalistin hatte sie sicher ein gutes Auge für Details und wusste, wie sie ihr Gegenüber geschickt ausfragen konnte. Ich dagegen war nur eine Schülerin und noch dazu im Alter der bisherigen Opfer. Mareike hatte Recht, ich sollte mich erst einmal von dem Laden fernhalten, bis wir mehr wussten.

Und dennoch hörte ich die berühmte leise Stimme, die mir zuflüsterte, dass ich in den Laden gehen sollte. Ich nahm einen Schluck von meinem Cappuccino, der ziemlich kalt war, obwohl ich noch gar nicht lange hier saß. Aber ich hatte auch keine Lust mich bei der Angestellten zu beschweren, die guckte ohnehin ziemlich griesgrämig drein. Mein Blick fiel auf einen Jungen, den ich kannte. Jonathan. Es überraschte mich ihn zu sehen, aber vermutlich hatte er etwas hier zu erledigen. Er eilte an der Bäckerei vorbei ohne durch die Fensterfront zu blicken, sonst hätte er mich wohl gesehen.

Ich nahm mein Handy, wobei mir wieder auffiel, dass mein Spiegelbild auf dem schwarzen Display irgendwie verschwommen war. Zwar hatte ich eine Schutzhülle für das Ding, aber es schien doch langsam Rache für die paar Stürze zu nehmen, die es in der Vergangenheit erlitten hatte. Ich stellte das Handy an und blickte auf die Uhr. Mareike war nun schon eine Weile in dem Laden und ich fragte mich, wie lange sie noch bleiben würde. Eine Nachricht hatte ich jedenfalls noch nicht von ihr. Ob sie etwas herausgefunden hatte?

Am Liebsten hätte ich ihr geschrieben, weil ich neugierig und ungeduldig war, aber sie hatte ja versprochen sich zu melden sobald sie den Laden verließ. Ich nahm einen Schluck meines Cappuccinos und hätte ihn beinahe wieder in die Tasse gespuckt. Kalt schmeckte der einfach widerlich. Ohne die Tasse wegzuräumen nahm ich meine Tasche und verließ die Bäckerei.

Draußen blickte ich zu Mareikes Auto, das immer noch leer war. Also war sie noch immer in dem Laden. Ich biss mir auf die Lippe. Da war sie wieder, diese leise Stimme, die mir hartnäckig zuflüsterte in den Laden zu gehen. Ich fuhr mir durch die Haare und machte ein paar Schritte in Richtung des Antiquitätenladens, den ich von hier bereits sehen konnte. Ein wenig zögerte ich dann doch.

Es war albern. Mareike war in dem Laden, sie kümmerte sich darum, dass wir irgendwas hatten, was wir der Polizei geben konnten. Ich würde nur stören und, schlimmer noch, ich konnte dem Ladenbesitzer auffallen, was nicht gut war, wenn er tatsächlich mit den Morden zu tun hatte. Sein nächstes Opfer wollte ich nicht werden.

Doch egal wie sehr ich mir diese vernünftigen Gründe vor Augen hielt – die leise Stimme blieb und verlangte weiterhin hartnäckig, dass ich in den Laden ging. Wieder machte ich einige Schritte auf den Laden zu, vermutlich wäre ich noch weitergegangen, wäre nicht jemand aus dem Laden gekommen. Es war Mareike, die mich auch direkt sah und die Augenbrauen hob. Sie eilte mir entgegen, hakte sich bei mir ein und zog mich mit sich.

„Was machst du denn hier? Hatten wir nicht abgesprochen, dass du wartest?“

„Schon … Tut mir leid, ich weiß auch nicht, was los war. Ich wollte einfach in den Laden.“ Ich ließ mich von ihr zu ihrem Auto führen und stieg auf der Beifahrerseite ein. Sie fuhr sofort los, kaum dass ich mich angeschnallt hatte.

„Ich kann dich verstehen, Paula. Aber wenn dieser Mann irgendwas mit dem Tod von Kira und Isabelle und den anderen Mädchen zu tun hat, könnte er auch auf dich ein Auge werfen. Es ist mir zu riskant, wenn du in den Laden gehst.“ Mareike warf mir einen ernsten Blick zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte, und ich seufzte.

„Ich weiß. Keine Ahnung, ich wollte einfach selber mal in den Laden und gucken … Keine Ahnung, was genau, ich wollte einfach nur hin.“ Ich konnte ihr wohl kaum erklären, dass mich eine innere Stimme dazu drängte. Sie war jetzt leiser geworden, aber immer noch da. „Hast du denn was gefunden? War er irgendwie komisch?“ Neugierig sah ich sie an und Mareike zuckte mit den Schultern.

„Na, gefragt habe ich ihn natürlich nicht direkt und er hat sich auch nicht irgendwie seltsam verhalten. Aber als ich mir den ganzen Schmuck habe zeigen lassen, wirkte er doch skeptisch. Entweder weil er auf der Hut ist oder aber er dachte, ich bin eine Diebin oder kundschafte ihn aus oder so.“ Sie schnaufte. „Jedenfalls hat er keinen Schmuck, der Isabelles oder Kiras Armband gleicht. Oder der Kette. Ich hab ihm auch beschrieben, was ich habe und wozu ich noch etwas suche, so als Ergänzung. Er meinte nur, es könne sein, dass er so etwas mal hatte oder wieder bekommt, aber jetzt habe er eben nur das, was er mir zeigt. Er könne sich nicht an alles erinnern, was er mal in seinem Laden hatte. Was ja auch verständlich ist.“

„Also haben wir nichts“, murmelte ich enttäuscht.

„Leider nicht. Ich hab ihm eine meiner E-Mail-Adressen gegeben, damit er mich anschreiben kann, sobald er neuen Schmuck bekommt, aber das wird uns wohl auch nichts bringen. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn es da irgendwas gegeben hätte.“ Mareike seufzte. „Soll ich dich nach Hause fahren?“

„Danke, das wäre nett.“ Wieder meldete sich diese leise Stimme in mir und forderte mich auf in den Laden zu gehen statt nach Hause zu fahren, doch ich ignorierte sie. Wenn Mareike nichts herausgefunden hatte, würde es mir auch nicht gelingen.


Kapitel 11

Zu Hause angekommen ging ich direkt in mein Zimmer und versuchte mich mit einem Buch abzulenken, was mir jedoch nicht gelingen wollte. Immer wieder musste ich an den Laden und meinen Verdacht denken. Auch wenn Mareike dort nichts entdeckt hatte, wollte ich selber immer noch hin. Zumindest ließ diese innere Stimme nicht locker.

Irgendwann schob ich mein Buch beiseite. Ich konnte mich eh gerade nicht darauf konzentrieren. Ein Kratzen an meiner Tür ließ mich zusammenzucken, aber dann wurde mir bewusst, dass es wohl Vino war, der in mein Zimmer wollte, vielleicht auch eine der anderen Katzen. Es war Vino, maunzend strich er an mir vorbei und sprang auf meinen Schreibtisch, um mich von dort auffordernd anzusehen. Ich setzte mich wieder und nahm ihn auf den Schoß.

Schnurrend rollte er sich zusammen und ließ sich von mir kraulen. Er lenkte mich besser ab als das Buch und ich war froh über seine Gesellschaft. Als es schließlich zu dämmern begann, streckte ich mich etwas, um meine Schreibtischlampe anzumachen. Mein Herz machte einen kleinen Satz, als ich mein Spiegelbild im Fenster sah, und Vino maunzte leise.

„Alles gut, Süßer, ich bin bloß schreckhaft. Ich muss dich mal kurz absetzen, Schatz.“ Er protestierte maunzend, als ich ihn auf den Tisch setzte, und beobachtete mich, als ich die Jalousien herunterließ. Sonst störte es mich nicht sie oben zu lassen, aber irgendwie fühlte ich mich gerade unwohl bei dem Gedanken, dass jeder in mein Fenster schauen konnte, wenn er in unseren Garten kam. Viel würde derjenige wohl nicht sehen können, da mein Zimmer im oberen Stockwerk lag, aber dennoch jagte mir die Vorstellung einen kalten Schauer über den Rücken.

Das so versperrte Fenster beruhigte mich tatsächlich ein wenig und ich ging ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen. So konnte ich mich gleich mit Vino ins Bett legen. Als hätte er meine Idee geahnt, erwartete Vino mich auch bereits auf dem Bett und begann direkt zu schnurren, als ich mich zu ihm legte.

„Du Schlingel, du weißt auch immer, was ich mache, hm?“ Er kuschelte sich in meine Arme und ich lächelte. „Schon recht, Katzen können sowas. Ihr seid ja nicht umsonst als Helfer von Hexen verschrien, hm?“ Er schnurrte und ich nahm das mal auch Zustimmung seinerseits. Träge kraulte ich Vinos Hals, wobei meine Augen immer schwerer wurden. Ich blinzelte und blickte zu meiner Schreibtischlampe. Eigentlich sollte ich sie wohl ausmachen, aber das Licht störte mich nicht. Und ich war schlicht zu faul und zu müde, um jetzt noch aufzustehen.


Grits schulterlanges Haar hing ihr offen ums Gesicht und ließ sie jünger wirken als sie ohnehin war. Sechzehn Jahre war sie nur geworden, bevor ein tragischer Unfall sie aus dem Leben gerissen hatte – oder ein kalter Mörder. Es tat mir leid um sie.

Das muss es nicht“, erklärte sie mit einem Lächeln, das Lebensmut und Optimismus ausstrahlte, auch wenn sie nun tot war. Eine erstaunlich warme Hand legte sich an meine Wange. „Es war kein Unfall. So wie Kira sich auch nicht selber das Leben genommen hat. So wie auch Aylin und Isabelle nicht aus freiem Willen gestorben sind.“ Eine Bewegung neben Grit zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Kira trat an mein Bett heran und tauschte den Platz mit Grit. Vino schnurrte sie an und sie strich ihm mit einem Lächeln über den Kopf.

Sie hat Recht. Ich wollte nicht sterben.“ Ihre Hand verließ Vinos Kopf und legte sich sanft auf meinen Arm. „Sei vorsichtig, Paula. Bitte. Ich will nicht, dass dir etwas passiert.“ Vino wand sich aus meinen Armen, um an Kiras Kinn zu schnuppern und sie lachte leise, ein vertrautes Lachen, dass mir so sehr fehlte. Ich blinzelte ein paar Mal, um die Tränen zu verscheuchen, die mir die Sicht nahmen. Kira und Grit wurden blasser und verschwammen, wurden zu undeutlichen Schemen vor mir, die mich betrachteten. Vino schnurrte, als sich eine verschwommene Hand hob und ihn an den Ohren kraulte.

Kira …“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Alles, was in mir vorging, sagte ich ihr immer, wenn ich an sie dachte oder sie an ihrem Grab besuchte. Was konnte ich ihr jetzt sagen, was sie nicht bereits wusste?

Es ist alles gut. Pass nur auf dich auf, ja?“

Ja. Natürlich pass ich auf mich auf.“

Gut.“ Sie beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Wange, bevor sie Vino einen Kuss auf den Kopf gab und von meinem Bett aufstand. „Werde die Kette los.“ Vino sprang vom Bett und trat zu ihr und Grit, um an beiden zu schnuppern.


Ich erwachte, als Vino an meinem Gesicht schnupperte. Da hatte er sich wohl tatsächlich aus meiner Umarmung entzogen, was einen Teil meines Traums erklären würde. Meine Wangen waren nass und es wurde nicht viel besser, als Vino begann sie abzulecken. Ich zog ihn an mich und vergrub mein Gesicht in seinem Fell, was er mit einem leisen Maunzen quittierte.

Es war wohl verständlich, dass ich von Kira träumte, so sehr wie ich mich mit ihrem Tod beschäftigte. Auch Grits Auftritt erstaunte mich da nicht. Was mich jedoch erstaunte, war die Intensität des Traumes. Es hatte sich beinahe so angefühlt, als sei ich wach gewesen. Wach, aber beinahe bewegungsunfähig. Zumindest war ich nicht in der Lage gewesen mich aufzurichten. Ein ziemlich widerliches Gefühl.

Ich stand schließlich auf, um auf Toilette zu gehen. Als ich wieder in meinem Zimmer war, schaltete ich das Licht aus und kroch zurück ins Bett. Vino kuschelte sich schnurrend wieder in meine Arme und abwesend kraulte ich ihn am Hals. Meine Gedanken drehten sich um den Traum. Ich hatte einmal gelesen, dass man in seinen Träumen das verarbeitete, was einen beschäftigte. Das passte hier wirklich gut. Kiras Tod beschäftigte mich immerhin schon die ganze Zeit, schon seit ich gehört hatte, was passiert war.

Müde tastete ich nach meinem Handy und notierte mir in Stichpunkten, was ich geträumt hatte. Warum ich das tat, wusste ich auch nicht. Kiras letzten Satz – „Werde die Kette los“ – schrieb ich ebenfalls auf. Selbst wenn der Besitzer von dem Antiquitätenladen etwas mit den Morden zu tun hatte, konnte er nicht wissen, dass ich die Kette aufbewahrte. Ich starrte auf diesen letzten Satz und grübelte, was mir mein Unterbewusstsein wohl damit sagen wollte. Der Mann konnte nicht erfahren, dass ich die Kette hatte. Bisher wussten nur Jonathan, Lena, Mareike und ich davon, keiner von uns würde es ihm sagen. Warum auch?

Vino tappte mit der Pfote auf das Display und lächelnd speicherte ich meine Notiz, bevor ich das Handy weglegte. Es war spät, ich konnte morgen auch noch darüber nachdenken, was mir dieser Traum noch sagen wollte, außer eben dass ich noch immer nicht über Kiras Tod hinweg war und mir wohl auch Sorgen machte, dass ich eines der Opfer dieses Verrückten werden konnte.

Mein Blick wanderte zu meinem Fenster. Sonst konnte ich immer etwas Licht von draußen sehen, aber da ich vorhin die Jalousien heruntergelassen hatte, war es nun völlig dunkel in meinem Zimmer. Das war ungewöhnlich und obwohl ich sonst nie Angst im Dunkeln hatte, fühlte ich mich nun doch unwohl. Vielleicht lag es auch an dem Einbruchsversuch bei uns. Ich tastete zum Nachttisch und schaltete die kleine Lampe darauf ein. Vino richtete sich auf und maunzte leise, als wolle er sich beschweren, dass ich heute so unruhig war.

In meinem Zimmer war nichts anders als sonst. Natürlich nicht. Es waren nur meine überspannten Nerven, die mich Gespenster sehen und an Einbrecher denken ließen. Ich stand wieder auf und trat an mein Fenster, meine Hand bereits halb erhoben. Dennoch zögerte ich die Lamellen der Jalousien auseinander zu schieben, um einen Blick nach draußen zu werfen. Schließlich tat ich es doch und … da war nichts.

Natürlich nicht.

Niemand schlich durch unseren Garten. Einbrecher würden wissen, dass wir zu Hause waren und es gar nicht versuchen, und Kiras Mörder, wer es nun auch war, würde sicherlich auch unauffälliger vorgehen, sollte ich ihm doch bereits ins Auge gefallen sein. Ausgeschlossen war das wohl nicht, immerhin war Kira meine beste Freundin gewesen, was er sicher auch wusste. Wieviel hatte er wohl überhaupt von Kira gewusst?

Da ich immer wacher statt müder wurde, ging ich in die Küche, gefolgt von Vino. Ich füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein, wobei ich den Wasserhahn tröpfeln ließ, damit Vino sich an ihm bedienen konnte. Schmunzelnd sah ich ihm einen Moment dabei zu, wie er die Tropfen mit der Zunge auffing, dann nahm ich mir meine Lieblingstasse aus dem Schrank. Sie war ein Geschenk von Kira gewesen und zeigte rundherum die Weltkarte. Eine kleine Erinnerung daran, dass wir gemeinsam reisen wollten, sobald wir die Schule hinter uns hatten. Erst einmal nach Italien und danach überall hin. Seufzend gab ich einen Teebeutel in die Tasse. Diese Reisen würde ich nun alleine machen müssen.

Ein Klacken ließ mich erstarren.

Das hatte geklungen wie der Briefkasten an der Haustür. Von der Küche aus konnte man den gut hören, vor allem wenn es so leise war wie jetzt. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es für den Postboten viel zu früh war – es war gerade einmal kurz nach zwei Uhr. Selbst die Zeitungen kamen später. Vielleicht ging jemand herum und verteilte Flyer für irgendein Restaurant oder einen ominösen Autohändler. Wir hatten so etwas öfter im Briefkasten gehabt, die ganzen Aufkleber mit der Aufschrift „Bitte keine Werbung“ halfen da gar nicht gegen.

Ich war wirklich verdammt angespannt, wenn mich solch ein gewöhnliches Geräusch schon so nervös machte. Mit gespitzten Ohren lauschte ich, ob ich noch etwas hörte, aber alles, was ich wahrnahm, war das Brodeln des Wasserkochers, der sich mit einem vernehmlichen Klicken ausschaltete. Abgelenkt füllte ich meine Tasse mit dem kochenden Wasser, dann ging ich in den Flur. Der Schlüssel steckte im Schloss und als ich versuchte abzuschließen, ließ er sich nicht drehen. Es war also abgeschlossen. Die Kette lag ebenfalls vor, genau wie der Riegel oben an der Tür. Erleichtert atmete ich auf und ging zurück in die Küche.

Ein Schatten huschte vom Fenster weg und ich schrie auf.

Vino sprang fauchend vom Waschbecken weg, blieb jedoch bei mir, das Fell gesträubt und den Schwanz angespannt von links nach rechts schlagend. Also war es eindeutig keine Einbildung gewesen, Vino hätte sonst nicht so reagiert. Er hatte auch etwas bemerkt. Ich stand wie erstarrt da und als ich eine Hand an der Schulter spürte, schrie ich noch einmal auf, lauter und panischer diesmal.

„Paula, was ist denn los um Himmels willen?“ Es war mein Vater, der hinter mir stand und mich verwirrt und besorgt ansah. Ich umklammerte seinen Arm.

„Da war jemand am Fenster“, rief ich und merkte selber, wie hysterisch meine Stimme klang. Mein Vater runzelte die Stirn, dann drückte er kurz meine Hand, bevor er an das Küchenfenster trat und nach draußen blickte. Als er es öffnen wollte, sprang ich zu ihm und packte seine Hand. „Mach nicht auf!“

„Warum schreit ihr denn so?“ Lenas verschlafene Stimme ließ mich zusammenzucken und mir wurde bewusst, dass ich wohl gerade meine gesamte Familie aus dem Schlaf gerissen hatte. Aber da war auch verdammt noch mal jemand vor unserer Küche gewesen! Lena blinzelte mich irritiert an und rieb sich müde über die Augen. „Ich dachte grad, du hast dir die Haare gefärbt.“ Gähnend kam sie zu uns und sah fragend zu unserem Vater hoch. „Was ist denn los?“

„Vermutlich ist nichts, Schatz. Du solltest wieder ins Bett gehen, du musst morgen in die Schule.“ Wie konnte mein Vater so ruhig bleiben? Da schlich wer vor unserer Küche rum, vermutlich durch den ganzen Garten und versuchte ins Haus zu kommen. Waren wirklich alle Fenster geschlossen? Ich schluckte und wäre am Liebsten sofort losgelaufen, um das zu prüfen, aber ich traute mich auch nicht aus der Küche raus. Hier in Anwesenheit meines Vaters fühlte ich mich gerade sicher. Wenn in einem der anderen Räume ein Fenster offen gewesen war und der Einbrecher reingekommen war …

Nein, nicht daran denken. Wir achteten alle darauf, dass die Fenster und Türen geschlossen waren und abends schlossen wir die Haustür ab. Es konnte niemand so einfach ins Haus gelangen. Und wenn der Kerl gesehen hatte, dass jemand zu Hause war, war er vermutlich längst fort und versuchte sein Glück nun bei einem Nachbarn.

„Okay.“ Lena gähnte noch einmal, nahm sich dann aber ein Glas und füllte es am Waschbecken. Nachdem sie ausgetrunken hatte, schüttete sie den Rest in den großen Blumentopf mit dem Basilikum, eine Angewohnheit, die sie von unserer Mutter übernommen hatte. So bekamen unsere Küchenkräuter immer genug Wasser. Lena wünschte uns noch einmal eine gute Nacht, drückte uns beide und stampfte dann die Treppe nach oben. Ich wunderte mich, dass meine Mutter noch nicht in die Küche gekommen war, aber bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, sah mein Vater mich ernst an.

„Konntest du jemanden erkennen?“

„Nein.“ Ich seufzte frustriert. „Es ging so schnell. Ich hatte was gehört, als hätte jemand was in den Briefkasten geworfen, und wollte schauen, ob die Tür zu ist. Und als ich wieder in die Küche kam, sah ich gerade noch jemanden vom Fenster weghuschen. Und da war sicher jemand. Vino hat auch gefaucht. Schau doch, wie er immer noch zum Fenster starrt. Da war jemand, Papa.“

„Ich glaube dir. Diese Einbrecher werden immer dreister. Aber die Videokamera wird übermorgen installiert, dann haben wir noch einen zusätzlichen Schutz. Außerdem hab ich eine Firma beauftragt, die Sicherheitsschlösser an den Fenstern anbringen wird. Und wir tauschen alle Schlösser aus.“

„Hoffentlich hilft das auch.“ Ich sah aus dem Fenster, aber viel konnte ich nicht erkennen. Da das Licht in der Küche brannte, spiegelte sich die Einrichtung im Glas und ich sah nur den kleinen Ausschnitt direkt vor dem Fenster.

„Das hoffe ich auch. Am Wochenende setzen deine Mutter und ich uns noch mal hin und überlegen, was wir noch tun können.“ Ich nickte nur leicht auf seine Worte. Das Problem hier war, dass die Häuser alle frei auf ihren Grundstücken standen und sich nicht aneinanderreihten wie Reihenhäuser. Das machte es für Einbrecher leichter nach hinten in den Garten zu gelangen. Bei Reihenhäusern, wie ich sie von Freunden kannte, war das nicht möglich. Da war die einzige Angriffsfläche eben vorne, zumindest sah ich das so. Was wusste ich schon, wie Einbrecher vorgingen. Aber hier bei uns konnten sie es von allen Seiten versuchen.

Eigentlich, so dachte ich mir, als mein Vater sich von mir verabschiedet hatte und ich mich mit meinem Tee in mein Zimmer verzog, war so ein Einbrecher eine gute Ablenkung von Kira und ihrem Mörder. Das war wohl makaber, aber Einbrecher waren in meinen Augen gerade die kleinere Gefahr und es war leichter sich damit auseinander zu setzen.

Und was, flüsterte die kleine Stimme in mir, wenn es gar kein Einbrecher war?


Kapitel 12

Ich schlief miserabel in dieser Nacht. Immer wieder fuhr ich zusammen, weil ich glaubte etwas gehört zu haben. Vino war mir nun auch kein Trost. Sonst schaffte er es immer mich mit seinem Schnurren zu beruhigen, aber diesmal blieb ich unruhig und nervös. Auch der Tee hatte kaum geholfen, er sorgte bloß dafür, dass ich irgendwann auf Toilette musste. Ich wagte mich kaum raus auf den Flur und lauschte auf jedes kleine Geräusch, bevor ich dann doch die wenigen Schritte ins Bad huschte.

Daher stand ich auch früh am Morgen auf, als ich hörte, wie meine Eltern aufstanden. Ich hätte ausschlafen können, aber ich wollte mich von ihnen verabschieden – und selber sehen, dass die Tür abgeschlossen war, sobald sie gegangen waren. Meine Mutter bereitete gerade Frühstück für Lena vor, sie sah blass und müde aus.

„Tut mir leid, dass ich euch geweckt haben“, begann ich und sie winkte ab. „Guten Morgen.

„Guten Morgen. Und ich konnte ohnehin kaum schlafen. Migräneanfall.“ Deswegen war sie wohl auch nicht nach unten gekommen. Gelegentlich hatte sie diese Anfälle und konnte sich dann kaum rühren. Eigentlich halfen ihr dann nur ihre Tabletten, ein abgedunkelter Raum und ein kühler Lappen.

„Setz dich. Ich mach das Frühstück fertig.“ Dankend nahm meine Mutter Platz und zog ihre Tasse Tee zu sich heran. Nach einem Migräneanfall trank sie keinen Kaffee, allerdings hatte sie welchen aufgesetzt. Mein Vater nahm immer welchen mit zur Arbeit. „Ist Papa schon weg?“

„Nein, er sieht sich gerade im Garten um.“

„Oh.“

„Diese Einbrecher machen mir Sorgen. Irgendwann steigen sie doch noch ins Haus ein, während wir hier sind. Ich hätte nicht nach Berichten googeln dürfen.“ Meine Mutter seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Da fragt man sich wirklich, was in den Köpfen dieser Leute vorgeht. Für ein bisschen Bargeld und ein paar Wertgegenstände brechen sie in Häuser ein, fesseln die Bewohner, wenn die doch da sind … Ah, nein, das ist kein Thema für den Morgen.“ Das war es tatsächlich nicht. Lena würde auch jeden Moment in die Küche kommen und sie hatte ohnehin immer noch Angst wegen ihres Erlebnisses. Da brauchte sie nicht noch zusätzliche Geschichten hören. Die Haustür ging auf und ich spannte mich kurz an, dann kam aber mein Vater in die Küche. Oh Mann, ich war wirklich viel zu nervös.

„Es sind keine Fußabdrücke vor dem Fenster zu sehen. Wer da auch war, er stand wohl auf dem Rasen und nicht direkt vor dem Fenster.“ Mit grimmiger Miene trat mein Vater an die Kaffeemaschine und füllte seinen Thermobecher. „Ich würde ja die Polizei rufen, aber so bringt das gar nichts. Guten Morgen, Paula. Entschuldige. Ich bin noch völlig durch den Wind.“

„Schon gut. Guten Morgen.“ Ich stellte den Teller mit Lenas Broten auf den Tisch und hörte meine Schwester auch schon die Treppe herunterlaufen.

„Guten Morgen“, rief sie vergnügt und stürzte sich auf ihre Brote. Sie wusste ja auch noch nicht, was ich gestern erlebt hatte. Wenn es nach mir ging, musste sie es auch nicht erfahren, zumindest nicht jetzt. Aber verheimlichen konnten wir es ihr auch nicht, zumindest nicht lange. Es war wichtig, dass sie vorsichtig war und immer gut abschloss und die Fenster zumachte, wenn sie ein Zimmer verließ.

„Ich muss los. Bis nachher.“ Damit eilte mein Vater aus dem Haus. Meine Mutter hatte flexiblere Arbeitszeiten und wartete, bis Lena gegessen hatte, dann verabschiedeten sie sich auch von mir und verließen das Haus. Ich schloss hinter ihnen ab, danach leerte ich die Spülmaschine und packte das benutzte Geschirr hinein. Etwas ratlos sah ich mich um. Es war ungewohnt nicht mehr zur Schule zu müssen. Eigentlich war es ja nichts anderes als in den Ferien, nur das Wissen, dass es eben keine Ferien waren, machte diese freie Zeit so speziell, so anders.

Spontan beschloss ich in die Bibliothek zu gehen und mir irgendeine italienische Lektüre zu besorgen, um so meine Sprachkenntnisse frisch zu halten. Rasch duschte ich und zog mich um, dann packte ich meine Sachen und schrieb Mareike eine kurze Nachricht, in der ich ihr vorschlug, dass wir uns ja nachher treffen konnten. Danach verließ ich das Haus und stellte dabei fest, dass die Zeitung noch im Briefkasten steckte. Mein Vater nahm sie sonst immer mit zur Arbeit, aber vermutlich hatte er das heute Morgen nicht mehr im Sinn gehabt. Ich nahm sie raus und öffnete den Briefkasten, da ich die Ecke eines Flyers sah. Tatsächlich waren da zwei Flyer drin und noch ein bedruckter Zettel. Vermutlich die Werbung irgendeines windigen Händlers, das hatten wir öfter im Briefkasten.

Es war keine Werbung.

HÖRT AUF ZU SCHNÜFFELN.

Vier Worte, die mir in dieser Kombination einen kalten Schauer über den Rücken jagten. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, die ich im Flur stand und auf den Zettel starrte, aber es waren tatsächlich nur wenige Minuten. Mein Kopf war wie leer, als ich in mein Zimmer hochging und aus meinem Schrank eine Plastikhülle nahm, die ich für Schulunterlagen genutzt hatte. Ich schob den Zettel hinein, legte ihn zusätzlich in einen Schnellhefter und schob diesen in meine Tasche. Danach nahm ich mit zittrigen Fingern mein Handy und rief Mareike an. Sie meldete sich bereits beim zweiten Klingeln.

„Hey, Paula …“

„Wir müssen uns treffen. Jetzt sofort. Ich komm zu dir.“

„Was ist los? Ist etwas passiert?“ Sie klang besorgt und es war diese Sorge, die die Starre von mir abschüttelte. Ich schauderte heftig und nickte, auch wenn sie diese Bewegung nicht sehen konnte.

„Ich zeig es dir gleich. Ich bin unterwegs.“ Hier im Haus fühlte ich mich gerade nicht mehr sicher. Nicht nach dem Erlebnis in der Nacht und dem Fund dieses Zettels. Die kurze Nachricht konnte sich ja nur auf Mareike und mich beziehen und das wiederum konnte nur bedeuten, dass Kiras Mörder ganz genau wusste, dass wir nach ihm suchten.

Und das wiederum sagte mir, dass es der Besitzer dieses Antiquitätenladens sein musste.

Nervös verließ ich das Haus und schloss sorgfältig hinter mir ab. Ich sah mich um, konnte aber niemanden sehen. Ob ich ihn überhaupt bemerken würde, wenn der Mann hier irgendwo war und mich beobachtete? Vielleicht saß er in einem der Autos, die am Straßenrand parkten. Ich umklammerte fest den Riemen meiner Tasche, bevor ich zur Bushaltestelle eilte. Hier wartete leider niemand, was mir nicht half meine Angst zu bekämpfen. Wenigstens dauerte es nicht lange, bis der Bus kam. Ich ergatterte einen Sitzplatz nah an der Tür und sah während der Fahrt aus dem Fenster, ohne dass ich wirklich etwas sah.

Also hatte ich tatsächlich den Briefkasten in der Nacht gehört. Der Kerl war bei uns gewesen und hatte den Zettel eingeworfen. Und als er das Licht in der Küche bemerkt hatte, hatte er einen Blick hineingeworfen und war erst geflohen, als ich in die Küche gekommen war. Wäre ich nur ein wenig aufmerksamer gewesen, hätte ich ihn vielleicht erkennen können. So konnte ich nur sagen, dass da jemand am Fenster gewesen war. Aber es musste die gleiche Person gewesen sein, die den Zettel eingeworfen hatte, immerhin war das direkt im Anschluss gewesen.

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich tatsächlich meine Haltestelle verpasste, aber zum Glück war der Weg zu Mareikes Hotel nicht weit, so dass ich zu Fuß ging. Ein wenig hoffte ich auch, dass mir der kurze Spaziergang und die frische Luft helfen würden einen etwas klareren Kopf zu kriegen, aber da tat sich nichts. Ich war zwar nicht mehr ganz so erstarrt wie in dem Moment, als ich den Zettel entdeckt hatte, aber ein bisschen hielt diese Starre noch an.

Mareike wartete vor dem Hotel auf mich und kam mir gleich entgegen, als sie mich entdeckte. Ich schüttelte bloß den Kopf, als sie wissen wollte, was los war. Sie sah besorgt aus und in einem entlegenen Teil meines Verstandes verstand ich das auch. Vermutlich machte ich gerade einen seltsamen Eindruck auf sie. Ich steuerte das Café an, in dem wir schon mal gesessen hatten. Zum Glück öffnete es schon früh. Wir nahmen in einer Ecke Platz und nachdem Mareike für uns beide Kaffee und Croissants bestellt hatte, holte ich den Hefter aus meiner Tasche und reichte ihn ihr.

„Der Zettel war heute in unserem Briefkasten.“ Ich hörte selber, wie leer meine Stimme klang. Mareike wurde blass, als sie den Hefter aufschlug.

„Hast du ihn deinen Eltern gezeigt?“

„Noch nicht. Sie waren schon weg, als ich gehen wollte und den Briefkasten geleert hatte.“ Ich erzählte ihr von dem Vorfall in der Nacht und sie atmete tief durch. „Er meint uns. Ganz bestimmt.“

„Ich denke auch. Sicher schnüffeln weder deine Eltern noch Lena jemandem hinterher.“ Mareike rieb sich über das Gesicht, die Augen immer noch auf den Zettel gerichtet. „Das ist nun etwas, was wir der Polizei geben können. Es ist doch ein sehr großer, sehr seltsamer Zufall, dass du diesen Zettel bei euch findest, nachdem ich gestern in dem Laden war.“ Die Kellnerin brachte unsere Bestellung und Mareike bezahlte. Ich stand gerade so neben mir, dass ich nicht einmal daran dachte zu protestieren.

„Dann sollten wir gleich zur Polizei gehen.“ Ich nahm einen Schluck von dem Kaffee und Mareike nickte.

„Sollten wir. Aber du musst auch deinen Eltern davon erzählen.“

„Sie arbeiten jetzt. Meine Mutter ist erst gegen Mittag zu Hause.“ Ich zog mein Handy aus der Tasche und machte ein Foto von dem Zettel. Sicher würde die Polizei ihn behalten und ich wollte etwas haben, um es meiner Mutter zeigen zu können, sobald sie zu Hause war. Mareike schloss den Hefter wieder und trennte sich ein Stück von einem der Croissants ab.

„Okay. Also, wir gehen gleich zur Polizei und erzählen ihnen hiervon. Danach begleite ich dich nach Hause. Deine Eltern müssen davon wissen. Das hier“, bei diesen Worten tippte sie auf den Hefter, „ist kein Zufall. Kein Spaß. Ob es nun tatsächlich der Ladenbesitzer ist oder nicht, Kiras Mörder weiß, dass wir einen Verdacht haben. Und ich bin mir sicher, dass er nicht nur Kira getötet hat, sondern auch Isabelle. Und Grit und Aylin und noch andere Mädchen.“ Sie sah mich grimmig an. „Und wer weiß, wie viele Mädchen noch folgen werden, wenn die Polizei ihn nicht einsperrt.“ Ich schauderte. Solche Dinge kamen sonst nur in Büchern oder Filmen vor und da machte es mir auch Spaß der Handlung zu folgen und zu überlegen, wer wohl der Mörder war. Aber das hier war ernst.

Eine Weile schwiegen wir beide, aßen die Croissants und tranken unseren Kaffee. Ich war so nervös, dass ich kaum etwas herunterbekam, aber gleichzeitig hatte ich auch Hunger und wollte nicht gleich mit knurrendem Magen bei der Polizei sitzen. Ein Kribbeln erfasste mich bei dem Gedanken, dass wir den Polizisten nun endlich etwas geben konnten. Etwas, was meiner Meinung nach absolut auf den Besitzer des Ladens hinwies. Mareike war gestern bei ihm gewesen und in der Nacht warf jemand bei uns diesen Zettel ein – nein, das war kein Zufall.

Mareike machte sich ebenfalls ein Foto von dem Zettel und schließlich verließen wir das Café. Mein Herz pochte wild in meiner Brust, als wir zu ihrem Wagen gingen. Jetzt wurde es ernst. Jetzt würden wir sehen, ob die Polizei uns ernst nahm oder ob sie unsere Vermutungen und den Zettel als Unsinn abtaten. Mareike hatte ja ihre Erfahrungen damit gemacht, dass die Polizei ihr nicht glauben wollte oder zumindest nicht viel machte auf ihre Überlegungen hin. Aber dieser Zettel war doch ein Hinweis, dass es jemanden gab, dem es nicht passte, dass wir nicht stillsaßen, sondern nach Kiras Mörder suchten. Zudem war die Polizei ja auch sicher, dass Kira sich nicht selbst umgebracht hatte. Vielleicht würden sie nun den Antiquitätenhändler durchleuchten und irgendwas finden, etwas, was Mareike nicht hatte finden können. Die Polizei hatte immerhin ganz andere Möglichkeiten.

Ich hoffte, dass es noch andere Fingerabdrücke als meine auf dem Zettel gab. Bei Kiras Abschiedsbrief hatte man ja nur ihre Abdrücke gefunden. Vielleicht war der Mörder dieses Mal nicht so aufmerksam gewesen.

Die Fahrt zum Polizeirevier kam mir elendig lang vor, dauerte aber tatsächlich nur knappe zwanzig Minuten. Mareike parkte auf dem Besucherparkplatz und mit flatterndem Magen schnallte ich mich ab. Meine Tasche fest an mich gepresst stieg ich aus und folgte Mareike zum Haupteingang. Ich war noch nie auf einem Polizeirevier gewesen und wunderte mich doch ein wenig, dass es so normal aussah im Eingangsbereich. Es gab einen Empfang, an dem zwei Männer saßen, die recht gelangweilt wirkten, eine Glastür trennte einen Korridor von der Eingangshalle ab und an der Wand gegenüber dem Tresen waren mehrere Plakate der Polizei angebracht. Irgendwie hatte ich mir ein Polizeirevier anders vorgestellt. Viel belebter. Aber vermutlich sah es auf anderen Etagen anders aus. Hier war ja nur der Eingang.

Mareike schilderte einem der Männer unser Anliegen und er nickte zu ihren Worten, bevor er ihr schließlich etwas auf einen Zettel kritzelte und uns auf die Fahrstühle verwies, die in dem Gang hinter der Glastür lagen. Nervös folgte ich Mareike, die völlig entspannt wirkte. Vermutlich war sie einfach schon so oft bei der Polizei gewesen, dass dies hier für sie nichts Neues mehr war.

Hinter der Glastür erstreckte sich noch ein Gang, der vom Eingangsbereich aus nicht zu sehen gewesen war, und direkt an der Seite neben der Tür war eine Treppe und neben dieser die Fahrstühle. Es dauerte nicht lange, bis einer bei uns ankam. Die Rückwand des Fahrstuhls war verspiegelt und ich runzelte etwas die Stirn, als ich mein Spiegelbild sah. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, mein Haar schimmerte rot, aber vermutlich war das nur eine Spiegelung oder so gewesen.


Kapitel 13

Das Büro, in das wir schließlich geführt wurden, war auch nicht das, was ich erwartet hatte. Es war gemütlich, das war wohl das, was mich am meisten irritierte. Die hellen Möbel und die hohe Fensterfront ließen den Raum freundlich und größer wirken, als er eigentlich war, die Grünpflanzen und die Orchideen, die überall verteilt standen, vermittelten den Eindruck, dass der Inhaber dieses Büros ein freundlicher Mensch war, und die Tasse mit der Aufschrift „Morgähn“ ließ mich schmunzeln. Insgesamt nahm mir der ganze Raum etwas von der Anspannung und die Polizistin, die uns hier empfing und nur wenig älter als Mareike sein konnte, wirkte sympathisch auf mich.

Mareike übernahm auch hier das Reden. Ich war ohnehin zu nervös und hätte vermutlich kaum ein Wort rausgebracht. Frau Walters, die Polizistin, hörte aufmerksam zu, ob sie Mareike aber glaubte, konnte ich gerade nicht einschätzen. Sie hatte eine völlig ruhige, neutrale Miene, Mareike hätte ihr gerade auch vom letzten Stau auf der Autobahn erzählen können, den sie erlebt hatte. Schließlich bat Frau Walters mich ihr den Zettel zu geben und ich holte ihn aus meiner Tasche. Sie nahm die Plastikhülle aus dem Hefter und reichte mir diesen wieder zurück.

„Wir werden den Zettel auf Fingerabdrücke untersuchen. Das Papier auch, aber ich schätze, es ist handelsübliches Druckerpapier. Wer hat diesen Zettel noch alles angefasst?“ Fragend sah die Polizistin nun mich an und ich schluckte.

„Nur ich. Denke ich. Also ich hab ihn aus dem Briefkasten geholt und dann gleich in die Hülle und den Hefter gepackt. Und Mareike hat ihn da auch nicht rausgeholt.“ Meine Stimme klang etwas rau, aber das war besser als das Fiepsen, das ich befürchtet hatte. Frau Walters nickte mir zu und nahm sich einen Notizblock, auf den sie etwas kritzelte.

„Wie spät war es, als du etwas gehört und jemanden an eurem Fenster gesehen hast?“

„Gegen zwei, kurz nach zwei. Ich hatte nicht so auf die Zeit geachtet, weil ich ja jetzt frei hab. Nur als ich den Briefkasten gehört hab, hab ich kurz auf die Uhr geschaut.“

„Erzähl mir noch einmal selber, was genau passiert ist.“ Frau Walters sah mich auffordernd an und ich atmete tief durch.

„Ich konnte nicht schlafen und bin runtergegangen, um mir einen Tee zu machen. Und dann hörte ich in der Küche so ein Klacken, eben den Briefkasten. Der klingt so, wenn man was einwirft. Und da hab ich kurz auf die Uhr gesehen, weil ich mich gewundert habe, wer in der Nacht was in den Briefkasten wirft. Der Postbote kommt später und die Zeitung auch. So um fünf oder so, ich weiß nicht genau, ich hab da nie drauf geachtet.“ Nervös knetete ich meine Finger und zuckte mit den Schultern. „Und weil so oft eingebrochen wurde in der Nachbarschaft, wollte ich nur schauen, ob die Haustür auch abgeschlossen ist. Das war sie. Ich bin gleich in die Küche zurück und da huschte jemand vom Fenster weg und ich habe geschrien und dann war mein Vater auch schon da.“ Frau Walters kritzelte weiter auf ihren Block und sah dann wieder zu mir.

„Und wie viel Zeit ist ungefähr vergangen, nachdem du den Briefkasten gehört hast und die Tür überprüft hast?“ wollte sie wissen und ich zuckte mit den Schultern.

„Nicht viel. Der Wasserkocher war auch gerade fertig und ich hab meine Tasse gefüllt, dann bin ich auf den Flur und hab nach der Tür geschaut. Und dann bin ich direkt wieder in die Küche. Das waren … ich weiß nicht. Vielleicht eine oder zwei Minuten. Mehr bestimmt nicht.“

„Und euer Küchenfenster liegt direkt neben der Haustür?“

„Ja, genau. Man konnte also von vorne sehen, dass da Licht brannte. Wir haben in der Küche auch keine Gardinen, nur Jalousien, aber die hatte ich nicht runtergelassen.“

„Könnte es ein neugieriger Spaziergänger gewesen sein? Es gibt Leute, die zu dieser Zeit unterwegs sind, zur Arbeit fahren oder gerade von der Arbeit kommen. Oder auch Leute, die mit ihrem Hund Gassi gehen.“

„Ich denke nicht. Dazu muss derjenige ja erst auf das Grundstück. Vom Zaun sind das auch noch mal … ich weiß nicht genau, zwei Meter oder so. Ich kann das schlecht schätzen.“

„Habt ihr einen Bewegungsmelder?“

„Nein. Wir hatten mal einen, aber der ging irgendwie immer an und meine Mutter störte das, da hat mein Vater den entfernt. Aber wir haben eine Alarmanlage und wollen nun auch Kameras anbringen.“

„Die Alarmanlage ist ja tatsächlich erst nützlich bei einem Einbruch oder einem Einbruchsversuch. Aber Kameras können abschrecken. Nicht in allen Fällen, aber doch in den meisten. Das ist auf jeden Fall ratsam. Bewegungsmelder sind eine Sache für sich, wenn sie zu empfindlich sind und schon auf eine streunende Katze reagieren, nerven sie tatsächlich nur.“ Frau Walters lächelte leicht. „Ich glaube dir, dass jemand an der Tür gewesen ist. Der Zettel spricht dafür. Es wird nur schwierig werden herauszufinden, wer das war. Wenn es Fingerabdrücke auf dem Zettel geben sollte, können wir diese zwar mit Verdächtigen abgleichen, aber wenn da keine sind, hilft uns das auch nicht weiter.“

„Was ist mit dem Ladenbesitzer?“ fragte Mareike und Frau Walters seufzte.

„Ihre Verdächtigungen sind zwar nachvollziehbar und ja, es scheint mir auch ein seltsamer Zufall zu sein, dass solch ein Zettel nach Ihrem Besuch in dem Laden auftaucht. Aber er muss dennoch nichts damit zu tun haben. Es könnte sein, dass der Zettel nicht einmal für Sie bestimmt war. Vielleicht hat sich jemand im Haus geirrt. Es war Nacht, es musste sicher schnell gehen, um nicht entdeckt zu werden. Wie leicht hat man da die falsche Hausnummer gelesen.“

„Das wäre aber wirklich ein seltsamer Zufall“, murmelte ich.

„Ich sage nicht, dass es tatsächlich so ist. Aber wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und dürfen uns nicht auf eine Sache versteifen. Es könnte ein dummer Scherz sein, ein Werbegag, eine Verwechslung. Oder eben tatsächlich eine Drohung. Das gilt es nun herauszufinden.“ Frau Walters sah Mareike und mich streng an. „Mit einem hat diese Person jedoch Recht. Das alles ist Sache der Polizei. Sie sollten nicht versuchen selber einen Mörder zu jagen. So etwas mag in Büchern und Filmen funktionieren, da fallen den Helden die Hinweise nur so in den Schoß. In der Realität sieht es leider anders aus. Es gibt zu viele Fälle, in denen die Täter nie gefunden wurden.“

Natürlich hatte sie Recht, was mir allerdings nicht half. Ich wollte endlich wissen, wer Kira getötet hatte, ich wollte, dass ihr Mörder endlich eingesperrt war. Abwarten und Tee trinken – das war es aber, was wir wohl der Polizei nach tun sollten. Das frustrierte mich, auch wenn es besser war diese Arbeit tatsächlich der Polizei zu überlassen.

„Sie haben Recht, Frau Walters, aber mich lässt diese Sache einfach nicht los. Meine Schwester wurde getötet und noch viele weitere Mädchen und bei vielen taucht ähnlicher Schmuck auf. Schauen Sie in Ihre Akten, ich habe bereits mehrfach meine Unterlagen als Kopien eingereicht, da ich einfach möchte, dass dieser Mörder endlich gefasst wird und keine Mädchen mehr sterben müssen.“

„Sollte da tatsächlich ein Zusammenhang bestehen, werden wir es herausfinden, Frau Langer. Ich werde sehen, dass wir den Ladenbesitzer vernehmen. Für einen Durchsuchungsbefehl reicht es allerdings nicht. Aber das ist nun alles unsere Sache. Sobald wir neue Erkenntnisse haben, werden wir Sie und natürlich deine Eltern informieren.“

Irgendwie war das Gespräch nicht so zufriedenstellend, wie ich es mir erhofft hatte. Aber vermutlich passierte es auch nur in Filmen, dass die Polizei bei einem Verdacht sofort losstürmte und alles durchsuchte und Verdächtige befragte. Frau Walters nahm noch unsere Daten auf, danach verabschiedeten wir uns und sie gab uns beiden noch eine Karte. Sollte etwas sein, sollten wir uns direkt bei ihr melden. Etwas frustriert steckte ich die Karte ein und folgte Mareike durch das Gebäude nach draußen und zu ihrem Auto. Sie seufzte schwer auf, als wir eingestiegen waren und uns anschnallten.

„Zumindest hat sie unsere Theorien nicht gleich als Mist und Humbug abgetan“, murmelte Mareike und startete das Auto.

„Aber wirklich weitergekommen sind wir jetzt auch nicht.“

„Es ist mehr, als wir vorher hatten. Die Polizei weiß nun von unserem Verdacht und wird den Besitzer des Ladens sicher befragen. Sie haben den Zettel, vielleicht finden sie Spuren an ihm. Fingerabdrücke wären super, aber irgendwie glaube ich da nicht dran. An Kiras Abschiedsbrief waren auch keine, oder?“ Ich verneinte und Mareike nickte mit grimmiger Miene. „Natürlich nicht. Der Kerl ist schlau. Er achtet darauf keine Spuren zu hinterlassen und schnappt sich die Mädchen dann, wenn sie alleine sind. Kira war allein zu Hause, als sie angeblich die Tabletten genommen hat. Keine Chance, dass jemand sie zufällig früh genug finden würde?“

„Nein. Janick hat woanders geschlafen und ihre Eltern waren unterwegs.“ Ich schluckte, die Erinnerung an diesen Tag tat immer noch weh. Der Anruf bei meinen Eltern, das blasse Gesicht meiner Mutter, als sie mich ins Wohnzimmer rief, weil sie mir etwas sagen müsste, das hatte sich alles in meine Erinnerung gebrannt. Und gleichzeitig war es blass und fern, wie die Erinnerung an einen Film, den ich vor langer Zeit gesehen hatte.

„Isabelle war spazieren“, murmelte Mareike mit bitterer Stimme. „Das machte sie oft. Sie sagte immer, zum Joggen sei sie zu faul, aber spazieren gehen mache ihr Spaß. Eine Frau fand sie beim Gassigehen. Sie war ihrem Hund ins Gebüsch gefolgt, weil der so aufgeregt kläffte und sie dachte, er sei irgendwo hängengeblieben oder so.“ Sie atmete tief durch und warf mir einen kurzen Blick zu. Ich hatte den Artikel zu Isabelles Tod nur überflogen und ließ Mareike erzählen. Es musste hart für sie gewesen sein. Kurz versuchte ich mir vorzustellen, es wäre Lena gewesen, die man gefunden hatte, nicht Kira … Den Gedanken verwarf ich sofort wieder. Nein, daran wollte ich nicht einmal denken. „Natürlich untersuchte die Polizei alles. Aber sie hatten keinerlei Hinweise. Sie konnten nicht sagen, warum Isabelle ins Gebüsch gegangen sein sollte. Vielleicht habe sie pinkeln wollen … Isabelle hätte nie mitten am Tag im Stadtpark irgendwo ins Gebüsch gepinkelt. Jedenfalls gingen sie davon aus, dass sie aus freien Stücken so weit ins Gebüsch lief, dort hängen blieb, an einem Stein oder einer Wurzel, stürzte und sich dabei den Kopf anschlug. So unglücklich, dass sie verblutete.“

„Und das soll niemand mitbekommen habe? Du sagst, es war mitten am Tag im Stadtpark. So verwildert kann der doch nicht sein, dass man nicht sieht, wie jemand da im Gebüsch liegt.“ Irritiert sah ich sie an und Mareike seufzte.

„Doch, der ist teilweise so dicht und wild, das sieht man nicht sofort. Ich rede nicht von Gebüsch wie hier an den Seitenstreifen oder in einem Vorgarten oder so. Es war eben mitten im Park, hohe Büsche, dicht stehende Bäume. Ich kann mir schon vorstellen, dass andere Spaziergänger da nichts bemerkt haben. Die Spaziergängerin, die Isabelle gefunden hat, wäre da auch nicht hingegangen, hätte sie nicht ihren Hund holen wollen.“

„Aber es hätte jemandem auffallen müssen, hätte jemand Isabelle da rein gezerrt“, stellte ich fest.

„Ja, das vielleicht. Aber wenn sie nicht gezerrt wurde? Wenn sie demjenigen freiwillig folgte? Vielleicht kannte sie ihren Mörder. Oder er hat sie reingelegt, hat ihr erzählt, er bräuchte Hilfe oder sonst etwas in der Art.“ Mareike sah mich frustriert an. „Du glaubst nicht, wie oft ich schon darüber nachgedacht habe. Was ich mir nicht alles überlegt habe, wie es gewesen sein könnte.“

„Oh doch, ich glaube dir. Wäre Lena etwas passiert …“ Ich schüttelte den Kopf. „Daran mag ich gar nicht denken. Es ist schlimm genug für mich, dass Kira gestorben ist.“

„Ich wünsche dir auch, dass es so bleibt und es Lena auch weiterhin gut geht. So makaber es klingt … ich habe mir früher oft gewünscht, es hätte jemand anderen getroffen. Eine Freundin von Isabelle. Oder jemanden, mit dem ich gar nichts zu tun habe.“ Mareike schüttelte leicht den Kopf und bog in die Straße ein, in der ich wohnte. „Ich weiß, dass war nicht nett.“

„Ich glaube, das ist normal. Gerade wenn es einen eigenen Verwandten trifft, noch dazu einen, der einem so nahe ist.“ Sie hielt vor unserem Haus und ich freute mich wirklich nicht auf das Gespräch, dass jetzt folgen würde. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass meine Mutter vermutlich schon zu Hause war, wenn sie nicht noch spontan einkaufen gefahren war. Aber ich konnte ihren Wagen im Carport sehen. Mit leisem Seufzen schnallte ich mich ab und stieg aus. „Na, das wird jetzt lustig. Meine Mutter ist jedenfalls zu Hause. Sie wird bestimmt sauer sein.“


Kapitel 14

Sauer war sie nicht, vielmehr besorgt, was nicht besser war. Nachdem ich ihr Mareike vorgestellt hatte, hörte sie uns erstaunlich ruhig zu, warf nur hin und wieder eine Frage ein, wenn ihr etwas unklar war, und nickte ansonsten nur an manchen Stellen. Als ich ihr das Foto von dem Zettel zeigte, runzelte meine Mutter die Stirn.

„Ich weiß von Katja, dass die Polizei in Kiras Fall wegen Mordes ermittelt“, erklärte sie und atmete tief durch. „Ich kann nicht sagen, dass es mir gefällt, was ihr da gemacht habt. Und schon gar nicht gefällt mir dieser Zettel. Aber nun weiß die Polizei davon und wird sich den Ladenbesitzer einmal genauer ansehen.“ Sie schauderte und blickte kurz zur Küche, bevor sie sich wieder Mareike und mir zuwandte. „Ich will mir gar nicht vorstellen, dass der Kerl vermutlich hier war, heute Nacht, während wir geschlafen haben. Oder das zumindest wollten.“

„Es tut mir wirklich leid. Vermutlich hat er uns gesehen, als ich den Laden verlassen hatte. Wenn er Kira tatsächlich auch beobachtet hatte, dann wusste er davon vielleicht auch, wo Paula lebt. Von mir wusste er nicht, in welchem Hotel ich untergekommen bin, vielleicht hätte er diese Botschaft sonst mir gegeben.“ Mareike runzelte die Stirn. „Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht hofft er, dass er uns allen so genug Angst machen kann, dass wir nichts unternehmen.“

„Angst habe ich jedenfalls“, murmelte ich undeutlich und meine Mutter drückte sanft meine Hand.

„Aber ihr habt es genau richtig gemacht. Ihr wart bei der Polizei. Die brauchen alles, was auch nur im Geringsten auf Kiras Mörder hinweisen kann.“ Sie blickte zu Mareike. „Ich finde es zwar nicht gut, dass du selbst in dem Laden warst, aber ich finde es sehr gut, dass du nicht aufgibst. Ob es nun tatsächlich der gleiche Mörder ist – und einiges spricht ja dafür – der Kerl gehört hinter Gitter. Vielleicht kriegt die Polizei ihn jetzt endlich.“

„Das hoffe ich auch. Ich will endlich damit abschließen können. Und das kann ich nicht, solange ich weiß, dass er noch frei ist. Und vermutlich weiter mordet.“ Meine Mutter wollte etwas erwidern, aber ihr Handy klingelte und ihre Augen weiteten sich, als sie auf das Display sah.

„Oh verdammt“, murmelte sie und meldete sich mit einem entschuldigenden „hey, Lena, Schatz“. Als ich auf die Uhr blickte, wurde mir klar, dass meine Schwester Schulschluss hatte und wohl wie sonst auch gewartet hatte, dass unsere Mutter sie abholte. Mist. Daran hatte ich nicht gedacht, als wir mit unserer Geschichte begonnen hatten. „Ich bin gleich da, mir ist etwas dazwischen gekommen. Es tut mir leid. Geh doch solange in die Bäckerei an der Ecke.“ Meine Mutter stand mit dem Handy in der Hand auf und winkte Mareike und mir kurz zu. „Ich muss los, bis später“, verabschiedete sie sich hastig von uns und verließ das Wohnzimmer. Ich hörte, wie die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel.

„Da haben wir wohl einen ungünstigen Zeitpunkt erwischt“, stellte auch Mareike fest und ich zuckte mit den Schultern.

„Mama holt Lena sonst immer nach der Arbeit ab, aber sie macht manchmal auch früher Schluss und kommt dann erst nach Hause. Und Lena wird es überstehen. Eine ihrer Freundinnen wohnt nur eine Straße weiter von der Schule, bestimmt hat sie mit ihr gequatscht, sonst hätte sie schon viel früher angerufen.“ Ich lächelte leicht. „Und es war gar nicht so schlimm, wie ich gedacht habe. Ich dachte ja ehrlich gesagt, dass meine Mutter total wütend sein würde.“

„Ich denke, es gibt für sie einfach nicht viel zum Wütend sein. Immerhin warst du nicht in dem Laden“, bei diesen Worten warf Mareike mir einen strengen Blick zu, der mir sagte, dass ich das auch bleiben lassen sollte, „und du hast den Zettel gleich dem nächsten Erwachsenen gezeigt. Und wir waren sofort mit dem Ding bei der Polizei. Dass du dir wegen Kiras Tod weiterhin Gedanken machst, ist ihr auch klar. Und dass du überlegst, wer es gewesen sein könnte, auch.“

„Glaubst du, dass die Polizei irgendwas herausfindet und den Typ festnehmen kann?“ Ich zweifelte daran, auch wenn ich hoffte, dass es so sein würde. Dass sie ihn befragten und er sich irgendwie verriet und sie ihn festnahmen. Dass er ins Gefängnis kam und nie wieder freigelassen wurde. Nie wieder jemanden töten konnte. Aber das war vermutlich ein Happy End, wie es in einem Film passieren würde. Ich hörte noch immer Frau Walters‘ Stimme in meinem Kopf.

Es gibt zu viele Fälle, in denen die Täter nie gefunden wurden.

Vielleicht würde das hier auch so ein Fall werden. Wenn Kiras und Isabelles Mörder die gleiche Person waren, dann tötete der Kerl ja schon seit Jahren und war nie erwischt worden. Das sprach nicht gerade dafür, dass es nun endlich gelingen würde.

„Ich hoffe es.“ In Mareikes Augen konnte ich den Zweifel sehen, den ich auch spürte, und ich seufzte leise.

„Es ist nicht fair, dass er damit so einfach entkommen kann. Ich mein, er tötet Menschen. Wenn es wirklich immer der gleiche Kerl ist, tötet er seit Jahren immer wieder Mädchen. Das kann doch einfach nicht sein, dass man ihn nie erwischt.“

„Vielleicht wird man das ja jetzt endlich. Irgendwann macht jeder einen Fehler. Vielleicht war der Zettel nur sein erster Fehler.“ Zwar lag immer noch ein zweifelnder Ausdruck in ihren Augen, aber Mareike gab sich Mühe überzeugt zu klingen. Ich hoffte, dass sie Recht hatte und der Kerl noch ein paar mehr Fehler machen würde, sodass die Polizei ihn bald festnehmen konnte.

Mareike verabschiedete sich schließlich und nachdem sie das Haus verlassen hatte, schloss ich ab und legte die Kette vor. Schaudernd ging ich durch die Räume, um zu prüfen, ob die Fenster geschlossen waren. Sie waren es und auch die Terrassentür war abgeschlossen. Ich zog die Gardinen im Wohnzimmer zu und ging anschließend rauf in mein Zimmer. Vino schlief auf meinem Kissen und ich störte ihn nicht, sondern setzte mich an meinen Schreibtisch und schaltete meinen Laptop ein.

Was ich genau wollte, wusste ich nicht. Eine Weile trieb ich mich auf Facebook herum, las Nachrichten meiner Freunde und Mitschüler – ehemaliger Mitschüler, ich würde wohl noch eine Weile brauchen mich daran zu gewöhnen keine Schülerin mehr zu sein – und schaute mir Videos auf YouTube an. Dann gab ich den Namen des Antiquitätenladens ein. Die Webseite, die erschien, war sehr schlicht gehalten, es gab kaum Bilder und auch über den Inhaber oder die Mitarbeiter stand da nichts. Aber es gab Kontaktdaten, eine Anfahrtsbeschreibung und einen Link zu einem Antiquariat hier in der Stadt. Die Seite war genauso leer, nur die Adresse, eine Telefonnummer und das Impressum schienen aktuell zu sein, überall sonst stand „unter Bearbeitung“.

Viel Werbung machte der Kerl ja nicht für sich und seinen Laden. Das Antiquariat gehörte einem Karsten Pfuhl, ich nahm an, dass die beiden zusammenarbeiteten und ihren Kunden den jeweils anderen Laden empfahlen, eben so wie hier auf den Webseiten mit den Links. Mir war die Lust vergangen in den Antiquitätenladen zu gehen, aber vielleicht konnte mir auch der Pfuhl irgendwas über seinen Partner erzählen. Samuel Weiners. Das klang nicht gefährlich, auch wenn ich nicht einmal sagen könnte, wie ein gefährlicher Name klang.

Und was, wenn die beiden gemeinsame Sache machen?

Wieder diese leise, nervige Stimme. Natürlich konnte sie Recht haben. Weiners konnte einen Partner haben, jemand, der ihn deckte, ihm ein Alibi gab, ihm half Beweismittel oder Leichen verschwinden zu lassen. Der mit ihm mordete. Samuel Weiners und Karsten Pfuhl. Ich schnaubte leise, als mir einfiel, dass Jonathan mit Nachnamen Karsten hieß. Das war aber immerhin auch ein Allerweltsname. Vielleicht nicht so häufig wie Meyer oder Schmidt oder so, aber er kam doch recht oft vor. Der Direktor meiner Grundschule hieß auch so und wurde nach seiner Rente von einer Anna Müller abgelöst. Ich erinnerte mich, wie ich über diesen Namen gelacht hatte, und auch jetzt schmunzelte ich etwas. Anna Müller hatte einfach etwas von Max Mustermann, so ein völlig gewöhnlicher Name, den es vermutlich einige Zehntausend Male gab.

Schade, dass ich nicht noch immer Grundschülerin war. Da war noch alles in Ordnung und die größte Tragödie waren verschwundene Buntstifte im Kunstunterricht gewesen. Ich hatte keine Angst vor einem Serienmörder gehabt und meine beste Freundin hatte noch gelebt. Leider konnte ich nicht einfach die Zeit zurückdrehen. Wäre es anders gewesen, ich hätte es sofort getan.

Leise seufzend holte ich die Schachtel mit der Kette aus meinem Schrank und öffnete sie. So ein schlichtes, schönes Ding und irgendwer ging hin und tötete Mädchen, die diese Kette trugen. Ich zweifelte, dass ich Lena so eine Kette zum Abschied schenken würde, wenn ich mein Auslandsjahr antrat. Da hingen für mich zu viele schlechte Erinnerungen dran. Sie würde sich mit etwas anderem zufriedengeben müssen. Da ich bisher ja nicht einmal einen Platz hatte, drängte es aber mit dem Abschiedsgeschenk auch gar nicht so.

Ein tiefes Brummen ließ mich zusammenzucken.

Schon im nächsten Moment lachte ich dann aber über mich selbst. Es war bloß mein Handy, ich hatte eine Nachricht von Jonathan bekommen. Er entschuldigte sich, dass er sich so lange nicht gemeldet hatte, und schlug ein Treffen für den Abend vor. Ich zögerte mit meiner Antwort. Eigentlich hatte ich nichts gegen ein Treffen, aber ein Treffen am Abend konnte auch bedeuten, dass es dunkel war, wenn ich nach Hause fuhr. Und im Dunkeln würde ich es nicht merken, wenn jemand mir folgte oder mir an einer Ecke, zwischen zwei Autos oder hinter einem Busch auflauerte.

>Vielleicht eher heute Nachmittag, heute Abend ist es mir zu spät. Ich will morgen früh auf den Reiterhof.< Das hatte ich zwar bisher so nicht geplant, aber es war eine gute Ausrede und ich wollte mich eh noch ein wenig mehr um Fergus kümmern, bevor ich seine Pflege komplett aufgab. Er würde mir fehlen, aber sobald ich nach Italien ging, konnte ich mich nicht mehr um ihn kümmern und vermutlich würde ich es auch nicht mehr können, wenn ich mein Studium begann.

>Ich hab erst gegen 18 Uhr frei und kann erst so um halb sieben rum.< Halb sieben. Es blieb ja länger hell. Wenn ich also vielleicht bis acht oder halb neun mit ihm in einem Café blieb, wäre es noch gar nicht so dunkel, wenn ich mich wieder auf den Heimweg machte.

>Okay, halb sieben. Wieder das Café in der City?<

>Dann schaff ich auch zehn nach sechs. Ich arbeite in einem Bistro in der Nähe.< Ein Haufen lachender Smileys folgten der Nachricht und ich musste lächeln.

>Dann machen wir viertel nach? Dann musst du nicht lange warten.< Jonathan stimmte zu und ich legte mein Handy weg. Er würde sich auch freuen, wenn die Polizei endlich Kiras Mörder fand. Ich konnte ihm aber immer noch nichts sagen, nicht während die Ermittlungen liefen. Frau Walters hatte zwar dazu nichts gesagt, aber Katja hatte mich ja darum gebeten und ich würde mich weiterhin daran halten. Mit ein bisschen Glück musste ich ihm das ja nicht mehr lange verschweigen.

Ich wandte mich wieder meinem Laptop zu und widmete mich der Suche nach einem Au Pair Platz, immerhin wollte ich das schnell beginnen und nicht noch ewig damit warten. Ein nicht unerheblicher Pluspunkt des Auslandsjahres würde sein, dass ich weit, weit weg von dem Mörder sein würde, sollte er bis dahin nicht endlich festgenommen worden sein.

Es dauerte nicht lange, bis ich die Haustür hörte, und ein wenig angespannt spitzte ich die Ohren. Aber es waren nur meine Mutter und Lena. Ich hörte meine Schwester die Treppe heraufpoltern und in ihrem Zimmer verschwinden. Vino erwachte wohl von dem Lärm, er reckte den Kopf in die Höhe, dann erhob er sich und streckte sich genüsslich in alle Richtungen. Da würde ich wohl gleich wieder Sitzkissen für ihn spielen müssen. Ich behielt Recht, kaum dass er sein Streckprogramm beendet hatte, kam er zu mir und machte es sich auf meinem Schoß bequem.

„Hey, Schatz. Schau mal, ich hab hier eine gute Seite gefunden. Da werde ich mich direkt melden für einen Au Pair Platz. Du weißt, dass du mir fehlen wirst, hm?“ Schnurrend rieb er seinen Kopf an meinem Bauch und ich lächelte. Meine Worte hatte er vermutlich nicht verstanden, aber ich war mir sicher, dass er es mochte, wenn ich mit ihm sprach. Manchmal führten wir regelrechte Unterhaltungen, wenn er maunzend auf meine Worte antwortete. Oh ja, ich würde ihn vermissen, wenn ich ein Jahr weg war. Kein Vino mehr, der sich nachts in meine Arme kuschelte oder während eines Films auf meinem Schoß lag. Der mich beim Surfen im Internet störte oder an meinen Hausaufgaben schnüffelte, während ich versuchte diese zu machen.

Seufzend stand ich auf, wobei ich Vino hochhob und ihn auf dem Bett wieder absetzte. Er maunzte fast beleidigt und rollte sich neben meinem Kissen ein. Ich nahm mir meinen Laptop und ging nach unten, um meiner Mutter die Seite zu zeigen, die ich gefunden hatte. Jetzt wurde es tatsächlich ernst. Vorher waren es nur nette Überlegungen gewesen, auch wenn ich die Erlaubnis meiner Eltern bekommen hatte. Aber nun machte ich weiter und wenn alles glatt lief, würde ich bald in Italien sein. Ich freute mich darauf, auch wenn es eine große Umstellung sein würde. Aber alles änderte sich ständig.


Kapitel 15

Ich konnte es kaum glauben, was für ein Pech ich hatte, als ich mich auf den Weg zu meinem Treffen mit Jonathan machte. Der Bus machte nach der zweiten Haltestelle schlapp, sodass wir alle aussteigen und unseren Weg anderweitig fortsetzen mussten, da natürlich auch der nächste Bus erst einmal nicht weiterkommen würde. Er hätte den defekten Bus theoretisch überholen können, aber der stand so unglücklich in einer Kurve, dass nicht einmal ein normaler PKW an ihm vorbeigekommen wäre. Ich beschloss nach Hause zu gehen und mein Fahrrad zu nehmen, das allerdings nicht in der Garage stand.

„Mama?“ Ich fand meine Mutter im Garten, wo sie gerade die Beete goss.

„Wolltest du dich nicht mit Jonathan treffen?“

„Der Bus hatte eine Panne. Ich wollte mein Rad nehmen. Es ist nicht in der Garage.“ Fragend sah ich sie an, woraufhin sie nickte.

„Ich habe es vorhin Sybille geliehen. Von gegenüber. Ihr Rad hatte einen Platten und sie war spät dran.“

„Na toll.“ Ratlos sah ich meine Mutter an. Es störte mich nicht einmal, dass sie das Rad verliehen hatte, ich nutzte es ohnehin kaum und es war eh mehr eine Art Familienrad. Ich hatte es bloß ausgesucht. Nein, mich ärgerte einfach, dass ich nicht wusste, wie ich jetzt zu dem Café kommen sollte. Mein Vater hatte sein Rad vor einigen Wochen verkauft, da er es gar nicht mehr genutzt hatte, sonst hätte ich einfach seins genommen.

„Ich fahr dich. Ich nehme Lena mit und geh dann noch mal einkaufen.“ Meine Mutter leerte die Gießkanne über den Rosen aus und gemeinsam gingen wir rein.

„Das wäre super. Ich sag eben Jonathan Bescheid, dass ich etwas später komme.“ Ich zog mein Handy hervor, allerdings musste ich feststellen, dass der Akku leer war. Soviel dazu. Ich hatte Jonathans Nummer nur im Handy gespeichert, wie gut, dass mir noch zu Hause eingefallen war ihn anzurufen. Rasch lief ich in mein Zimmer rauf und stöpselte mein Handy in das Ladekabel und …

Nichts.

Eigentlich sollte sich das Ding jetzt einschalten, aber da tat sich gar nichts. Verdammt, bitte nicht auch das noch. Das Handy war noch nicht alt und ich hatte doch gar nicht so viel damit gemacht. Die paar Stürze sollte es mir eigentlich verzeihen, mein altes Handy hatte viel mehr einstecken müssen.

„Kommst du?“ hörte ich meine Mutter von unten und seufzte leise auf. Ich ließ das Handy eingestöpselt auf dem Tisch zurück und lief runter.

„Ich glaub, mein Handy ist kaputt.“

„Und du hast natürlich alle deine Kontakte nur da drin“, stellte meine Mutter mit einem süffisanten Grinsen fest und ich schnitt ihr eine Grimasse.

„Ich weiß, ich weiß … Die guten alten Zeiten, in denen ihr alles in Notizbüchern aufgeschrieben habt, da konnte euch so ein kaputtes Telefon nichts.“

„Ganz genau.“ Meine Mutter lachte. „Schau einfach nachher noch mal und sonst bring es morgen zur Reparatur.“

„Muss ich wohl.“ Hoffentlich ließen sich meine ganzen Daten noch retten. Ich hatte da alles drin. Telefonnummern, E-Mail-Adressen, Fotos. Vielleicht war die Variante meiner Mutter mit dem zusätzlichen richtigen Notizbuch gar nicht verkehrt. Selbst wenn sie ihr Handy verlieren sollte, hatte sie so noch alle ihre Kontakte an einem Platz.

Lena wartete bereits am Auto, sie sah nicht begeistert aus. Einkaufen war eben nicht ihre Leidenschaft, aber allein zu Hause bleiben wollte sie auch nicht nach ihrem Erlebnis. Ganz abgesehen davon, dass meine Mutter das nicht zugelassen hätte. Sie ließ mich ja auch nicht gerne allein zu Hause, aber ich war älter als Lena und sie wollte mir nicht mehr Vorschriften machen als nötig. Ich sah aber oft genug die Sorge in ihren Augen, wenn sie sich unbeobachtet fühlte.

Während der Fahrt erzählte mir Lena von ihrer kommenden Reitstunde. Sie wollte jetzt bald mit Springen anfangen, da sie es bei anderen Mädchen gesehen und für toll befunden hatte. Ich wusste, dass meine Eltern da gespalten waren. Mein Vater meinte, sie solle es ruhig versuchen, meine Mutter hielt wenig vom Springreiten. Bei mir war es damals auch nicht anders gewesen, aber ich hatte daran auch schnell das Interesse verloren. Ausritte hatten mir schon immer mehr Spaß gemacht. Lena schwärmte davon, wie gut ihre Freundin Liljana schon war und dass sie auch so gut werden wollte.

„Und sie bekommt ein eigenes Pferd“, trumpfte sie auf, als wir schließlich hielten, und warf einen kleinen Blick zu unserer Mutter. „Dann kann sie jeden Tag zum Reiten.“

„Zeig erst einmal, dass du wirklich länger dabeibleibst, dann reden wir über ein Pflegepferd. Natürlich nur, wenn deine Noten weiterhin so gut bleiben.“ Genau die gleichen Bedingungen hatte ich damals auch zu hören bekommen, als ich wegen eines eigenen Pferdes bei meinen Eltern angekommen war. Erziehung änderte sich wohl kaum im Laufe von ein paar Jahren. Grinsend schnallte ich mich ab.

„Danke fürs Fahren. Wenn was ist … ach, Mist, ich kann nicht anrufen, mein Handy liegt ja auf dem Tisch und lädt.“

„Hier, nimm meins. Ich denke, beim Einkaufen brauch ich keins. Pin sind dein und Lenas Geburtsmonat.“ Meine Mutter nutzte immer die Daten aus der Familie für ihren Pin und wechselte diesen auch ziemlich häufig. Dass sie da nie durcheinandergeriet, wunderte mich schon länger. Ich steckte das Handy ein und verabschiedete mich von den beiden, dann machte ich mich auf den Weg zum Café. Durch die ganze Aktion hatte ich mich nun fast eine halbe Stunde verspätet und es wunderte mich nicht Jonathan nirgends zu sehen. Und anrufen konnte ich ihn nicht, um ihn zu fragen, ob ihm auch etwas dazwischengekommen war oder ob er bereits gegangen war, weil er dachte, ich versetze ihn.

Mist.

Ich vermutete letzteres und es tat mir leid, dass ich das nicht gleich aufklären konnte. Warum musste mein blödes Handy auch ausgerechnet jetzt kaputtgehen? Ich verließ das Café wieder, um draußen noch kurz zu warten, falls er doch noch kommen sollte. Allerdings zweifelte ich daran. Während ich die Straße rauf und runter schaute, kam mir die Frage, warum ich Jonathan nicht gleich versucht hatte anzurufen, als ich den defekten Bus verlassen hatte. Gut, es hätte wohl nicht funktioniert, vermutlich war mein Akku da schon leer gewesen, aber es wunderte mich dennoch. So egal, dass ich mich ohne vorherige Erklärung zu einem Treffen verspätete, war er mir nun nicht. Jeden meiner Freunde hätte ich noch vom Bus aus angerufen und ich zählte Jonathan inzwischen zu meinen Freunden.

Oder hielt ich den Kontakt zu ihm nur aufrecht, weil er Kiras Freund gewesen war? Dieser Gedanke war mir vorher nie gekommen und er war absurd. Oder vielleicht doch nicht? Mit meinen Freunden war es anders als mit Jonathan, der Kontakt war regelmäßiger und intensiver. Wenn Jonathan und ich uns schrieben und erst einmal „drin“ waren, dann alberten wir auch viel herum und es fühlte sich mit ihm an wie mit einem meiner anderen Freunde. Aber zu einer Freundschaft gehörte doch viel mehr. Vielleicht war das gerade tatsächlich ein Zeichen dafür gewesen, dass ich Jonathan nicht ganz dort einstufte, wo meine anderen Freunde standen.

Was es nun auch war, ich hatte mich verspätet und er würde wohl nicht mehr kommen. Hoffentlich verstand er es, wenn ich es ihm erklärte. Absicht war es ja nicht gewesen. Ich schaute noch einmal die Straße entlang, aber noch immer kein Jonathan zu sehen. Also sollte ich mich wohl auf den Heimweg machen. Ob die Strecke inzwischen wieder frei war? Ich würde es herausfinden.

Der Antiquitätenladen fiel mir ein.

Unschlüssig biss ich mir auf die Unterlippe. Eigentlich sollte ich mich von dem Laden fernhalten, aber da war immer noch diese leise Stimme in mir, die mir sagte, ich solle mich da mal selber umsehen. Vermutlich hatte ich ohnehin Pech und er hatte bereits geschlossen, wenn ich ankam. Es war mittlerweile nach sieben Uhr, ich glaubte nicht, dass so ein kleiner Laden so lange geöffnet hatte. Dennoch machte ich mich auf den Weg dorthin. Ich konnte mir ja auch einfach neugierig die Auslagen anschauen, eine potentielle Kundin, die einfach zu spät gekommen war.

Was ich mir davon versprach, wusste ich allerdings auch nicht.

Vielleicht wollte ich einfach endlich diese Stimme in mir ruhigstellen. Wenn ich einmal direkt bei dem Laden gewesen war, war meine Neugierde vielleicht endlich befriedigt. Und wenn er bereits geschlossen war, konnte ich auch niemandem dort weiter auffallen. Mir war klar, dass ich mich gerade selber zu beruhigen versuchte, weil ich wusste, wie dämlich meine Idee war. Neugier ist der Katze Tod, schoss es mir unterwegs durch den Kopf. Hoffentlich würde das Sprichwort nicht auf mich zutreffen.

Lange brauchte ich nicht, bis ich vor dem Laden stand. Er war tatsächlich geschlossen, ein altmodisches Schild wies noch zusätzlich darauf hin neben dem schlichten Schildchen, auf dem die Öffnungszeiten standen. Ich betrachtete kurz die Auslagen im Schaufenster. Alte Bücher, eine Lampe, die auf einer Kommode stand, ein Holzkistchen, nichts Spannendes. Es machte keinen Sinn hierzubleiben. Der Laden war geschlossen, selbst wenn noch geöffnet gewesen wäre, hätte ich nicht hier sein sollen. Ich konnte Mareikes strafende Miene bereits vor mir sehen, wenn sie davon erfuhr. Nicht, dass ich es ihr unbedingt erzählen wollte.

Eine Bewegung zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Jemand kam durch den Laden nach vorne, gleich darauf öffnete sich die Tür und der Ladenbesitzer, den ich bei den Besuchen mit Kira schon gesehen hatte, verließ das Geschäft. Er sah mich fragend an, dann lächelte er freundlich.

„Wir haben geschlossen, tut mir leid. Morgen ab neun Uhr sind wir aber gerne für Sie da.“ Damit schloss er die Tür hinter sich ab und ich nickte, etwas verdutzt darüber, dass der Mann doch noch hier war. Und er sah so normal aus. Das war ein blöder Gedanke. Selbst wenn er Kira und die anderen Mädchen getötet haben sollte, würde man ihm das nicht direkt ansehen. Ansonsten wären Verbrechen schneller aufgeklärt.

„Ja, danke“, beeilte ich mich zu antworten und fuhr mir durch die Haare. „Ich hatte mich spontan zu einem Besuch entschlossen. Zu spät. Schade. Dann ein anderes Mal. Bis dann.“ Irgendwie klang ich nicht nach mir selbst, vermutlich stand ich einfach etwas neben mir, weil ich hier den Mann sah, den ich des Mordes an Kira verdächtigte. Er nickte nur und ging dann zu einem Wagen, der nur wenige Meter weiter entfernt parkte.

Das hatte mir ja nun gar nichts gebracht.

Als der Mann losfuhr, machte ich mich auf den Weg zu der Haltestelle. Vielleicht sollte ich wirklich einfach morgen noch einmal in den Laden kommen. Aber was sollte mir das denn bringen? Mareike und Frau Walters hatten absolut Recht, das hier war kein Spiel. Die Polizei ermittelte in diesem Fall, ich sollte mich da heraushalten.

Wenigstens war der defekte Bus bereits abgeschleppt, sodass mein Bus keinen Umweg fuhr und ich gut nach Hause kam. Zuhause angekommen gab ich meiner Mutter ihr Handy zurück. Sie wunderte sich, dass ich so früh schon wieder zurück war, und ich erklärte ihr, dass ich mich verspätet hatte und Jonathan sicher keine Lust mehr gehabt hatte zu warten.

„Er wird es dir sicher nicht übelnehmen, wenn du es ihm erklärst.“

„Hoffentlich. Er ist nett. Kira hatte echt Glück mit ihm.“

„Ich kenn ihn ja nun nicht, aber Katja hat das auch schon mal gesagt.“ Meine Mutter schürzte die Lippen und sah mich fragend an. „Du hast schon länger nichts von einem Jungen erzählt.“

„Weil es keine interessanten Jungs gibt.“ Ich streckte ihr die Zunge raus und sie lachte leise.

„Irgendwann gibt es wieder einen.“

„Mal schauen. Ich geh rauf.“ Vino schlief auf meinem Sessel, stellte ich fest, als ich mein Zimmer betrat. Ich ließ ihn weiterschlafen und griff nach meinem Handy. Der Bildschirm war immer noch schwarz. Mist. Mit wenig Hoffnung zog ich den Stecker des Ladekabels und steckte ihn gleich wieder ein.

Das Handy schaltete sich direkt ein.

„Du verarschst mich“, entfuhr es mir und ich starrte auf das Handy in meiner Hand, das zu laden begann. Im nächsten Moment hätte ich mir am liebsten gegen die Stirn geklatscht. Klar. Vermutlich war nicht mein Handy kaputt, sondern das Ladekabel. Vielleicht hatte es einen Wackelkontakt oder so. Das würde erklären, warum es vorher nicht geladen hatte, es nun aber tat. Wäre ich da mal vorhin schon darauf gekommen, dann hätte ich mir ein Ersatzkabel nehmen können.

Etwas berührte mich am Knie und ich zuckte zusammen, aber es war bloß Vino. Wahrscheinlich hatte ich ihn nun doch geweckt. Maunzend verlangte er nach Aufmerksamkeit und ich nahm ihn auf den Arm, um mich dann mit ihm zu setzen.

„Was meinst du, findet die Polizei Kiras Mörder?“ fragte ich ihn leise. Schnurrend rieb er seinen Kopf an meinem Kinn und in einem plötzlichen Anfall guter Laune nahm ich das als Bejahung. Die Polizei würde herausfinden, wer Kira und die anderen Mädchen getötet hatte. Und dann würde das Arschloch endlich ins Gefängnis kommen.


Kapitel 16

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Jonathan war mir tatsächlich nicht böse, wir klärten das Missverständnis gleich am nächsten Tag. Dabei verriet er mir, dass er auch noch ein ganz altmodisches Telefonbüchlein führte, einfach ein schlichtes Vokabelheft, das er sich vor Jahren zugelegt hatte. Ich besorgte mir auch eines, um meine Kontakte nun schriftlich festzuhalten. So waren die zumindest nicht verloren, wenn doch mal mein Handy den Geist aufgab. Auch ein neues Ladekabel kaufte ich mir. Zwar hatten wir noch ein oder zwei Ersatzkabel zu Hause, aber ich hatte lieber mein Eigenes.

Mein Auslandsjahr würde dafür leider doch etwas warten müssen, aber das machte gar nichts. Ich besprach mit meinen Eltern, dass ich in der Zeit bis dahin jobben wollte. Es gab einige Jobs, die sich auch an ungelernte Kräfte richteten, da würde ich etwas finden. Unser Abiball stand immerhin auch bevor, weswegen meine Gedanken an Kiras Mörder ein wenig in den Hintergrund rückten. Ich nahm Abstand von der Idee den Antiquitätenladen noch einmal aufzusuchen, zumindest in der nächsten Zeit. Motiviert von dem Gedanken an den Abiball und mein Auslandsjahr schrieb ich meine ersten Bewerbungen und als ich Jonathan erzählte, dass ich einen Job suchte, bot er mir an meine Bewerbung in dem Bistro einzureichen, in dem er auch jobbte. Sie brauchten jemanden für die Theke.

Die Vorstellung mit ihm zusammenzuarbeiten ließ mich zögern, dann schob ich meine Bedenken beiseite. Was meine Mitschüler – ehemaligen Mitschüler – auch denken mochten, ich hatte kein Interesse an Jonathan. Das würde sich auch nicht ändern, wenn wir durch den Job mehr Zeit zusammen verbrachten. Zumindest vermutete ich das. Also nahm ich sein Angebot an und schickte ihm per E-Mail meine Bewerbung und meinen sehr übersichtlichen Lebenslauf. Er wollte sie ausdrucken und gleich am nächsten Tag mitnehmen.

Und schließlich war er da – der Tag des Abiballs.

Lena hatte keine Lust daran teilzunehmen, nachdem ich ihr erklärt hatte, wie es sein würde, daher übernachtete sie an diesem Samstag bei einer Freundin, um den Abend nicht allein zu Hause zu sein. Meine Eltern wollten am ersten Teil – der offiziellen Zeugnisausgabe, der Verteilung der Abibücher und dem Buffet – teilnehmen, aber danach, wenn die Party losging, würden sie nach Hause fahren. Mich störte das nicht, ich brauchte meine Eltern und Lena nicht in der Nähe, wenn ich mit meinen Freunden und Mitschülern feierte und etwas trank.

Katja kam am frühen Nachmittag zu uns, um mir die Haare zu machen. Sie und Matthias würden nicht mehr zum Abiball kommen, sie hatte mich bereits gebeten ein Abibuch für sie mitzunehmen. Wir sprachen über mein Auslandsjahr und ich musste kämpfen, nicht gleich loszuheulen, weil ich immer an Kira denken musste. Als ich Katjas feuchte Augen sah, verlor ich den Kampf. Wenigstens war ich noch ungeschminkt, sodass ich mein Make-Up nicht neu machen musste. Sonst hätte ich nun genauso schwarze Streifen im Gesicht gehabt wie Katja.

Nachdem sie sich kurz das Gesicht gewaschen hatte, kehrte sie zu mir zurück und beendete meine Hochsteckfrisur. Sie war wirklich gut darin, Kira und ich hatten sie schon vor Monaten bequatscht, uns zum Abiball die Haare zu machen. Ich bedankte mich bei ihr und umarmte sie zum Abschied fest.

Sonst dachte ich selten daran, nun aber war mir wieder bewusst, wie hart die ganze Situation für Katja sein musste. Ich vermisste Kira bereits unbändig und dabei waren wir nur Freundinnen gewesen. Katja hatte ihre Tochter verloren. Das musste schlimm sein. Irgendwie konnte ich die Sorgen meiner Eltern nun doch ein wenig besser verstehen. Früher hatten sie mich eher genervt, wenn sie mich ermahnten vorsichtig zu sein, aber nun … Ich wollte nicht, dass sie das gleiche durchmachen mussten wie Katja und Matthias. Allerdings lag es auch nicht in meiner Hand. Egal wie vorsichtig ich auch war, passieren konnte immer etwas.

Ich vertrieb meine Gedanken und begleitete Katja noch zur Tür. Lena war noch da und folgte mir ins Badezimmer, um mir beim Schminken zuzusehen. Sie wollte auch etwas ausprobieren und so kramte ich in meinen Schminksachen, bis ich einen beinahe farblosen Lipgloss fand. Das war für meine kleine Schwester wohl okay. Strahlend tupfte sie ihn auf ihre Lippen und machte schließlich einen Kussmund, was mich kichern ließ.

„Wie ein Fisch“, zog ich sie auf und wuschelte ihr durch die Haare. Sie lachte ebenfalls.

„Glänzt auch wie ein Fisch“, erklärte sie und sah mich fragend an. „Kann ich den behalten?“

„Klar.“ Warum auch nicht? Ich hatte noch ein paar von den Dingern und benutzte sie kaum. Meinen Nagellack teilte ich auch mit Lena, auch wenn sie selten die Geduld hatte lange genug stillzusitzen, damit ich ihr die Nägel lackieren konnte. Sie mochte die hellen, bunten Farben auf den Nägeln allerdings. Wie sie wohl sein würde, wenn ich von meinem Auslandsjahr zurückkehrte? Ob sie dann eine eigene Sammlung von Nagellacken haben und immer noch reiten würde? Soviel konnte sich innerhalb eines Jahres ändern, vielleicht würde ich meine Schwester nicht mehr wiedererkennen, wenn ich wieder zurück war.

Okay, da wurde ich wohl etwas dramatisch. Der Abiball rief wohl diese ganzen Gedanken in mir hervor. Immerhin zeigte er noch deutlicher als die Prüfungen, dass unsere Schulzeit vorbei war und nun ein neuer Abschnitt in unseren Leben begann.

Ich seufzte leise auf und begann meine Schminkutensilien wieder wegzuräumen. Das Ergebnis gefiel mir, auch wenn es stark von meinem alltäglichen Look abwich. Aber der Abiball war auch kein alltägliches Ereignis. Gemeinsam mit Lena ging ich schließlich in mein Zimmer und befreite mein Kleid aus der Schutzhülle. Schnell hatte ich Strumpfhose und Kleid angezogen und Lena half mir mit dem Reißverschluss.

„Kiras Kette würde toll zu dem Kleid aussehen“, stellte sie dabei fest und ich sah sie verwundert an, bis mir dann einfiel, dass sie wohl die Kette meinte, die Jonathan Kira hatte schenken wollen. Recht hatte sie, edel genug war die Kette für ein Abendkleid. Zögerlich schüttelte ich den Kopf.

„Ich kann die Kette nicht einfach tragen“, entgegnete ich und holte mein Schmuckkästchen aus dem Schrank. Ich hatte genug Schmuck, der auch passen würde, doch als ich gerade eine Kette ausgesucht hatte, trafen mich Lenas nächste Worte wie ein Schlag.

„Aber dann wäre Kira auch mit bei der Party.“ Natürlich würde Kira ohnehin irgendwie dabei sein, wir würden alle an sie denken, zumindest all diejenigen, mit denen sie Kurse besucht hatte und befreundet gewesen war. Aber ich konnte nicht leugnen, dass Lenas Aussage mich irgendwie berührte. Auch wenn Kira die Kette nie selber getragen hatte, hätte sie ihr gehören sollen. So würde ich sie tatsächlich bei mir haben.

Ich biss mir auf die Unterlippe, ohne dabei an meinen Lippenstift zu denken, und legte meine Kette weg, um die kleine Schachtel mit Kiras Kette aus dem Schrank zu nehmen. Vorsichtig entnahm ich ihr die Kette und betrachtete sie ein paar Herzschläge lang, bevor ich Lena einen Blick zuwarf.

„Ich denke, es wird ihr nichts ausmachen.“ Damit legte ich die Kette um und suchte mir dann einen dazu passenden Ring und ein Armband aus meinem Schmuckkästchen. Nachdem ich alles angelegt hatte, ließ ich mich von Lena begutachten. Sie beäugte mich kritisch von allen Seiten, reckte dann aber einen Daumen in die Höhe.

„Du siehst toll aus.“

„Danke. Okay, los, gehen wir runter. Hast du schon alles gepackt?“

„Klar, ich bin schon längst fertig.“ Lena stürmte aus meinem Zimmer und ich hörte sie die Treppe herunterpoltern. Lächelnd nahm ich meine Highheels und meine Handtasche und folgte ihr langsamer. Die Schuhe wechselte ich erst unten im Flur. Auch meine Eltern waren bereits fertig. Meine Mutter bestand darauf ein Foto von mir zu machen, danach verließen wir alle gemeinsam das Haus und stiegen in den Wagen. Mein Vater schaltete die Zeitschaltuhr ein, die dafür sorgen sollte, dass nachher das Licht im Erdgeschoss anging. Das machten wir immer, wenn wir abends länger weg waren, es sollte Einbrecher abschrecken. Hoffentlich funktionierte es auch. Nach dem Einbruchsversuch bei uns war ich mir da nicht mehr so sicher. Viel mehr fragte ich mich, ob überhaupt irgendwas ein richtiger Schutz gegen Einbrecher war.

Mein Handy brummte und ich holte es aus der Handtasche. Es war eine Nachricht von Britta. Sie fuhr gemeinsam mit ein paar Mitschülerinnen zur Location und hatte mir ein Foto von sich und den anderen Mädchen geschickt. Allesamt grinsten sie glücklich in die Kamera und ich lächelte, auch wenn ich einen Stich verspürte. Wie gerne hätte ich an diesem Tag mit Kira gefeiert.

Unwillkürlich strich ich über die Kette. In gewisser Weise war Kira bei der Feier dabei. Ich glaubte nicht an Geister oder dergleichen, aber es war dennoch eine schöne Vorstellung, dass Kira bei uns war, mit uns feierte und lachte und sich freute.

Nachdem wir Lena bei ihrer Freundin abgesetzt hatten und deren Eltern uns viel Spaß beim Abiball gewünscht hatten, fuhren wir auch direkt weiter zu der Location. Ich war gespannt, wie es dort sein würde. Bei der Organisation des Abiballs hatte ich nicht mitgemacht und ich hatte auch nicht nachgefragt, was alles geplant war. Von Britta wusste ich ein paar Kleinigkeiten, aber nicht alles.

Wieder brummte mein Handy und ich warf einen Blick auf das Display. Dieses Mal war es eine Nachricht von Jonathan. Er wünschte mir viel Spaß beim Abiball und fragte gleich darauf nach, ob das denn auch heute sei. Dem Satz folgten irritiert und verlegen blickende Smileys, die mich grinsen ließen.

>Ja, das ist heute. Danke.<

Kaum hatte ich meine Nachricht abgeschickt, bekam ich eine weitere Nachricht, diesmal von Mareike, die mir auch viel Spaß beim Abiball wünschte. Ich dankte ihr ebenfalls, danach steckte ich mein Handy weg, da meine Mutter mich darauf hinwies, dass wir beinahe da waren.

Die Abiballorganisatoren hatten sich für ein Restaurant mit einem großen Außenbereich entschieden. Da es trocken bleiben sollte, konnten wir diesen auch nutzen. Mein Vater ließ meine Mutter und ich mich direkt vor dem Eingang raus, bevor er auf den Parkplatz fuhr, und ich sah mich um. Einige meiner Mitschüler standen draußen herum und unterhielten sich. Ich begrüßte sie nur kurz, da sie nicht zu meinem engeren Freundeskreis gehörten. Britta war sicher bereits im Gebäude, sie gehörte zum Organisationsteam des Abiballs. Ich entdeckte aber einige meiner Freunde und verabschiedete mich von meiner Mutter, um sie zu begrüßen. Drinnen würden wir uns ja ohnehin wiederfinden.

Wir gingen hinein und bewunderten die schlichte, aber doch schöne Dekoration. Weiß und Silber dominierten, ein wenig Rot und Orange setzten Farbtupfer dazwischen. Es gab eine Tribüne, neben der Tische mit den Abibüchern aufgebaut waren. Diese erklärten die Farbtupfer, denn der Einband der Bücher war in Rot und Orange gehalten, vermutlich hatten die Organisatoren die Farben einfach aufgreifen wollen. Eine meiner Mitschülerinnen erklärte uns, dass die Abibücher nach der Eröffnung verkauft würden, legte aber für uns welche zurück.

Meine Eltern waren inzwischen auch hereingekommen, ich sah sie mit einigen anderen Elternpaaren herumstehen und sich unterhalten. Daher blieb ich bei meinen Freunden. Wir machten Fotos, blödelten herum und freuten uns darauf, wenn die Feier richtig losging. Lange würde es nicht mehr dauern, verriet mir ein Blick auf mein Handy. Gemeinsam mit Bianca und Rabia suchte ich einen der Tische aus und wir holten unsere Eltern. Dabei sah ich auch Britta, die mir nur kurz zuwinkte, bevor sie mit zweien unserer Mitschüler auf die Tribüne ging. Vermutlich wollten sie sich auf eine Rede vorbereiten.

Schließlich wurde das Licht gedimmt, ein Zeichen dafür, dass es gleich losgehen würde. Ein paar meiner Mitschüler und andere Gäste suchten sich noch rasch einen Platz und ich spürte, wie meine Aufregung noch ein wenig anstieg. Nun ging es also gleich los. Unser Abiball. Das Ende der Schulzeit, der Beginn eines neuen Lebensabschnittes. Wieder fuhr ich sacht über die Kette, die ich trug, und blinzelte ein paar Mal, um das Brennen in meinen Augen zu vertreiben. Kira hätte nun neben mir gesessen, wir hätten gewitzelt und uns unsere Zukunft an der Uni ausgemalt. Natürlich mochte ich meine anderen Freunde auch und freute mich auf die Party mit ihnen, aber Kira fehlte mir einfach. Immerhin hatten wir uns unser ganzes Leben lang gekannt.

Scheinwerfer erhellten die Tribüne und ich blickte zu Britta und den beiden Jungs neben ihr. Nun begann die Party also offiziell.


Kapitel 17

Die Musik dröhnte in meinen Ohren, mein Puls raste und ich fühlte mich fröhlich, gut, lebendig. Meine Gedanken an Kira waren in den Hintergrund gerückt, sie würde es mir hoffentlich nicht übelnehmen, dass ich den Abiball einfach nur genoss.

Die Reden hatten mir gefallen, auch wenn sie für meinen Geschmack schon etwas zu lang gewesen waren. Auch hatte es sehr an meinen Nerven gezehrt, als Britta plötzlich von Kira gesprochen hatte. Auch einigen anderen Mitschülern war das nahegegangen, ich hatte es an ihren Mienen gemerkt. Rabia neben mir hätte genau wie ich beinahe angefangen zu weinen. Sie und Kira waren gute Freundinnen gewesen. Nach den Reden hatte das Abiballteam das Buffet eröffnet und seitdem verbot ich mir traurige Gedanken. Ich wollte diesen Abend einfach nur genießen. Nicht nur für mich, sondern auch für Kira.

Eine Überraschung waren auch die Abibücher gewesen. Als ich auch das Buch für Kiras Eltern hatte kaufen wollen, hatte Britta abgewunken. Das Abibuchteam hatte entschieden, dass sie ihnen das Buch schenken wollten, was ich nett fand. Meine Eltern hatten die Bücher mitgenommen, als sie sich vorhin von mir verabschiedet hatten. Nacheinander hatten sich auch die anderen Eltern allesamt verabschiedet, worauf die Musik aufgedreht worden war.

Ich tanzte mit Rabia, Bianca und einigen anderen zu den schnellen Songs und so langsam brauchte ich eine Pause. Ich winkte den anderen zu und ging nach draußen, wo sich einige andere meiner Mitschüler befanden. Sie standen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich, manche rauchten auch oder versuchten coole Posen zu machen, während ihre Freunde sie fotografierten. Ich sackte auf eine der Bänke und lehnte mich etwas zurück, um in den mittlerweile dunklen Himmel zu schauen, unterließ dies aber auch gleich wieder, als mir schwindelig wurde. Vielleicht hätte ich die letzten beiden Mojitos nicht trinken sollen.

Bewegung würde mir guttun. Ich stand auf und merkte dabei gleich, dass ich mich in meinen Highheels nicht gut auf dem Rasen würde bewegen können, also zog ich die Dinger aus und stellte sie unter die Bank. Das kurze Gras stach durch meine Nylonstrumpfhose in meine Fußsohle, es tat allerdings nicht weh, sondern kitzelte vielmehr. Schon bald war ich aus dem Lichtkreis der Terrasse verschwunden.

Hier draußen standen zwar vereinzelt noch Laternen herum, aber es war insgesamt ruhiger und weniger belebt als näher bei der Terrasse. Ich schlug einen Bogen, als ich auf einer überdachten Steinbank ein knutschendes Pärchen entdeckte. Dafür bot sich der weitläufige Garten natürlich auch an. Ob sich hier wohl noch mehr Paare aufhielten? Vermutlich. Es war mir allerdings gerade auch egal. Immerhin war das hier kein privater Raum, sie mussten damit rechnen, dass jemand sie störte. Wenn sie ähnlich betrunken waren wie ich in diesem Moment, dann war es ihnen aber wohl gleichgültig, wenn jemand sie erwischte.

Ich fand schließlich eine weitere Steinbank und beschloss eine kurze Pause zu machen. Das Restaurant und die Terrasse waren ein verschwommener Lichtfleck, der vor meinen Augen tanzte. Verdammt, wieviel hatte ich denn getrunken? Konnte ich ein paar Gläser vergessen haben? Ich rieb mir über die Augen, aber es blieb dabei. Die Lichter waren verschwommen und tanzten vor meinen Augen. Wenigstens war mir nicht übel.

Gähnend streckte ich die Füße von mir und wackelte mit den Zehen. Erst jetzt merkte ich, wie weh mir die Füße von den blöden Highheels taten. Ich war die Dinger einfach nicht gewohnt, meist trug ich flache Schuhe oder zumindest einen deutlich kleineren Absatz. Neben mir raschelte es im Gebüsch und im ersten Moment dachte ich, es sei der Wind, aber so stark wehte der gar nicht. Hockte da vielleicht ein Pärchen und hatte mich nun bemerkt? Es musste so sein. Oder einer meiner Mitschüler hatte sich ins Gebüsch verkrochen, um hier zu kotzen oder zu pinkeln. Ich vermutete jedoch ein Paar, das ich aufgeschreckt hatte.

„Sorry, wollte euch nicht stören. Macht einfach weiter.“ Kichernd erhob ich mich von der Bank und winkte in Richtung des Busches, auch wenn sie das in der Dunkelheit nicht sehen konnten. Eine Gestalt erhob sich aus dem Busch, ein dunkler Schatten vor den Büschen. Doch jemand, der die Büsche als Toilette zweckentfremdet hatte? Nüchtern hätte mich das wohl gestört, in diesem Moment jedoch war es mir egal. Langsam näherte sich der Schatten mir, aber ich konnte ihn immer noch nicht erkennen. Es war zu dunkel dafür. „Kommst du mit zurück? Ich glaub, ich will noch einen Mojito. Betrunken bin ich eh.“

Wer es auch war, er antwortete nicht. Es musste einer meiner Mitschüler sein. Vielleicht war er genauso betrunken wie ich und versuchte gerade den Sinn meiner Worte zu verstehen. Aber wenigstens Hallo hätte er sagen können, das war arg unhöflich, dass er gar nicht reagierte. Irgendwo in meinem Kopf, gedämpft durch die Wirkung des Alkohols, wuchs mein Unbehagen, erinnerte ich mich daran, dass der Mörder meiner besten Freundin immer noch auf freiem Fuß war. Wäre ich nüchtern gewesen, hätte ich mich wohl nicht ganz so weit von den anderen abgesetzt. Das Restaurant und der Garten waren nicht hermetisch abgeriegelt, jeder konnte auf das Gelände kommen.

„Ich geh wieder rein“, murmelte ich. Das Unbehagen hatte mich nun doch leicht gepackt, glitt aber immer wieder an meinem alkoholvernebelten Verstand ab. Den Blick weiter auf die Gestalt vor mir gerichtet, machte ich ein paar Schritte zurück. Die Gestalt rührte sich nicht, mein Herz dagegen begann heftig zu pochen. Für einen Mitschüler war das hier ein sehr seltsames Verhalten, egal wie betrunken derjenige war. Genaugenommen fühlte sich die ganze Situation plötzlich bedrohlich an und torkelnd wich ich weiter zurück, bevor ich mich umdrehte und auf das Restaurant zueilte.

Etwas traf mich an der Schulter und da es gerade um meinen Gleichgewichtssinn ohnehin nicht gut bestellt war, ging ich zu Boden. Ein scharfer Schmerz schoss durch meine Knie und meine Handflächen, aber ich ignorierte ihn so gut es ging und versuchte mich gleichzeitig aufzurichten und umzudrehen, um zu sehen, ob die schweigende Gestalt mir gefolgt war. Weit kam ich nicht mit meinem Versuch, jemand drückte mich zu Boden. Ich tat das einzige, was mir gerade einfiel.

Ich schrie.

So laut es ging schrie ich nach Hilfe. Das Gewicht auf mir wurde leichter, aber ich wagte nicht mich zu rühren. Vielleicht war mein Angreifer bewaffnet, vielleicht zog er gerade eine Waffe, um mich zu töten. Ich schrie einfach immer weiter, hoffte, dass endlich jemand kommen und mir helfen würde, und schließlich hörte ich tatsächlich Schritte näherkommen.

„Paula? Was ist los?“ Das war Britta, ich spürte, wie Hände mich packten und hochzogen. Vor mir standen Britta, Rabia und drei Jungs. Britta nahm mich vorsichtig in den Arm, während ich mich panisch umsah.

„Da … da war jemand … hat mich angegriffen“, stammelte ich und krallte mich an Britta. Ich konnte außer meinen Mitschülern allerdings niemanden sehen, der Kerl musste wieder in die Dunkelheit verschwunden sein. Vermutlich war er nun wieder irgendwo in den Büschen oder floh bereits auf die Straße.

„Komm erst einmal rein.“ Britta zog mich sanft mit sich. Im Restaurant angekommen drückte sie mich auf eine Bank und setzte sich neben mich. Sie nahm eine der Wasserflaschen vom Tisch und füllte ein Glas, das sie mir reichte. „Trink erst einmal was. Und dann noch mal. Jemand hat dich angegriffen?“

„Ja.“ Mit zitternden Fingern nahm ich das Glas entgegen und trank einen Schluck. „Ich wollte etwas raus. Mich etwas bewegen. Frische Luft schnappen. Und da hinten war jemand im Gebüsch. Ich dachte, es war ein Mitschüler.“ Ich schauderte und sah mich hektisch um. Hier entdeckte ich nur mehr oder weniger bekannte Gesichter. Britta und Rabia saßen neben mir auf der Bank, die drei Jungs, von denen ich nur Björn näher kannte, standen neben uns und hörten aufmerksam zu.

„Ich ruf die Polizei“, erklärte einer von ihnen und Björn und Britta nickten.

„Wozu? Hier ist sicher niemand mehr. Wenn überhaupt wer da war.“ Der dritte Junge, mit dem ich nur einmal einen Sportkurs gehabt hatte und dessen Name mir einfach nicht einfallen wollte, zuckte mit den Schultern. „Du bist ganz schön betrunken. Vermutlich bist du nur gestolpert.“

„Mich hat wer gestoßen“, blaffte ich den Typ an und er zuckte erneut mit den Schultern.

„Vielleicht hat dich ein Nachtfalter gestreift und du hast es als mehr interpretiert, als es war.“

„Blödsinn!“

„Wir wissen es alle nicht und betrunken oder nicht, die Berührung eines Nachtfalters haut niemanden um“, erklärte Rabia und drückte meine Hand. „Und … vermutlich habt ihr es nicht gesehen, aber da sind Risse in ihrem Kleid. Wir rufen die Polizei.“

„Und was sollen die tun? Hast du wen gesehen?“ Der blöde Kerl wartete nicht einmal auf meine Antwort, sondern schnitt mir das Wort ab, gerade als ich dazu ansetzte etwas zu sagen: „Nein, hast du nicht. Es ist zu dunkel dafür. Du bist betrunken. Du hast dir das alles nur eingebildet, als du gestolpert bist.“

„Was bist du für ein blödes Arschloch?“ fuhr ich auf und hätte ihm gerade am Liebsten eine Ohrfeige verpasst. Oder auch mehrere. Ich hatte mir das gerade nicht eingebildet. Da war jemand gewesen und er hatte mich angegriffen. Allerdings blieb ich sitzen, was größtenteils an Britta und Rabia lag, die mich im Arm hielten. Ein wenig spielte auch der Alkohol eine Rolle, ich wollte vor diesem Kerl nicht herumtorkeln.

„Vielleicht ist es Einbildung, vielleicht nicht. Das ist egal. Wir rufen die Polizei.“ Rabias Stimme hatte einen entschlossenen Klang.

„Macht, was ihr wollt.“ Der Idiot drehte sich um und ließ uns allein. Björn zog sein Handy aus seiner Hosentasche und tippte kurz darauf herum, während er bereits nach draußen ging. Hier drinnen war es ihm vermutlich zu laut.

Es tat mir leid meinen Mitschülern die Party auf diese Weise zu vermiesen, aber ich hatte mir das nicht eingebildet und ich hatte mir auch keinen solchen Angriff gewünscht. Ich blieb mit Britta und Rabia auf der Bank sitzen und nippte hin und wieder an einem Glas Wasser, während wir auf die Polizei warteten. Es sprach sich schnell herum, was passiert war. Die Reaktionen waren geteilt, stellte ich fest. Einige glaubten mir, andere waren auch der Meinung, dass ich mir das nur eingebildet hatte. Und langsam kam ich ebenfalls ins Zweifeln.

Hatten sie vielleicht Recht? Konnte ich mir das alles doch eingebildet haben? Betrunken war ich eindeutig und in solch einem Zustand konnte man seinem Verstand nicht immer trauen. Immerhin hatte ich auch gedacht, die Lichter von der Terrasse würde vor mir tanzen. Vielleicht war mein Blick tatsächlich einfach nur völlig verschwommen gewesen und ich hatte nur die Büsche gesehen. Und der Schlag gegen die Schulter … War es wirklich ein Schlag gewesen? Konnte es vielleicht tatsächlich ein Nachtfalter gewesen sein, der mich gestreift hatte? Die Viecher waren immerhin nicht ganz klein und ich war betrunken, vielleicht hatte ich mit meinem benebelten Geist die Berührung als Schlag wahrgenommen. Oder vielleicht war es auch eine Fledermaus gewesen.

Ich fühlte mich blöd und albern, als schließlich Björn mit zwei Polizisten zu uns an den Tisch kam. Was sollte ich ihnen auch schon erzählen? Mein Mitschüler hatte Recht – ich war betrunken und hatte nichts gesehen, ich konnte mir auch alles nur eingebildet haben. Dennoch erzählte ich ihnen, was ich erlebt hatte. Sie nahmen alles auf und waren höflich, aber ich sah bei dem jüngeren der beiden deutlichen Zweifel in den Augen. Vermutlich schob er auch alles auf den Alkohol und wollte wieder weg von hier. Verübeln konnte ich es ihm nicht, schließlich zweifelte ich gerade auch selber an mir und meinem Verstand.

Konnte der Schlag wirklich nur von einer Motte oder einer Fledermaus gekommen sein? Eine Fledermaus war größer, sie brachte ein gewisses Gewicht mit sich und wenn sie im vollen Flug gegen jemanden stieß, konnte sich das vielleicht wie ein Schlag anfühlen. Erfahrungen hatte ich mit diesen Tieren bisher nicht gesammelt, ausschließen konnte und wollte ich es daher nicht.

Ich war jedenfalls froh, als die beiden Polizisten sich nach der Befragung verabschiedeten und Rabia ein Taxi rief. Sie wollte auch gehen und ich war froh, dass ich nicht allein bleiben würde. Britta wollte noch etwas bleiben, ich sah es ihr an, daher lehnte ich es auch ab, als sie anbot uns zu begleiten. Wir waren zu zweit, das Taxi würde uns direkt vor der Tür zum Restaurant abholen – da konnte nichts passieren. Ganz abgesehen davon, dass ich mir den Angriff vielleicht nur eingebildet hatte.


Kapitel 18

In meinem Kopf pochte es, als ich erwachte, aber das eklige, pelzige Gefühl in meinem Mund war viel schlimmer. Ich richtete mich leise ächzend auf und öffnete vorsichtig die Augen. Mein Zimmer war abgedunkelt, vermutlich hatte meine Mutter meine Jalousien heruntergelassen. Einen Moment blieb ich auf der Bettkante sitzen, dann erhob ich mich, weil ich mir den Mund ausspülen wollte und auch dringend auf Toilette musste. Von Vino war zur Abwechslung nichts zu sehen, vermutlich hatte ich ihm zu sehr nach Alkohol gerochen, als ich in der Nacht vom Abiball zurückgekehrt war.

Der Gedanke an den Abiball brachte auch die Erinnerung an den Angriff – den vermeintlichen Angriff, korrigierte ich mich in Gedanken selbst – zurück. Wahrscheinlich war ich wirklich nur von einer blöden Fledermaus angeflogen worden und hatte bei dem unerwarteten Treffer das Gleichgewicht verloren. Oder ich hatte mir nur eingebildet, berührt worden zu sein. Vielleicht hatte ich einen Muskelkrampf oder sowas bekommen. Und da wurde ich so hysterisch. Himmel, das war echt peinlich.

Abgeschminkt hatte ich mich auch nicht, stellte ich fest, als ich in den Spiegel im Bad blickte. Mein Augen-Make-Up war völlig verschmiert und auch mein Lippenstift hatte sich irgendwann verabschiedet. Entweder schon auf der Party oder ich fand ihn gleich auf meinem Kissenbezug wieder. Kichernd benutzte ich erst einmal die Toilette, bevor ich schließlich meine Zähne putzte und anschließend unter die Dusche stieg.

Wenigstens hatte ich in der Nacht noch daran gedacht mein Kleid auszuziehen. Himmel, wo waren meine Schuhe? Dunkel erinnerte ich mich, dass ich sie ausgezogen und unter einer Bank abgestellt hatte. Da standen sie vermutlich immer noch oder waren mittlerweile gefunden worden. Jedenfalls konnte ich mich nicht erinnern sie wieder mitgenommen zu haben, als ich mit Rabia in das Taxi gestiegen war.

Vielleicht sollte ich nachher einmal in dem Lokal anrufen und fragen, ob ein Paar Schuhe gefunden worden waren und ich sie abholen konnte. Nachdenklich wusch ich mir das Shampoo aus den Haaren und rollte dabei meine Schultern. Das Erlebte ließ mich einfach nicht los. Es konnte natürlich Einbildung gewesen sein, immerhin war ich betrunken gewesen.

Andererseits war ich nicht betrunken genug für einen Filmriss und ich hatte mir bisher auch nichts eingebildet, wenn ich betrunken war. Sicher, Dinge hatten sich bewegt und geschwankt, aber ich hatte noch nie etwas wie letzte Nacht erlebt.

Schaudernd stieg ich aus der Dusche und trocknete mich ab. Ich wollte einfach nicht daran denken, dass mich womöglich tatsächlich jemand angegriffen hatte. Jemand Fremdes. Jemand, der nicht wollte, dass ich schnüffelte. Kiras Mörder.

Für einen Moment stand ich still da, das Handtuch gegen meine Brust gepresst und die Hände in den flauschigen Stoff gekrallt. Konnte es sein? Von irgendwem kam immerhin dieser Zettel und ich konnte mir niemand anderen als Kiras Mörder vorstellen, der mir drohte. Mareike und mir.

Unwillkürlich fragte ich mich, ob es ihr gut ging. Sie suchte schon seit Jahren nach dem Mörder ihrer Schwester, vielleicht war es die gleiche Person, die auch Kira getötet hatte. Warum trat der Kerl jetzt in Erscheinung? Zumindest hatte Mareike mir nichts davon erzählt, dass sie früher schon bedroht worden wäre.

Hatte sie vielleicht geschwiegen, um mich nicht zu beunruhigen? Nachdenklich hing ich mein Handtuch weg und zog mich langsam an. Ich fühlte mich träge. Am besten ich legte mich wieder hin, sobald ich etwas gegessen hatte.

Die Küche war leer, als ich sie betrat, aber auf dem Tisch stand eine Kaffeekanne, an der ein Zettel lehnte. Ich nahm ihm und zog die Nase kraus. Meine Mutter war mit Lena zum Shoppen gefahren, mein Vater half einem Freund beim Ausbau seines Dachbodens. Letzteres hatte ich gewusst, also waren das keine wirklich neuen Nachrichten.

Ein Blick in den Kühlschrank verriet mir, dass mir nach nichts da drin war. In der Tiefkühltruhe gab es Pizza, Fisch und Frühlingsrollen, aber auch danach war mir nicht. Da ich aber irgendwas essen musste, machte ich mir ein Butterbrot, das ich mit einer halben Tasse Kaffee runterspülte, die grässlich bitter schmeckte. Vermutlich hatte mein Vater ihn gekocht, sein Kaffee geriet immer etwas zu stark und bitter.

Bevor ich in mein Zimmer zurückging, kontrollierte ich die Haustür, aber es war abgeschlossen. Auch die Fenster waren geschlossen und beruhigt kehrte ich in mein Zimmer zurück. Ich hatte meinen Eltern noch gar nicht von dem unschönen Ende der Party erzählt. Das würde ich nachholen müssen. Nur Lena musste noch nichts davon wissen. Ihr hing der versuchte Einbruch bei uns noch immer nach.

Als ich mich gerade hingelegt hatte, fiel mir Rabias Aussage ein, dass Risse in meinem Kleid seien. Ich blickte zu meinem Abiballkleid, das an einem Bügel am Kleiderschrank hing. Am Rock waren Flecken, die von meinem Sturz kommen mussten. Zögernd setzte ich mich auf.

Wenn ich mir das Kleid jetzt genauer ansah, würde ich ja sehen, ob Rabia Recht hatte. Dass ihre Aussage stimmte, bezweifelte ich allerdings gar nicht. Doch die Risse zu sehen, würde ein untrüglicher Beweis sein, dass ich mir den Angriff nicht eingebildet hatte. Wäre vorne ein Riss gewesen, hätte ich ihn auf den Sturz schieben können. Aber hinten?

Langsam trat ich an meinen Kleiderschrank heran und strich sacht über das Kleid. Entschlossen drehte ich es um und betrachtete die Rückseite. Risse, eindeutig. Es waren zwei Stück, einer unter dem linken Träger, kaum länger als mein Daumen, und einer am Rock, auf Höhe des Oberschenkels.

Meine Gedanken wirbelten durcheinander und ich versuchte mich Erklärungen zurechtzulegen. Vielleicht war ich irgendwo hängengeblieben und hatte es nicht gemerkt, vielleicht war bereits ein kleiner Schaden im Material gewesen und hatte sich vergrößert. Das mochte alles Unsinn sein, aber der Gedanke, dass mich tatsächlich jemand angegriffen hatte, machte mir einfach Angst.

Ich drehte das Kleid wieder um, sodass ich die Risse nicht mehr sehen konnte, und setzte mich auf mein Bett. Mein Handy lag auf dem Nachttisch, aber der Akku war beinahe leer. Ich stöpselte das Ladekabel ein und legte mich hin. Ein wenig Musik hören würde mich ablenken.

Seufzend legte ich mich hin und drehte mich auf den Rücken. Das war doch verrückt. Kiras Mörder wäre nicht das Risiko eingegangen mich auf dem Abiball anzugreifen, da waren einfach zu viele Leute gewesen. Soviel dazu, dass die Musik mich ablenken würde.

Aber vielleicht sollte ich mich auch gar nicht ablenken. Solange Kiras Mörder nicht gefasst war, würde ich mir doch immer wieder Gedanken darüber machen, wer es gewesen war. Da war es besser, wenn ich versuchte alles zusammenzutragen, was seit dem Einwurf des Zettels erlebte. Zugegeben, noch war es nicht viel, aber der Angriff gehörte sicherlich dazu.

Irgendwer war aus dem Gebüsch gekommen. Ich hatte mir diesen Schatten sicher nicht eingebildet. Und als ich mich umgedreht hatte, hatte mich jemand umgestoßen. Wut auf die Angestellten von dem Lokal überkam mich. Warum hatten sie hinten im Garten keine Lampen angebracht? Ein paar hätten doch schon gereicht, um jemanden erkennen zu können. Aber so konnte ich nur sagen, dass die Person größer als ich gewesen war.

Das war ausgesprochen wenig.

Frustriert drehte ich mich auf die Seite. Ich konnte nicht mal mit Gewissheit sagen, dass es nicht vielleicht einer meiner Mitschüler gewesen war, der sich einen blöden Scherz erlaubt hatte. Vielleicht jemand, der mich nicht leiden konnte und meinte, mir Angst einjagen zu müssen. Das war ihm auf jeden Fall gelungen.

Seufzend griff ich nach meinem Handy und sah mir die Nachrichten an, die ich seit gestern bekommen hatte. Ein paar waren von Rabia, Britta und Björn, eine war von Jonathan und zwei von Mareike.

Ich antwortete erst meinen Freunden und beruhigte sie, dass es mir gut ging und ich vermutete, jemand könnte sich einen Scherz mit mir erlaubt haben. Meine Sorge, dass Kiras Mörder es gewesen sein könnte, behielt ich lieber für mich. Das klang zu abgedreht. Sie hätten mir nicht geglaubt und sich nur Gedanken um meinen Geisteszustand gemacht.

Jonathan fragte bloß, wie der Abiball war, und ich zögerte kurz mit meiner Antwort. Sollte ich ihm von dem Angriff erzählen? Schließlich tat ich es, berichtete ihm, wie toll die Party gewesen war und wie blöd sie geendet hatte. Aber auch ihm erzählte ich nichts von meinen Überlegungen bezüglich Kiras Mörder.

Mareike dagegen vertraute ich das alles direkt an. Sie war wieder in der Stadt, da ihr der Händler tatsächlich geantwortet hatte. Er hatte eine neue Lieferung bekommen und sie wollte die Gelegenheit nutzen, ihm noch einmal auf den Zahn zu fühlen. Aufregung erfasste mich. Vielleicht fand sie ja doch noch etwas bei ihm heraus.

Nachdem ich ihr von dem Angriff erzählt hatte, wartete ich gebannt auf ihre Antwort, die auch nicht lange auf sich warten ließ. Sie war gerade online und hatte meine Nachricht direkt gelesen, als ich sie verschickt hatte.

>Ich hoffe, es war tatsächlich nur ein Mitschüler, der dich erschrecken wollte. Sei dennoch vorsichtig, wenn du rausgehst oder allein zu Hause bist.<

Ihre Worte machten mich wieder nervös. Abgeschlossen war, die Fenster waren auch zu. Ich war sicher. Das war ich doch, oder? Mein Herz begann schneller zu schlagen. Wer Menschen tötete, scheute doch auch vor einem Einbruch sicher nicht zurück. Und wo ich wohnte, wusste Kiras Mörder.

>Ich bin vorsichtig. Wenn ich allein bin, schließe ich alles ab.<

>Das ist gut. Ich wünschte, die Polizei hätte den Typen endlich geschnappt.<

>Ich auch.< Kurz überlegte ich, ob ich Mareike ein Treffen vorschlagen sollte, aber da verabschiedete sie sich bereits, da sie jetzt zu dem Laden fahren wollte. Toll. Allein zu Hause, niemand zum Reden oder schreiben und meine Fantasie begann sich zu regen und spielte mir Szenarien vor, in denen Kiras Mörder in unserem Garten lauerte, verborgen im Gebüsch und den Blick auf mein Fenster gerichtet.

Natürlich war da niemand. Ich konnte es ganz leicht feststellen, indem ich zum Fenster ging und nach draußen schaute. Mein Herz raste und ich begann meine Finger zu kneten. Es war doch ganz einfach. Aufstehen, zum Fenster gehen, rausschauen.

Mein Körper fühlte sich schwer an, als drücke ihn ein unsichtbares Gewicht auf die Matratze. Ich atmete tief durch und richtete mich schwerfällig auf. Das war schon mal geschafft. Wenn ich erst einmal aus dem Fenster geblickt hatte, wusste ich, dass da niemand war, und konnte aufhören mich verrückt zu machen.

Ich trat an das Fenster und blickte runter in den Garten.

Da war nichts. Niemand stand auf dem Rasen und starrte zu meinem Fenster hoch, niemand kauerte im Gebüsch. Zumindest soweit ich den Garten von hier überblicken konnte, war dort niemand. Seufzend wandte ich mich von meinem Fenster ab und verließ mein Zimmer, um aus den anderen Zimmern nach draußen zu blicken.

Nichts. Das Bild blieb das gleiche, der Garten war leer bis auf ein paar Amseln, die sich jagten, und eine Taube, die über den Rasen trottete. Wäre jemand da gewesen, hätten sich die Tiere sicher nicht so ruhig verhalten, sondern wären weggeflogen.

Und dennoch konnte ich mich nicht gegen das Gefühl wehren, dass mich jemand beobachtete.


Kapitel 19

Natürlich beobachtete mich niemand. Das war nur mein Gehirn, das mir etwas vorgaukelte. Dennoch blieb das Gefühl. War es Kira ähnlich gegangen? Hatte sie sich auch beobachtet gefühlt, als sie allein gewesen war?

Ich versuchte mich abzulenken, was mir nicht gelingen wollte. Egal, welches YouTube Video ich anklickte oder welches Buch ich in die Hand nahm, immer wieder blickte ich nervös zum Fenster und erwartete, dass dort jemand sein Gesicht gegen die Scheibe pressen würde. Meine Tür hatte ich geschlossen, es konnte also niemand durch den Türspalt schauen.

Aber durch das altmodische Schlüsselloch konnte jemand spähen. Da würde er zwar nur die Wand gegenüber der Tür sehen, aber einmal da, breitete sich der Gedanke aus und ich stellte mir vor, wie jemand – Kiras Mörder – vor meiner Tür hockte, das Auge direkt vor dem Schlüsselloch, das Gesicht von einer Maske verdeckt. Eine schlichte, schwarze Maske, die nur Augen und Mund freiließ, sodass er hier hereinsehen und grinsen konnte …

Schluss damit. Entschlossen stand ich auf und ging zu der Tür rüber. Niemand hockte davor, um durch das Schlüsselloch zu starren. Natürlich nicht. Das war nur meine Fantasie, die mir Horrorszenarien vorspielte. Papa würde sicher noch eine Weile bei seinem Freund bleiben, auch wenn sie nicht mehr arbeiteten, aber Mama und Lena waren hoffentlich bald zurück, dann würde es nicht mehr so einsam und unheimlich im Haus sein.

Unheimlich.

Ich hatte mein Zuhause nie als unheimlich betrachtet, aber seit Kiras Tod und mit dem Wissen, dass ihr Mörder auch hier gewesen war, hatte sich dies geändert. Es gab zu viele Möglichkeiten für Einbrecher ins Haus zu gelangen und somit konnte auch Kiras Mörder jederzeit ins Haus gelangen. Er konnte gerade jetzt, während ich in meinem Zimmer grübelte, die Haustür oder ein Fenster aufhebeln, ins Haus einsteigen und sich an mich heranschleichen, um eine Schnüfflerin loszuwerden.

Schaudernd rieb ich mir über die Arme und ging nach unten, um die Haustür noch einmal zu überprüfen. Sie war abgeschlossen, natürlich, aber die Kontrolle gab mir eine gewisse Sicherheit – zumindest solange, bis ich in meinem Zimmer war. Da überfielen mich wieder Vorstellungen davon, dass jemand ins Haus eingedrungen war und die Tür hinter sich verriegelt hatte.

Wir hatten in der Kommode im Flur die Ersatzschlüssel für alle Türen im Haus, auch die für die Haustür. Kiras Mörder konnte das eigentlich nicht wissen, aber was, wenn doch? Wenn er es irgendwie mitbekommen hatte?

Ich machte mich verrückt.

Da ich Ablenkung brauchte und alle bisherigen Versuche nicht funktioniert hatten, beschloss ich einen Spaziergang zu machen. Vielleicht konnte ich auch zu dem Laden fahren. Mareike war womöglich noch da und ich konnte sie irgendwo draußen abfangen und gleich ausfragen.

Die Idee gefiel mir. Draußen unter Leuten würde meine Fantasie hoffentlich nicht mehr so durchdrehen wie allein hier im Haus.

Etwas unentschlossen spazierte ich tatsächlich erst eine Weile, bevor ich an einer Haltestelle hielt. Wenn ich Mareikes Wagen nicht in der Straße sah, konnte ich immer noch umkehren und sie anrufen, damit wir uns trafen. Ich war neugierig, ob sie doch noch etwas von dem Ladenbesitzer herausfinden würde.

Der Bus war gut gefüllt, sodass ich an der Tür blieb. Die Gegend zog an mir vorbei, ich nahm sie kaum wahr. Meine Gedanken drehten sich weiterhin um den Angriff während des Abiballs. Ich musste meinen Eltern davon erzählen, auch wenn ich jetzt schon wusste, dass sie sich bloß Sorgen machen würden.

Vielleicht war es besser, wenn ich den Vorfall ihnen gegenüber etwas verharmloste. Dass ich einen Angriff durch Kiras Mörder befürchtete, wollte ich ihnen nicht sagen. Sie würden mich vermutlich gar nicht mehr aus dem Haus lassen, wenn sie meine Sorge teilten. Wobei ich auch nicht mehr das Verlangen verspürte abends auszugehen. Der Gedanke auf den dunklen, einsamen Straßen alleine unterwegs zu sein, gefiel mir nicht.

Endlich konnte ich aussteigen und draußen atmete ich erst einmal tief durch. Es würde mir guttun, wenn ich mein Auslandsjahr antrat. Da würde ich Abstand zu den Ereignissen hier gewinnen und würde mich auch nicht mehr sorgen, ob mir jemand auflauerte.

Der Weg zu dem Laden war kurz und ich konnte Mareikes Wagen nirgendwo entdecken. Vielleicht hatte sie hier keinen Parkplatz gefunden und hatte weiter weg parken müssen. Ich überlegte, ob ich den Laden betreten sollte. Eigentlich war es Blödsinn. Ich würde nichts herausfinden können und den Mann plump nach Kira zu fragen, würde nichts bringen.

Dennoch trat ich an das Schaufenster und blickte in das Innere des Ladens. Ich konnte nur einen großen, schlaksigen Typen sehen, der ein Regal einräumte. Vielleicht war Mareike mit dem Ladenbesitzer in einem hinteren Raum, um sich dort die Ware zeigen zu lassen, wegen der sie vermeintlich hier war.

Seufzend wandte ich mich wieder ab. Das brachte nichts. In Filmen und Büchern gingen die Hauptcharaktere auf diese Weise den Geheimnissen auf die Spur und fanden immer etwas heraus, was sie dann in noch größere Gefahr brachte, als sie ohnehin schon waren. Aber das hier war kein Film, kein Buch. Wenn unser Verdacht stimmte und der Ladenbesitzer Kiras Mörder war und er auch wusste, dass wir ihn verdächtigten, dann war es gefährlich sich hier aufzuhalten.

Für Mareike war es sicherlich auch gefährlich. Wenn der Typ wusste, dass sie die Schwester eines früheren Opfers war und nach ihm suchte, würde er sicher aufpassen, was er tat und sagte. Und wenn Mareike für seinen Geschmack zu viel wusste, würde er … Ich wollte mir das gar nicht weiter ausmalen, aber der Gedanke drängte sich einfach immer wieder auf.

Aber was sollte ich machen? Ich konnte höchstens die Polizei rufen und das könnte auch Ärger bringen, wenn hier gar nichts geschehen war und es Mareike gut ging. Wenn ich hineinging, erregte ich vielleicht nur noch mehr die Aufmerksamkeit des Ladenbesitzers, was so ziemlich das Letzte war, was ich wollte, wenn er denn tatsächlich Kiras Mörder war.

Kira.

Ich atmete tief durch und beschloss Kiras Grab zu besuchen. Das würde mich garantiert von meinen Gedanken ablenken und da das Wetter ganz gut war, hoffte ich, dass der Friedhof auch nicht völlig einsam dalag, sondern noch ein paar Leute dort sein würden.

Vor Ort gab es auch eine Gärtnerei, dort konnte ich eine Orchidee für Kira kaufen. Ich fragte mich unwillkürlich, ob sie noch irgendwo war und beobachtete, was hier geschah. Früher hatte ich mir über so etwas nie großartig den Kopf zerbrochen, aber nun fragte ich mich eben doch, was nach dem Tod geschah.

War da nichts mehr, blieb man als Geist da, wurde man wiedergeboren? Es gab so viele Möglichkeiten und nichts davon hatte ich je in Betracht gezogen. Ich glaubte nicht an Wiedergeburt oder Geister oder ein Paradies oder die Hölle, aber glauben oder in meinem Fall nichtglauben war nicht wissen.

Erstaunlich, worüber man sich den Kopf zerbrechen konnte, wenn man verkatert durch die Gegend fuhr und versuchte sich von dem Gedanken abzulenken, dass ein Mörder wusste, wo man lebte.

Und da waren sie wieder, die trüben Gedanken und das widerliche Gefühl beobachtet zu werden. Ich war froh, dass ich weder auf der Straße noch im Bus allein war. Dieser Bus war auch nicht so voll wie der zuvor und ich ergatterte einen Platz nah bei der Tür.

Die Umgebung flog nahezu an mir vorbei und ich merkte gar nicht, wie wir uns meinem Ziel näherten, viel zu sehr war ich in Gedanken versunken. Hätte ich Kira helfen können? Hätte ihr Tod verhindert werden können?

Diese Fragen hatten mich nie losgelassen, auch wenn sie immer wieder in den Hintergrund rückten. Aber sie waren doch immer da, nagten an mir und weckten diffuse Schuldgefühle, auch wenn ich wusste, dass ich nichts für ihren Tod konnte. Dennoch stellte ich mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich Kira überzeugt hätte, dass sie mit ihren Eltern sprach.

Gedankenverloren wie ich war, verpasste ich tatsächlich meine Haltestelle, sodass ich ein Stück zurücklaufen musste, was mir aber nichts ausmachte. Ich hoffte, dass die Bewegung und die frische Luft meinen Kater vertreiben wollten.

In der Gärtnerei gab es nur weiße Schnittorchideen, also nahm ich eine davon und eine rosa Kamelie, um einen kleinen Farbtupfer zu haben. Ich hatte mit meiner Einschätzung Recht gehabt, es waren einige Leute auf dem Friedhof. Auch in dem Abschnitt, in dem sich Kiras Grab befand, waren zwei ältere Frauen, die sich gemeinsam um ein Grab kümmerten.

Irgendwer musste vor mir an Kiras Grab gewesen sein, ich entdeckte frische Rosen in einer schlichten Vase. Vielleicht war Jonathan hier gewesen. Er hatte mir erzählt, dass er immer herkam, wenn seine Zeit es zuließ.

Ich steckte meine Blumen in die Vase, die meine Mutter gekauft hatte, und entsorgte die alten Blumen, die bereits welk waren. Danach blieb ich eine Weile an Kiras Grab und erzählte ihr von meinem Auslandsjahr, von Mareikes und meinem Verdacht.

„Ich hoffe, dass Mareike etwas herausfindet und der Kerl eingesperrt wird.“ Ich rückte die Vasen etwas zurecht und entfernte ein paar welke Blätter, die ihren Weg auf Kiras Grab gefunden hatten. „Dann ist er endlich weg. Auch wenn es noch mehr Scheißkerle wie ihn gibt.“

Das war auch so ein Gedanke, der bisher nur vage am Rande meines Bewusstseins herumgetrieben war. Aber es war so. Es gab viel zu viele Verbrechen auf der Welt, der Mord an Kira war nicht der einzige. Kurz überfiel mich der Gedanke, dass ich doch zur Polizei gehen sollte. Dort konnte ich dabei mithelfen Verbrechen aufzuklären.

Aber das war sicher nichts für mich. Man jagte ja nicht nur Mörder, Diebe oder Vergewaltiger, man musste sich auch mit Nachbarschaftsstreitigkeiten und dergleichen befassen. Ich konnte darauf verzichten mit Blumentöpfen beworfen zu werden. Selber hatte ich das noch nie beobachtet, nicht einmal ähnliches, aber meine Mutter hatte es einmal gesehen, wie zwei Polizisten aus einer Wohnung heraus mit vollen Blumentöpfen attackiert worden waren.

Wobei Angriffe mit Blumentöpfen noch vergleichsweise harmlos waren. Man konnte in Schlägereien geraten oder mit irgendwelchen Waffen angegriffen werden. Nein, das war nicht das, was ich mir von meiner Arbeit erhoffte, auch wenn ich immer noch nicht so ganz wusste, was ich wirklich wollte.

Geschichte stand immer noch ganz oben, aber ich merkte, dass ich Abstand zu dieser Idee gewann. Vielleicht kam ich während meines Auslandsjahres darauf, was ich machen wollte. Journalismus klang auch interessant, sicher konnte mir Mareike etwas darüber erzählen, wie das war.

„Kannst du dir mich als Journalistin vorstellen? Wie ich dann über Fußball oder Streiks oder Kochsendungen schreibe?“ Ich lachte leise. Vielleicht ließ sich Geschichte ja auch mit Journalismus kombinieren. Gedanklich notierte ich mir, dass ich da heute Abend mal im Internet nachforschen wollte, und verabschiedete mich schließlich von Kira.

Langsam machte ich mich auf den Rückweg zur Haltestelle. Ich fühlte mich etwas besser, die frische Luft hatte meinen Kater tatsächlich etwas vertrieben und auch meine trüben Gedanken waren verschwunden. Wenn es nach mir ging, konnten sie auch erst einmal wegbleiben. So für die nächsten paar Jahre.

An der Haltestelle wartete bloß ein Junge in Lenas Alter, der auf dem Sitz lümmelte und auf seinem Handy herumspielte. So, wie er leise schimpfte, schien sein Spiel nicht sehr gut zu laufen und ich musste mir ein Grinsen verkneifen.

Zum Glück musste ich mir sein Schimpfen nicht allzu lange anhören, da der Bus bald kam und wir einsteigen konnten. Er ging nach hinten durch, ich wählte die vordere Hälfte des Busses. Gerade als ich mich setzte, vibrierte mein Handy und ich holte es aus der Hosentasche. Es war eine Nachricht von Mareike.

>Es ist frustrierend. Wieder nichts. Wenn ich nur etwas Zeit hätte, um mich mal in Ruhe in seinem Büro umzusehen. Aber ich kann ja nicht in seinen Laden einbrechen.<

Ja, das war tatsächlich frustrierend. Aber Mareike schien ebenfalls immer mehr davon überzeugt zu sein, dass der Mann etwas mit dem Mord an Kira und auch an Isabelle zu tun hatte.

>Und wenn ich dir helfe ihn abzulenken?< Der Satz war schneller geschrieben und abgeschickt, als ich nachdenken konnte. Mareikes Antwort kam ebenfalls prompt.

>Das ist zu gefährlich. Wenn er Kiras Mörder ist und den Zettel bei euch eingeworfen hat, erkennt er dich. Wer weiß, was dann sein nächster Schritt ist.<

Das wollte ich auch nicht erfahren. Also waren wir wieder bei null. Mir fiel der Typ ein, den ich durch das Fenster gesehen hatte, und ich biss mir auf die Unterlippe.

>Ich hab in dem Laden so einen jungen Typen gesehen, der da wohl arbeitet. Vielleicht weiß er irgendwas?< Wann ich ihn gesehen hatte, behielt ich lieber für mich, Mareike hielt immerhin nichts davon, wenn ich mich bei oder gar in dem Laden herumtrieb.

>Selbst wenn, wird er wohl nichts sagen. Schon gar nicht, sollte er auch darin verwickelt sein.<

>Wahrscheinlich hast du Recht. Ach, Mist.< Ich hätte den Ladenbesitzer gerade am liebsten gepackt, geschüttelt und ihn angeschrien, damit er mir endlich die Wahrheit sagte. Verrannten wir uns vielleicht auch einfach mit unserem Verdacht? Beweise hatten wir immerhin keine.


Kapitel 20

Vino mied mich nicht mehr, als ich nach Hause kam, sodass ich es mir mit ihm auf meinem Sessel vor dem Laptop bequem machte. Mein Ohrenkraulen quittierte er mit einem leisen Schnurren und ich musste lächeln. Hier mit Vino in meinem Zimmer war wieder alles in Ordnung.

Ich fühlte mich nicht mehr beobachtet und die Gedanken an Kiras Mörder waren in den Hintergrund gerückt. Allerdings hatte ich auch gerade keine Lust nachzusehen, was man für Jobs machen konnte, wenn man Geschichte studierte. Lieber wollte ich einfach nur Vino kraulen und die Zeit auf diese Weise vertrödeln.

Irgendwann hörte ich Getrappel auf der Treppe und schon im nächsten Moment wurde meine Zimmertür leise geöffnet.

„Du bist wach!“ Lena kam mit drei Tüten in mein Zimmer und schüttete deren Inhalt auf meinem Bett aus. „Guck mal, ich habe neue Sportsachen und eine neue Reithose und auch eine neue Jeans. Hier, da glitzert sie total cool.“ Vino sprang von meinem Schoß, schüttelte sich und stolzierte mit hocherhobenem Schwanz aus meinem Zimmer. Da war Lena ihm wohl gerade zu laut und quirlig.

Gewissenhaft betrachtete ich all ihre neuen Sachen und lobte ihre Auswahl, wobei ich sie wegen des grünen T-Shirts mit dem grellen, neongelben Muster auf der Vorderseite etwas aufzog, was sie mit einem gekonnten Schmollmund quittierte.

„Das sieht besser aus als deins“, erklärte sie dann und zupfte an meinem schlichten Shirt.

„Man erkennt dich damit auf jeden Fall immer.“ Ich wuschelte ihr durch die Haare und Lena kicherte.

„Mama meinte, wenn ich weiter so wachse, kann ich es eh nicht lange tragen. Irgendwann bin ich wirklich größer als du.“ Sie streckte mir die Zunge raus und ich lachte.

„Beeil dich. Ich erwarte, dass du größer bist als ich, wenn ich aus Italien zurückkomme.“

„Vielleicht schrumpfst du ja auch. Da ist es heiß und du gehst einfach ein.“ Lena streckte mir die Zunge raus und ich musste lachen.

„Das würde dir so passen, hm?“ Ich half Lena dabei ihre Sachen in ihr Zimmer zu tragen, anschließend gingen wir nach unten. Meine Mutter stand in der Küche und schob uns ein paar Flyer entgegen.

„Wir bestellen heute etwas. Was wollt ihr?“

„Pizza!“ krähte Lena und ich schmunzelte.

„Okay, Pizza.“ Schnell hatten wir ausgesucht, was wir wollten, und meine Mutter rief den Lieferdienst an. Lena machte sich einen Kakao und ich nahm auch einen zur Abwechslung. Sie machte mir gleich einen mit und ich gab noch etwas Zucker hinzu.

„Wie war der Abiball noch?“ Meine Mutter sah mich fragend an und ich lächelte schief.

„Schön. Ich bin später draußen gestolpert und mein Kleid hat was abbekommen. Außerdem hab ich wohl meine Schuhe dort vergessen. Ich ruf da gleich mal an, ob sie sie gefunden haben.“ Vor Lena wollte ich nicht von dem Angriff sprechen, dafür war später auch noch Zeit. Andererseits wollte ich es direkt hinter mich bringen, also erhob ich mich und nickte in Richtung der Treppe. „Wir können es uns ja mal ansehen, dann kannst du ja sagen, ob sich da was machen lässt.“

Zum Glück wollte Lena nicht mitkommen, sonst wäre mein schöner Plan direkt gescheitert. In meinem Zimmer schloss ich die Tür hinter mir, während meine Mutter an das Kleid herantrat.

„Da bist du wohl irgendwo hängengeblieben. Wir sollten zu einer Schneiderei gehen, vielleicht können die was machen.“

„Mir ging es weniger um das Kleid. Ich wollte es vor Lena nicht sagen, aber gestern beim Abiball … ich weiß nicht, ob ich einfach gestürzt bin oder mich jemand angegriffen hat.“ Ich schilderte meiner Mutter, was passiert war, und die Sorge in ihren Augen nahm immer weiter zu, je mehr ich erzählte.

„Das gefällt mir nicht, Paula. Erst dieser Zettel, jetzt das. Halte mich nicht für paranoid, aber das könnte beides zusammenhängen.“

„Das weiß ich doch. Mir gefällt es auch nicht. Aber ich weiß eben nicht, ob da wirklich jemand war. Ich habe schon recht viel getrunken. Vielleicht hab ich mir den Schatten eingebildet und vielleicht hat mich wirklich was gestreift und vielleicht bin ich nur irgendwo hängengeblieben.“

„Paula, Fledermäuse würden dich nicht streifen und selbst wenn, dann könnten sie dich nicht zum Stürzen bringen, egal wie betrunken du warst. Und eine Motte schon gar nicht.“ Meine Mutter sah mich ernst an. „Ich hoffe ja, dass es einer deiner Mitschüler war, der sich einen wirklich dummen Scherz erlaubt hat.“

„Ich hoffe es auch.“ Seufzend zupfte ich an dem Kleid. „Ich muss gleich bei dem Lokal anrufen. Ich hab meine Schuhe wohl dort vergessen.“ Meine Mutter sah mich verdutzt an, lachte dann aber leise.

„Wenn das die einzigen Sorgen wären. Ruf doch jetzt schon mal an und frag, ob sie sie gefunden haben. Dann kann ich dich nach dem Essen hinfahren.“

„Ich kann auch mit dem Bus fahren.“ Ich sah meiner Mutter an, dass ihr diese Option nicht gefiel, was ich verstehen konnte nach allem, was ich ihr gerade erzählt hatte. Aber sie nickte schließlich.

„Okay. Wenn du es dir anders überlegst, sag Bescheid.“ Ich stimmte zu, war mir aber sicher, dass ich es mir nicht anders überlegen würde. Da ich erst nach dem Essen anrufen wollte, folgte ich meiner Mutter nach unten, wo Lena mit einem neuen Glas Kakao saß. Brina saß zusammengerollt auf ihrem Schoß und schnurrte zufrieden, während Lena sie hinter den Ohren kraulte.

Vino hockte auf der Fensterbank, kam aber sofort zu mir, als ich mich setzte, um ebenfalls seine Streicheleinheiten einzufordern. Schnurrend rieb er seinen Kopf an meinem Bauch und rollte sich schließlich wie Brina ein. Als es an der Tür klingelte, erhob meine Mutter sich mit einem gespielten Seufzen.

„Alles Taktik von euch mit den Katzen“, erklärte sie mit einem amüsierten Ton in der Stimme und Lena grinste.

„Du hättest dir ja auch eine nehmen können, dann hätten wir auslosen müssen, wer aufmacht.“

„Nächstes Mal“, rief meine Mutter, während sie zur Haustür ging, um zu öffnen. Ich ließ Vino runter und wusch mir die Hände, bevor ich ein paar Servietten auf den Tisch legte. Auch Lena ließ Brina runter und nahm einen Schluck von ihrem Kakao. Aus dem Flur hörten wir unsere Mutter und den Lieferanten, dann das Schließen der Tür und schließlich kam unsere Mutter mit drei Kartons beladen in die Küche.

Heißhungrig machten wir uns über die Pizzen her und Lena und ich tauschten ein paar Stücke. Die Pizza unserer Mutter mochten wir beide nicht, da sie wieder einmal eine mit Sardellen genommen hatte.

Nachdem wir fertig waren, räumte ich schnell auf und nahm mir anschließend mein Handy, um in dem Lokal anzurufen, in dem die Abiparty stattgefunden hatte. Eine Frau meldete sich und erinnerte sich auch gleich an die Party. Allerdings wusste sie nicht, ob etwas gefunden worden war, und bat mich kurz zu warten. Nach einer Weile hörte ich sie wieder.

„Hören Sie? Ja, es wurden zwei Paar Highheels gefunden. Eins davon in einem sehr hellen Grün.“

„Das werden dann meine sein. Kann ich heute vorbeikommen und schauen, ob es meine sind?“

„Ja, natürlich. Wir haben noch geschlossen, klingeln Sie bitte hinten.“

„Okay, dann bis gleich.“ Ich beendete das Gespräch und verließ mein Zimmer. Meine Mutter versuchte noch einmal mich zu überzeugen, dass ich mich von ihr fahren ließ, aber dann hätten wir Lena auch mitnehmen müssen und sie hatte sicher keine Lust dazu. Also lehnte ich ab und machte mich auf den Weg.

Unterwegs las ich mir die alten Nachrichten von Kira noch einmal durch. Ich hoffte immer noch, dass mir irgendwie ein Geistesblitz kam oder ich irgendwas entdeckte, was mir bisher entgangen war. Allerdings kannte ich ihre Nachrichten mittlerweile beinahe auswendig, daher war das sinnlos. Es trieb mir bloß die Tränen in die Augen.

Seufzend steckte ich das Handy weg. Schon deswegen war der Beruf der Polizistin nichts für mich. Es würde immer Fälle geben, die man nicht auflösen konnte, und das war einfach frustrierend. Wie hielten Polizisten das aus? Ob sie besondere Schulungen hatten, in denen sie lernten mit so etwas umzugehen?

Nachdenklich blickte ich aus dem Fenster, achtete jedoch kaum auf die vorüberziehende Umgebung. Ich war gedanklich wieder bei Kira, wie so oft. Irgendwie musste ihr Mörder ihr ja die Tabletten verabreicht haben. Vermutlich hatte er sie vorher in irgendwas aufgelöst und ihr das dann zu trinken gegeben. Aber das bedeutete auch, dass sie sich mit ihm getroffen und von ihm etwas zu trinken angenommen haben musste.

Hätte sie sich wirklich mit dem Ladenbesitzer getroffen? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Aber vielleicht war sie zu ihm gegangen, um sich noch irgendwas zu kaufen. Schmuck, etwas Deko für ihr Zimmer oder sonst etwas.

Wieder spürte ich das Verlangen danach in den Laden zu gehen und mit dem Händler zu reden. Ich war mir so sicher, dass er Kiras Mörder war oder zumindest irgendwas wusste. Aber das war eine blöde Idee. Er würde mir ohnehin nichts erzählen, sollte er in ihren Tod verwickelt sein.

Gerade als mein Bus die Haltestelle erreichte, an der ich umsteigen musste, fuhr der andere Bus weg und ich seufzte entnervt auf. Toll. Wenigstens regnete es nicht, dennoch hatte ich keine Lust zu warten. In zehn Minuten sollte der nächste Bus kommen, daher entschied ich mich zumindest eine Haltestelle zu laufen. Dann musste ich nicht blöd hier herumstehen.

Mein Plan ging auf, als ich die nächste Haltestelle erreichte, dauerte es nicht lange, bis der Bus endlich kam. Es gab auch noch freie Plätze, sodass ich den Rest der Fahrt sitzen konnte.

Je näher ich dem Lokal kam, desto nervöser wurde ich. Die Erinnerung an den vergangenen Abend stieg in mir auf. Aber wer auch immer mich angegriffen hatte, er würde heute nicht hier sein. Und wenn doch, standen die Chancen gut, dass es sich bei ihm um einen Angestellten des Lokals handelte. Auch gestern waren zwei Angestellte da gewesen, sie hatten an der Theke bedient.

Bisher hatte ich daran gar nicht gedacht. Konnte es sein, dass sich einer der Angestellten einen blöden Scherz erlaubt hatte? Es war zwar unwahrscheinlich, wenn das herauskam, riskierte er vermutlich seinen Job, aber im Moment war mir alles als Erklärung lieber, als dass es tatsächlich Kiras Mörder gewesen war, der nun mich beobachtete.

Diese Furcht steckte noch immer in mir und wurde nur stärker, als ich schließlich ausstieg und den Pfad zu dem Lokal ging. Er war von Ahornbäumen gesäumt, die angenehmen Schatten spendeten. In den Büschen konnte sich allerdings durchaus jemand verstecken. Mir lief ein Schauder über den Rücken.

Allerdings erreichte ich ohne Zwischenfälle das Lokal und sah hier drei Wagen, sicher alle von den Angestellten. Ich ging nach hinten und konnte von hier aus auch die Terrasse und den Garten sehen, in dem ich gestürzt war. Dekorative Büsche verdeckten einen Eisenzaun, der nicht sonderlich hoch war, wie ich nun im Tageslicht erkennen konnte.

Da konnte jemand drüber klettern und sich hinter den Büschen verstecken, um nichtsahnende Gäste – feiernde Abiturienten – zu erschrecken. Und die Terrasse und der Garten waren vom Parkplatz aus einsehbar, stellte ich fest. Man musste nicht einmal beim Lokal halten, in der Dunkelheit hätte niemand es bemerkt, wenn sich jemand Fremdes genähert und im Gebüsch versteckt hätte.

Schaudernd ging ich weiter und fand einen Hintereingang mit einer Klingel. Ich zögerte, aber da ich sonst keine Tür entdeckte, klingelte ich und nur wenig später öffnete eine junge Frau, die mich fragend ansah.

„Ähm … Hallo. Ich heiße Paula Michels. Ich hatte vorhin angerufen.“

„Ach ja, die Highheels. Moment.“ Die Frau verschwand kurz aus meinem Blickfeld, ich hörte ein Rascheln und dann stand sie auch schon wieder vor mir, einen Karton in Händen. Zwei Paar Highheels lagen darin, eines davon meines. Ich erkannte die kleinen Blümchen auf dem Riemen.

„Das sind meine.“ Ich wies auf meine Schuhe und die Frau lächelte.

„Sie wissen nicht zufällig, wem die anderen gehören?“

„Nein.“ Wir lachten beide und sie winkte ab.

„Wir behalten Fundsachen für etwa eine Woche, falls sich jemand meldet, dann geben wir sie ans Fundbüro. Falls jemand von Ihren Mitschülern Schuhe vermisst, kann er anrufen oder einfach vorbeikommen.“

„Okay, ich hör mich mal bei meinen Freunden um. Danke.“

„Nichts zu danken.“ Nachdem ich meine Schuhe eingepackt hatte, verabschiedeten wir uns und ich machte mich auf den Rückweg. Noch einmal blickte ich zu dem Garten rüber. Die Erinnerung an den Vorfall im Garten stieg in mir auf, dieser Moment, als ich diese Gestalt vor mir entdeckte.

Es war dunkel gewesen, aber sie schien mir größer und massiger zu sein als der Ladenbesitzer. Waren Mareike und ich da vielleicht wirklich auf der falschen Spur? Falls das gestern tatsächlich Kiras Mörder gewesen war, passte seine Gestalt jedenfalls nicht zu der unseres bisher Verdächtigen.

Um den Gedanken nicht zu vergessen, schrieb ich Mareike direkt eine Nachricht und ging schließlich weiter. An der Bushaltestelle angekommen, bekam ich Mareikes Antwort.

>Sein Angestellter ist zwar größer als er, aber nicht massiger. Aber vielleicht hast du Recht und wir sind da wirklich auf einer falschen Spur.<

>Vielleicht wird Kiras Mörder ja nie festgenommen. Ich meine, wenn er wirklich was mit dem Tod deiner Schwester zu tun hat und mit dem von den anderen Mädchen, dann macht der Kerl das schon seit Jahren. Und vielleicht macht er das, bis er selber tot ist.<

Mein Frust verstärkte sich nur, als ich meine Gedanken und Befürchtungen so ausformuliert vor mir sah. Ein Mörder, der ungestraft für seine Taten blieb, bis an sein Lebensende mordete und damit weiter Menschen unglücklich machte.

>Das will ich nicht glauben. Ich will weiter glauben, dass die Polizei ihn irgendwann kriegt. Irgendwann macht er einen Fehler und wird erwischt.< War Mareike tatsächlich so zuversichtlich oder versuchte sie mir Mut zu machen? Sie suchte seit Jahren nach Hinweisen auf den Mörder ihrer Schwester und weit war sie auch nicht gekommen. Jedenfalls nicht weit genug, dass die Polizei jemanden festgenommen hätte. Ich konnte mir zumindest nicht vorstellen nach so langer Zeit noch so zuversichtlich zu sein.

>Was hältst du von einem Kaffee oder so? Dann können wir noch einmal ganz in Ruhe alles durchgehen. Oder musst du schon zurück?<

>Nein, zwei Tage bleib ich noch. Wir können uns gerne treffen. Wieder in dem Café beim Hotel? Morgen oder wenn heute, dann nur, wenn ich dich hinterher nach Hause fahren kann. Mir ist nicht wirklich wohl bei dem Gedanken, dass der Kerl sich vielleicht ein neues Opfer ausgepickt hat.<

Wen sie meinte, musste sie gar nicht schreiben, ich hatte den Gedanken ja selber schon gehabt. Ich schlug den nächsten Tag vor, da es mir heute bereits zu viel war mit der ganzen Fahrerei. Der Kater hing mir noch nach, auch wenn er schon viel besser geworden war, und ich wollte nur noch ins Bett.


Kapitel 21

Die folgende Nacht war grauenhaft. Ich konnte kaum ein Auge zukriegen, obwohl ich hundemüde war. Aber wann immer ich die Augen schloss, sah ich diesen massigen Schatten vor mir oder bildete mir ein, etwas würde an meinem Fenster scharren.

Immer wieder musste ich an Kira denken. Daran, wie sie mir erzählt hatte, dass sie sich beobachtet fühlte. Hatte sie auch so etwas durchgemacht? Hatte sie auch in ruhigen Momenten geglaubt, jemand sei da? Ich machte mir wieder Vorwürfe, dass ich ihre Ängste einfach auf die bevorstehende Abiprüfung geschoben hatte.

Zweimal stand ich auf und schaute aus dem Fenster, doch natürlich war da nichts. Vermutlich hörte ich meinen eigenen Herzschlag überdeutlich oder vielleicht kroch eine Spinne in einer Ecke herum.

Als ich Lena und unsere Eltern hörte, überlegte ich, ob ich das Treffen mit Mareike für heute absagen sollte. Ich war so müde, vermutlich würde ich die ganze Zeit nur gähnen. Zudem fühlte ich mich nicht sonderlich produktiv. Aber ich wollte auch wissen, ob sie vielleicht irgendwelche neuen Ideen hatte, die sie nicht am Handy ausbreiten wollte.

Unschlüssig wälzte ich mich noch eine Weile hin und her, bevor ich schließlich aufstand. Erst wollte ich die Dusche ausfallen lassen, dann ging ich doch ins Bad. Vielleicht würde mich eine Dusche ja etwas beleben.

Sie tat es nicht. Das lauwarme Wasser machte mich bloß noch träger und ich seufzte. So würde es wohl nichts werden mit meinem Treffen mit Mareike. Die Neugier blieb allerdings und ich stand einen Moment in mein Handtuch gewickelt da und überlegte.

Letztlich überwog meine Neugier. Mareike würde nicht mehr lange hierbleiben und ich wollte noch einmal in Ruhe mit ihr sprechen. Immer Nachrichten hin und her schicken war blöd, es war einfacher sich direkt zu unterhalten. Okay, ich hätte sie auch anrufen können, aber ich befürchtete am Telefon einzuschlafen, wenn ich in meinem gemütlichen Sessel saß. In einem Café war diese Gefahr geringer.

Nachdem ich mich abgetrocknet und angezogen hatte, ging ich in die Küche runter. Meine Eltern und Lena waren bereits weg, ich hatte wieder das Haus für mich. Wenigstens waren Vino und die anderen Katzen noch da, sodass ich nicht ganz allein war.

Ich nahm mir eine Tasse und füllte sie probeweise mit dem Kaffee aus der Thermoskanne, die auf dem Tisch stand. Er schmeckte gut, also hatte den wohl meine Mutter gekocht. Ich füllte noch etwas Kaffee nach und nahm noch einen Schluck, bevor ich in den Kühlschrank schaute. Mein Magen knurrte, aber irgendwie hatte ich keinen Appetit auf die Sachen, die ich so sah. Nicht mal die Hähnchenwurst, die ich sonst so gerne aß, konnte mich überzeugen.

Dennoch machte ich mir eine Schüssel Müsli fertig, um zumindest eine Kleinigkeit zu essen. Vino und Brina strichen mir um die Beine, während ich aß, und ihre Schnurrhaare kitzelten mich an den Waden.

Mareike war ebenfalls wach und schrieb mir, dass sie gerade noch einmal all ihre Unterlagen sichtete. Sie war ebenfalls frustriert, dass sich nichts tat. Kein Wunder. Ihre Schwester war vor dreizehn Jahren umgebracht worden und bisher hatte man keinen Hinweis auf den Mörder gefunden. Ich fand die wenigen Wochen seit Kiras Tod bereits unerträglich. Wie mussten sich da so viele Jahre anfühlen?

Da wir beide keine anderen Pläne hatten, wollten wir uns gleich treffen. Ich aß schnell auf, spülte meine Schüssel kurz aus und stellte sie dann in die Spülmaschine, bevor ich noch einmal alle Fenster überprüfte und mich auf den Weg zu dem Café machte.

Unterwegs bekam ich eine Nachricht von Jonathan, der mich fragte, ob ich Lust auf einen Kaffee hatte. Ich erklärte ihm, dass ich heute eine Freundin treffen wollte und noch nicht wusste, wie lange das gehen würde.

>Ich schreib dir dann einfach später. Ich denke, das wird nicht den ganzen Tag gehen.<

>Okay. Viel Spaß und bis später.< Er schickte mir noch ein Bild von einem Faultier und ich musste lachen. Auf meine Frage, ob er ein Selfie gemacht habe, bekam ich lauter lachende Smileys zurück. Wieder musste ich daran denken, wie glücklich Kira mit Jonathan gewesen war, und Wut auf ihren Mörder überkam mich. Warum tat jemand so etwas?

Mareike saß bereits in dem Café, als ich ankam, und blätterte in ihrer Mappe, die ich auch bereits kannte. Sie lächelte schwach, als ich mich zu ihr setzte.

„Du scheinst auch keine gute Nacht gehabt zu haben“, stellte sie fest und ich nickte.

„Ich konnte kaum schlafen. Ich musste irgendwie dauernd an den Vorfall beim Abiball denken.“ Sie bat mich ihr alles noch einmal zu erzählen und ich tat es, fasste alles genau zusammen und erzählte ihr auch von meinen Überlegungen und Zweifeln. Zwischendurch kam eine gutgelaunte Kellnerin und nahm meine Bestellung auf. „Es könnte wirklich nur einer meiner Mitschüler gewesen sein“, hob ich hervor. „Wer weiß, was für blöde Ideen manche haben.“

„Möglich. Jemand, der dich nicht mag und sich denkt, dies sei die letzte Gelegenheit dich zu erschrecken.“ Überzeugt wirkte Mareike von ihren Worten nicht, sie dachte wohl genau wie ich eher an Kiras Mörder. Mein Cappuccino kam und ich begann in der Tasse zu rühren.

„Wenn da tatsächlich Kiras Mörder dahintersteckt …“ Mir war kalt und ich schlang die Finger um meine Tasse. Es war eine unheimliche Vorstellung, vielleicht als nächstes Opfer ausgewählt worden zu sein. Wenn Mareike Recht hatte und all die Morde von der gleichen Person ausgeübt worden waren, dann passte ich altersmäßig tatsächlich in diese Gruppe.

„Du musst vorsichtig sein. Wenn er es auf dich abgesehen hat, wird er dir weiterhin auflauern.“ Sie musste gar nicht sagen, was das Ziel seiner Beobachtungen war. Ich schluckte und wünschte mir gerade verzweifelt, dass ich schon einen Platz für mein Auslandsjahr hätte. Dann wäre ich zumindest für ein Jahr von hier fort und in Sicherheit.

„Dieser Händler.“ Ich sah Mareike fragend an, da mir gerade eine Idee kam. „Kann man ihn nicht zu seinen Reisen befragen? Ich meine, wenn er tatsächlich all die Mädchen umgebracht hat, dann muss er ja in verschiedene Städte gereist sein. Dazu muss es doch Belege geben.“

„Müsste es. Theoretisch. Aber du musst bedenken, dass er schon seit Jahren mordet.“ Mareike verzog das Gesicht. „Nun, wenn er es ist und wir uns nicht total verrennen.“

„Ich weiß, ich weiß. Es könnte jemand anderer sein. Oder vielleicht gibt es gar keine Zusammenhänge. Aber wenn er es nun doch war, muss sich doch irgendwie beweisen lassen, dass er zu der Zeit, als die Morde passierten, auch in diesen Städten war.“

„Das ist nicht so einfach. Die Idee hatte ich auch. Aber wenn er keine Belege davon hat und behauptet nie in einer dieser Städte gewesen zu sein, wie soll man es ihm dann noch nachweisen? Fahrkarten kann man an Automaten kaufen, wenn er mit dem eigenen Wagen gefahren ist und in keine Kontrollen geraten ist, wird er da auch nicht aufgefallen sein. Zeugen kannst du in diesem Fall auch größtenteils vergessen.“ Sie schnaubte leise. „Manche Zeugen wissen schon nach einem Tag nicht mehr, ob der Verdächtige nun ein blaues oder ein rotes Hemd getragen hat.“

„Verflucht.“ Frustriert begann ich mit einem Finger auf meine Tasse zu klopfen. Schon bald trommelte ich mit allen Fingern sacht gegen die Tasse. Irgendwas musste es doch geben, was eindeutig die Schuld oder auch die Unschuld des Ladenbesitzers beweisen konnte. Aber was? Eigentlich war es die Arbeit der Polizei sich darum zu kümmern, aber ich konnte auch nicht einfach alles abhaken.

„Du solltest jedenfalls abends und nachts nicht allein unterwegs sein. Schließ immer gut ab, lass keine Fenster offenstehen und lass keinen ins Haus, wenn du allein bist. Es könnte der Ladenbesitzer sein, es könnte jemand anderes sein. Sei einfach vorsichtig, ja?“

„Das werde ich. Aber ich kann mich ja jetzt auch nicht bis zu meinem Auslandsjahr in meinem Zimmer einsperren.“ Ich wollte mich immer noch mit Freunden treffen und ich wollte auch auf den Reiterhof. Ich wollte ausgehen und Spaß haben, nicht an einen Verrückten denken, der aus irgendwelchen Gründen Mädchen tötete.

„Und wenn du bis dahin irgendwo anders hingehst? Einen Job oder ein Praktikum in einer anderen Stadt machst? Ich hoffe ja, er wird sich nicht die Mühe machen dich bis dahin zu verfolgen.“ Der Vorschlag klang interessant, aber wie sollte ich es meinen Eltern gegenüber begründen, dass ich nicht hier einen Job oder ein Praktikum suchte? Bei dem Praktikum war es vielleicht sogar noch leichter, immerhin gab es nicht immer passende Praktikumsplätze. Mir kam eine Idee.

„Vielleicht kann ich ja bei deiner Zeitung ein Praktikum machen. Nebenjobs kann ich auch hier finden, aber ein Praktikum bei einer Zeitung oder einer Zeitschrift ist da schon schwieriger.“

„Im nächsten Monat werden bei uns tatsächlich wieder Praktikanten eingestellt. Ich kann dir mit einer Bewerbung helfen, wenn deine Eltern einverstanden sind.“ Mareike lächelte leicht. „Der Verdienst ist gering. Es ist mehr ein nettes Taschengeld.“

„Immerhin.“ Ich spürte, wie meine Anspannung ein wenig nachließ. Vielleicht war es wirklich gut mal eine Weile von hier zu verschwinden. „Kann man eigentlich mit Geschichte auch was bei einer Zeitung oder Zeitschrift anfangen? Also, wenn man Geschichte studiert?“

„Es gibt natürlich Zeitungen und Zeitschriften, die eher oder sogar nur über sachliche Themen berichten. Möchtest du tatsächlich in den Journalismus einsteigen?“

„Ich weiß es nicht.“ Ratlos sah ich Mareike an. „Kira und ich haben uns nie wirklich überlegt, was wir nach unserem Studium machen wollen. Nur, dass wir Geschichte studieren wollen. Aber ich sollte schon wissen, was ich später damit anfangen kann, oder?“ Mareike lachte leise.

„Verkehrt ist es natürlich nicht. Ich denke, es finden sich durchaus Berufsfelder, für die es ein Geschichtsstudium braucht. Genaueres kann ich dir nun nicht sagen, da mich Geschichte zwar nicht langweilt, aber studieren wollte ich sie nie. Aber im Internet wird es genügend Informationen geben. Ansonsten geh mal auf eine Seite für Studenten. Da wird auch öfter gefragt, was man mit einem bestimmten Studium für Berufe ergreifen kann.“

Die nächste Stunde unterhielten wir uns darüber, wie ich meine Bewerbung verfassen sollte. Ich war dankbar, dass Mareike mir dabei half, bisher hatte ich noch nie richtige Bewerbungen geschrieben. Für die wenigen Nebenjobs, die ich ins Auge gefasst hatte, hatte ich immer nur ein Formular ausgefüllt oder ein kurzes Schreiben aufgesetzt und dies auch meist mit Hilfe meiner Mutter.

Selbst meine Müdigkeit vergaß ich, während ich Mareikes Formulierungsvorschläge in mein Handy tippte. Es war eine Erleichterung mal an etwas anderes zu denken als an den Mord an Kira. Hoffentlich stimmten meine Eltern einem Praktikum zu. Mareike bot mir auch an, dass ich in der Zeit bei ihr wohnen konnte. Sie wollte mir ihr kleines Arbeitszimmer überlassen.

„Es ist wirklich winzig, aber für ein paar Tage oder Wochen geht es sicher.“

„Und es wäre ja nur zum Schlafen. Danke, Mareike.“

„Dafür doch nicht.“


Kapitel 22

Zu Hause fiel ich erst einmal ins Bett. Ich war hundemüde und wollte ein wenig von dem Schlaf nachholen, der mir in der Nacht verwehrt geblieben war. Vino döste in der Küche auf dem Fensterbrett und ich ließ ihn auch da.

Eingeschlafen war ich schnell, zumindest konnte ich mich später nicht daran erinnern, lange wach gelegen zu haben. Aber erholsam war der Schlaf nicht. Wieder träumte ich von dem Angriff beim Abiball.

Der Schatten türmte sich vor mir auf, jagte mich über den dunklen Rasen, während in der Entfernung Musik spielte. Ich kam kaum von der Stelle, während der Schatten näherkam und nach mir griff. Als er mich berührte, spürte ich, wie ich das Gleichgewicht verlor und abstürzte, hinab in die Tiefe hinter mir …

Genau in diesem Moment erwachte ich und lag für einen Moment reglos da. Kein Schatten stand vor mir, niemand starrte zu meinem Fenster hinein und doch fühlte ich mich wieder beobachtet. Mein Herz raste und meine Hände waren schweißnass. Vermutlich waren das Nachwirkungen dieses Traums.

Leise stöhnend richtete ich mich auf, wischte die Hände an meiner Decke ab und fuhr mir durch die Haare. Das war mal nichts gewesen mit dem Schlaf. Ich hoffte, dass es heute Nacht besser gehen würde. Es musste doch Ablenkung geben. Vielleicht sollte ich einen Film gucken. Irgendwas Lustiges. Ich konnte mir auch einen von Lenas Filmen angucken, die waren harmlos.

Eine Weile saß ich noch reglos im Bett. Meine Gedanken wanderten zu dem Ladenbesitzer. Ich wusste gar nicht mal, was ich mir erhoffte, aber ich wollte in den Laden. Immer noch. Dieser Wunsch bestand ja schon eine Weile und bisher hatte ich ihm nie nachgegeben. Zumindest war ich bisher nicht in den Laden gegangen, dort gewesen war ich ja schon. Vielleicht sollte ich noch einmal hinfahren und einfach reingehen.

Ich nahm mein Handy. Noch war es früh genug, der Laden würde offen sein. Vielleicht sollte ich Mareike informieren, was ich vorhatte. Nur zur Sicherheit. Ein Schauder lief mir über den Rücken.

Nur zur Sicherheit.

Der Ladenbesitzer würde mich ganz sicher nicht in seinem Laden umbringen. Er hatte einen Mitarbeiter, es konnten Kunden kommen und er musste befürchten, dass es irgendwelche Spuren hinterlassen würde, die die Polizei finden konnte.

Ich stand auf und ging ins Badezimmer. Nachdem ich die Toilette benutzt und mich etwas frisch gemacht hatte, sah ich in den Spiegel. Die dunklen Ringe unter meinen Augen erschreckten mich beinahe, auch wenn sie mich nicht wundern sollten, so schlecht wie ich die letzte Zeit geschlafen hatte.

Seufzend nahm ich mein Make-Up, um meine Augenringe zumindest ein wenig zu kaschieren. Ich wollte nicht, dass meine Eltern sich Sorgen machten. Als ich zufrieden war mit meinem Aussehen, packte ich mein Make-Up weg und ging nach unten. In der Küche war niemand, aber meine Mutter und Lena sollten eigentlich zu Hause sein. Vermutlich war Lena in ihrem Zimmer und meine Mutter kümmerte sich um die Wäsche.

Ich fand sie tatsächlich im Keller, wo sie gerade Wäsche aufhing. Sie lächelte, als sie mich sah.

„Wie schön, du willst mir helfen.“

„Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass ich etwas spazieren gehe.“ Es war ja keine direkte Lüge, ich fühlte mich dennoch mies. Aber hätte ich meiner Mutter erzählt, was ich plante, hätte sie bestimmt versucht mich aufzuhalten.

„Willst du auf den Hof?“

„Hm? Oh, nein. Ich will einfach etwas raus. Morgen fahr ich hin.“ Ein Ausritt mit Fergus hätte mich wohl auch gut abgelenkt, andererseits wären die einsamen Reitwege sicher nicht gut für meine Fantasie. Morgen würde ich wohl auch nur eine kurze Runde mit ihm drehen. Ich nahm mir eines der Handtücher, um es aufzuhängen.

„Okay. Wir überlegen übrigens Lena bereits jetzt ein Pflegepferd zu erlauben. Oder eher ein Pony in ihrem Fall.“

„Das wird sie freuen.“ Und wie es sie freuen würde. Ich konnte sie bereits jubeln hören. Meine Mutter nickte.

„Ich denke auch. Ihre Noten sind gut und sie zeigt auch deutlich, dass sie gerne reitet. Warum also nicht?“

„Ich würde ihr ja Fergus übertragen, aber er ist zu groß für sie.“ Meine Mutter konnte mir da nur zustimmen und wir hingen den Rest der Wäsche auf. Danach verabschiedete ich mich und verließ das Haus. Vorher machte ich noch einen kurzen Abstecher in mein Zimmer und nahm Kiras Kette mit. Vielleicht konnte ich den Ladenbesitzer irgendwie in ein Gespräch verwickeln.

Richtige Pläne hatte ich nicht einmal. Ich wollte einfach selber in den Laden. Auf dem Weg zum Bus wägte ich ab, ob das wirklich eine gute Idee war. Ich verhielt mich doch gerade wirklich wie so eine blöde Gans in einer Soap, die meinte den Mörder ihrer Freundin suchen zu müssen. Wenn ich so etwas in einem Buch las oder im Fernsehen sah, lachte ich die Charaktere immer aus.

Und nun benahm ich mich selber genauso dämlich.

Dennoch machte ich nicht kehrt, sondern stieg in den Bus, als er kam. Wenn ich den Laden nicht besuchte, würde dieses Verlangen vermutlich nie aufhören. Also würde ich hingehen, mich drinnen kurz umsehen und, wenn ich mutig genug war, auch den Ladenbesitzer ansprechen. Mir würde hoffentlich vor Ort schon irgendwas einfallen.

Viel zu schnell erreichte der Bus die Haltestelle, an der ich aussteigen musste. Mein Magen schien mit jedem Schritt, den ich mich dem Laden näherte, mehr zu schlingern. Aber jetzt war ich schon einmal hier und konnte auch reingehen. Immerhin hatte ich gerade noch den Schluss gezogen, dass ich nur immer weiter das Verlangen haben würde, in den Laden zu gehen, wenn ich jetzt wieder kniff.

Und es war doch so einfach. Hin zur Tür, Hand ausstrecken und die Tür öffnen, dann ein Schritt und schon war ich im Laden. Das Blut rauschte mir so laut in den Ohren, dass ich die leise Klingel kaum hörte, die ich auslöste, als ich in den Laden trat.

Es war niemand zu sehen. Keine Kunden, aber auch nicht der Ladenbesitzer oder sein Angestellter. Ratlos sah ich mich um und trat schließlich an die Kasse. Hockte vielleicht jemand hier und hatte mich noch nicht bemerkt? Aber auch hier war niemand. Und jetzt?

Ich hatte ja damit gerechnet, dass der Ladenbesitzer hier sein würde. Zumindest sein Angestellter müsste doch im Laden sein, wenn die Tür schon offen war. Aber hier war niemand. Der Raum war übersichtlich, der Holztresen, auf dem die Kasse stand, war der einzige Ort, hinter dem sich jemand hätte verstecken können. Alles andere war niedrig genug, dass man jemanden, der dort hockte, gesehen hätte.

Hinten gab es einen Durchgang, der zur Hälfte von einem Vorhang verdeckt war. Kurz zögerte ich, dann ging ich rüber. Vielleicht zeigte der Ladenbesitzer einem Kunden hier etwas. Aber hier gab es nur einen kurzen Flur, von dem drei Türen abzweigten. Sie waren nicht beschriftet, aber vermutlich führten sie in Büroräume.

Eine der Türen war nur angelehnt, stellte ich fest und biss mir auf die Unterlippe, bevor ich langsam auf sie zuging. Es ging kein Alarm los und niemand stürzte sich auf mich, um mich abzuhalten irgendwelche Personalräume zu betreten. Etwas verwirrt war ich schon. Warum war der Laden offen, wenn scheinbar niemand da war?

Sachte klopfte ich an die Tür und schob sie auch gleich etwas auf. Falls hier jemand war, hatte ich mir auch schon eine Erklärung überlegt, die sehr nah an der Wahrheit war: Im Verkaufsraum war niemand und ich wollte sehen, ob hier jemand war oder womöglich was passiert war.

Aber der Raum war bis auf zwei Tische, auf denen jeweils ein Laptop stand, leer. Ratlos blieb ich im Türrahmen stehen und schaute mich in dem kleinen Büro um. In einer Ecke stand ein Aktenschrank, es gab ein Regal und einen schmalen Tisch, auf dem eine Kaffeekanne und ein Teekocher standen. Nichts wies daraufhin, dass hier gerade jemand arbeitete. Die Laptops waren zugeklappt, die Kaffeekanne leer und es lag auch kein Kaffeeduft in der Luft.

Hatte der Ladenbesitzer vielleicht einfach vergessen abzuschließen? Ich musste trotz meiner Anspannung kichern. Konnte so etwas passieren? Irgendwie konnte ich es mir nicht vorstellen, aber vielleicht war er abgelenkt gewesen. Oder … vielleicht war er in Eile gewesen. Vielleicht hatte er ein neues Opfer aufgesucht. Schaudernd zog ich die Schultern hoch. Ausschließen konnte ich einen weiteren Mord nicht.

„Was machst du hier?“ Die Stimme ließ mich zusammenfahren und ich drehte mich ruckartig in die Richtung um, aus der sie gekommen war. In einer der beiden anderen Türen stand ein junger Mann, ich schätzte ihn nur ein paar Jahre älter als mich.

„Vorne war niemand“, brachte ich irgendwie hervor und er stöhnte leise auf.

„Mist … Okay, ich schlag dir vor, ich hab dich nicht hier hinten gesehen und du erzählst meinem Chef nicht, dass vorne niemand war.“ Als er die Tür hinter sich schloss und näherkam, nahm ich den leichten Geruch nach Zigarettenrauch an ihm war und beinahe hätte ich wieder gekichert. Da machte ich mir Gedanken, warum nicht abgeschlossen war – und dann hatte der Angestellte nur eine Raucherpause gemacht und den Verkaufsraum nicht im Blick gehabt.

„Okay, alles klar.“ Ich drehte mich um und ging wieder nach vorne, gefolgt von dem Mann.

„Ich … ähm … ich müsste mir deine Tasche mal ansehen. Tut mir leid, echt, ich weiß, es ist mein Fehler, weil ich die Tür nicht offengelassen und so nichts gehört habe, aber wenn was fehlt, krieg ich Ärger.“ Er sah mich mit einem Blick an, der wohl den berühmten treuen Dackelblick nachahmen sollte, bei ihm aber gerade irgendwie witzig ausfiel und mich zum Grinsen brachte. Ich öffnete meine Tasche und hielt sie ihm hin.

„Kein Problem. Ich hab bloß eine Kette darin, die ich mal schätzen lassen wollte.“ Woher ich diese Idee auf einmal hatte, wusste ich nicht, aber ich brauchte eine Erklärung für Kiras Kette. Ich nahm die Kette raus und hielt sie dem Mann hin, doch er zuckte bloß mit den Schultern und warf einen kurzen Blick in meine Tasche.

„So etwas macht mein Chef. Ich mache bloß Verkauf und nehme Bestellungen auf. Aber ich kann deine Telefonnummer aufschreiben, dann kann er sich bei dir melden und ihr macht einen Termin aus.“

„Ach was, ich komm einfach noch mal vorbei“, winkte ich ab.

„Okay. Du kannst die Tasche wieder zumachen. Ich schätze, du hast nichts drin. Und wenn was fehlt, könnte es auch jemand anderer gewesen sein, ich hab da hinten echt nichts gehört. Verpfeif mich nicht.“ Wieder der Versuch dieses Dackelblicks und ich musste lachen.

„Mach ich nicht. Hm, wo ich grad da bin … Habt ihr hier etwas für ein 10jähriges Mädchen?“ Er sah mich überrascht an und grinste schließlich schief.

„Ich glaube nicht. Meine Nichte ist zwölf und ich weiß, dass sie mit zehn kein großes Interesse an so altem Kram hatte. Also, wenn die Zehnjährige nicht grad ganz anders tickt, dann wirst du hier wohl nichts finden.“

„War auch nur so eine Idee.“ Ich grinste wieder und fuhr mir durch die Haare. „Ich brauche ein Abschiedsgeschenk und es soll natürlich was Besonderes sein, aber Antiquitäten machen da wohl dann doch nichts her.“

„Ich kenn ja ihren Geschmack nicht, aber wir haben hier wirklich eher nichts für Kinder. Vielleicht die Spieldosen oder ein hübsches Kästchen, wo sie Dinge verstecken kann. Ihr Schatzkästchen.“ Überrascht sah ich ihn an und nickte.

„Das klingt gut.“ Ich folgte ihm zu einem der Regale und er zeigte mir ein paar Holzkästchen. Es gab viele schlichte, aber auch einige sehr aufwändig verzierte Modelle. Eines stach mir gleich ins Auge: Auf dem Deckel war ein Pferd eingeschnitzt. Ich nahm das Kästchen vorsichtig in die Hand. „Ich glaub, das ist es.“ Unter dem Kästchen lag auch ein Preisschild und ich schürzte die Lippen, als ich den Preis sah. Fünfzig Euro waren ein ganz schöner Happen.

„Das ist echtes Holz“, erklärte der Mann. Vermutlich hatte er meinen Blick bemerkt und richtig gedeutet, sodass er nun versuchte mich zu überzeugen, dass der Preis schon in Ordnung war. Und wenn ich ehrlich war, waren fünfzig Euro für ein Abschiedsgeschenk für meine Schwester ja nun auch nicht die Welt. Ich hatte schon deutlich mehr auf einmal für Fergus ausgegeben.

„Ich weiß nur nicht, ob ich so viel dabeihabe.“

„Ich mach dir einen Vorschlag: Du zahlst an, was du jetzt dabeihast, und ich lege das Kästchen zurück. Und nachher oder morgen bringst du den Rest.“

„Okay, abgemacht.“ Gemeinsam gingen wir zur Kasse und ich reichte ihm das Kästchen, um mein Portemonnaie aus meiner Tasche zu holen. „Wann ist dein Chef denn wieder da?“ fragte ich beiläufig, während ich mein Geld herausholte. Ein Zehner und ein Zwanziger fanden ihren Weg zu dem Verkäufer und ich öffnete die Seite mit den Münzen.

„Übermorgen. Du kannst natürlich auch dann den Rest bezahlen, dann erledigst du alles in einem Abwasch.“

„Oder … ich schaffe es jetzt.“ Grinsend fischte ich zwei zerknautschte Fünfer aus meinem Portemonnaie und zählte die Münzen ab, die sich in der letzten Zeit angesammelt hatten. „Jetzt bin ich zwar so gut wie pleite, aber zumindest hab ich schon mal das Geschenk.“

„Und ich hab keinen Papierkram.“ Er lachte, tippte etwas in die Kasse, die daraufhin einen Kassenzettel ausspuckte. „Bitte sehr. Geht das so mit? Wir haben umweltfreundliche Papiertüten.“

„Nee, geht noch so. Also, danke und dann bis übermorgen.“

„Ich hab zu danken.“

„Ich weiß nicht, wofür.“ Ich zwinkerte ihm grinsend zu, verabschiedete mich schließlich und verließ den Laden. Zwar hatte ich nichts in Erfahrung bringen können, aber dafür hatte ich nun ein Geschenk für Lena. Und ich konnte es ja übermorgen noch einmal versuchen.


Kapitel 23

Zu Hause fand ich mich vor dem Problem wieder, dass ich nicht wusste, wo ich das Kästchen aufbewahren sollte. Wenn Lena mal etwas bei mir suchen sollte, würde es ihr ins Auge stechen. Meine Mutter konnte ich auch nicht fragen, dann hätte ich ihr beichten müssen, dass ich bei dem Laden gewesen war. Oder ich hätte sie schon wieder anlügen müssen, dass ich das Kästchen schon länger hatte, und das wollte ich nicht.

Schließlich packte ich es in die unterste Schublade des Kleiderschrankes, wo ich dicke Strumpfhosen aufbewahrte, die ich ohnehin kaum trug. Hier würde Lena sicher auch nicht reinsehen.

Als ich gerade Kiras Kette wieder aus meiner Tasche nahm, hörte ich ein Kratzen vom Fenster her. Erschrocken fuhr ich herum, doch da saß nur Brina, die an die Schnur der Jalousie gekommen war. Ich konnte sie noch leicht schwingen sehen. Leise seufzend verstaute ich die Kette im Schrank, nur um gleich darauf wieder zusammenzuzucken, als Brina plötzlich fauchte und aus dem Zimmer jagte.

Mit der Hand noch an der Schranktür blickte ich zum Fenster. Mein Herz raste nicht, ganz im Gegenteil, es schlug erstaunlich langsam und ein Topf heißes Gelee schien in mein Innerstes ausgeleert worden zu sein. Irgendwas musste Brina erschreckt haben. Vielleicht war jemand im Garten. Es begann bereits zu dämmern, ich hatte mir für den Rückweg Zeit gelassen.

Und nun jagte Brina einfach so aus dem Zimmer.

Ich leckte mir über die trockenen Lippen und ging langsam auf das Fenster zu. Vielleicht schlich ein Einbrecher durch den Garten, der irrtümlich glaubte, es sei niemand zu Hause. Vielleicht war eine fremde Katze auf dem Grundstück. Oder vielleicht war da auch jemand ganz anderer. Jemand, den ich nicht hier haben wollte.

Zu sehen war nichts. Die Amseln sangen fröhlich in den Sträuchern und zwei Tauben trotteten nebeneinander über den Rasen, vermutlich auf der Suche nach etwas Essbarem. Aber ich sah niemanden, der sich zwischen die Sträucher duckte, und da war auch kein massiger Schatten, der sich drohend vor meinem Fenster auftürmte.

So absurd die Vorstellung auch war, mir wurde in diesem Moment bewusst, dass ich das tatsächlich für einen kurzen Augenblick erwartet hatte. Einen Schatten, der sich auf mich stürzte. Nichts Körperliches – keinen Menschen. Einfach nur ein Ding, das sich durch ein Fenster nicht aufhalten ließ, sich auf mich stürzte, mich erstickte oder mir irgendwelche Tabletten aufzwang.

War ich schon so verzweifelt, dass ich jetzt auch nach einer übernatürlichen Lösung für Kiras Tod suchte? Anders konnte ich mir diese Gedanken nicht erklären. Seufzend schloss ich die Jalousien und bereute es schon im nächsten Augenblick, denn es wurde sofort dunkler im Raum. Zwar wusste ich, dass ich allein im Zimmer war, aber dennoch fühlte ich mich wieder beobachtet.

Schnell hastete ich zum Lichtschalter und natürlich musste mir mein Gehirn jetzt all diese kleinen, fiesen Geschichten wieder in Erinnerung rufen, die ich bisher gelesen oder in Filmen gesehen hatte. Die Hände, die unter dem Bett hervorgriffen. Die kalte Hand, die auf dem Lichtschalter lag. Das Knarren der Schranktüren, die sich öffneten, um das Grauen herauszulassen. Die glühenden Augen, die man aus dem Augenwinkel sah.

Ich betätigte den Lichtschalter in genau dem Moment, als etwas meine Wade berührte.

Ich schrie erschrocken auf, aber in dem nun hellen Licht erkannte ich Vino, der gerade an mir vorbeigegangen war und mich nun fast irritiert ansah, als wolle er fragen, warum ich denn schreie. Erleichtert sackte ich gegen den Türrahmen und verlieh mir gedanklich den Titel Idiotin.

Was oder besser gesagt wer sollte mich denn sonst an der Wade berühren, wenn nicht eine unserer Katzen?

Da waren keine Hände, die unter meinem Bett hervorlugten oder aus dem Schrank heraus nach mir griffen. Keine Augen, die mich beobachteten und sich nun im Licht einfach in Luft auflösten. Das waren alles nur meine überreizten Nerven. Ich fühlte mich beobachtet, weil Mareike und ich uns soviel über Kiras und Isabelles Mörder unterhielten, weil ich diesen Zettel bekommen hatte und weil ich schlicht Angst hatte. Meine Fantasie gaukelte mir etwas vor.

Ich setzte mich zu Vino auf das Bett und kraulte ihn hinter den Ohren. Er begann zu schnurren und ich seufzte leise auf.

„Ich bin bekloppt, hm?“ Keine Antwort, bloß weiteres, sanftes Schnurren. Ich versuchte noch einmal durchzugehen, was bisher passiert war.

Der erste Punkt war Kiras Tod. Nein, eigentlich schon ihre Eröffnung mir gegenüber, dass sie sich beobachtet fühlte. Irgendwer hatte sie beobachtet. Ich zweifelte nicht mehr daran, dass es so war, auch wenn sie mir nichts Konkretes hatte nennen können. Niemand, der ihr besonders oft aufgefallen wäre, keine Nachrichten an, nichts.

Dann kamen Mareikes Unterlagen und ihre Geschichte über den unaufgeklärten Tod ihrer Schwester. Sie hatte kurz nach der Beerdigung damit angefangen Zeitungsartikel zu sammeln, die von ungeklärten Todesfällen berichteten. In ihre Mappe, die sie mir gezeigt hatte, hatte sie später allerdings nur die Artikel sortiert, die ihrer Meinung nach zum Tod ihrer Schwester passten.

Der Schmuck. Es war nicht zu leugnen, dass sowohl Kira als auch Isabelle und Grit ähnlichen, zueinander passenden Schmuck getragen hatten. Bei den anderen Mädchen in Mareikes Mappe war ich mir nicht sicher, auf den Bildern war der Schmuck nicht immer so gut zu erkennen, wie bei den dreien, aber Mareike zumindest war sich sicher.

Schließlich war da der Ladenbesitzer. Hatten Mareike und ich uns da einfach in etwas verrannt? Eine Hoffnung, weil wir jemanden brauchten, dem wir die Schuld zuschieben konnten?

Seufzend rieb ich mir über das Gesicht. Es war verrückt, was wir hier taten. Das war Sache der Polizei und wir waren keine Heldinnen eines Krimis, die den vom Autor gestreuten Hinweisen folgten, den Mörder schnappten, ihm ein Geständnis entlockten und ihn so hinter Gitter beförderten.

Schön wäre es gewesen, aber so war es nicht.

Mareike hatte recht, ich hätte nicht in den Laden gehen sollen. Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht? Wenn etwas an unserem Verdacht dran war, dann hätte das böse für mich enden können. Wäre nur der Ladenbesitzer da gewesen, hätte er mich leicht überwältigen können.

Ich schauderte bei der Vorstellung, wie er mich in die hinteren Räume lockte, niederschlug und dann fesselte und knebelte, bis er mich fortschaffen und ebenfalls töten konnte. Mir fielen ein paar Dokumentationen ein, die ich gesehen hatte. Wie war es dem Mörder gelungen, so gar keine Spuren zu hinterlassen? Er musste alles komplett gereinigt haben, nachdem er Kira zu ihrem angeblichen Selbstmord getrieben hatte.

Aber vielleicht hatte die Polizei ja auch Spuren und konnte sie bloß nicht zuordnen.

Egal wie, es war einfach frustrierend. Als mein Handy vibrierte, war ich froh über die Ablenkung. Es war eine Nachricht von Mareike. Sie hatte mit der Personalchefin von ihrer Zeitung gesprochen wegen eines Praktikums und ich sollte ruhig meine Bewerbung abschicken. Das waren gute Neuigkeiten. Ich hätte es zwar sowieso gemacht, aber so wusste ich, dass da nun jemand Bescheid wusste und schon eine Empfehlung bekommen hatte.

Aufregung erfasste mich. Es war sicher interessant, Einblick in die Kulissen einer Zeitung zu bekommen. Ich sah ja sonst immer nur das Endprodukt, die gedruckte Zeitung oder Zeitschrift. Wie genau es zu den Artikeln und den ausgewählten Bildern kam, wusste ich nur aus ein paar Artikeln und einer Doku, die ich mal mit meinem Vater gesehen hatte.

Der Gedanke an meinen Vater erinnerte mich daran, dass ich meine Eltern in meine Praktikumspläne einweihen musste. Ich bezweifelte, dass sie etwas dagegen haben würden, aber besser ich sprach sie vor dem Absenden der Bewerbung darauf an.

Vino war eingeschlafen, stellte ich fest. Lächelnd stand ich auf und streckte mich. Wie von selbst wanderte mein Blick zum Fenster und als wollte ich mir selbst beweisen, dass da draußen niemand war, ging ich zum Fenster und zog die Lamellen der Jalousien etwas auseinander. Draußen war es dunkler geworden, sodass ich sowieso nicht viel erkennen konnte, aber darum war es mir gar nicht wirklich gegangen.

Ich hatte bloß die Angst vor dem Blick nach draußen überwinden wollen. Und das hatte geklappt. Ich wollte die Lamellen gerade loslassen, als mir ein kleines, rotes Glühen auffiel. Dieses typische kurze Glühen, wenn jemand an einer Zigarette zog.

Meine Eltern rauchten nicht.

Mein Herz schien in klebrigem Sirup zu stecken, quälend langsam schlug es nur noch. Ich ließ die Lamellen los und wich vor dem Fenster zurück. Wenn ich sofort meine Mutter informierte und wir die Polizei riefen, konnte es dennoch zu spät sein. In meinem Zimmer brannte Licht, wer auch immer da in unserem Garten stand und rauchte, würde mich bemerkt haben, wenn er zu meinem Fenster geschaut hatte.

Ich schluckte und eilte nach unten. Meine Mutter war in der Küche und inspizierte die Küchenschränke. Sie drehte sich lächelnd zu mir um, doch ihr Lächeln wich sofort einer besorgten Miene. Ich musste meinen Schrecken wohl deutlich zeigen.

„Paula, was ist passiert?“

„Draußen steht jemand im Garten und raucht.“ Die mutigen Heldinnen aus den Filmen wären wohl selber nach draußen gegangen, vermutlich bewaffnet mit einem Nudelholz oder einem Besen oder was sie sonst so zur Hand hatten. Ich sagte lieber meiner Mutter Bescheid. Sie sah mich verwirrt an und legte den Notizblock auf den Küchentisch. „Ich hab ihn von meinem Zimmer aus gesehen.“

„Bist du sicher, dass es nicht jemand nebenan war?“

„Ja. Der stand zwischen unseren Büschen. Oder davor. Ich weiß nicht genau, ich bin gleich vom Fenster weg.“ Ich sah sie unsicher an. Konnte ich mich vielleicht doch geirrt haben? Meine Mutter ging ins Wohnzimmer, wo mein Vater sich gerade eine Dokumentation ansah. Er runzelte die Stirn, als meine Mutter ihn einweihte.

„Ich schau nach. Vielleicht ist es auch ein Einbrecher. Der wäre aber ganz schön blöd sich durch eine Zigarette zu verraten.“

„Jeder wäre blöd sich damit zu verraten.“ Ich folgte meinen Eltern zur Terrassentür. Meine Mutter hatte sich das schnurlose Telefon genommen, bereit sofort die Polizei zu rufen, sollte etwas passieren. Ich blieb halb hinter, halb neben ihr, verunsichert und ängstlich.

Sollte ich nach oben zu Lena gehen? Aber solange sie noch nicht mitbekommen hatte, was hier los war, wollte ich sie auch nicht damit beunruhigen. Sie hatte immer noch Alpträume von dem versuchten Einbruch bei uns und ich wollte ihre Fantasie nicht noch weiter füttern.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst“, hörte ich die Stimme meines Vaters von draußen und trat gleichzeitig mit meiner Mutter einen Schritt nach vorne. Irgendwer antwortete ihm, aber er war zu leise, um ihn zu verstehen. Doch nur wenig später kam mein Vater in Begleitung eines Nachbarjungen ins Wohnzimmer. Martin oder Markus? Ich wusste es nicht mehr genau. Er war rot angelaufen und sah ängstlich von meinem Vater zu meiner Mutter, mich beachtete er kaum.

„Bitte, sagen Sie es nicht meinen Eltern. Ich mach es auch nie wieder, ehrlich!“

„Hast du bei uns im Garten geraucht?“ platzte es aus mir heraus und nun sah er zu mir, wobei er ein gedehntes Ja von sich gab. Meine Mutter schnaubte und hielt das Telefon in die Höhe.

„Wir wollten schon die Polizei rufen. Du weißt doch, dass in der Straße schon so oft eingebrochen wurde. Wir dachten, du bist ein Einbrecher.“ Sie schüttelte den Kopf. „Mal ganz davon abgesehen, dass du nicht rauchen solltest. Das ist für jeden ungesund.“

„Ich weiß. Bitte, sagen Sie es nicht meinen Eltern.“ Er sah meine Eltern gequält an und mein Vater seufzte.

„Das wirst du schön selbst machen. Oder glaubst du, sie merken es nicht, wenn du rauchst? Das riecht man. Aber wir wollen dir keine Predigt halten. Schleich dich nur nicht in fremde Gärten. Und jetzt geh nach Hause.“

„Okay.“ Geknickt folgte er meiner Mutter zur Haustür und verließ das Haus. Als meine Mutter zurückkehrte, hatte sie einen verkniffenen Zug um die Lippen.

„Also, wenn es nach mir ginge, würde ich Kathrin alles sofort erzählen.“

„Komm, lass gut sein. Ist ja nicht so, als hätten wir uns nie heimlich aus dem Haus geschlichen, um etwas zu tun, was unsere Eltern nicht wissen sollten.“ Als wüssten sie genau, dass ich auf diese Aussage hin die Ohren spitzte, sahen meine Eltern mich an. „Nimm dir das nicht als Beispiel.“

„Nein, nein.“ Ich grinste, erleichtert darüber, dass sich alles so gut aufgeklärt hatte. Und amüsiert zu hören, dass meine Eltern sich als Jugendliche heimlich aus dem Haus geschlichen hatten.


Kapitel 24

Ich fächelte mir Luft zu und warf einen Blick auf mein Handy. Mareike hatte mich noch einmal treffen wollen vor ihrer Abfahrt, aber ich war zu früh gewesen. Sie hatte ein anderes Café vorgeschlagen, da sie sich in ihrem Hotel auch beobachtet fühlte. Ihre letzte Nachricht ging mir nicht aus dem Kopf.

Vielleicht ist es der Ladenbesitzer. Ich war so blöd und hab ihm gesagt, in welchem Hotel ich bin.

Der Ladenbesitzer. Alles wies immer wieder auf ihn. Der Schmuck, Kiras Besuch in seinem Laden und dass sie sich erst danach beobachtet gefühlt hatte. Aber vermutlich reichte das nicht für die Polizei. Doch was würde ihnen reichen? Wenn er versuchte Mareike oder mich zu erwürgen?

Obwohl die Sonne schon seit dem Morgen schien und die Temperaturen mittlerweile weit über 20 Grad gestiegen waren, wurde mir kalt. Wenn der Mann befürchtete, dass wir Beweise gegen ihn suchten oder gar hatten, würde er uns sicher aus dem Weg räumen wollen. Das wollten zumindest immer die Täter in den Filmen und Büchern. Würde er genauso vorgehen?

Endlich sah ich Mareike um die Ecke biegen. Ich winkte ihr und sie eilte zu mir. Als ich ins Café gekommen war, hatte ich einen Tisch an der offenen Fensterfront gewählt, aber nun fragte ich mich, ob wir besser weiter drinnen sitzen sollten, wo man uns nicht so schnell sah. Mareike wirkte gehetzt und ich sah sie fragend an.

„Ist was passiert?“

„Ich weiß nicht.“ Seufzend setzte sie sich zu mir und nahm den Sonnenhut ab, um sich ein paar gelöste Haarsträhnen hinter die Ohren zu streichen. „Ich hatte bloß das Gefühl, dass mich jemand beobachtet. Aber da war niemand. Zumindest ist mir niemand aufgefallen.“

„Mir geht es genauso“, erzählte ich und berichtete ihr von dem Erlebnis mit dem Nachbarsjungen. „Ich wünschte, alles würde sich so leicht aufklären.“

„Vielleicht bilden wir uns ja auch bloß alles ein.“ Mareike griff nach der Karte, schlug sie jedoch nicht auf. „Vielleicht erwarten wir, dass etwas passiert, und glauben deswegen, dass uns jemand beobachtet. Die Psyche ist sehr kompliziert.“

„Meinst du, dass es so einfach ist?“ Kiras Tod hatte ich mir jedenfalls nicht eingebildet. Und auch, dass die Polizei wegen Mordes ermittelte, war keine Einbildung.

Aber der Rest … Es war gut möglich, dass Mareike Recht hatte. Wir hatten uns total auf den Ladenbesitzer versteift. Vielleicht war er unschuldig und wir liefen einem Gespenst hinterher, bildeten uns Dinge ein. Kira hatte sich verfolgt gefühlt – übertrug ich das nun irgendwie auf mich?

Ich musste an ein Gespräch mit meinen Eltern denken. Kurz nach Kiras Tod hatten sie mir erklärt, es sei hilfreich mit einem Fremden über solch einen Verlust zu reden. Natürlich hatten sie an einen Psychologen gedacht, aber ich hatte das abgelehnt. Hätte es mir helfen können, Kiras Tod besser zu verarbeiten und nun nicht nach dem Schuldigen zu suchen? Irgendwie bezweifelte ich das.

„Nein, einfach ist daran nichts“, seufzte Mareike und meine Gedanken rückten wieder in den Hintergrund. „Aber es ist etwas, was mir nun schon eine Weile durch den Kopf geht. Ich denke, es wäre zumindest möglich. Wenn der Ladenbesitzer etwas mit Kiras Tod zu tun hätte, müsste die Polizei doch schon etwas gefunden haben.“

„Es gibt doch auch Fälle, in denen der Mörder erst nach Jahren oder Jahrzehnten gefunden wurde.“ Meine Mutter sah sich gerne Dokumentationen über Kriminalfälle an, manchmal leistete ich ihr dabei Gesellschaft.

„Ja, aber das sind meist sehr alte Mordfälle, als die Polizeiarbeit noch nicht soweit war wie heute. Vergleich von Fingerabdrücken, DNA-Spuren und derleichen waren auch nicht immmer Bestandteil der Polizeiarbeit.“ Mareike öffnete die Karte, als gerade eine Kellnerin an unseren Tisch kam. Ich hatte meinen Kaffee noch nicht einmal zur Hälfte geleert, daher bestellte ich nichts. Mareike bestellte mit einem gezwungenen Lächeln einen Cappuccino.

Wir unterhielten uns über Belanglosigkeiten, bis Mareike ihre Tasse vor sich stehen hatte, dann kehrten wir zu dem Thema zurück, das uns beide so sehr beschäftigte.

„Ich würde ja zu gerne die Überwachungsvideos des Hotels durchgehen.“ Mareike rührte Zucker in ihren Cappuccino und zog die Nase kraus. „Einfach, um zu sehen, ob der Typ sich im oder vor dem Hotel herumtreibt.“

„Vielleicht zeigen sie sie dir, wenn du sagst, dass dich jemand bestohlen hat und du ihn vor dem Hotel schon gesehen hast.“ Ich lächelte schief, als Mareike kurz auflachte. „Ich weiß, ich weiß … Das würde nur in einem Film funktionieren.“

„Sie würden die Videos der Polizei zeigen, wenn ich in meinem Zimmer oder sonstwo im Hotel überfallen werde. Aber mir doch nicht. Und nein, es hilft auch nicht, wenn ich sage, dass ich Journalistin bin und an einer Story arbeite.“

„Kannst du Gedanken lesen?“ Ich grinste. Die Idee hatte ich als nächstes gehabt, aber das waren wohl wirklich alles Dinge, die in Filmen und Büchern funktionierten. Also musste ich auch gar nicht vorschlagen, dass Mareike versuchte heimlich an die Videos zu kommen. „Glaubst du, dass der Ladenbesitzer irgendwelche Hinweise auf sich als Täter irgendwo hat?“

„Sowas wie ein Tagebuch, dem er alle Morde anvertraut?“ Mareike schüttelte den Kopf. „So einfach wird er es uns nicht machen. Egal worum es geht, ein Täter wäre echt blöd, Hinweise auf sich in seiner Umgebung aufzubewahren.“ Da hatte sie Recht, was es nicht weniger frustrierend machte.

„Ist es eigentlich als Journalistin auch so schwer an Informationen und Storys zu kommen?“

„Manchmal.“ Mareike schnaufte. „Natürlich kommt es auch auf den Bereich an. Jede Mutter wird dir mit glänzenden Augen von ihrem kleinen Sonnenschein erzählen, wenn du eine Serie über Babys erste Schritte schreibst. Aber versuch dich mal an einem Artikel über Ehebruch, Steuerhinterziehung oder dergleichen. Das ist ungleich schwieriger.“

„Und Mord ist noch mal eine Ecke schwerwiegender.“ Ich sprach nur das Offensichtliche aus, aber vielleicht brauchte ich das auch. Es war vielleicht besser, wenn ich diese Jagd auf Kiras Mörder aufgab. Finden würde ich ohnehin nichts und es frustrierte mich zunehmend, Ideen und Verdächtigungen zu haben, die im Nichts verliefen.

Ein letztes Mal, schoss es mir durch den Kopf. Ich sollte ein letztes Mal in diesen Laden gehen, um quasi vor Ort meine Neugier zu begraben. Dort war nichts und der Besitzer des Ladens würde mir ganz gewiss nicht sagen, dass er Kira getötet hatte.

Sollte ich Mareike einweihen? Nein, besser nicht. Ich wollte nicht, dass sie mir einen Vortrag darüber hielt, wie gefährlich und albern mein Verhalten war. Das wusste ich selbst. Dennoch wollte ich noch einmal in den Laden.

Danach würde ich auf den Friedhof gehen und Kira alles erzählen, was wir versucht hatten. Auch wenn wir ihren Mörder nicht gefunden hatten, hatten wir etwas versucht. Der Rest war jetzt Sache der Polizei. Kira wollte sicher auch nicht, dass ich mich in Gefahr brachte. Ich jedenfalls hätte nicht gewollt, dass sie sich wegen mir in Gefahr brachte.

Die nächste halbe Stunde fragte ich Mareike über ihre Arbeit aus und sie zeigte mir ein paar Fotos, die sie in ihrer Abteilung aufgenommen hatte. Ihre Kollegen wirkten sympathisch, aber Mareike warnte mich vor, dass sie streng waren, gerade zu Anfang.

„Aber so lernt man am Meisten, finde ich jedenfalls.“ Sie lächelte und scrollte sich weiter durch die Fotos. Sie waren bei der letzten Weihnachtsfeier aufgenommen worden. Mareike war nicht die einzige, die eine dieser roten Mützen trug, aber die meiste Aufmerksamkeit zog der Typ mit dem Geweih auf dem Kopf auf sich.

„Ist das Rudolf?“ scherzte ich und Mareike kicherte.

„Nein, Richard. Aber er hat bei der Feier eine Wette verloren und hat zwei Wochen lang tatsächlich Rudolf Deer auf seinem Türschild stehen gehabt.“

„Ernsthaft?“ Ich fiel in Mareikes Kichern ein.

„Ja. Es war natürlich von Vorteil, dass er selbst der Chef der Abteilung ist und gerade wenig Verkehr bei uns war. Er ist schon cool.“ Etwas an ihrem Blick sagte mir, dass sie ihn mehr als nur cool fand. Da war so ein Leuchten, wie ich es bei Kira so oft beobachtet hatte, wenn sie von Jonathan sprach.

Wenn alles gutging, würde ich ihn ja auch schon bald mal kennenlernen. Es war aufregend zu wissen, was nun noch alles kommen würde, auch wenn es mir immer wieder einen Stich versetzte, dass ich das alles ohne Kira erleben würde. Wir hätten uns von unseren Jobs erzählt, einander unser Leid geklagt, wenn es wieder stressig wurde, hätten gemeinsam gelernt.

Hoffentlich half mir dieser letzte Besuch in dem Laden dabei, endlich mit diesen Gedanken abzuschließen. Ich wollte nicht die ganze Zeit mit diesem „was wäre, wenn“ leben. Kira hätte mich vermutlich ausgelacht, hätte sie es gewusst.

Unwillkürlich stellte ich mir vor, dass sie tatsächlich wusste, was in mir vorging, dass sie sah, was ich tat, was hier geschah. Ich glaubte nicht an Geister, aber für einen Moment stellte ich mir eben doch vor, dass es sie gab und dass Kira auch einer war.

Wie einfach es gewesen wäre, hätte es Geister gegeben. Wir hätten Kiras und Isabelles Geister beschwören und sie nach ihrem Mörder fragen können. Aber leider war das nicht so einfach.


Kapitel 25

Ich träumte wieder von Kira. Sie saß neben meinem Bett, als ich erwachte, die Arme auf der Matratze überkreuzt und den Kopf auf sie gestützt. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Dass ich sie überhaupt erkannte, lag daran, dass mein Handy noch an war. Ich hatte Musik angemacht, als ich mich hingelegt hatte, und war dabei eingeschlafen. Mein Unterbewusstsein verarbeitete dies offensichtlich mit in den Traum.

Vino störte sich weder an der Musik noch an Kira, er schnupperte an ihr und miaute leise, bevor er sich zwischen uns einrollte.

Ich werde in den Laden gehen“, erklärte ich leise und Kiras Lächeln wurde breiter.

Ich weiß.“

Da kann ich noch so oft von dir träumen, ich gehe hin.“ Sie lachte leise.

Ich wollte dich nicht davon abhalten. Ich weiß, dass du es so oder so tun wirst.“ Sie bewegte sich und strich über das Handy. Es rauschte kurz, dann lief die Musik weiter. „Machst du mein Lieblingslied an? Ich würde es gerne wieder hören.“ Natürlich machte ich es für sie an.


Ich musste wohl im Schlaf oder Halbschlaf tatsächlich mein Handy bedient haben. Als ich am Morgen erwachte, lief Kiras Lieblingslied in Dauerschleife. Vermutlich hatte ich nicht so fest geschlafen, wie ich gedacht hatte.

Heute war es soweit. Heute würde ich in den Laden gehen und danach mit der Jagd auf den Ladenbesitzer abschließen.

Ich blieb noch eine Weile liegen und ging im Geist durch, wie ich das machen wollte. Im Grunde hoffte ich darauf, dass der Typ vom letzten Mal wieder allein im Laden war und eine heimliche Raucherpause machte, während der er vergaß die Eingangstür abzuschließen.

Mir war klar, wie dürftig der Plan war, aber einen besseren hatte ich nicht. Wäre ich die Heldin eines Films oder Buchs gewesen, wäre mir sicher ein ganz fantastischer Plan eingefallen – oder ich hätte ganz zufällig die Schlüssel zum Laden gefunden und hätte nachts, wenn niemand da war, in den Laden gehen können. Aber so musste ich eben ein wenig improvisieren und hoffen.

Nachdem ich gefrühstückt hatte, duschte ich, danach machte ich mich bereits auf den Weg zum Laden. Je früher ich meinen Plan in die Tat umsetzte, desto früher hatte ich es auch hinter mir.

Der Bus war so voll, dass ich keinen Sitzplatz bekam und die Fahrt über im Gang stehen bleiben musste. Mir war flau im Magen. Was, wenn der Mitarbeiter diesmal übervorsichtig war und den Laden abschloss während seiner Pause? Würde ich dann auch Ruhe geben können oder würde weiterhin der Wunsch in mir brennen, mich in dem Laden umzusehen?

Die Fragen brachten mich natürlich nicht weiter, aber ich konnte sie auch nicht einfach abstellen. Fast verpasste ich meine Haltestelle. Ob ich das als Zeichen werten sollte? Nein, das war Unsinn. So etwas wie Zeichen gab es nicht.

Einen Moment stand ich noch an der Haltestelle, dann ging ich langsam los. Der Laden war geöffnet und ich hatte Pech: Es waren drei Kunden da und der junge Mitarbeiter kümmerte sich gerade um einen von ihnen. Es wäre auch zu einfach gewesen, hätte mein Plan direkt funktioniert.

Unschlüssig, was ich jetzt tun sollte, sah ich mich ein wenig im Laden um und hoffte, dass ich wie eine gewöhnliche Kundin wirkte. Der Mitarbeiter bemerkte mich nach einer Weile und grinste mich an, was ich erwiderte. Als er mit der Kundin fertig war, kam er kurz zu mir.

„Mit dem Kästchen ist hoffentlich alles in Ordnung?“

„Oh ja, da ist alles gut. Ich wollte einfach noch mal ein wenig hier stöbern.“

„Okay. Wenn du Fragen hast, nur zu, frag.“

„Alles klar.“ Er ging bereits zu dem nächsten Kunden, der ihn lautstark über ein paar Figuren befragte. Die dritte Kundin rollte mit den Augen und inspizierte schließlich mit verbissener Miene einen Schaukelstuhl.

Ob jemand es merken würde, wenn ich nach hinten ging? Ich konnte ja versuchen mich damit herauszureden, ich hätte gedacht, dort gäbe es weitere Verkaufsräume. Mein Herz begann zu rasen und ich bewegte mich weiter durch den Laden, immer näher zu der Tür, die nach hinten führte.

Aber auch dieser Plan scheiterte.

An der Tür klebte ein Zettel, auf dem „Personal“ stand. Toll. Damit war klar, dass meine Karriere als Detektivin beendet war, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Zudem betraten gerade zwei weitere Kunden den Laden. Heute hatte sich wohl alles gegen mich verschworen. Vielleicht war es doch ein Zeichen gewesen, dass ich meine Haltestelle beinahe verpasst hätte.

Unschlüssig blickte ich zu dem Mitarbeiter, der meinen Blick bemerkte und leicht lächelte. Eine Idee schoss mir durch den Kopf und ich beschloss es zu versuchen. Wenn es nicht klappte, würde ich eben nach Hause fahren und auf die Ergebnisse der Polizeiarbeit warten.

Langsam näherte ich mich dem Jungen und als der Kunde neben ihm gerade gründlich eine Figur inspizierte, nutzte ich die Gelegenheit.

„Ähm, hör mal“, begann ich mit gesenkter Stimme und wie ich hoffte verlegener Miene. „Habt ihr ein Kundenklo?“

„Nein, leider nicht.“ Er sah mich bedauernd an und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Allerdings schulde ich dir was. Du weißt schon …“ Er zwinkerte mir zu und ich grinste leicht. „Geh nach hinten durch. Mein Chef ist heute nicht da und wenn sich hier wer wundert, sag ich, dass du eine Freundin bist.“

„Prima, danke dir.“ Ich huschte zu der Tür, die zu den Personalräumen führte, schlüpfte hindurch und schloss sie hinter mir. Eigentlich hatte ich erwartet, dass mein Herz rasen würde bei solch einer Aktion, aber es schlug im Gegenteil quälend langsam.

Ich atmete zittrig durch und betrachtete die Türen, die es gab. Sein Chef war nicht da, vorne waren viele Kunden … Der Junge würde sich so schnell hoffentlich nicht wundern, wie lange ich brauchte.

Dennoch zögerte ich etwas, bevor ich eine der Türen öffnete. Ich kam in ein anderes Büro als bei meinem letzten, damals eher zufälligen Besuch hier hinten. Ein paar Bilder an den Wänden von einem Dalmatiner und einem Boot ließen den Raum persönlicher aussehen als das andere Büro. Vermutlich war das hier das Büro des Ladenbesitzers.

Ich wischte mir die Hände an den Seiten meiner Hose ab und trat zögerlich an den Schreibtich. Das war doch völlig bescheuert. Der Typ hatte ganz sicher nichts hier, was auf ihn als Täter hinweisen würde, wenn er überhaupt etwas mit Kiras Tod zu tun hatte.

Unschlüssig zog ich an der obersten Schublade des Containers, der unter dem Schreibtisch stand. Sie ließ sich öffnen, enthielt aber nur ein paar Kugelschreiber, Klammern und einen Post-It-Block. In der nächsten Schublade waren ein paar Notizblöcke, ein Locher, ein Hefter und ein Tacker. Das erklärte, warum ich nichts davon auf dem Schreibtisch selbst gesehen hatte.

Die dritte Schublade enthielt Fotoalben.

Warum hatte er Fotoalben in seinem Büro? Bewahrte man sowas nicht zu Hause auf? Aber vielleicht waren es Fotos von seinen Waren, dann machte es Sinn, dass sie hier waren. Ich griff nach einem Album und öffnete es.

Der Dalmatiner, von dem auch Bilder an den Wänden hingen, war auf den ersten Bildern zu sehen. Rasch hatte ich das Album durchgeblättert. Es gab noch mehr Bilder von dem Dalmatiner und einige von dem Boot, einem Haus und einem altmodischen Cabrio.

Das nächste Album zeigte nur Bilder von Schmuck, was mein Herz doch etwas schneller schlagen ließ. Immerhin hatten laut Mareikes Verdacht einige Mordopfer, darunter ihre Schwester und Kira, ähnlichen Schmuck getragen. Und der Ladenbesitzer hatte ein ganzes Fotoalbum voller Schmuck.

Als ich das dritte Fotoalbum herausnahm, löste sich eine der Seiten und hing halb heraus. Verflucht. Hoffentlich war sie vorher schon beschädigt gewesen und würde den Mann nicht misstrauisch machen. Ich schlug das Album zuerst an dieser Stelle auf und starrte auf die beiden Fotos, die hier festgeklebt waren.

Mit zitternden Fingern fummelte ich mein Handy aus der Tasche und machte ein Foto von der Seite, dann blätterte ich das Album rasch durch. Hinter der defekten Seite kamen noch zwei weitere Seiten, die ich fotografierte, weil ich einfach nicht glauben und verstehen konnte, was ich hier sah.

Warum hatte der Typ Fotos von Mareike in seinem Album?

Ich stellte das Album zurück und verließ das Büro wieder. Das gefiel mir nicht. Hatte er es auf Mareike abgesehen? Sie hatte erwähnt, dass sie sich beobachtet fühlte. Die Fotos sprachen ja dafür, dass er sie tatsächlich beobachtet hatte.

Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, ging ich nach vorne zurück und hoffte, dass ich völlig normal aussah und nicht etwa so verstört, wie ich mich fühlte.

Es waren noch zwei Kunden da und der junge Mitarbeiter war in ein Gespräch mit einem von ihnen verwickelt. Ich hob grüßend die Hand, als er zu mir blickte, und er erwiderte den Gruß. Danach verließ ich den Laden. Ein Gespräch traute ich mir gerade nicht zu, mir gingen diese Fotos einfach nicht aus dem Kopf. Vermutlich hätte ich nur herumgestammelt oder wäre gar mit meinem Verdacht herausgeplatzt. Gut, das vielleicht doch nicht, aber dennoch wollte ich nur weg.

Als ich sah, dass gerade der Bus an meiner Haltestelle hielt, lief ich los und ich hatte Glück. Er hatte gerade angehalten und öffnete nun die Türen. Ich stieg ein und ließ mich auf den nächsten freien Platz fallen. Sofort holte ich mein Handy heraus und sah mir die Fotos an, die ich gerade aufgenommen hatte.

Ich hatte nicht geträumt, mir nichts eingebildet.

Da waren Fotos von Mareike in dem Fotoalbum gewesen. Sollte ich ihr gleich schreiben oder sie lieber anrufen? Da ich solch eine Nachricht lieber persönlich erfahren hätte, beschlosss ich sie anzurufen, sobald ich zu Hause war.


Kapitel 26

Ich lief in meinem Zimmer auf und ab, während ich auf den Rückruf von Mareike wartete. Nachdem sie sich nicht gemeldet hatte, hatte ich ihr eine Nachricht hinterlassen, aber sie hatte sie noch nicht gelesen. Meine Gedanken machten sich selbstständig und fantasierten sich zusammen, was alles passiert sein könnte.

Der Ladenbesitzer arbeitete heute nicht, da hatte er Zeit sich mit Mareike zu treffen. Würde es bald ein neues Opfer geben? War Mareike gerade mit dem Typen unterwegs, ohne zu ahnen, dass er Fotos von ihr sammelte?

Schaudernd griff ich nach meinem Handy. Sie hatte die Nachricht noch immer nicht gelesen. Ich zögerte. Sollte ich sie noch einmal anrufen? Allerdings befürchtete ich, wenn sie tatsächlich gerade mit dem Ladenbesitzer verabredet war und er meine Anrufe mitbekam, nur ebenfalls auf dessen Liste zu landen – wenn ich nicht bereits auf dieser stand.

Vielleicht war es am besten, wenn ich die Polizei rief. Die konnten dann ermitteln, warum der Mann Fotos von Mareike bei sich hatte. Ob er irgendwo auch Fotos von Kira hatte? Vermutlich. Vielleicht nicht in seinem Büro, vielleicht irgendwo anders. Vielleicht bewahrte er in seinem Büro nur die Bilder seines aktuellen Opfers auf.

Das war doch zum Verrücktwerden. Ich hätte mich gar nicht darauf einlassen dürfen mit Mareike über ihre Theorien zu sprechen und mich in diese zu vertiefen. Das hatte doch erst dazu geführt, dass ich unbedingt in den Laden gewollt hatte. Andererseits … hätte ich es nicht getan, würde ich nichts von den Bildern wissen und könnte Mareike nun nicht warnen. Es konnte ja auch sein, dass sie gerade einfach beschäftigt war und meine Nachricht nicht mitbekommen hatte.

Als mein Handy vibrierte, zuckte ich zusammen.

Mareike!

„Hey, sorry, ich hatte grad ein längeres Gespräch mit meiner Redakteurin“, erklärte sie, nachdem ich den Anruf entgegengenommen hatte und noch bevor ich mein Hallo krächzen konnte. „Stimmt was nicht?“ Und schon sprudelte alles aus mir heraus.

Ich erzählte Mareike von diesem unbändigen Wunsch, den Laden zu besuchen und mich dort umzusehen, meinem heutigen Besuch dort und der wirklich zufälligen Chance nach hinten zu gelangen – und den Fotos, die ich entdeckt hatte.

„Ich kann sie dir schicken“, erklärte ich, als ich an diesem Punkt ankam. Mareike war still geworden, was ich verstehen konnte. Mir hätte es auch die Sprache verschlagen, hätte mir jemand das alles erzählt. Gerade die Sache mit den Fotos hätte mich fertig gemacht.

„Vielleicht ist er auch nur ein perverser Stalker.“ Mareike klang nicht überzeugt, hätte ich schätzen müssen, hätte ich vermutet, dass sie gerade so verstört war wie ich es nach meiner Entdeckung gewesen war. Und wie ich es immer noch war.

„Und wenn nicht? Wenn er auch von Kira solche Bilder hat? Von Isabelle? Von anderen Mädchen, die jetzt tot sind?“ Ich begann wieder in meinem Zimmer auf und ab zu laufen und trat schließlich an mein Fenster. „Sollten wir damit nicht die Polizei rufen? Sie könnten sich in dem Laden umsehen. Jetzt können wir ihnen ja einen Grund nennen.“

„Ich weiß nicht, ob das so einfach ist. Was, wenn er die Fotos heimlich aufgenommen hat, als ich da war? Oder sie von einer Überwachungskamera stammen und er sich daraus Bilder gebastelt hat? Wie gesagt, er könnte einfach ein Perverser sein.“

„Ein Perverser, der Mädchen tötet.“

„Das vielleicht auch. Aber dass er Fotos von mir hat, beweist leider gar nichts. Glaub mir, ich würde es mir auch wünschen, aber ich glaube nicht, dass es für die Polizei reicht, um sein ganzes Büro oder gar den Laden auf den Kopf zu stellen. Ganz zu schweigen davon, dass du vermutlich auch Ärger kriegen wirst, weil du dich heimlich reingeschlichen hast.“

„Das wäre mir egal, wenn wir nur irgendwie endlich was finden würden. Und die Fotos sind doch ein Hinweis.“ Mareike seufzte leise.

„Glaub mir, ich will ja auch, dass die Polizei den Kerl mal genauer durchleuchtet. Aber ganz ehrlich … Ich glaube ja, sie würden ihn zuerst einmal fragen, woher er die Fotos hat und er wird irgendwas antworten, von wegen er habe sie heimlich aufgenommen, als ich in seinem Laden war oder wir uns wegen meiner angeblichen Suche getroffen haben.“ Ihre Worte frustrierten mich. Machte sie sich denn gar keine Sorgen.

„Ich würde sterben vor Angst. Wie kannst du so ruhig bleiben?“

„Na ja … zum Einen hat der Kerl weder meine richtige Telefonnummer, noch meine Adresse. Zum Anderen fahre ich bald nach Hause, also kann er mir nicht mehr auflauern, sollte er zufällig wissen, in welchem Hotel ich wohne.“ Gut, da war was dran. Dennoch hätte ich wohl vor Angst gezittert, wäre ich an ihrer Stelle gewesen.

Ich sah eine Bewegung im Garten und seufzte leise auf. Ob das wieder Martin war? Oder Markus, ich hatte meine Eltern nicht mal gefragt, wie er hieß. Vermutlich wollte er eine rauchen und dachte sich, wenn meine Eltern nicht da waren, konnte er das hier machen. Ganz unrecht hatte er gar nicht mal, ich hatte nicht vor zu petzen.

„Okay“, murmelte ich mit etwas Verspätung. „Also keine Polizei?“

„Schick mir mal die Fotos, dann weiß ich, ob ich da bei ihm im Laden war. Dann können wir das immer noch überlegen. Aber ich muss heute noch etwas an einem Artikel arbeiten, meine Redakteurin sitzt mir im Nacken. Ehrlich, wäre ich zu Hause, würde sie mich an den Schreibtisch ketten, bis ich alles so fertig habe, wie sie es möchte.“ Mareike lachte leise und auch von mir fiel ein wenig Anspannung ab, wenn auch nicht annähernd so viel, wie ich mir wünschte.

Wieder bewegte sich etwas im Garten und ich versuchte auszumachen, ob es Martin-Markus war, konnte aber nichts erkennen. Hell genug war es und so dicht waren die Büsche gar nicht, dass er sich jetzt so gut darin hätte verstecken können. Vermutlich war es doch nur ein Tier. Ob eine unserer Katzen nach draußen gelangt war? Wir ließen sie selten raus, wenn wir das Haus verließen, aber vielleicht war es meinen Eltern oder auch mir beim Lüften nicht aufgefallen, dass eine entwischt war.

„Gut, ich schick dir gleich die Fotos und dann lass ich dich arbeiten.“ Ich verabschiedete mich von Mareike und tat, was ich ihr gerade versprochen hatte, danach machte ich einen Rundgang durchs Haus. Zwar war ich mir sicher, dass alle Fenster geschlossen gewesen waren, als ich das Haus verlassen hatte, aber ich wollte mich doch noch einmal davon überzeugen.

Natürlich waren die Fenster immer noch geschlossen, was meine überreizten Nerven nur wenig beruhigte. Einbrecher hatten doch ihre Tricks, wie sie in Häuser gelangten. Mein Trost, dass jetzt am Tag wohl kein Einbrecher einen Versuch starten würde, war verschwunden, seit Lena allein im Haus gewesen war und jemand es eben doch versucht hatte. Es konnte jederzeit passieren.

Wieder bemerkte ich eine Bewegung draußen und nun sah ich auch einen getigerten, bekannten Schwanz. Brina. Also war tatsächlich eine unserer Katzen entwischt. Ich seufzte und ging ins Wohnzimmer, um über die Terrassentür in den Garten zu kommen.

„Brina.“ Rufen war vermutlich sinnlos, außer Vino hörte kaum mal eine unserer Katzen aufs Rufen. Und Vino überlegte bei meinen Eltern und Lena auch gefühlt ständig, ob er wohl reagieren sollte.

Ich blickte mich um. Natürlich war niemand im Garten und so ging ich zu dem Busch, unter dem Brina verschwunden war. Dort hockte ich mich hin und versuchte sie zu erkennen.

„Brina, komm schon, lass uns reingehen.“ Ich streckte ihr meine Hand hin und schnalzte leis mit der Zunge. Was bei Vino und Mimi funktionierte, war bei Brina ein reines Glücksspiel und auch diesmal reagierte sie nicht. Auch sah ich sie nicht. War sie womöglich bereits weitergelaufen?

Seufzend richtete ich mich auf und sah mich um. Keine Bewegung, die auf Brina hinwies. Dann sollte sie eben im Garten bleiben. Ich würde nachher meinen Eltern Bescheid geben, vielleicht hatten sie mehr Glück Brina ins Haus zu locken. Vermutlich verlangte sie spätestens dann Einlass, wenn sie Hunger hatte.

Die Terrassentür war hinter mir zugeschwungen, was ich bereits kannte. Bis zu einem bestimmten Winkel geschah das immer, sodass wir meist ein kleines Kissen vorlegten, wenn wir im Wohnzimmer oder Garten saßen, damit ein Spalt für die Katzen offenblieb.

Als ich mich ihr näherte, bemerkte ich ein rotes Blitzen in meiner Spiegelung, das aber gleich wieder verschwunden war. Vermutlich war nur Licht auf die Scheibe gefallen, aber ich musste an das Blitzlicht einer Kamera denken, auch wenn dieses nicht rot war. Aber vielleicht spiegelte sich etwas anderes in der Scheibe.

Verunsichert blickte ich mich wieder um, aber außer den Büschen am Zaun und dem Haus gegenüber sah ich nichts. Da war niemand, der mich beobachtete, das waren nur meine immer noch überreizten Nerven und paranoiden Gedanken.

Dennoch beeilte ich mich ins Haus zu kommen und die Tür hinter mir zu schließen. Vino saß im Wohnzimmer auf einem Sessel und beobachtete mich, statt wie sonst zu mir zu kommen und seinen Kopf gegen mein Bein zu rammen, damit ich ihn beachtete und kraulte. Ich ließ ihn sitzen und kehrte in mein Zimmer zurück.

Von Mareike war noch nichts bezüglich der Fotos gekommen, sie musste vielleicht noch überlegen, ob sie tatsächlich die Polizei einschalten wollte oder nicht. Recht hatte sie ja: Die Polizisten würden wissen wollen, wie ich in das Büro und an die Bilder gekommen war.

Gedanklich malte ich mir das Gespräch mit den Polizisten aus, stellte mir vor, wie meine Eltern von meiner Aktion erfuhren und wie enttäuscht sie sein würden. Aber das war zu verschmerzen, wenn wir nur irgendwie etwas fanden, was gegen den Ladenbesitzer sprach. Der Ärger, den ich vielleicht kriegen konnte, würde sich doch lohnen, wenn der Typ der Mörder war und die Polizei anfing gegen ihn zu ermitteln.

Mein Handy klingelte und ich griff danach, wobei ich erwartete Mareikes Nummer zu sehen. Allerdings war es die Nummer unterdrückt. Ich zögerte, dann fiel mir ein, dass Jonathan Probleme mit seinem Handy erwähnt hatte. Vielleicht hatte er ein neues Handy samt neuer Nummer und dachte, dass ich neugieriger war bei einer unterdrückten Nummer als bei einer völlig unbekannten.

Ich meldete mich, aber ich war zu spät. Da hatte ich zu lange gegrübelt. Aber sicher rief Jonathan noch einmal an, diesmal mit angezeigter Nummer, damit ich auch zurückrufen konnte, wenn ich es wollte.

Nachdem ich Musik eingeschaltet hatte, machte ich es mir in meinem Sessel bequem und dachte noch einmal über alles nach, was heute passiert war. So richtig kam ich aber nicht dazu, denn wieder klingelte mein Handy.

Unbekannte Nummer.

Grinsend meldete ich mich mit einem „Hallo, Jonathan. Dachtest wohl, ich erkenn dich nicht.“, da ich sicher war, dass er es war. Es blieb einen Moment still, vermutlich überlegte er sich eine Antwort, obwohl er sonst auch sehr schnell mit schlagfertigen Antworten war.

„Hör auf zu schnüffeln“, ertönte ein tiefes Krächzen.

Verstört nahm ich das Handy vom Ohr. Die Verbindung war unterbrochen. Für einen Moment fragte ich mich, ob ich mir das eingebildet hatte. Aber das hatte ich nicht.

Jemand hatte mir gerade gedroht.


Kapitel 27

Ich entschied mich vorerst dagegen meinen Eltern von dem Drohanruf zu erzählen. Sie hätten sich nur noch mehr Sorgen gemacht als ohnehin schon. Immerhin wussten sie bereits von dem Drohbrief und dass in Kiras Fall wegen Mordes ermittelt wurde. Wenn ich jetzt von dem Anruf erzählte, würden sie doch sofort glauben, dass der Mörder nun mich auf seiner Liste hatte.

Vielleicht hatte er das auch.

Es war vermutlich nicht gerade eine kluge Entscheidung, meine Eltern nicht einzuweihen, aber ich wusste doch auch nicht, ob sich nicht einfach jemand verwählt hatte. Zwar bezweifelte ich das, aber möglich war es. Und dann würde ich meine Eltern nur unnötig in Panik versetzen.

Daher setzte ich mir selbst ein Limit: Wenn es noch einen solchen Anruf gab oder ein weiterer Drohbrief einging, dann würde ich ihnen natürlich davon erzählen.

Mareike meldete sich an diesem Tag nicht mehr und ich war ein wenig nervös. Was, wenn der Ladenbesitzer sie besucht hatte und sie nun sein nächstes Opfer war? Würde es bald einen Artikel zu ihrem tragischen Tod geben? Ich zögerte, sie anzurufen, immerhin musste sie arbeiten und vielleicht war es eben auch genau das, was sie davon abhielt sich zu melden: Ihre Arbeit.

Zumindest hatte sie meine Nachricht bekommen und gelesen, sie wusste nun also, was für Bilder der Typ von ihr hatte. Andererseits hatte das nichts zu bedeuten, flüsterte eine giftige Stimme in mir. Es konnte immerhin auch sein, dass der Ladenbesitzer die Nachricht geöffnet hatte …

Diese Gedanken machten mich noch wahnsinnig.

Ich war froh, als meine Mutter und Lena nach Hause kamen. Das bedeutete Abwechslung und so murrte ich auch kaum, als Lena mich bat mit ihr englische Vokalen zu lernen. Es war angenehm für eine Weile die Ereignisse dieses Tages aus dem Kopf zu kriegen.

Allerdings ließ die Nervosität mich nicht los.

Als ich abends in mein Zimmer ging, ließ ich sofort die Jalousien runter und beobachtete durch einen Spalt für eine Weile den Garten. Natürlich war da nichts. Die Spiegelung, die ich gesehen hatte, hatte sicher irgendeinen natürlichen Ursprung gehabt. Wäre es anders gewesen, hätte der Grund dafür auf dem Grundstück gegenüber sein müssen und da wohnte, soweit ich wusste, ein älteres Ehepaar.

Die hatten mich ganz sicher nicht beobachtet oder auf irgendeine Weise für diese Spiegelung gesorgt. Nicht alles, was geschah, hatte etwas mit Kiras Tod und ihrem Mörder zu tun.

Seufzend wandte ich mich vom Fenster ab und setzte mich an meinen Schreibtisch. Ich schaltete meinen Laptop ein, öffnete den Internetbrowser und gab „Journalist“ ins Suchfeld ein. Falls ich tatsächlich ein Praktikum bei Mareikes Zeitung ergatterte, wollte ich mich gründlich informieren. Bestimmt würden mir einige Fragen gestellt werden, warum ich mich für den Job interessierte und ähnliches.

Vino gesellte sich schließlich zu mir, schnupperte kurz an meinem Bein und sprang schließlich maunzend auf mein Bett. Ich musste lächeln, als ich ihn beobachtete, wie er es sich auf meinem Kissen bequem machte.

„Nachher bin ich wieder voll mit deinen Haaren“, tadelte ich ihn spaßeshalber. Nicht, dass es mich störte, zudem war ich selbst Schuld. Ich hätte es ihm nie erlauben dürfen in mein Bett zu kommen, wenn ich ihn da nicht haben wollte. Wobei ich bezweifelte, dass man Katzen das wirklich effektiv verbieten konnte. Vermutlich half nur, die Zimmertüren immer geschlossen zu halten, wenn sie irgendwo nicht hindurften.

Vino maunzte nur erneut, dann schloss er die Augen. Schlafen war eben interessanter als mir zuzuhören. Grinsend wandte ich mich wieder meinem Laptop zu und vertiefte mich in Artikel über Journalisten und Journalismus. Ich vergaß völlig die Zeit darüber und bemerkte nur am Rande, wie sich alle fertig machten.

Erst lange nachdem Lena und meine Eltern mir eine gute Nacht gewünscht hatten, schaute ich wieder auf die Uhr. Es war nach Mitternacht. Das und der ganze Tag erklärten meine Müdigkeit. Ich schloss das Internetprogramm und stand auf. Licht hatte ich keines gemacht und ich ließ es auch jetzt aus. Der Lichtschein des Laptops reichte mir, um mich zurechtzufinden.

Leise schlich ich ins Bad, um mir die Zähne zu putzen, dann kehrte ich in mein Zimmer zurück und schaltete den Laptop aus. Bevor ich ins Bett ging, warf ich erneut einen Blick aus dem Fenster.

Draußen war es dunkel und dementsprechend sah ich nichts. Diesmal gab es auch kein Glühen einer brennenden Zigarette, Martin-Markus schlief entweder bereits oder er suchte sich nun einen anderen Ort zum Rauchen als Nachbargärten. Und doch schien es mir, als wäre da etwas bei den Büschen. Ein weiterer Schatten, der da nicht sein sollte.

Mein Herz begann zu rasen und das plötzliche Rauschen in meinen Ohren war so laut, dass ich mich fragte, ob ich es hören würde, wenn jetzt jemand das Haus oder mein Zimmer betrat.

Hatte Kira sich auch so gefühlt? Hatte sie auch etwas gesehen und nicht gewusst, was es war – ob da überhaupt etwas war oder sie sich nur etwas einbildete? Ich war mir nämlich gerade nicht sicher, ob da tatsächlich etwas bei den Büschen war oder mir meine Augen einfach nur einen Streich spielten.

Geh nachsehen.

Das war die gleiche giftige Stimme, die mir erklärt hatte, dass der Ladenbesitzer Mareike bereits erwischt haben könnte. Nachsehen würde ich jetzt ganz sicher nicht. In einem Film oder einem Buch hätte die Heldin natürlich nachgesehen und wäre dem Mörder oder seinem Gehilfen in die Hände gefallen, um dann von ihrem heimlichen Schwarm gerettet zu werden.

Da ich keinen heimlichen Schwarm hatte, entfiel die Rettung durch ihn. Nein. Ich würde in meinem Zimmer bleiben. Aber ich konnte mit der Handytaschenlampe in den Garten leuchten. Ich trat zu meinem Bett und griff nach meinem Handy. Bevor ich die Taschenlampe einschaltete, deckte ich das Lämpchen mit der Hand ab, damit der Lichtschein nicht gleich von draußen entdeckt werden konnte.

Ich atmete ein paar Mal tief durch, dann kehrte ich zum Fenster zurück und öffnete es. Wenn jemand im Garten war, dachte er hoffentlich, dass ich bloß lüften wollte. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, leuchtete ich runter in den Garten.

Da war nichts.

Natürlich nicht. Meine Nerven hatten mir einen Streich gespielt und mich etwas sehen lassen, was nicht da gewesen war. Ich leuchtete noch nach links und recht, aber es blieb dabei: Da war rein gar nichts.

Erleichtert schaltete ich die Taschenlampe aus und setzte mich in meinen Bürostuhl. Das Fenster ließ ich einen Moment offen, um tatsächlich zu lüften. Die frische Luft tat gut. Ich schickte Mareike noch eine Nachricht mit einem „gute Nacht dir“ und hoffte, dass sie mir morgen schreiben würde.

Schließlich stellte ich mein Fenster auf Kipp und legte mich hin. Vino döste noch immer auf meinem Kopfkissen und schnaufte leise, als ich ihn anstupste, damit er Platz machte. Irgendwie einigten wir uns, dass ich doch noch etwas vom Kissen abbekam.

Obwohl es spät und ich müde war, dauerte es, bevor meine Gedanken soweit Ruhe gaben, dass ich langsam wegdöste. Und ausgerechnet in diesem Moment klingelte es an der Haustür.

Ich fuhr im Bett hoch und krallte mich in meine Decke. Hatte ich mir das nur eingebildet? Vino stupste sanft gegen meinen Arm und ich zuckte zusammen, dann legte ich eine Hand auf seinen Rücken. Seine Anwesenheit beruhigte mich.

Als ich Schritte auf dem Flur hörte, stand ich auf und verließ mein Zimmer. Lena stand an der Treppe nach unten und wandte sich mir mit müdem Blick zu.

„Es hat geklingelt“, murmelte sie schläfrig.

„Ja. Ich geh nachsehen. Schau, ob Mama oder Papa wach sind.“ Sie nickte und ich eilte nach unten. Warum klingelte jemand – und vor allem wer? War einem unserer Nachbarn etwas passiert? Aber dann hätten sie doch eher einen Notarzt gerufen und nicht bei uns geklingelt.

Ein Blick durch den Spion gab den Blick frei auf einen Polizisten.

Ich runzelte die Stirn und schaute nach, ob die Kette vorlag, bevor ich die Tür öffnete. Immerhin konnte der Typ auch nur als Polizist verkleidet sein. Ich konnte von hier aus nicht sehen, ob ein Polizeiwagen auf der Straße stand.

„Meine Eltern kommen gleich“, erklärte ich anstelle einer Begrüßung und der Mann sah mich prüfend an. Prüfend und beinahe misstrauisch, wenn ich seinen Blick richtig deutete. Ich tastete zur Seite und schaltete das Licht im Hausflur ein.

„Paula, ist alles in Ordnung?“ Die Stimme meines Vaters zu hören ließ Erleichterung durch mich fluten und ich trat zur Seite, um ihm das Gespräch mit dem Polizisten zu überlassen. Ich war froh zu sehen, dass auch mein Vater die Kette nicht entfernte.

„Herr Michels?“ hörte ich den Polizisten und mein Vater nickte.

„Friedrich Michels. Ist etwas passiert?“

„Wir haben einen Anruf eines Nachbarn bekommen. Er hat Licht von einer Taschenlampe in Ihrem Haus und Ihrem Garten gesehen und da es in dieser Gegend in den letzten Wochen vermehrt Einbrüche gab, war er besorgt.“ Es durchfuhr mich siedendheiß. Das musste meine Aktion vorhin gewesen sein. Ich tippte meinem Vater auf den Arm und schob mich so vor ihn, dass ich den Polizisten sehen konnte.

„Das muss ich gewesen sein. Ich dachte, ich hätte was im Garten gesehen und hab mit der Taschenlampe vom Handy dann runtergeleuchtet.“ Er sah mich wieder so prüfend an.

„Und wann war das?“

„Ich weiß nicht genau. Vorhin irgendwann. So eine halbe Stunde oder dreiviertel Stunde vielleicht.“ Ich hörte meinen Vater seufzen.

„Warum hast du mich nicht geweckt?“

„Weil ich mir nicht sicher war. Hätte ja auch nur wieder Martin-Markus sein können.“

„Wer?“

„Na, der Nachbarjunge, der hier neulich schon war. Der Raucher.“

„Ach. Marten.“ Ich zuckte nur mit den Schultern. Dann eben Marten. Da war ich mit Martin nicht sehr weit entfernt gewesen.

„Mein Kollege schaut sich bereits hinten um. Ist wirklich alles in Ordnung?“ Was erwartete er denn bitte? Dass wir ihm jetzt sagten, dass die Einbrecher mit ihren Pistolen auf uns zielten? Wäre dem so gewesen, hätten wir es sicher nicht zugegeben.

„Wenn ich überzeugt bin, dass Sie ein echter Polizist sind, lass ich Sie gerne herein“, sagte mein Vater trocken. „Entschuldigen Sie, aber es wäre wohl nicht das erste Mal, dass sich jemand als Polizist verkleidet, um sich irgendwo Zutritt zu verschaffen.“ Das entlockte dem Polizisten ein winziges Lächeln.

„Sie haben Recht und es ist sehr gut, dass Sie eine Kette vorgelegt haben.“ Er zeigte seinen Dienstausweis vor und er sah für mich ziemlich genau so aus wie die von all den Polizisten, mit denen ich wegen Kiras Tod gesprochen hatte. Mein Vater nickte nur, ließ die Kette aber wo sie war.

„Ich versichere Ihnen, es ist alles in Ordnung. Meine Tochter hat es doch gerade erklärt: Das Licht kam von ihr. Ich vermute, sie dachte, dass unsere Nachbarn alle schlafen und hat nicht daran gedacht, dass jemand das Licht auffällig finden könnte.“

„Hab ich wirklich nicht“, gab ich kleinlaut zu und die Miene des Polizisten wurde etwas weicher. Ein zweiter Mann in Polizeiuniform kam um die Ecke.

„Hinten ist nichts. An der beschriebenen Stelle waren bloß zwei Kippen.“

„Und die waren vermutlich von Marten. Hat er also wieder heimlich hier geraucht.“ Mein Vater brummte leise. „Das ist ein Nachbarjunge, bevor Sie fragen. Wir haben ihn erwischt, wie er heimlich in unserem Garten geraucht hat. Von uns raucht niemand, also wird das noch von ihm sein. Oder er war wieder hier, wie gesagt.“

„Gut. Sollte doch noch etwas sein, Sie jemanden auf Ihrem Grundstück bemerken, der nicht hierhergehört oder den sie nicht kennen, dann wählen Sie den Notruf.“

„Ja, natürlich. Danke, dass Sie nachgesehen haben. Und es tut mir leid, dass es ein falscher Alarm war.“ Ich murmelte auch eine Entschuldigung und zog mich etwas zurück. Mein Vater verschloss die Tür und sah fragend zu mir.

„Tut mir leid?“ Ich biss mir auf die Zunge und er seufzte leise.

„Schon gut. Aber wenn du wieder denkst, dass du jemanden im Garten siehst, sag deiner Mutter oder mir Bescheid.“ Ich nickte nur und folgte seinem Blick zu Lena, die auf der Treppe saß und uns mit großen Augen beobachtete. Ihre Müdigkeit war wohl verflogen.

„Komm, wir gehen hoch.“ Ich streckte ihr eine Hand hin, um sie hochzuziehen, und sie nahm sie sofort an. Sie ließ mich auch nicht los, als wir nach oben gegangen waren und als sie mich fragte, ob sie bei mir schlafen konnte, stimmte ich zu. Wie hätte ich auch ablehnen können? Das ganze hatte sie vermutlich an den versuchten Einbruch bei uns erinnert und ich wollte sie da nicht allein lassen.


Kapitel 28

Lenas Wecker riss auch mich aus dem Schlaf am nächsten Morgen. Ich hatte sofort die Erinnerungen an die Ereignisse der Nacht wieder vor Augen. Hatte ich mir wirklich nur eingebildet, dass dort ein Schatten gewesen war, oder hatte sich die Person schnell im Gebüsch versteckt?

Die Gedanken hielten mich wach, sodass ich schließlich auch aufstand. Lena und meine Eltern waren bereits aus dem Haus und ich ließ mir Zeit dabei mich fertigzumachen und zu frühstücken. Ich wollte zum Reiterhof, das würde mich sicher genug ablenken.

Mareike hatte mir bisher nicht geantwortet. Vielleicht schlief sie noch, vielleicht arbeitete sie und ignorierte ihr Handy momentan. Die Sorge, dass ihr etwas passiert sein könnte, konnte ich dennoch nicht abstellen.

Nachdem ich mein benutztes Geschirr in die Spülmaschine gepackt und mir vorgenommen hatte, die nachher anzustellen, schrieb ich Mareike eine kurze Nachricht – „guten Morgen, lass dich nicht von der Arbeit zu sehr nerven :D“ – und holte meine Tasche. Natürlich hatte ich die Hoffnung, dass sie mir bald schreiben und so meine Sorgen zerstreuen würde.

Als ich das Haus verließ und gerade abschloss, fiel mir wieder die letzte Nacht ein. Der Polizist hatte gesagt, dass da nichts gewesen war, aber er kannte unsere Büsche nicht. Wäre es ihm überhaupt aufgefallen, wären da Knicke oder so etwas gewesen? Vermutlich, aber vielleicht hätte er sich nichts dabei gedacht. Nein, das war unwahrscheinlich. Er war immerhin Polizist und geschult darin solche Dinge zu sehen und mögliche Geschehnisse zu interpretieren.

Und doch machte ich einen kurzen Abstecher nach hinten, um mir die Büsche jetzt im Tageslicht selbst anzusehen.

Mir fielen auch zuerst die beiden Kippen auf, von denen auch der Polizist gesprochen hatte. Vermutlich hatte er sie liegenlassen, da dies kein offizieller Tatort gewesen war. Wäre eingebrochen worden, hätten die Polizisten die Kippen sicher eingesammelt.

Ich holte ein Taschentuch aus meiner Tasche und hob die Kippen auf, um sie wegzuwerfen. Die Zeige der Büsche wirkten ein wenig zerknickt, aber ich konnte nicht sagen, ob das nicht schon immer so gewesen war. Vielleicht hatten sich auch wieder zwei Freigänger geprügelt, ein weiterer Grund, warum wir unsere Katzen ungern frei herumlaufen ließen. Ein paar der Nachbarkatzen hatten von solchen Prügeleien üble Blessuren davongetragen. Die Familie mit den zwei Rabauken war zwar vor drei Jahren bereits weggezogen, aber vielleicht hatten andere Katzen deren Manieren übernommen.

Zwischen den Büschen fielen mir jedoch Fußspuren auf. Wer da auch gestanden hatte, hatte zum Haus geschaut. Vielleicht waren sie noch von Marten. Ich sollte wirklich aufhören in alles etwas hineinzuinterpretieren.

Detektivin oder Polizistin würde ich niemals werden, das wurde mir nur wieder bewusst, während ich hier stand und die Fußspuren anstarrte. Sie hätten auch von meinem Vater sein können, der vielleicht von hier zum Haus geschaut hatte, während er überlegte, was er da noch alles anbauen konnte.

Seufzend wandte ich mich ab und ging nach vorne. Hier warf ich das Taschentuch mit den beiden Kippen in unseren Mülleimer und machte mich schließlich auf den Weg zur Bushaltestelle.

Der Bus war angenehm leer zu dieser Uhrzeit und ich nahm den Sitz direkt hinter dem Busfahrer. Sonst war es mir egal, wo ich saß, aber momentan war ich einfach zu nervös. Hier beim Busfahrer fühlte ich mich einfach sicherer.

Die Fahrt über spielte ich an meinem Handy herum, immer in der Hoffnung, dass Mareike mir antworten würde. Aber da kam nichts. Vielleicht war sie in einen Schreibflash oder so verfallen und ignorierte ihre Umwelt einfach. Immer wieder sagte ich mir das, aber es brachte nichts. Die Sorge blieb.

Mich um Fergus zu kümmern lenkte mich tatsächlich ab. Ich hatte inzwischen mit seinen Besitzern und der Reitschule gesprochen oder vielmehr E-Mails ausgetauscht und es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich jemand anderer für seine Pflege fand. Er würde mir wirklich fehlen, insgesamt würde mir das Reiten fehlen. Aber vermutlich würde ich während des Studiums wenig Zeit für ein eigenes Pflegepferd finden. Es war schon während des Abis nicht einfach gewesen mich nach stundenlangem Lernen noch aufzuraffen und zum Hof zu fahren.

Ich trödelte herum, genoss die Ablenkung und fantasierte, wie es mit einem eigenen Hof sein würde. Pferde züchten oder eine eigene Reitschule eröffnen machte sicher Spaß. Aber ich war schon lange genug Reiterin, um zu wissen, dass es nicht damit getan war, ein paar Pferde und einen Reiterhof zu haben.

Mein Handy hatte ich abgestellt und erst, als ich mich auf den Heimweg machte, schaute ich nach, ob ich Nachrichten erhalten hatte. Nichts.

Ich seufzte leise auf und starrte auf das Display. Sollte ich Mareike noch einmal schreiben? Aber das war albern. Ich hatte ihr bereits zwei Nachrichten geschickt, auf die sie nicht geantwortet hatte, die sie nicht einmal gelesen hatte bisher. Zwar hieß es, aller guten Dinge seien drei, aber ich bezweifelte, dass dieses Sprichwort hier eintreffen würde.

Das Display wurde schwarz und ich steckte das Handy weg. Wenn Mareike bis heute Abend nicht geantwortet hatte, würde ich sie anrufen. Oder ich würde in ihrem Hotel anrufen und mich zu ihr durchstellen lassen.

Zufrieden mit meinem Plan steckte ich das Handy weg, um ihr nicht etwa doch noch gleich jetzt zu schreiben. Trotz meines Plans ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich nach meinem Handy tastete. Das war ja ähnlich ätzend wie der brennende Wunsch danach in den Laden zu gehen.

Ich kam kurz nach meiner Mutter und Lena zu Hause an. Lena hatte heute einen kurzen Tag gehabt, da einer ihrer Lehrer krank war, und ich erinnerte mich, dass Mama etwas davon erzählt hatte, sie würde in den nächsten Tagen mal „Überstunden abbummeln“.

Lena hing sich sofort wieder an mich, damit ich sie Vokabeln abfragte und ich stimmte zu. Sie wirkte abgelenkt, während ich in der Liste herumsprang und vor allem die Worte abfragte, mit denen sie bisher immer Schwierigkeiten gehabt hatte. Sie saßen mittlerweile besser, auch wenn es immer noch ein wenig hakte.

Doch schließlich legte ich die Liste weg und sah Lena fragend an. Sie erwiderte meinen Blick genauso fragend.

„Was ist denn?“

„Sag du es mir. Du hast doch was.“

„Nee. Na ja. Doch.“ Sie begann ihren Kugelschreiber auf dem Tisch hin und her zu rollen. „Ich glaube, heute Morgen war jemand im Garten.“ Ich sah sie alarmiert an.

„Hast du jemanden gesehen?“

„Nee, eben nicht. Also nicht direkt. Aber ich glaube, da war jemand. Da war so ein Schatten.“ Ich hatte auch gedacht, ich hätte in der Nacht einen Schatten beim Gebüsch gesehen. Aber da war es immerhin auch dunkel gewesen, ohne Licht sah alles anders aus und es wirkte, als wären Schatten dort, wo gar nichts war.

Beim Abiball hatte ich auch nur einen Schatten gesehen. Aber da war eindeutig jemand gewesen. Ich hatte die Risse in dem Kleid genau in Erinnerung und brauchte nur in meinen Schrank zu schauen, um sie zu sehen. Aber diese Gedanken halfen mir hier nicht weiter. Ich wollte nicht, dass Lena sich Sorgen machte.

„Vielleicht war es wieder Marten“, erklärte ich, wobei ich mich gedanklich bei Marten entschuldigte, dass er nun als Sündenbock herhalten musste. Ich war mir nämlich nicht sicher, dass er tatsächlich wieder in unserem Garten gewesen war. Zumindest ganz sicher nicht mehr, wenn jemand zu Hause war. Lena sah mich fragend an und ich lächelte leicht. „Er hat sich hier schon mal in den Garten geschlichen, um heimlich zu rauchen.“

„Das hab ich mal gerochen. Ich dachte, das kommt von den Nachbarn.“ Lena zuckte mit den Schultern. „Kann sein. Hab ja niemanden gesehen.“ Sie nahm sich die Liste mit Vokabeln und grinste bereits wieder. „Jetzt frag ich dich ab. Vielleicht kannst du die auch gar nicht so gut.“ Ich lachte leise.

„Okay, schauen wir mal, was ich noch kann.“


Lena ließ schließlich von mir ab und ich schaute sofort auf mein Handy, doch Mareike hatte sich noch immer nicht gemeldet. Sofort rief ich sie an, bekam jedoch nur die Voicemail. Ich sprudelte heraus, dass ich mir Sorgen machte und sie sich bitte melden sollte, danach legte ich mein Handy weg.

Nervös versuchte ich mich abzulenken, aber gelingen wollte es mir nicht. Ich war sogar versucht zu Lena zu gehen, um ihr beim weiteren Lernen zu helfen, aber dann hätte sie mich vermutlich gefragt, was los war. Ich bot mich nie selbst zum Lernen an, sie war diejenige, die mit Fragen zu mir kam.

Nach knapp zwanzig Minuten, in denen ich am Handy im Internet gesurft hatte, vibrierte es und ich ließ es beinahe fallen. Endlich! Mareike schrieb mir.

//Tut mir leid, ich habe den ganzen Tag an einem Artikel gearbeitet und mein Handy ignoriert.//

//Alles gut. Ich hab nur befürchtet, der Ladenbesitzer hätte dich jetzt auch erwischt.// Ich zögerte kurz, schickte die Nachricht dann aber doch ab. Natürlich war es Mareike, die mir schrieb. Der Ladenbesitzer hatte sicher weder ihr Handy noch ihre PIN, selbst wenn er sie erwischt hatte.

Ganz sicher?

Wieder diese leise Stimme. Ich hörte öfter meine eigene, leise Stimme, besonders während der Klausurenphasen hatte ich oft genug in Gedanken selbst mit mir geschimpft, aber irgendwie klang diese Stimme anders. Vielleicht änderten sich innere Stimmen mit der Zeit auch oder sie passten sich den Ereignissen an.

//Nein, hat er nicht. Aber er hat mir geschrieben. Er will sich mit mir treffen. Er hat eine Schmuckkollektion bekommen, die dem entsprechen könnte, was ich angeblich suche.// Aha. Da streckte er nun seine Finger nach Mareike aus. Vermutlich hatte sie irgendwann anklingen lassen, dass sie bald abfahren würde und nun wollte er die Chance nicht verstreichen lassen. Ich schauderte, während ich Mareike antwortete.

//Du willst dich doch aber nicht mit ihm treffen?// Das würde nicht gut ausgehen, da war ich überzeugt.

//Ich versuche gerade Gründe für eine Absage zu finden, aber mir fällt nichts ein.//

//Ich könnte mitkommen. Sicher tut er nichts, wenn wir zu zweit auftauchen.//

//Ich glaube nicht, dass das so gut ist. Ich will nicht, dass er dich womöglich auch noch auf seine Liste nimmt.//

//Vielleicht bin ich da schon.// Kira war meine beste Freundin gewesen, wenn er sie beobachtet hatte, musste er mich auch einige Male bemerkt haben. Vielleicht hatte er mich da noch nicht beachtet, aber mittlerweile konnte sich das geändert haben. Der Drohbrief und auch der Anruf waren ja nun kein Zufall gewesen.

//Er hat mir morgen angeboten, um 19 Uhr in seinem Laden. Ich weiß aber nicht. Ich glaub wirklich nicht, dass das so gut ist.//

//Besser als ganz allein.//

//Okay, dann sag ich ihm zu.// Aufregung erfasste mich. Hoffentlich hatte ich Recht und er tat wirklich nichts, wenn wir zu zweit dort auftauchten. Horrorszenarien, in denen er mich niederschlug und in seinen Keller sperrte, während er Mareike irgendwo tötete, schossen mir durch den Kopf. Die nächste Nachricht von Mareike lenkte mich ein wenig ab. //Soll ich dich abholen?//

//Ich warte an der Bushaltestelle. Dann musst du nicht den Umweg hierher fahren.// Der war zwar kurz, aber das bisschen Bewegung würde mir vielleicht helfen, etwas ruhiger zu werden. Ich war mir sicher, dass ich morgen Abend weitaus aufgeregter sein würde als jetzt schon. Mareike und ich machten noch aus, dass ich um 18.30 Uhr an der Haltestelle warten sollte, danach verabschiedete sie sich, da sie seit einer Weile Kopfschmerzen hatte und sich hinlegen wollte.

Meine neue innere Stimme flüsterte mir eine weitere Idee zu und etwas unsicher sah ich auf das Handy, bevor ich in meinen Kontakten scrollte. Bei Jonathans Namen hielt ich inne und zögerte kurz, bevor ich das kleine Telefon drückte, um ihn anzurufen. Er meldete sich gleich beim zweiten Klingeln.

„Hey du.“

„Hey. Wie geht’s dir?“

„Gut, und selbst?“

„Auch. Hör mal … Das klingt jetzt total bescheuert.“ Ich atmete tief durch und dann sprudelte es auch bereits aus mir heraus: „Hast du morgen Abend Zeit eine Bekannte und mich zu begleiten? Wir wollen zu diesem Laden und der Typ da ist mir nicht geheuer und mir wäre echt wohl, wenn da noch jemand wäre.“

„Was für ein Laden und was für ein Typ?“ Jonathan klang verwirrt und ich konnte es ihm nicht verübeln. Also erzählte ich ihm von Mareikes und meinem Verdacht, von dem Drohbrief, den Bildern von Mareike bei dem Typen und auch dem Anruf, den ich erhalten hatte. Er schwieg einen Moment und seufzte schließlich. „Okay, ich komme mit, auch wenn ich es echt gewagt finde, dass ihr überhaupt dahin wollt.“

„Ich auch“, gab ich leise zu. „Aber allein wäre es noch blöder, oder?“

„Allerdings. Wann soll ich da sein?“

„Um 19 Uhr. Mareike holt mich ab, vermutlich sind wir etwas früher da.“

„Ich warte einfach im Auto vor dem Laden. Und wenn ihr nicht nach einer Weile wieder rauskommt oder du mir eine Nachricht schickst, komm ich rein oder rufe die Polizei.“

„Ich dachte eher, dass du mit reinkommst.“

„Es ist vielleicht ganz gut, wenn er nicht weiß, dass ich auch da bin. Mareike hat ja den Termin mit ihm. Sei einfach typisch unhöfliche Jugendliche und spiel an deinem Handy herum, während du wartest. Dann kannst du mir ganz einfach Nachrichten schicken.“ Seine Idee klang gar nicht schlecht und ich stimmte zu. Wir beendeten das Telefonat und ich machte Netflix an. Jetzt war ich eh zu aufgeregt, um bald schlafen zu können, da konnte ich auch versuchen mich mit Serien abzulenken.


Kapitel 29

Ich lief an der Haltestelle auf und ab und blickte immer wieder auf mein Handy. Es waren noch ein paar Minuten, bis Mareike mich abholen würde, ich war einfach viel zu früh aus dem Haus gegangen. Meinen Eltern hatte ich nicht erzählt, dass wir in den Laden gehen wollten, sondern nur, dass ich mich mit Mareike traf.

Jonathan hatte mir auch schon geschrieben, dass er sich gleich auf den Weg machen würde. Irgendwie hatte das ganze Vorhaben etwas von diesen Plänen der jugendlichen Helden in irgendwelchen Filmen. Leider gingen diese Pläne oft schief, bevor es dann das ruhmreiche Finale gab. Leider war das hier kein Film und ich wusste nicht, ob ich vor dem Finale stand, dann hätte ich mir keine Sorgen machen müssen.

Im Finale gewannen doch meist die Guten.

Ich musste über mich selbst lachen. Es mochte albern sein, mein Leben mit Filmen zu vergleichen, aber es lenkte mich ab und das tat gut. Ich war so aufgeregt, dass ich nicht mehr wusste, wohin mit mir.

Endlich sah ich Mareikes Wagen in die Straße biegen. Sie hielt an der Haltestelle und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Prüfend sah sie mich an.

„Bist du ganz sicher? Du kannst immer noch aussteigen und nach Hause gehen. Und wenn ich mich nicht bei dir melde, dann kannst du die Polizei rufen.“ Sie sah genauso nervös aus, wie ich mich fühlte. Ich schüttelte den Kopf.

„Falls er wirklich was mit dir vorhat, ist es Wahnsinn, da alleine hinzugehen. Ich komme mit.“ Ich schnallte mich an, um meine Aussage zu unterstreichen, und sie seufzte.

„Okay. Ich bin sogar ganz froh, dass du mitkommst. Diese Sache mit den Bildern macht mich ziemlich fertig. Ich weiß echt nicht, wann er die aufgenommen hat.“ Sie fuhr wieder los und blickte konzentriert auf die Straße, aber ich sah auch Sorge in ihren Augen.

„Du hattest doch auch das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich wette, das war dieser Typ.“ Ich sah ebenfalls aus dem Fenster. „Lena sagte gestern auch zu mir, sie hätte jemanden im Garten gesehen. Zumindest glaubt sie, dass da jemand war. Ich hab es erst einmal auf den Nachbarsjungen geschoben. Ich will nicht, dass sie Angst hat.“

„Wenn die Polizei ihn nur endlich überführen könnte. Dann wäre der Spuk endlich vorbei und wir hätten endlich alle unsere Ruhe.“ Mareike bog ab und ich drehte mich etwas, um sie ansehen zu können.

„Wenn wir ihnen das mit den Fotos erzählen, dann haben sie einen Punkt, bei dem sie ansetzen können.“

„Willst du dir den Ärger wirklich antun? Immerhin hast du dich in das Büro geschlichen.“

„Ja, aber das ist es doch in diesem Fall wert.“

„Das ist es wohl.“ Sie seufzte erneut und nickte. „Gut, dann mach ich das morgen. Ich versuche einfach dich aus der Sache rauszuhalten. Ich kann ja behaupten, ich hätte mich in das Büro geschlichen.“

„Und wenn sie nach Details fragen? Der Farbe der Bücher oder so?“ Nicht, dass ich scharf auf Ärger war, aber es flog ganz sicher auf, wenn Mareike log und womöglich bekamen wir dann noch mehr Ärger. Nein, hier galt wohl das Sprichwort „Augen zu und durch“. Unbefugtes Betreten privater Räume in einem Laden wurde sicher nicht wie Einbruch behandelt. Das hoffte ich zumindest.

Jonathan fiel mir wieder ein und ein Blick auf mein Handy zeigte mir eine Nachricht von ihm. Er hatte einen Parkplatz in der Nähe des Ladens ergattert und hatte diesen genau im Blick. Ich antwortete ihm schnell, dass wir unterwegs waren, dann sah ich zu Mareike, um ihr zu erzählen, was ich mit Jonathan abgemacht hatte. Aber sie kam mir zuvor.

„Er hat mir übrigens eine andere Adresse genannt, weil er da gerade vorher noch einen Termin hat. Ich hoffe, das Navi führt mich nicht in die Irre.“

„Eine andere Adresse?“ Ich sah sie alarmiert an. „Der hat doch garantiert was vor.“

„Ich fürchte auch. Vermutlich ist es doch gut, dass du so beharrlich bist und mitkommen wolltest.“ Sie sah kurz zu mir und lächelte schwach. „Aber ich glaube, ich hätte doch noch abgesagt, würdest du nicht mitkommen. Ich finde das alles ziemlich seltsam.“

„Ich auch.“ Ich schnaufte, dann erzählte ich ihr von dem Plan, den ich mit Jonathan ausgemacht hatte. „Und nun wartet er umsonst vor dem Laden. Wohin sollst du denn eigentlich kommen?“

„In ein Café in der Kamperstraße.“

„Kenn ich nicht.“ Was nichts heißen musste. Ich kannte eben nicht alle Straßen der Stadt, wer tat das schon? Aber ich hoffte, dass das Café nicht ganz abgelegen war. „Ich sag Jonathan Bescheid.“

„Tu das. Vielleicht ist es ganz gut, wenn noch jemand heimlich alles beobachtet.“ Mareike schauderte. „Vielleicht versucht er ja doch was, auch wenn wir zu zweit sind.“

„Die Idee hatte ich auch schon“, murmelte ich und tippte schnell die Adressänderung an Jonathan. Seine Antwort kam sofort und bestand aus einem einfachen „bin unterwegs“. So würden wir zumindest zu dritt sein. Ich sah erschrocken zu Mareike. „Was ist, wenn er einen Komplizen hat? Vielleicht seinen Mitarbeiter oder jemand anderen?“ Sie wurde blass.

„Wir sollten uns jetzt nicht verrückt machen. Vielleicht hofft er ja wirklich auf ein gutes Geschäft und hat bloß einen Schmuckkoffer dabei. Keine Waffen, keinen Komplizen.“ Ich hoffte, dass sie Recht hatte, aber so ganz loslassen wollte mich der Gedanke nicht.

Es war noch hell und wenn wir uns in einem Café trafen, dann waren da auch noch andere Leute. Die waren nicht alle mit dem Ladenbesitzer verbündet und würden uns nicht einfach einsperren. Mareike hatte sicher Recht und er hoffte, ein gutes Geschäft abzuschließen. Immerhin ging er wohl davon aus, dass sie wirklich auf der Suche nach Schmuck war. Töten konnte er Mareike auch immer noch, wenn er ihr Geld bekommen hatte.

Mareike ließ schon bald die für mich vertrauten Straßen hinter uns. Ich versuchte mich zu orientieren, aber hier war nichts, was ich kannte. Selbst die Buslinie, die hier fuhr, nutzte ich so gut wie nie.

Ich sah auf mein Handy, um zu sehen, ob Jonathan mir noch einmal geschrieben hatte, wobei ich erschrocken bemerkte, dass mein Akku bereits unter 50 Prozent lag. Dabei hatte ich das Handy noch komplett aufgeladen, bevor ich losgegangen war. Warum musste der Akku ausgerechnet jetzt zicken?

„Hast du ein Ladekabel dabei? Mein Akku macht schlapp.“

„Im Handschuhfach.“ Ich öffnete das Handschuhfach, doch es war leer. Mareike runzelte die Stirn. „Ich nehme es immer mit und stecke es da rein.“

„Dann muss ich jetzt sparsam sein.“ Ich schaute nach, ob ich im Hintergrund irgendwelche Apps offen hatte, aber da war nichts. Vermutlich war mein Akku einfach hinüber, denn während ich noch auf die Anzeige blickte, schrumpfte sie stetig. Jetzt hatte ich nur noch 39 Prozent. „Wieviel Akku hast du noch?“

„Müsste noch bei um die 90 Prozent liegen. Ich habe das Handy aufgeladen, bevor ich aufgebrochen bin.“ Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und klappte die Schutzhülle auf. „Ja, 89 Prozent. Wir können also auf jeden Fall noch die Polizei rufen, sollte es doch nötig sein.“ Ich erinnerte mich, dass ich vor kurzem erst schon einmal Probleme mit dem Akku gehabt hatte. Aber irgendwie war das dann wieder in Vergessenheit geraten, danach hatte ja alles wieder normal funktioniert.

Der Verkehr nahm ab und ich sah auf einer Seite dichte Baumgruppen. War das der Stadtpark? Natürlich war ich da schon ein paar Mal gewesen, aber das war entweder mit der Klasse oder mit meinen Eltern gewesen und ich hatte nie so richtig auf den Weg geachtet.

„Will er dich im Stadtpark treffen?“ Ich sah fragend zu Mareike und die zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Ich kenn mich hier nicht aus. Aber kann schon sein. Es gibt Cafés in Parks. Also bei uns jedenfalls gibt es eines, das hat leckere Waffeln.“

„Hier gibt es auch eines.“ Wenn ich mit meinen Eltern und Lena einen Ausflug hierher machte, gingen wir auch immer in das Café. Aber gab es hier eine Kamperstraße? Ich konnte es nicht sagen, ich hatte da nie drauf geachtet. Wenn mich wer fragte, dann sprach ich von dem Café im Stadtpark. Es gab nur eines, jeder wusste, welches ich meinte.

Mareike bog in einen Weg ein. Das Straßenschild konnte ich nicht lesen, aber da sie langsamer wurde, vermutete ich, dass wir uns unserem Ziel näherten. Der Weg führte zwischen zwei großen Gebäuden hindurch, die vielleicht Lagerhallen waren. Ich konnte mich nicht erinnern, ob es beim Stadtpark Lagerhallen gab, aber möglich war es.

Der Park war ziemlich ausgedehnt und wenn ich mit meinen Eltern und Lena hinfuhr, kamen wir immer aus der gleichen Richtung. Ich wusste nicht, was es an den anderen Seiten des Parks gab. An einer Stelle lag er nah am Bahnhof, das könnte die Lagerhallen erklären. Vielleicht gehörten sie der Stadt oder dem Bahnunternehmen.

Mein Handy piepte und ein Blick darauf verriet mir, dass ich bei 15 Prozent Akkuladung angekommen war. Verflucht. Das passte mir gar nicht, aber ich konnte es nicht ändern. Zum Glück hatte Mareike noch genug Akku. Und vielleicht machte ich mir wirklich umsonst Sorgen.

Wir waren in einem Café verabredet – da waren andere Leute, sie würden uns mit dem Ladenbesitzer sehen und wenn er irgendwas plante und die Polizei herausfand, dass wir in dem Café gewesen waren, konnte das Personal dort ihn sicher beschreiben. Zumindest hoffte ich das.

Wie wahrscheinlich ist es, dass sie sich wirklich an ihn erinnern?

Wieder diese giftige Stimme. Irgendwie verstörte sie mich. Sie war wie eine innere Stimme und irgendwie doch nicht. Aber vermutlich war es auch nur meine Aufregung, die mich so denken ließ. Der Zweifel war jedenfalls berechtigt.

Vielleicht würde sich niemand an uns erinnern. Cafés waren gerade abends gut besucht, es herrschte Trubel, das Personal war mit bedienen und kassieren beschäftigt und die Gäste interessierten sich mehr für ihre Getränke, ihr Essen, ihre Freunde oder Dates als für andere Gäste, die sie nicht kannten. Und je länger es dauerte, bis die Polizei im Falle eines Falles das Personal befragte, desto wahrscheinlicher war es, dass sich niemand mehr an bestimmte Gäste erinnerte. Zumal wir nicht mal Stammgäste waren, zumindest Mareike und ich nicht. Bei dem Ladenbesitzer wusste ich es nicht.

Was war wohl sein Plan? Wollte er einen netten Abend mit Mareike verbringen, sie in Sicherheit wiegen und dann auf dem Rückweg zum Auto angreifen? Vielleicht hatte er auch etwas dabei, das er ihr in ihr Getränk mischen wollte.

Mareike hielt hinter einer weiteren Lagerhalle. Vor uns lag der Stadtpark, zumindest vermutete ich, dass er das war. Sie sah stirnrunzelnd aus dem Fenster.

„Wir müssen von hier ein Stück zu Fuß gehen.“

„Das gefällt mir nicht.“

„Mir auch nicht.“ Sie seufzte. „Du kannst immer noch hier im Wagen bleiben. Oder ich schaue nach, wo sich die nächste Haltestelle befindet und fahre dich hin.“

„Nein. Das hatten wir doch schon. Falls er was plant, ist es völlig bescheuert, wenn du alleine zu dem Treffen gehst.“

„Ich bin nicht allein. Wir treffen uns in einem Café.“ Sie lächelte schwach. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mich alleine hinwagen oder ihn nicht doch noch anrufen und absagen würde, sobald ich dich beim Bus abgesetzt habe.“ Sie zog den Autoschlüssel ab, was irgendwie so endgültig wirkte, dann schaute sie auf ihr Handy. „Wir sind spät dran. Ich hab mich mit der Zeit verkalkuliert. Na ja, muss er eben etwas warten.“ Ich sah ebenfalls auf mein Handy – oder vielmehr versuchte ich es.

Tot.

„Mein Akku ist komplett leer.“

„Du hast doch nichts gemacht.“ Mareike sah mich irritiert an und ich seufzte.

„Vermutlich ist der Akku im Eimer. Ich hatte da schon mal Probleme mit und hab es dann irgendwie verbummelt mich darum zu kümmern. Es ging dann ja wieder.“ Sie seufzte ebenfalls.

„Gut, ich hab ja mein Handy dabei und noch genug Akku, falls was sein sollte.“ Wir stiegen aus und sie verriegelte den Wagen, dann warf sie noch einen Blick auf ihr Handy. „Wir müssen einfach den Weg lang, dann kommt eine Biegung und da müsste dann das Café auch schon sein. Da müsste es doch auch einen Parkplatz geben? Ich muss mich bei der Eingabe ins Navi vertan haben.“

„Also, wenn es das Café ist, das ich kenne, ist da kein Parkplatz. Es dürfen keine Autos in den Stadtpark fahren, außer halt die von der Stadtreinigung und so.“ Ich folgte ihr auf den schmalen Pfad und sie brummelte leise.

„Okay. Mir wäre nur wohler, wenn der Wagen näher am Café wäre. Nur … für alle Fälle.“


Kapitel 30

Schweigend folgten wir dem Pfad und ich hing schon wieder meinen Gedanken nach. Vielleicht lauerte der Ladenbesitzer Mareike ja bereits hier irgendwo auf? Etwas verunsichert sah ich mich um, aber mir fiel nichts auf.

Die Bäume standen dicht an dicht, teilweise war der Stadtpark schon wie ein kleiner Wald. Da ich nicht oft hier war, kannte ich mich nicht aus und konnte nicht sagen, wie lange wir noch zu dem Café brauchten. Der Kerl könnte doch tatsächlich irgendwo zwischen den Bäumen warten. Vielleicht schreckte es ihn aber ab, wenn er sah, dass wir zu zweit waren.

„Isabelle ist in einem sehr ähnlichen Park gestorben.“ Mareikes Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich erinnerte mich, was sie mir über Isabelles Tod erzählt hatte. Einfach mitten am Tag in einem Park – ich verstand immer noch nicht, dass niemand irgendwas bemerkt hatte.

„Vielleicht hat er eine Vorliebe für Parks.“ Wenn ich an die Filme und Serien dachte, in denen Serientäter vorkamen, dann hatten die immer ein bestimmtes Muster, etwas, was sich bei jedem Opfer wiederholte. Aber zumindest Grit war nicht in einem Park gestorben. Also war der Park wohl nicht sein Muster. Vielleicht war es der Schmuck.

Mareike hatte immerhin Recht gehabt, dass die Opfer alle ähnlichen Schmuck getragen hatten. Und nun gab sie vor, selber solchen Schmuck zu suchen. Vielleicht hatte sie das auf die Liste des Mörders gebracht.

„Ich hoffe, die Polizei fasst ihn und er gesteht. Es wäre für die Angehörigen der Opfer sicher gut, wenn sie endlich wissen, wer es war, um abschließen zu können.“

„Ich hoffe auch, dass ich bald damit abschließen kann.“ Mareikes Stimme zitterte und ich sah zu ihr, wobei ich einen Schatten zwischen den Bäumen bemerkte.

„Da ist jemand“, entfuhr es mir und ich versuchte genauer zu sehen, wo die Person war, aber sie musste sich zwischen die Büsche geduckt haben. Mareike blieb ebenfalls stehen und sah kurz zu den Bäumen, bevor sie sich mir zuwandte.

„Nein. Wir sind allein.“

„Doch, da hat sich jemand bewegt.“ Ich senkte die Stimme und versuchte weiterhin alles im Blick zu behalten. Mareike schüttelte den Kopf.

„Wir sind allein“, wiederholte sie und holte etwas aus ihrer Tasche. Es war ein Armband, ähnlich denen, die ich auf den Bildern einiger Opfer gesehen hatte. „Isabelle hatte eine Vorliebe für Schmuck. Du glaubst nicht, wie viele von denen hier sie hatte. Billiger Kram. Sie trug gerne mehrere davon zusammen, weil es so schön klimperte und klackerte. Sie trug sie auch an ihrem Todestag.“

„Okay.“ Irritiert sah ich sie an. Warum erzählte sie mir das? Vor allem jetzt, wo ich mir doch sicher war, etwas gesehen zu haben. Vielleicht war der Ladenbesitzer irgendwo vor uns im Gebüsch und überlegte, wie er mich loswerden konnte, um an Mareike heranzukommen.

„Es tut mir leid.“ Mareike sah mich bedauernd an. „Ich versuche immer Gefühle zu vermeiden. Aber vielleicht muss es so sein. Isabelle mochte ich ja auch.“ Das klang nicht so, als spreche sie gerade von ihrer Schwester, sondern mehr von einer Freundin. Doch ihre Stimme zitterte wieder, vielleicht vor lauter unterdrückten Gefühlen. Ich konnte mir jedenfalls immer noch nicht vorstellen, wie es sein musste jahrelang nicht zu wissen, wer der Mörder meiner Schwester war.

„Es ist doch völlig in Ordnung Gefühle zu haben. Gerade wenn es um die eigene Familie geht.“ Mareike starrte auf das Armband in ihrer Hand und rieb sich mit der anderen die Schläfe. Sie sah plötzlich müde und erschöpft aus.

„Sie lässt mich nicht ruhen“, murmelte sie.

„Natürlich nicht. Es ist deine Schwester.“ Mareike lachte auf. Als ich aber das feuchte Schimmern in ihren Augen sah, fragte ich mich, ob es nicht eher ein Schluchzen war.

„Ja. Ist. Das trifft es sehr gut.“ Sie atmete tief durch. „Sie lässt mich nicht in Ruhe, verstehst du? Sie ist ständig da.“

„Es ist doch normal, wenn du ständig an sie denken musst. Sie ist deine Schwester.“ Ich fragte mich, was plötzlich mit Mareike los war. Es konnte doch nicht bloß der Park sein, der sie an Isabelles Tod erinnerte?

„Ich denke nicht an sie. Sie ist da.“ Mareikes Stimme war nur noch ein Wispern, aber ich verstand sie deutlich. Mir lief ein Schauer über den Rücken. „Ich muss mich immer so konzentrieren, sie nicht zu sehen und zu hören, aber sie ist immer da. Und wenn ich schlafe oder kurz davor bin …“ Sie sah mich düster an. „Aber ich denke, es wird jetzt endlich ein Ende haben.“ Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen können? Sie konnte es doch nicht wirklich ernst meinen, dass sie Isabelle sah und hörte.

Ich denke doch.

Da war sie wieder, meine innere Stimme. Sollte ich auf sie hören? Vielleicht war sie etwas wie das vielgerühmte Bauchgefühl, auf das man hören sollte, gerade wenn es einen warnte.

Und ich merkte, dass ich gerade anfing mich unwohl zu fühlen.

Mareikes Verhalten machte mir tatsächlich Angst und ich überlegte, ob wir einfach umkehren sollten. Vielleicht war es einfach falsch, selber nach dem Mörder seiner Schwester zu suchen. Das musste doch an ihren Nerven gezehrt haben und nun hatte ich auch noch diese Bilder bei dem Ladenbesitzer entdeckt.

Wieder bewegte sich etwas zwischen den Bäumen und ich warf einen Blick in die Richtung. Eine Person konnte ich nicht ausmachen, aber da war eindeutig Bewegung. Eine Art Schatten waberte zwischen den Bäumen hin und her. Mir fiel der Schatten von der Abifeier ein. Ich war zwar betrunken gewesen, aber ich hätte doch zumindest ansatzweise einen Menschen erkennen müssen. Doch ich hatte bloß einen Schatten gesehen.

So wie ich hier nur einen Schatten sah.

So wie ich zu Hause im Garten einen Schatten gesehen hatte.

So wie Lena einen Schatten gesehen hatte.

Ich sah zu Mareike, die mit bleicher Miene und Schweiß auf der Stirn vor mir stand. Ihr Atem ging schnell und abgehackt, als sei sie gerade noch gelaufen, und sie hatte die Hände zu Fäusten geballt.

„Vielleicht hätte ich jemand anderen gesucht“, presste sie hervor. „Aber die Zeit wird knapp. Es ist dreizehn Jahre her. Und du musstest dich ja ausgerechnet für Journalismus interessieren.“

Lauf!

So eindringlich meine innere Stimme auch war, so wenig konnte ich mich rühren. Mareike schwankte und der Schatten schoss vor. Als er gegen mich prallte, stürzte ich, auch wenn ich immer noch nicht verstand – und glauben konnte – was hier vor sich ging. Schmerz breitete sich glühend von meinem Hintern aus, aber mehr registrierte ich nicht.

Lauf!

Ich spürte, wie ich mich aufrappelte und loslief. Der Schatten schoss an mir vorbei und versperrte mir den Weg. Ohne weiter darüber nachzudenken lief ich zwischen die Bäume. Der Schatten bewegte sich ebenfalls, ich sah ihn neben mir hergleiten. Ein Ast geriet zwischen meine Beine und ich geriet ins Straucheln.

Ich fing mich irgendwie an einem Baumstamm ab, der erzitterte, als der Schatten gegen ihn prallte. Schreiend wich ich zurück und Panik erfasste mich. Ich rannte weiter, hoffend, dass der Schatten – Mareike? – mich nicht mehr verfolgen würde.

Der Eingang zum Park kam in Sicht und ich bog wieder auf den Weg ein. Der Schatten war mir gefolgt, hielt nun aber zwischen den Bäumen inne. Vermutlich wollte Mareike nicht entdeckt werden, auch wenn mir einfach nicht einleuchten wollte, dass das gerade Erlebte Realität sein sollte.

Es ist Realität.

Schön, dass meine innere Stimme so davon überzeugt war. Ich musste jetzt erst einmal von hier wegkommen. Zu dumm, dass ich mich in diesem Stadtteil nicht auskannte und mein Akku alle war. So konnte ich Jonathan nicht anrufen.

Verflucht! Jonathan!

Er war vermutlich auch irgendwo im Park. Ob Mareike sich nun ihm zuwenden würde? Allerdings konnte ich auch nichts tun. Wenn ich wieder in den Park ging, würde sie diesen Schatten wieder auf mich hetzen. Ich schüttelte mich. Ein Schatten, das war verrückt.

Vermutlich hat sie sich das Café und die Straße ohnehin nur ausgedacht. Und Jonathan sitzt jetzt irgendwo und macht sich Sorgen.

Hoffentlich hatte ich mit diesem Gedanken Recht. Nicht, dass ich wollte, dass er sich Sorgen machte, aber das war besser, als wenn er im Park war und Mareike ihn angriff. Er war immerhin nur da, weil ich ihn um Hilfe gebeten hatte.

Ich erreichte den Wagen und in einem Anfall von Wut trat ich gegen den Vorderreifen. Besser fühlte ich mich dadurch zwar nicht, aber irgendwie hatte es doch gutgetan. Ich sah zurück zum Park, aber da rührte sich nichts.

Doch.

Da war ein Schatten, aber er verließ den Schutz der Bäume nicht. Mareike wollte wohl wirklich sichergehen, dass man sie nicht entdeckte. Sie selber konnte ich nicht sehen, aber sie war sicher nicht weit. Vielleicht überlegte sie bereits, wie sie nun weiter vorgehen sollte.

Es konnte doch nicht sein, dass sie die Mörderin war. Ich dachte an unsere Gespräche zurück, an ihre Erzählungen über Isabelle, den Eifer in ihren Augen. Das konnte einfach nicht alles gespielt gewesen sein. Doch ich konnte auch nicht leugnen, dass ich gerade von einem Schatten angegriffen worden war, der von Mareike erschaffen oder kontrolliert wurde, so absurd das auch klang.

Allerdings konnte ich damit nicht zur Polizei gehen. Die würden mich doch auslachen und denken, ich sei verrückt geworden. Durchgedreht, weil ich mit dem Tod meiner besten Freundin nicht umgehen konnte.

Schaudernd wich ich ein paar Schritte zurück, den Blick fest auf den Eingang zum Park gerichtet. Der Schatten blieb zwischen den Bäumen und ich fragte mich, ob Mareike mir folgen würde. Würde sie mich irgendwo auf der Straße oder zu Hause angreifen?

Ein Messer wäre gut. Wir könnten ihre Reifen aufstechen.

Was für ein Blödsinn. Das war eine Straftat. Wie kam ich denn auf so einen Gedanken? Und selbst wenn ich ihre Reifen zerstochen hätte, brachte mir das nichts. Sie wusste, wo ich wohnte, und konnte mit dem Bus genauso gut dorthin fahren, wie ich es konnte.

Der Schatten verschwand, als wäre er nie dagewesen. War das nun gut oder nicht? Würde gleich Mareike aus dem Park kommen und mich direkt angreifen? Mein Herzschlag kam mir auf einmal quälend langsam vor, schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen.

Beweg dich, verflucht!

Ich presste eine Hand gegen meine Brust. Das musste die Angst sein. Ohne mein Zutun bewegten sich meine Beine und ich wich weiter zurück, bewegte mich Schritt für Schritt die Straße entlang.

Mareike trat zwischen den Bäumen hervor oder vielmehr torkelte sie, als hätte sie getrunken. Den Blick fest auf sie gerichtet, wich ich weiterhin rückwärts zurück. Sie erreichte ihren Wagen und stützte sich auf der Motorhaube ab.

Hätten wir mal ihre Reifen zerstochen. Beweg dich!

Die schwarzen Flecken nahmen zu und ich glaubte einen hellen Schemen neben mir zu sehen. Verdammt! Griff Mareike wieder auf ihren seltsamen Schatten zurück? Doch der Schemen formte sich zu einer Gestalt, die ich von einem Bild kannte. Grit.

Ich wurde wohl wirklich verrückt. Jetzt bildete ich mir schon ein jemanden zu sehen, den ich nicht einmal kannte. Der tot war. Grits rote Haare stachen mir ins Auge. Das rote Blitzen, als ich Brina ins Haus hatte holen wollen. Die rote Spiegelung, die ich gelegentlich in meinem Handy oder in anderen spiegelnden Flächen zu sehen geglaubt hatte. Lenas Anmerkung, sie glaube, meine Haare seien gefärbt.

All diese Dinge schossen mir durch den Kopf, während ich immer weiter zurückwich und zu atmen versuchte. Die Flecken vor meinen Augen wurden zwar nicht mehr, aber auch nicht weniger, sie machten es mir schwer, etwas zu fokussieren. Mareike hatte sich nicht bewegt, sie stützte sich noch immer auf ihren Wagen.

Ich war mir nicht sicher, was sich da für ein Gedanke in meinem Kopf formen wollte. Ich wusste nur, dass ich hier wegmusste. Grit folgte mir und ich glaubte, Sorge in ihren Augen zu sehen.

Darüber, was hier gerade geschah, konnte ich mir zu Hause Gedanken machen. Jetzt musste ich hier erst einmal weg, bevor Mareike sich wieder bewegte und mir näherkam. Mir war klar, dass sie etwas damit zu tun hatte, dass mir plötzlich schwarz vor Augen wurde und ich immer schlechter atmen konnte.

Beweg dich. Los, steh nicht nur rum.

Mir kam der Gedanke, dass diese Stimme vielleicht gar nicht meine innere Stimme war – dass sie stattdessen Grit gehörte. Nach dem Erlebnis mit dem Schatten und mit Grits Geist oder was auch immer neben mir, war dieser Gedanke vielleicht gar nicht so abwegig.

„Ich geh ja schon.“ Ich merkte selbst, wie schleppend meine Stimme klang. Aber zugleich merkte ich auch, dass mein Herzschlag sich normalisierte, als ich mehr Abstand zwischen Mareike und mich brachte. Sie machte ein paar Schritte in meine Richtung, sackte dann aber neben ihrem Wagen zusammen. Was auch immer sie tat, es strengte sie offensichtlich an.

Und das war meine Chance.

Ich bewegte mich weiter von ihr weg, erst langsam und taumelnd, doch dann merkte ich, wie es mir besser ging. Ich konnte wieder atmen, mein Herz pochte nicht mehr quälend langsam gegen meine Rippen und die schwarzen Flecken nahmen ab. Natürlich nutzte ich meine Chance sofort aus, wurde erst schneller und rannte schließlich die Straße entlang, wobei ich hoffte, auf jemanden zu treffen oder eine Haltestelle zu erreichen.


Kapitel 31

Meine Gedanken wirbelten durcheinander, während ich dem Weg folgte, den wir gekommen war. Mir war klar, dass Mareike mich hier leicht finden konnte, aber ich wusste auch nicht, wohin ich mich sonst wenden sollte. Irgendwo hier würde ich entweder auf eine Haltestelle oder zumindest Leute stoßen, die ich nach einer Haltestelle fragen konnte.

Der Schatten beherrschte meine Gedanken. Ich fragte mich, was das gewesen war. Wie zum Teufel hatte Mareike das bitte gemacht? Hätte ich etwas von ihr zu essen oder zu trinken angenommen, hätte ich ja gedacht, dass sie da irgendetwas hineingemischt und ich Halluzinationen hatte. Aber so einfach war es nicht.

Und dann Grit. Sie war wieder verschwunden, nachdem ich die Flucht angetreten hatte, aber ich hatte sie gesehen. Und nach dem Erlebnis mit dem Schatten glaubte ich nicht, dass ich mir das eingebildet hatte. Doch wie das alles sein konnte, konnte ich mir momentan nicht beantworten. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich das jemals konnte oder ob es überhaupt jemanden gab, der das konnte.

Mit Geistern hatte ich mich nie beschäftigt. Ich glaubte nicht an sie und fertig. Aber was konnte Grit anderes sein als ein Geist? Sie war tot. Wenn ich sie also sah, musste sie ein Geist sein. Was hatte es dann aber mit Mareike und ihrem Schatten auf sich?

Als ich eine Frau mit drei Hunden um eine Ecke biegen sah, traten meine Überlegungen in den Hintergrund. Ich ging auf sie zu und legte mir einen Text zurecht, falls sie Fragen stellte, warum ich nicht wusste, wo hier die nächste Haltestelle war. Aber das wollte sie gar nicht wissen. Sie beschrieb mir den Weg und ging dann bereits mit ihren Hunden weiter.

Ich folgte ihrer Beschreibung und war froh, als ich die Haltestelle erreichte. Gleichzeitig überfiel mich Angst. Was, wenn Mareike bereits zu Hause auf mich wartete? Wenn sie meinen Eltern und Lena etwas angetan hatte? Ich holte mein Handy hervor, aber es war noch immer genauso tot wie zuvor.

Auf dem Plan in dem Haltestellenhäuschen schaute ich nach, wohin ich fahren musste. Ich wechselte auf die andere Straßenseite, da ich in die andere Richtung musste. Nach einigen Minuten kam der Bus und ich stieg vorne ein. Der Platz hinter dem Busfahrer war frei und ich blieb direkt hier.

Schaudernd verschränkte ich die Arme vor der Brust, um so ein wenig das Zittern zu unterbinden, das mich befallen hatte. Ich schaute aus dem Fenster und bemerkte einen roten Schimmer in meiner Spiegelung. Auch nach mehrmaligem Blinzeln blieb er und als ich mich auf mein verschwommenes Spiegelbild konzentrierte, sah ich Grits Züge in diesem.

Also war sie noch da.

War ich besessen? Ich hatte genügend Horrorfilme gesehen, dass mir dieser Gedanke Angst machte. Andererseits hatte Grit mir bisher nichts getan. Und wenn ich daran dachte, wie oft ich schon einen roten Schimmer in einer Spiegelung bemerkt hatte, war sie wohl schon eine Weile um mich herum. Jetzt wurde mir auch bewusst, dass dieser rote Schimmer ihre Haare waren, die sich so leuchtend spiegelten.

Nach einmaligem Umsteigen erreichte ich schließlich meine Haltestelle. Zögernd machte ich mich auf den Heimweg. War Mareike hier? Wartete sie irgendwo in der Straße auf mich und würde mich direkt wieder angreifen? Doch keiner der Wagen sah aus wie ihrer.

Ich erreichte unser Haus. Immer noch zögernd schloss ich auf und betrat vorsichtig den Flur. In Küche und Wohnzimmer brannte Licht und ich hatte die Tür kaum geschlossen, da waren meine Eltern bei mir und meine Mutter zog mich in eine feste Umarmung.

„Du bist wieder da, es geht dir gut“, hörte ich sie schluchzen und sah über ihre Schulter hinweg verwirrt zu meinem Vater. Er sah besorgt aus. Hinter ihm entdeckte ich Jonathan und zwei junge Polizisten.

„Was ist denn los?“ fragte ich verwirrt und tätschelte unbeholfen den Rücken meiner Mutter.

„Das hab wohl ich zu verantworten“, begann Jonathan mit verlegener Miene. „Als du mir geschrieben hast, bin ich zwar gleich losgefahren, aber dann hab ich festgestellt, dass es keine Kamperstraße gibt. Auch keinen Kamperweg oder Pfad oder sonst eine Abwandlung. Ich konnte dich nicht erreichen und … da bin ich hierhergefahren und hab deinen Eltern alles erzählt. Und sie haben die Polizei gerufen.“

„Wo ist Mareike?“ fragte meine Mutter. „Ihr wart doch zusammen unterwegs?“

„Ja …“ Ich schluckte. Von dem Schatten konnte ich ihnen doch nichts erzählen. Also musste eine abgeschwächte Version her. Wir gingen ins Wohnzimmer und setzten uns und ich erzählte, wie sich ihr Verhalten plötzlich veränderte und sie mich dann angriff.

Auch von dem Verdacht gegen den Ladenbesitzer erzählte ich. Von den Fotos, die ich bei ihm gefunden hatte, von dem Gedanken, dass die beiden vielleicht zusammenarbeiteten. Die Polizisten sahen nicht einmal halb so verärgert aus, wie ich erwartet hatte, als ich schließlich erklärte, wie ich in den Raum gelangt war, auch meine Eltern sahen eher besorgt als ärgerlich aus. Aber das konnte ja noch kommen.

„Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist“, endete ich nach einer Weile. „Sie war neben ihrem Wagen zusammengesackt. Keine Ahnung, was los war.“ Das war nicht einmal gelogen. Zwar hatte ich eine Vermutung, aber ich wusste nicht, ob ich mit der richtig lag. Und selbst wenn – weder meine Eltern noch die Polizisten oder Jonathan hätten mir geglaubt.

„Können Sie mir das Kennzeichen von Frau Langers Wagen nennen?“ fragte die Polizistin mich, während ihr Kollege noch in seinen Notizblock kritzelte.

„Nein, tut mir leid. Da hab ich nie drauf geachtet. Es ist ein VW. Glaub ich. In Schwarz.“

„Ich werde veranlassen, dass eine Streife zum Park fährt. Ihrer Beschreibung nach weiß ich, welchen Eingang Sie genommen hatten.“ Die Polizistin notierte ebenfalls etwas in ihrem Block. Dann hob sie den Blick und sah mich ernst an. „Sie hatten Glück.“

„Ich weiß.“


Nachdem die Polizisten gegangen waren, sah ich kläglich zu meinen Eltern und Jonathan.

„Ich weiß … ich hätte euch schon früher alles erzählen sollen. Aber ich dachte doch nicht, dass Mareike …“ Ich brach ab. Da war so ein dämlicher Kloß in meinem Hals. Sie hatte mich die ganze Zeit nur belogen.

„Ich hab es gerade auch deinen Eltern und den Polizisten erzählt.“ Jonathan seufzte leise auf. „Nach Kiras Tod hatte ich es den Polizisten zwar auch erzählt, aber ich weiß nicht, ob sie das weiterverfolgt hatten. Jedenfalls hatte Kira mir erzählt, dass sie sich in einem Forum angemeldet hatte, um Infos über Journalismus zu kriegen. Und sie hat sich da mit einer Journalistin angefreundet. Der Nick war Isa L. Und Mareike ist Journalistin. Ich hab da bis heute nicht mehr dran gedacht, aber es fiel mir direkt ein, als ich nach dieser Straße suchte.“

Es wurde ihm eingefallen.

Grit. Sie klang eindeutig amüsiert. Hatte sie ihm diesen Gedanken eingeflüstert? Ich konnte sie schlecht hier fragen.

„Mareikes Schwester hieß Isabelle. Isa L. Das könnte sie gewesen sein. Also, Mareike.“ Ich rieb mir die Arme, da mir immer kälter wurde. Mir fiel wieder ein, was Mareike im Park gesagt hatte: „Und du musstest dich ja ausgerechnet für Journalismus interessieren.“ Das konnte doch nicht ihr Grund gewesen sein, oder?

Ich habe mich auch für Journalismus interessiert.

Ein wenig Schwermut schwang bei diesen Worten mit. Ob Grit sich auch mit Mareike angefreundet hatte? Ich konnte sie ja fragen, sobald ich allein in meinem Zimmer war.

„Vielleicht ist sie nur eine Mittäterin“, überlegte meine Mutter. „Dieser Ladenbesitzer muss ja mit ihr in Verbindung stehen. Einfach so wird er nicht Fotos von ihr in seinem Büro haben. Und es wäre nicht das erste Mal, dass es ein Täterpärchen gibt.“

„Ich denke, ich sollte jetzt gehen.“ Jonathan stand auf und verabschiedete sich von uns. Mein Vater brachte ihn zur Tür und meine Mutter nahm mich erneut in den Arm.

„Ich bin auf jeden Fall froh, dass dir nichts passiert ist. Mareike … ich kann es einfach nicht glauben. Aber es stimmt einfach. Man kann den Leuten nur bis vor die Stirn gucken.“

„Ja, leider“, murmelte ich erstickt und dann brachen die Tränen hervor, die ich schon die ganze Zeit gespürt hatte.


Ich saß noch eine Weile so mit meinen Eltern zusammen. Zu ihren Fragen hatte ich keine Antworten. Nein, mir war nie aufgefallen, dass Mareike sich seltsam verhalten hätte. Ich hatte mich die ganze Zeit so sehr auf den Ladenbesitzer konzentriert, dass einfach niemand anderer für mich in Frage gekommen war.

Außerdem war mir Mareike einfach immer völlig normal erschienen. Ich sackte auf mein Bett, nachdem ich mich völlig mechanisch umgezogen und mir die Zähne geputzt hatte, und starrte vor mich hin. Würde sie es erneut versuchen? Sie wusste ja, wo ich wohnte. Mein Blick wanderte zum Fenster und ich stand auf, um nach draußen zu schauen.

Da war nichts, zumindest sah ich niemanden. Ich ließ die Jalousien herunter und setzte mich wieder aufs Bett. Wenn die Polizei sie fand, würde sie sich dann wehren? Bei dem Gedanken schauderte ich. Mit diesem Schatten schaffte sie es sicher zu entkommen. Sie konnte jederzeit hier auftauchen.

Ich nahm mein Handy zur Hand, das ich eingestöpselt hatte und das sich nun wieder auflud. Es ließ sich normal starten. Ich entdeckte ein paar Nachrichten von Jonathan, der mir geschrieben hatte, dass es keine Kamperstraße gab. Seine letzte Nachricht bestand aus einem „Das ist nicht witzig, antworte mir!!!“. Das hatte sich ja nun alles aufgeklärt.

Die Angst vor Mareike blieb. Vielleicht tauchte sie auch mitten in der Nacht auf, wenn alle schliefen? Ich rollte mich auf dem Bett ein und lauschte in die Dunkelheit. Vino lag wie immer neben mir. Dass er ruhig schlief, beruhigte mich. Tiere waren doch so feinfühlig. Er hätte es gemerkt, hätte sich irgendwas getan. Zumindest hoffte ich das.

Ja, er wird es merken.

„Grit?“

Ja.

„Danke. Für vorhin.“ Ich war sicher, ich hätte mich nicht bewegt, wäre sie nicht gewesen. Vermutlich hätte ich Mareike und diesen Schatten nur mit offenem Mund angestarrt und sie hätte … Der Gedanke ließ mich schlucken und ich vergrub das Gesicht in Vinos Fell.

Du musst mir nicht danken. Aber ich brauche nun wieder etwas Ruhe.

Ihre Stimme klang tatsächlich schwächer als vorhin noch. Ob Geister auch schlafen mussten? Vielleicht. Was wusste ich schon über Geister? Gar nichts. Ich hatte bis heute ja nicht einmal an sie geglaubt.

„Kira?“ Wenn Grit mit mir reden konnte, dann Kira doch sicher auch. Aber ich bekam keine Antwort. Ich dachte an den Traum vor ein paar Tagen. War es wirklich ein Traum oder war Kira bei mir gewesen und hatte mich tatsächlich gebeten, ihr Lieblingslied einzuschalten? Abwegig erschien mir dieser Gedanke nun auch nicht mehr.

Ich kämpfte gegen den Schlaf an. Trotz der Ereignisse und der Aufregung war ich nun müde – oder vielleicht auch gerade deswegen. Seufzend stand ich schließlich auf. Ich wollte nicht schlafen. Ich hatte Angst, dass Mareike sich in der Nacht ins Haus schleichen würde.

Während ich mich an meinen Schreibtisch setzte und den Laptop einschaltete, schlief Vino weiter. Wenn er schlief, würde er es vermutlich nicht früh genug bemerken, wenn etwas Seltsames geschah.

Ich wusste gar nicht, was ich eigentlich wollte. Ziellos surfte ich durch das Internet, schaute auf Facebook herum, betrachtete Bilder und landete nach einer Weile auf einer italienischen Nachrichtenseite. Musik machte ich keine, ich wollte mögliche Geräusche früh genug hören und mich nicht von Musik ablenken lassen.

Wahrscheinlich war es total albern nicht schlafen zu wollen. Irgendwann würde ich mich ohnehin nicht weiter wachhalten können. Und dennoch hatte ich Angst schlafen zu gehen. Ich stellte mir vor, dass Mareike mich irgendwie beobachtete und zuschlug, sobald ich eingeschlafen war. Vielleicht schickte sie ihren Schatten, um mich im Schlaf zu ersticken.

Schaudernd stand ich auf und trat an das Fenster. Einen Moment zögerte ich noch, dann schob ich die Lamellen der Jalousien etwas auseinander, um nach draußen zu schauen. Da ich kein Licht im Zimmer angemacht hatte, würde man mich von draußen wohl nicht sehen. Zumindest hoffte ich das. Aber wer wusste, ob Mareike Licht brauchte …

Ich konnte allerdings in der Dunkelheit auch nichts ausmachen. Seufzend kehrte ich an den Schreibtisch zurück und schaltete den Laptop aus. Im Dunkeln tappte ich zum Bett zurück. Vino regte sich, als ich mich hinlegte, und schmuste sich in meine Arme. Ich kraulte ihm leicht durch das Fell.

Vielleicht war Mareike ja auch bereits auf der Flucht und ich würde sie nie wiedersehen. Dieser Gedanke begleitete mich in den Schlaf, der durchsetzt war von Schatten, einem geisterhaften Flüstern und einer Bedrohung irgendwo hinter mir, die auch immer hinter mir blieb, egal wie oft und wie schnell ich mich umdrehte.


Kapitel 32

Da ich nicht besonders tief schlief in dieser Nacht, wurde ich wach, als meine Eltern und Lena aufstanden und sich fertigmachten. Ich blieb noch einen Moment liegen, dann stand ich auf und ging nach unten. Meine Mutter war noch da und beendete gerade ein Telefonat mit „Danke, Kathrin“. Ich sah sie fragend an und sie seufzte leise.

„Ich weiß, ich weiß … Du bist erwachsen und alles. Aber ich habe mir heute freigenommen. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken dich jetzt ganz allein zu Hause zu lassen.“

„Okay.“ Ich lächelte schwach. Wenn ich ehrlich war, war ich froh darüber, auch wenn ich nicht glaubte, dass die Anwesenheit meiner Mutter Mareike von irgendwas abhalten würde. Vermutlich musste sie nicht einmal ins Haus kommen, um mir etwas anzutun. Ich schauderte bei dem Gedanken und griff dankbar nach der Tasse mit Kaffee, die meine Mutter mir reichte.

„Friedrich bringt Lena zur Schule. Wir können sie dann nachher gemeinsam abholen.“ Ich stimmte zu. Allein bleiben wollte ich nicht, bis ich nicht wusste, wo Mareike steckte. Allerdings fragte ich mich auch, ob die Polizei sie wirklich einsperren konnte. Der Gedanke ließ mich erneut schaudern.

Wir setzten uns und tranken schweigend unseren Kaffee. An Frühstück konnte ich gerade nicht denken. Die Angst vor Mareike verknotete mein gesamtes Inneres. Selbst an meinem Kaffee nippte ich nur gelegentlich, sodass er schon bald kalt war.

Als meine Mutter vorschlug, dass ich mich noch ein wenig hinlegen sollte, nickte ich nur. Ich bezweifelte, dass ich schlafen konnte. Tatsächlich lag ich auch nur wach im Bett und starrte zum Fenster rüber. Vino war irgendwo im Haus unterwegs, sodass ich nicht mal seine beruhigende Nähe hatte.

Wann immer ich etwas hörte, zuckte ich zusammen, aber es war jedes Mal meine Mutter, die irgendwas im Haus machte, und in einem Fall ein Spatz, der auf dem Fenstersims landete und darauf herumhuschte.

Würde ich jetzt ewig mit dieser Angst leben, dass Mareike hier auftauchen könnte?

Als es an der Haustür klingelte, fuhr ich im Bett hoch. Ich wartete kurz ab, dann verließ ich mein Zimmer und ging nach unten. Meine Mutter stand mit zwei Polizisten im Wohnzimmer, den beiden von gestern Abend, und ich schluckte, als ich ihre bleiche Miene sah.

„Ist was passiert?“ War dieses Krächzen meine Stimme? Sie musste es sein, keiner der drei hatte seine Lippen bewegt. Ich trat neben meine Mutter und sie ergriff meine Hand.

„Frau Michels, wir müssen noch einmal Ihre Aussage den gestrigen Abend betreffend aufnehmen.“ Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass ich mit Frau Michels gemeint war. So offiziell wurde ich selten angesprochen und ich verband „Frau Michels“ immer noch mit meiner Mutter.

Während meine Mutter den Polizisten etwas zu trinken anbot, was diese ablehnten, nahm ich auf dem Sofa Platz und auf die Einladung meiner Mutter hin setzten die beiden sich mir gegenüber. Wieder war es die Frau, die das Gespräch übernahm.

„Sie waren mit Frau Langer allein im Park?“ begann sie und ich nickte. Dann erzählte ich ihr noch einmal meine abgeänderte Version dessen, was passiert war. Ich versuchte möglichst genau wiederzugeben, was Mareike alles gesagt hatte, während ich bei dem Angriff natürlich nicht von dem Schatten sprach, sondern Mareike als Angreiferin nannte. Wenn man es genau nahm, stimmte das ja auch. Als ich davon erzählte, wie Mareike neben ihrem Wagen zusammengesackt war, sah die Polizistin mich fragend an.

„War noch jemand im Park? Oder auf dem Parkplatz?“

„Nein. Erst später bin ich der Frau mit ihren Hunden begegnet und hab sie nach der Haltestelle gefragt. Aber im Park ist mir sonst niemand aufgefallen.“

„Sie sagten, Sie hatten sich in einem Café mit jemandem treffen wollen.“ Die Polizistin sah auf ihren Notizblock. „Der Besitzer eines Antiquariats. Herr Weiners.“

„Ja. Ich vergesse seinen Namen immer. Aber ihm gehört der Laden. Ich weiß aber nicht, ob das nicht gelogen war. Also mit dem Treffen. Mareike hatte mir erzählt, er hätte ihr ein Treffen vorgeschlagen, und ich wollte sie begleiten, weil wir ja dachten, er hätte Kira umgebracht und ihre Schwester. Aber das war wohl gelogen.“ Ich sah die Polizistin fragend an. „Oder haben die beiden gemeinsame Sache gemacht?“

„Das wissen wir nicht, Frau Michels.“ Die Polizisten sah mich ernst an, tauschte dann einen kurzen Blick mit ihrem Kollegen und wandte sich erneut mir zu. „Wie ich es gestern anmerkte, haben wir veranlasst, dass eine Streife zum Park fuhr. Frau Langers Wagen wurde auf dem Parkplatz gefunden.“

„Haben Sie sie festgenommen?“ platzte es aus mir heraus. Der Ausdruck in den Augen der Polizistin wurde seltsam weich.

„Frau Langer ist tot.“ Vermutlich sollten ihre Worte behutsam klingen, aber diese Nachricht war wie ein Schlag für mich. Obwohl sie mich angegriffen hatte, obwohl sie mich die ganze Zeit belogen hatte, hatte ich sie doch gemocht. Das schaltete sich nicht einfach ab. „Es sieht nach Suizid aus. Genaueres wissen wir erst nach der Obduktion.“ Diese Worte rauschten nur an mir vorbei.

Erleichterung mischte sich mit Trauer, was doch total bescheuert war. Mareike hatte mich umbringen wollen. Sie hatte vermutlich Kira und die anderen Mädchen getötet – und ihre eigene Schwester!

Und dennoch konnte ich die freundschaftlichen Gefühle nicht abschalten, die sich mit der Zeit entwickelt hatten. Ich erinnerte mich an ihre Worte im Park: „Vielleicht hätte ich jemand anderen gesucht. Aber die Zeit wird knapp.“ Was hatte sie damit gemeint?

„Sie hatte auch gesagt, sie würde ständig ihre Schwester sehen“, hörte ich mich sagen. „Vielleicht hatte sie einfach Schuldgefühle. Vielleicht hat sie Isabelle getötet.“

„Wir werden sehen, was die Ermittlungen ergeben.“ Die Polizisten stellten mir noch ein paar genauere Fragen zu Uhrzeiten, die ich nur schlecht beantworten konnte, dann baten sie mich am nächsten Tag aufs Revier zu kommen, um meine Aussage zu unterschreiben. Mechanisch stimmte ich zu und erwiderte ihren Abschiedsgruß.

Das war es also. Mareike war tot.

 

Meine Mutter war skeptisch, als ich um den Mittag herum verkündete, dass ich zum Friedhof fahren wollte. Sie ließ mich aber gehen. Die Gefahr durch Mareike bestand immerhin nicht mehr.

Würde ich Kira auf dem Friedhof sehen können oder musste ich wieder darauf warten, im Halbschlaf mit ihr zu reden? Ich war so in Gedanken versunken, dass ich fast meinen Ausstieg verpasste. Ein leises, wohl nur in meinen Gedanken hörbares „träum nicht“ ließ mich hochschrecken und gerade noch rechtzeitig hinter einer älteren Frau aus dem Bus steigen.

Die Frau steuerte auch auf den Friedhof zu, bog aber auf einen anderen Weg ab. Ich ging langsam und betrachtete die Gräber, an denen ich vorbeikam. In manchen Horrorfilmen wurde gesagt, dass es auf Friedhöfen immer Geister gab. Ob das stimmte? Lief ich gerade an ihnen vorbei und bemerkte sie nur nicht?

Nö. Keiner da außer mir.

Grit. Warum war sie noch da? Darauf bekam ich keine Antwort und so ging ich weiter. Schon aus der Ferne sah ich eine Gestalt an Kiras Grab und mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich musste an die erste Begegnung mit Mareike denken, die auch vor Kiras Grab gewesen war. Doch als ich mich dem Grab näherte, erkannte ich Jonathan.

Und schemenhaft neben ihm stand jemand.

Jonathan drehte sich zu mir um und lächelte schwach. Er schwieg und blickte zunächst auf das Grab, dann zur Seite und schließlich wieder zu mir.

„Mareike ist tot“, murmelte ich nach einer Weile.

„Ich weiß.“ Verdutzt sah ich ihn an und wieder glitt sein Blick zur Seite. Zu dem Schemen.

„Woher?“ Ich ahnte die Antwort bereits, bevor Jonathan sie mir gab.

„Von Kira.“ Wir schwiegen wieder und dankbar nahm ich das Taschentuch an, das Jonathan mir reichte. Der Schemen glitt vor mich und obwohl Tränen meine Sicht verschleierten, war Kiras Gesicht plötzlich deutlich sichtbar für mich. Sie lächelte mich an und hob eine Hand an meine Wange. Da war Kühle, aber keine Kälte, wie es in Filmen gezeigt wurde.

Ich habe noch nicht so viel Übung wie Grit.

Ich hatte ihr Lachen vermisst. Verdammt, ich hatte sie vermisst. Sie noch einmal so zu sehen war nicht das Gleiche, als wäre sie noch am Leben gewesen, bei Weitem nicht, aber es tat dennoch gut.

Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist, du dumme Nuss.

„Selber dumme Nuss.“ Ich musste kurz auflachen. Wir hatten uns oft mit irgendwelchen seltsamen Namen betitelt. Nüsse waren sehr oft vorgekommen. Kira verblasste vor mir.

Keine Übung.

Die Worte waren leiser als zuvor. Der Schemen verschwand ganz. Ich würde sie beide wiedersehen, versicherte Grit mir, bevor sie sich verabschiedete. Jonathan hatte schweigend neben mir gestanden, die Hände in den Hosentaschen vergraben und den Blick auf den Schemen gerichtet. Hatte er Kira auch so deutlich gesehen? Ich mochte ihn jetzt aber nicht fragen. Später vielleicht.

„Soll ich dich nach Hause fahren?“

„Danke, das wäre nett.“ Mit Jonathan konnte ich auch über das reden, was wirklich im Park passiert war. Aber nicht jetzt. Später.

Es mussten dreizehn sein. Dreizehn Mädchen.

Mir lief ein Schauder über den Rücken, als ich die Stimme erkannte. Ich sah mich um, konnte Mareike aber nirgendwo entdecken. Andererseits hatte ich Grit auch nicht jedes Mal gesehen, wenn ich sie gehört hatte. Erst, als Jonathan mich ansprach, merkte ich, dass ich stehengeblieben war.

Du hättest eine von ihnen sein sollen.

„Kann man … Geister auch ausblenden?“ Ich schloss rasch zu Jonathan auf und er zuckte mit den Schultern.

„Ausblenden nicht direkt, aber du kannst dich mit einigen Sachen vor ihnen schützen. Aber es werden sich keine Horden von Geistern auf dich stürzen, keine Sorge.“

Ich wollte nie eine von ihnen sein. Ich wollte nur meine Ruhe haben.

„Mir geht es um einen speziellen Geist.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust, um irgendwie Herr über das Zittern zu werden, das mich erfasst hatte. „Ich habe gerade Mareike gehört.“

Aber irgendwie habe ich die ja jetzt auch …

„Es hilft Orte zu meiden, an denen sie sein könnte. Ihr Grab, ihr Todesort, ihr Zuhause.“ Er sah mich ernst an. „Ich denke, wir sollten uns irgendwann mal zusammensetzen und darüber sprechen.“

„Das wäre gut.“ Wir erreichten seinen Wagen und stiegen ein. Ich hörte Mareike nicht mehr. Vielleicht ging es ihr wie Kira und sie hatte keine Übung mit ihren Erscheinungen. Ich hoffte es. Kira und auch Grit zu hören und zu sehen war seltsam, unglaublich, aber es war in Ordnung. Aber Mareike wollte ich nicht mehr sehen oder hören. Ich hatte einfach auch Angst davor, was sie noch anstellen konnte.

Jonathan startete den Wagen und ich blickte noch einmal zurück zum Friedhof. Hinter dem offenen Tor glaubte ich zwei Schemen zu sehen.

„Ignorier sie einfach“, hörte ich Jonathan und wandte mich ihm zu. „Mareike und irgendein Mädchen. Ignorieren ist auch meist ganz hilfreich.“ Ich nickte und vermied den Blick in den Rückspiegel, bis wir den Friedhof hinter uns gelassen hatten. Ignorieren also. Ich hoffte, dass Jonathans Tipp mir helfen würde.

Ansonsten blieb mir nur zu hoffen, dass Mareike ihr Ziel, welches genau das nun auch gewesen war, erlangt hatte. Dass sie ihre Ruhe hatte und anderen – mir – auch ihre Ruhe lassen würde.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.09.2019

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