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Kapitel 1


Sandersons Bay zu finden war selbst mit Karte und Navi nicht einfach gewesen, auch Maries Erklärungen hatten mir nicht viel geholfen. Das hier war wirklich ein winziges, verstecktes Nest und die Vorstellung, dass ich noch weiter ins Nichts musste, ließ mich schwer seufzen. Ich hatte nur kurz an der Tankstelle gehalten, um zu tanken und auf die Toilette zu gehen, doch die Blicke der Leute hätten mich fast sofort wieder kehrt machen lassen. Die hatten wohl längere Zeit keine Touristen hier gesehen. Dabei war ich doch auch keine richtige Touristin, ich wollte eine Freundin besuchen. Marie und ich hatten uns schon seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, seit ihrem Umzug mit Gabriel nach Willows Lake. Wenn man bedachte, dass wir uns sonst fast jeden Tag getroffen hatten, war das eine Ewigkeit. Wir telefonierten viel und schrieben uns Nachrichten, aber das war einfach nicht dasselbe. Daher freute ich mich sehr, dass ich sie nun wiedersehen würde. Sie hatte am Telefon Andeutungen gemacht, dass es wohl in ihrem neuen Haus Probleme gab, aber so ganz genau hatte sie nicht erzählen wollen, was los war. Ein paar Sorgen machte ich mir schon, aber mit Gabriel schien es immer noch super zu laufen, das konnte es also nicht sein.

Ich stieg wieder in den Landrover, den mein Vater mir geliehen hatte, und fuhr los. Es konnte nicht mehr lange bis nach Willows Lake dauern, Marie hatte etwas von etwa einer halben Stunde Autofahrt erzählt. Ich sollte die Straße nach Süden nehmen, direkt an der Küste entlang, und dann würde bald eine Abzweigung kommen, die mich nach Willows Lake bringen würde. Doch beinahe hätte ich die Abzweigung verpasst, der kleine Pfad war mir schlicht entgangen. Ich wurde nur darauf aufmerksam, weil ein Typ auf einem Roller mir entgegenkam und dort abbog. Marie hatte schon gesagt, dass der Weg kaum als Straße zu bezeichnen war. Und sollte ich falsch liegen, würde ich mich nur wieder verfahren wie schon ungefähr fünf Mal heute. Also bog ich ab und folgte dem Pfad. Der Rollerfahrer war schon ein ganzes Stück voraus, an eine Geschwindigkeitsbegrenzung hielt der sich garantiert nicht.

Als schließlich die ersten Häuser in Sicht kamen, war ich erleichtert. Es waren große Bauernhöfe, ich sah nun auch Weiden, auf denen Schafe standen. Genau das hatte mir Marie auch geschildert, so dass ich hoffte wirklich auf dem richtigen Weg zu sein. Bald sah ich auch schon den Kirchturm, von dem Marie mir ebenfalls erzählt hatte. Die Kirche stand mitten auf dem Dorfplatz, außerhalb des Ortes gab es beim Friedhof noch eine kleine Kapelle. Das Haus von Marie und Gabriel war in der Nähe vom Friedhof. Als sie mir das damals zum ersten Mal erzählt hatte, hatte es mich nicht so besonders gestört, doch nach allem, was in der Zwischenzeit zu Hause vorgefallen war, behagte mir die Vorstellung gar nicht die nächsten Tage nah bei einem Friedhof zu wohnen. Aber ich freute mich zu sehr Marie wieder zu sehen, als dass dies mich an einem Besuch bei ihr gehindert hätte.

Meine Gedanken schweiften beim Anblick der Kirche wie von selbst zu den seltsamen Ereignissen vor einigen Wochen ab. Ich hatte Marie davon erzählt, aber sie war bis zum Schluss überzeugt gewesen, dass einer der anderen Studenten mir und meinen beiden Mitbewohnerinnen Jenny und Carol einen üblen Streich spielte. Immerhin hatte sich Jenny erst kurz zuvor von ihrem Freund getrennt und Marie hatte eine Racheaktion von diesem Typen vermutet. Anfangs hatte ich ihren Worten auch zu gerne glauben wollen, diese Erklärung war immerhin etwas Normales, etwas Gewöhnliches. Doch letztlich waren wir alle drei überzeugt gewesen, dass uns niemand einen Streich spielte und dass wir auch nicht an Halluzinationen litten.

Bei uns im Haus hatte es gespukt.

Es hatte völlig harmlos begonnen. Sachen standen woanders, Türen oder Fenster waren offen, alles Dinge, die eine von uns dreien gemacht haben konnte. Eines Abends hatte Carol dann Schritte gehört. Erst hatte sie gedacht, Jenny oder ich seien früher heimgekommen und nichts weiter deswegen unternommen oder uns dazu befragt. Doch auch Jenny und mir waren Geräusche im Haus aufgefallen, gerade wenn wir alleine da waren. Sonst konnte man es ja immer auf jemand anderen schieben. Als wir darüber gesprochen hatten, waren uns noch mehr Sachen aufgefallen, Kleinigkeiten, denen wir vorher keine Beachtung geschenkt hatten. Wir waren nervös gewesen und hatten von da an wirklich auf alles geachtet und es war immer mehr passiert. Schubladen gingen einfach auf, es klopfte an Türen, obwohl wir alle drei zusammen waren, Lichter flackerten und gingen von selber an oder aus. Carol hatte schließlich im Internet nach Hilfe gesucht und zwei Frauen waren zu uns gekommen. Parapsychologinnen, wie sie sich auf ihrer Webseite nannten. Sie hatten allen möglichen Technikkram dabeigehabt und das gesamte Haus untersucht, doch sie hatten nichts gefunden.

Jenny hatte sich als erste dazu entschlossen auszuziehen. Übergangsweise war sie bei ihrer Schwester untergekommen und Carol und ich hatten das Haus schließlich auch verlassen und waren ins Studentenwohnheim gezogen, da dort Zimmer frei geworden waren, nachdem einige Studenten die Uni verlassen hatten. Ich wollte nicht gerne im Wohnheim bleiben, aber es war in Ordnung gewesen für die kurze Zeit. Jetzt hatte ich ein Zimmer in Aussicht in einer neuen WG, allerdings erst ab Januar. Das war in Ordnung, ich hatte mir ohnehin gerade eine Auszeit von der Uni genommen. Die ganzen Ereignisse in dem Haus hatten mich völlig aus der Bahn geworfen. Carol und Jenny ging es ebenso, Jenny verbrachte viel Zeit in der Kirchengemeinde seitdem, was sie vorher nicht gemacht hatte, und Carol ging bei Dunkelheit nicht mehr vor die Tür.

Im Nachhinein hatten wir erfahren, dass das Haus, in dem wir gewohnt hatten, auf ehemaligem Kirchengrund errichtet worden war, deswegen erinnerte mich der Anblick der Kirche gerade so sehr an diese Ereignisse. Zuvor hatte dort noch ein anderes Haus gestanden, welches der Kirche gehört hatte. Es war immer an Theologiestudenten vermietet worden, doch nachdem sich herausgestellt hatte, dass die letzten Studenten dort immer wilde Partys und Orgien gefeiert hatten, hatte die Kirche das Haus samt Grundstück direkt an die Universität verkauft. Das "besudelte" Haus wollten sie einfach nicht mehr haben. Die Uni hatte das Gebäude bloß renoviert und es danach auch an Studenten vermietet. Und im letzten Jahr war ich mit Jenny und Carol dort eingezogen. Es war ja auch die ganze Zeit alles gut gewesen, bis eben vor einigen Wochen diese seltsamen, gruseligen Ereignisse begannen.

Leise seufzend verdrängte ich diese Gedanken. Das alles war vorbei, ich wollte Marie besuchen und die Zeit mit ihr genießen. Außerdem war ich neugierig, wie sie das Haus gestaltet hatte. Gabriel hatte ihr dabei völlig freie Hand gelassen, seiner eigenen Aussage nach war er eine Niete, was Einrichtung anging. Er hatte auch gesagt, wäre er alleine in das alte Haus gezogen, hätte er nicht einmal renoviert. Zwar hatte Marie mir erzählt, wie sie alles gerne haben wollte, aber ich hatte noch keine Bilder gesehen, abgesehen von einem Bild von der Küche und einigen Bildern vom Garten. Dieser sah einfach traumhaft aus, auch wenn ich ihn nun im Herbst leider nicht mehr in voller Blüte sehen würde. Aber vielleicht konnte ich Marie ja auch nächstes Jahr im Frühling besuchen.

An der Kirche bog ich ab, so wie Marie es mir beschrieben hatte. Das Haus von ihr und Gabriel lag am Ortsrand mit Blick auf den Wald. Die Grundstücke hier waren groß, stellte ich fest, auch etwas, was Marie mir bereits erzählt hatte. Viele Leute nutzten ihre großen Gärten auch direkt dazu, um Gemüse oder Obst anzubauen und sich so ein wenig selber zu versorgen. Gabriels Tante, die ihnen das Haus überlassen hatte und nun bei ihrer Tochter in Sandersons Bay lebte, hatte auch einen kleinen Gemüsegarten angelegt, den Marie weiterführte, auch wenn sie zuvor nie Gemüse angebaut hatte. Aber ihre Nachbarin half ihr gerne, nicht nur bei Fragen zur Gartenpflege, sondern auch allgemein. Schließlich erreichte ich das Haus mit der Hausnummer fünf. Der eiserne Zaun gab einen Blick preis auf den gepflegten Vorgarten mit den Rosenbüschen, die ich bereits von den Fotos kannte. Das Tor zur Auffahrt war offen und ich fuhr zur Garage rüber, wo ich den Wagen abstellte und mich abschnallte. Nachdem ich ausgestiegen war, streckte ich mich erst einmal, bevor ich schließlich zur Haustür rüber ging. Klingeln musste ich jedoch nicht mehr, Marie hatte mich offensichtlich bemerkt, denn sie öffnete die Tür und blickte mir grinsend entgegen.

"Na, wen haben wir denn da …?" fragte sie und ich lachte leise.

"Ich fürchte, ich habe mich verfahren. Können Sie mir sagen, wo ich lang muss?" Wir fielen uns lachend um den Hals.


Kapitel 2


"Du musst dich wirklich verfahren haben. Du hattest doch heute Morgen angerufen, dass du unterwegs bist", stellte Marie fest, als wir uns wieder voneinander lösten. Sie war ziemlich blass, bemerkte ich dabei. Obwohl sie geschminkt war, fielen mir durchaus die dunklen Ringe unter ihren Augen auf und der müde Ausdruck in diesen.

"Ja, habe ich allerdings", bestätigte ich jedoch erst einmal. Später konnte ich sie noch immer fragen, was los war. "Und wäre nicht vorhin jemand mit einem Roller auf die Straße hierher eingebogen, hätte ich die auch verpasst ..." Marie lachte auf und nickte.

"Kann ich verstehen, mir ist sie bei dem ersten Besuch hier auch nicht aufgefallen. Ich hab Gabriel noch gefragt, warum er auf das Feld einbiegt", erinnerte sie sich und wies auf meinen Wagen. "Hol doch deine Sachen, dann können wir reingehen und ich zeig dir alles. Wobei ... nein. Nach der langen Fahrt willst du sicher erst einmal ausruhen. Ich kann uns einen Kaffee machen und wir setzen uns ins Wohnzimmer." Ein Kaffee klang sehr verlockend und ich lächelte.

"Klingt gut", stimmte ich also zu und holte erst einmal meine Reisetasche aus dem Kofferraum und meinen Rucksack vom Beifahrersitz, bevor ich den Wagen abschloss. Marie führte mich ins Haus und ich bestaunte erst einmal den großen Eingangsraum, den ich nicht wirklich als Flur bezeichnen mochte. Er war immerhin beinahe so groß wie mein Schlafzimmer in meiner alten WG. "Wow ..."

"Oh ... glaub mir, erst dachte ich auch, wow, ist das alles groß", sagte Marie und ein schiefes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. "Aber wenn du das alles hier putzen musst, wandelt sich das Wow schnell in ein Mist ..." Ich musste lachen.

"Das glaub ich dir sofort", sagte ich und folgte Marie in ein in meinen Augen riesiges Wohnzimmer. Jetzt verstand ich den Ausspruch "ihr fielen die Augen aus", denn ich musste gerade genauso aussehen. "Wow ... das ist ... wow ..." Ich schenkte Marie ein schiefes Grinsen. "Mehr fällt mir da gerade echt nicht ein."

"Und das hier ist nur das Wohnzimmer. Komm, wir stellen deine Sachen drüben bei der Treppe ab", schlug Marie vor und der Flur, durch den wir nun kamen, war so groß wie das Badezimmer in meiner jetzigen Wohnung im Studentenwohnheim. Ich stellte meine Tasche und den Rucksack auf der untersten Treppenstufe ab und folgte Marie danach in die Küche. Diese war zwar kleiner als das Wohnzimmer, aber immer noch riesengroß. Marie bot mir einen Platz an und setzte dann erst einmal den Kaffee auf. "Ich war auch total überwältigt, als ich das erste Mal mit Gabriel hier war. Er hatte mir zwar schon vorher gesagt, dass das Haus ziemlich groß ist, aber ... na ja, ich hatte ja keine Bilder gesehen und er hatte auch keine Größenangaben", erzählte sie und setzte sich zu mir, während der Kaffee durchlief.

"Das ist echt Wahnsinn", stellte ich fest und grinste leicht. "Dann steht der großen Familie ja nichts im Weg ..." Marie schmunzelte leicht, aber mir entging dennoch nicht der seltsame Ausdruck in ihren Augen. "Marie? Was ist los?" Ich konnte das so nicht auf sich beruhen lassen, meine Freundin hatte irgendwas, das war mehr als offensichtlich. Sie seufzte leise und fuhr sich durch die Haare, um dann mit einer Haarsträhne zu spielen, etwas, was ich von ihr kannte, wenn sie nervös und unsicher war.

"Ich ... hm ... na ja ... ich muss mich erst einmal bei dir entschuldigen", begann sie schließlich und biss sich auf die Unterlippe. "Ich ... war nicht ganz ehrlich zu dir und ... auch für damals. Als du mir von eurer WG erzählt hast und ich dir nicht geglaubt habe."

"Ach was ... das klang auch alles sehr abgefahren", wehrte ich ab, da ich eigentlich nicht wieder darüber reden wollte. Ich wollte das alles am Liebsten einfach nur vergessen und mit meinem Leben normal weitermachen.

"Ja ... vielleicht ..." Marie seufzte erneut und sah mir direkt in die Augen. "Vielleicht muss man manche Dinge auch erst selber erleben, um sie auch zu glauben." Verwirrt sah ich sie an und wieder seufzte sie. "Ich ... hab mich bisher nicht so richtig getraut dir das zu erzählen. Hier ... geschehen seltsame Dinge." Unsicherheit lag in ihren Augen und ich war für einen Moment verlockt ihre Worte zu ignorieren und das Thema zu wechseln. Sie konnte doch nicht wirklich das meinen, was ich nun glaubte, dass sie es meinte?

"Was ... für Dinge?" hakte ich nach und wunderte mich, wie ruhig meine Stimme doch noch klang. Marie schluckte und atmete dann erst einmal tief durch.

"Es war am Anfang eigentlich nichts Besonderes. So wie du es mir auch erzählt hast, wie es bei euch war. Türen und Fenster standen offen, obwohl ich dachte, ich hätte sie geschlossen. Dinge standen woanders ..." Sie fuhr sich wieder durch die Haare. "Dann hörte ich Schritte ... Ich dachte damals eher an einen Einbrecher. Aber wir sind uns nicht mehr sicher. Dazu passen einfach all die anderen Dinge nicht." Irgendwie hatte ich für einen Moment das Verlangen einfach loszulaufen, in meinen Wagen zu springen und von hier zu verschwinden. Die Kaffeemaschine röchelte und Marie zuckte zusammen, bevor sie schwer seufzte und schließlich aufstand, um den Kaffee in zwei Tassen zu füllen, die sie zum Tisch brachte, danach stellte sie Milch und Zucker dazu. Wie ich es von ihr kannte, war ihre Tasse nur halbvoll, den Rest füllte sie mit Milch auf und gab noch drei Löffel Zucker rein. Ich trank meinen Kaffee schwarz, aber auch mit drei Löffeln Zucker. Während ich rührte, musterte ich Marie.

"Also spukt es hier", sprach ich meine Gedanken schließlich aus und Marie verzog leidend das Gesicht.

"Es klingt bescheuert, ich weiß. Vor allem, wo ich doch so überzeugt war, dass es bei euch gar nicht spuken kann, weil es so etwas nicht gibt ... aber ..." Sie zuckte hilflos mit den Schultern. "Seit ich das hier alles erlebt habe, bin ich mir einfach nicht mehr sicher."

"Was war denn alles?" wollte ich wissen. Ich konnte mich genau daran erinnern, wie ich mich damals gefühlt hatte, als das bei uns angefangen hatte. Außer mit Carol und Jenny hatte ich mit niemandem so richtig über dieses Thema sprechen können, auch mit Marie nicht. Sie war fest überzeugt gewesen, dass uns jemand einen Streich spielte. Ich hatte mir damals so sehr jemanden gewünscht, mit dem ich einfach mal in Ruhe über diese Dinge sprechen konnte, jemand anderen als Carol und Jenny, die ja das gleiche durchgemacht hatten wie ich. Daher wollte ich nun Marie einfach helfen, so gut ich das konnte. Sie sah mich nachdenklich an und rührte in ihrem Kaffee.

"Wo fang ich da an ...? Wie gesagt ... Erst waren es Kleinigkeiten. Dinge, bei denen ich mich einfach auch irren konnte. Türen und Fenster waren offen, Dinge standen auf einem anderen Platz. Konnte ja sein, dass ich mal vergessen hatte ein Fenster oder eine Tür zu schließen. Oder sie waren wieder aufgegangen. Es ist ein altes Haus und wir hatten nicht das Geld, um die Fenster und alle Türen auszutauschen", erzählte sie und seufzte leise auf. "Und es konnte ja sein, dass ich so in Gedanken war, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wenn ich etwas woanders hingestellt hatte als gewöhnlich."

"Aber das war nicht alles", vermutete ich und sie nickte.

"Wir haben von Gabriels Tante Geld bekommen und erst einmal die Türschlösser und die Fensterriegel ausgetauscht. Das war günstiger als alles neu zu machen", erklärte sie und schnaufte leise. "Aber es brachte nicht. Wieder standen Türen und Fenster offen und Dinge an anderen Plätzen. Und dann begann ich Geräusche zu hören. Aber auch das war einfach zu erklären. Wie gesagt ... es ist ein altes Haus. Es knackst halt mal."

"Und in den Rohren klopft es und die Dielen knarren ..."

"Richtig. Du kennst das sicher, als es bei euch so war."

"Allerdings. Wir haben uns ja auch erst einmal alles Mögliche an Erklärungen überlegt. Aber für immer kann man die Augen nicht davor verschließen, dass etwas nicht stimmt", sagte ich und Marie nickte.

"Ja. Schließlich dachte ich auch, dass wir vielleicht irgendwas im Haus haben. Mäuse oder Ratten oder so. Aber dann hörte ich Schritte. Und ich war allein zu Hause", erzählte sie und schauderte. "Ich dachte, es ist ein Einbrecher, und bin nur noch raus und hab dort erst einmal die Polizei gerufen. Sie haben aber nichts gefunden. Keine Einbruchsspuren, es war auch niemand im Haus, nichts. Es hatte damals aber in Sandersons Bay einige Einbrüche gegeben, die Polizei meinte auch, es könnte sein, dass der Kerl von dort nun auch hier sein Glück versucht."

"Obwohl es keine Hinweise auf einen Einbruch gab?"

"Ja. Sie meinten, er hätte vorne reinkommen können, über die Garage konnte man in den Hauswirtschaftsraum kommen. Wir hatten das Schloss dort nicht gewechselt und es hatte von beiden Seiten bloß eine Klinke. Am nächsten Tag hat Gabriel dann sofort auch dieses Schloss ausgewechselt", fuhr Marie fort. "Und wir haben Sicherheitsschlösser an allen Türen angebracht. Die Fenster hatten ja schon welche."

"Aber das brachte auch alles nichts", riet ich und Marie fuhr sich durch die Haare.

"Nein. Gabriel war ja an dem Tag auch zu Hause und hat am Abend die Geräusche dann auch gehört. Ich wollte raus und die Polizei rufen, aber er wollte nachschauen. Also bin ich alleine raus. Er kam und kam nicht mehr und dann war auch die Polizei schon da und hat sich alles angesehen", erzählte sie weiter. "Gabriel hatte niemanden gesehen, er konnte nur sagen, dass er niedergeschlagen wurde. Einbruchsspuren gab es wieder nicht und die Türen und Fenster waren alle abgeschlossen und verriegelt, da konnte also auch niemand einfach so rein. Und die anderen Dinge gingen ja auch weiter." Ich fühlte mich in die Zeit zurückversetzt, in der es bei uns gespukt hatte, und ich schauderte.


Kapitel 3


"Habt ihr schon irgendwas unternommen?" wollte ich schließlich wissen.

"Wir haben uns im Internet ein wenig umgesehen. Es gibt da verschiedene Tipps", seufzte Marie auf. "Geisterjäger, Parapsychologen, Priester ... Ich bin nicht gläubig, das weißt du, Audrey. Ich würde mich komisch fühlen, wenn wir einen Priester um Hilfe bitten würden. Und bei den anderen wüsste ich nicht, ob das nicht einfach Scharlatane sind, die nur unser Geld wollen."

"Wir hatten zwei Parapsychologinnen bei uns. Aber sie haben nichts gefunden", sagte ich und Marie nickte.

"Ja, ich erinnere mich. Du hattest davon erzählt, dass deine Mitbewohnerin sie gerufen hatte", meinte sie.

"Ja, aber leider brachte es gar nichts. Da hab ich auch überlegt, ob sie nicht einfach nur Geld verdienen wollten", sagte ich. "Auch wenn sie wirklich viel technischen Kram dabeihatten, der auch teuer und professionell aussah. Aber das kann auch täuschen, denk ich mal. Wenn man sich damit nicht auskennt, sieht so was doch immer toll aus."

"Eben. Und das befürchte ich auch. Dass wir auf irgendwen reinfallen. Und gläubig bin ich nicht, wie gesagt", wiederholte Marie. "Ich weiß wirklich nicht, was wir machen sollen. Wir können auch nicht einfach umziehen." Sie fuhr sich durch die Haare und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Ich tat es ihr nach und stellte fest, dass er in der Zwischenzeit kalt geworden war. Zwar unterhielten wir uns schon eine Weile, aber das erschien mir doch seltsam. Vielleicht war ich aber auch nur etwas empfindlich durch die Dinge, die ich in meiner alten WG erlebt hatte. Doch Maries Blick auf ihre Tasse sprach Bände. Ein feuchtes Schimmern trat in ihre Augen. "Es würde Gabriels Tante das Herz brechen, wenn wir das Haus verkaufen. Ganz abgesehen davon, dass doch hier niemand herziehen möchte. Wir wären auch nicht hier, hätte Gabriel nicht den Laden seiner Tante übernommen." Sie fuhr sich über die Augen und ich wechselte meinen Platz, um mich neben sie zu setzen und einen Arm um ihre Schultern zu legen.

"Und wenn ihr einen kurzen Urlaub macht?" schlug ich vor. "Vielleicht hat sich schon was geändert, wenn ihr dann wiederkommt."

"Das geht nicht", murmelte Marie mit erschöpfter Stimme. "Gabriel kann den Laden nicht einfach schließen und momentan hat er keine Aushilfen. Deswegen arbeitet er auch immer so lange. Er ist jetzt auch dort, auch wenn er mich ungern allein lassen wollte."

"Wir können ja mal zusammen im Internet stöbern, was helfen könnte. Sicher gibt es noch mehr Tipps, was man selber auch machen kann ohne Hilfen", meinte ich. "So etwas wie Schutzamulette aufhängen oder so."

"Okay ..." Marie erhob sich und ich tat es ihr gleich. Gemeinsam gingen wir in das Wohnzimmer rüber und Marie nahm einen Laptop von einem kleinen Schrank.

"Ich hol meinen auch, dann können wir gleichzeitig suchen. Ihr habt doch WLAN, oder?" fragte ich und Marie lachte leise. Es freute mich sie lachen zu hören, auch wenn es nur kurz war.

"Ja, haben wir ..." Sie folgte mir zu der Treppe, wo ich feststellte, dass mein Rucksack von der Stufe gerutscht war. Gerutscht - oder gestoßen worden. Wir sahen uns bloß an und ich nahm meinen Laptop aus dem Rucksack. Er war gut verpackt gewesen, so hatte er sicher keinen Schaden von dem kleinen Sturz genommen. Wir gingen ins Wohnzimmer zurück, setzten uns auf das große Sofa und ich richtete erst einmal meine Verbindung zu Maries Internet ein. Danach begannen wir mit unserer Suche, die nur einmal für einen kurzen Augenblick unterbrochen wurde, als wir ein dumpfes Pochen hörten. Wir zuckten beide zusammen, schauten zur Decke und blickten uns dann kurz an. "Das passiert öfter mal", erklärte Marie und wir fuhren mit unserer Suche fort.

"Hmm ... hier gibt es den Tipp Salz auszustreuen", sagte ich nach einer Weile und Marie blickte auf meinen Laptop. "Das soll gegen Geister helfen. Und Kreuze aufstellen. Vielleicht wäre das einen Versuch wert, auch wenn du nicht gläubig bist."

"Geweihte Kreuze können wir in der Kirche kaufen", meinte Marie, blickte aber sehr skeptisch drein. "Aber kann das wirklich helfen, wenn man nicht dran glaubt?"

"Hast du vorher an Geister geglaubt?" stellte ich eine Gegenfrage.

"Da ... hast du einen Punkt", schnaufte Marie und lachte leise auf. "Okay. Salz hab ich im Haus. Wir können auch gerne gleich zur Kirche gehen. Bis zum Abend kann man da immer hin."

"Gut. Hier steht auch, dass andere Symbole wie Engelsfiguren auch helfen können. Wir haben das damals bei uns gar nicht ausprobiert", erinnerte ich mich. "Jenny ist erst nach der ganzen Sache zur Kirche. Und ich hab mich auch erst hinterher mal informiert, was man alles machen könnte. Aber da gibt es so viele Seiten und überall stehen auch andere Dinge ... Aber das mit dem Salz und den Kreuzen hab ich öfter gelesen."

"Dann sollten wir das mit dem Salz zuerst probieren", schlug Marie vor. "Wir können es ja verstreuen, wie es hier steht."

"Aber ..." Ich zog die Nase kraus, da mir gerade etwas einfiel. "Wenn etwas im Haus ist, hält das Salz dann nicht dieses Etwas im Haus ...?" Wir sahen uns skeptisch an und ich vertiefte mich noch einmal in den Artikel. "Also ... Es soll das Böse abhalten ins Haus zu kommen. Und es soll auch eine reinigende Wirkung haben."

"Dann vertreibt es also dieses ... Etwas. Was es auch ist", stellte Marie fest.

"Na, hoffentlich", sagte ich und stellte meinen Laptop beiseite. "So, wollen wir?"

"Gerne." Marie stellte ihren Laptop zu meinem und wir erhoben uns, um in die Küche zu gehen. Aus einem der Küchenschränke nahm sie eine Packung Salz. "Und nun ...?"

"Da stand, es soll an den Fenstern und Türen angebracht werden. Ich vermute, damit sind die Türen gemeint, die rausführen, nicht alle im Haus."

"Okay ..." Sie ging zum Küchenfenster und streute eine dünne Spur Salz auf dem Fensterbrett aus. Danach ging sie von Zimmer zu Zimmer, um dies bei allen Fenstern, der Eingangstür und den Balkontüren zu wiederholen. So kam ich auch in den Genuss das Haus mal komplett zu sehen. Im unteren Stockwerk gab es noch ein Badezimmer, einen Hauswirtschaftsraum und Maries und Gabriels Schlafzimmer. Als wir nach oben gingen, nahm ich auch direkt mein Gepäck mit. "Du hast hier die freie Auswahl", erklärte Marie mir, als wir die zweite Etage erreichten. "Hier gibt es vier Schlafzimmer, das Bad ist ganz hinten." Ich linste den recht langen, schmalen Flur entlang und schauderte.

"Also ... jetzt wo ich weiß, was hier los ist, hat das hier oben echt einen ganz schönen Gruselfaktor", stellte ich fest.

"Ich weiß. Aber unten haben wir leider kein weiteres Schlafzimmer. Mal abgesehen davon, dass diese ganzen Ereignisse überall auftreten", sagte Marie.

"Wäre auch zu einfach, wenn es sich nur auf einen Raum beziehen würde", seufzte ich und Marie schmunzelte.

"Das stimmt." Wir gingen weiter, mein Gepäck nahm ich mit und entschied mich für das zweite Zimmer, welches wir betraten. Damit würde ich nicht über Marie und Gabriel herumlaufen müssen, hatte aber dennoch einen tollen Blick auf den Balkon und den Garten. Zudem konnte man in dem ersten Zimmer über eine Treppe nach draußen auf den Balkon kommen und irgendwie war mir bei diesem Gedanken nicht wohl gewesen. Wer wusste schon, wer dann plötzlich oben auf der Treppe stand? Die Zimmer hier oben waren schlicht eingerichtet, aber in jedem gab es ein Bett und einen Kleiderschrank, in zweien auch noch einen Schreibtisch. Den brauchte ich nicht unbedingt, meinen Laptop konnte ich auch auf dem Bett nutzen, daher blieb ich bei meiner Wahl. Nichts geschah, während wir hier oben überall Salz an den Fenstern verstreuten und schließlich gingen wir wieder runter. Marie stellte die nun fast leere Salzpackung wieder zurück und sah mich fragend an. "So ... Wir können dann gerne jetzt zur Kirche gehen", sagte sie.

"Okay." Wir nahmen unsere Jacken und Marie noch ihre Tasche, wobei mir einfiel, dass ich meine Handtasche im Auto vergessen hatte. Ich holte sie rasch, während Marie abschloss, danach setzten wir uns in Bewegung. Da hier nichts wirklich weit weg war, hatte sie vorgeschlagen, dass wir zu Fuß gingen, so konnte sie mir auch gleich den Ort etwas zeigen und mir sagen, was hier was war. Viel los war nicht, Autos fuhren hier gerade keine und wir sahen auch nur wenige Leute auf der Straße. Wir unterhielten uns über alles Mögliche, Marie erzählte mir von ihrem Job bei dem Arzt hier im Ort und ich jammerte über mein Studium, das immer schwerer wurde. Schließlich erreichten wir auch den Ortskern, der Kirchturm war schon von weitem zu sehen. Hier waren auch ein paar mehr Leute unterwegs. Es wirkte alles so ruhig und gemütlich hier. Ich wusste nicht, ob ich in so einer Gegend leben wollte, es war mir fast schon zu ruhig, aber ich wusste, dass Marie schon immer lieber auf dem Land hatte leben wollen. Ob sie sich aber solch eine winzige Ortschaft vorgestellt hatte, wusste ich nicht. Vor der Kirche hielt Marie letztlich an und blickte das Gemäuer skeptisch an.

"Oh Mann ...", seufzte sie leise auf.

"Komm schon. Da beißt uns schon niemand", sagte ich aufmunternd, was Marie ein schiefes Grinsen entlockte.

"Wahrscheinlich nicht", stimmte sie zu und drückte die Tür auf, die uns ins Innere der Kirche führen würde. Langsam gingen wir rein und sahen uns um. Es war einfach ein Kirchenraum wie viele andere auch. Es gab mehrere Reihen von Sitzbänken, vorne war ein Altar und ein paar Türen führten in anliegende Räume.

"Und nun?" fragte ich leise und Marie zuckte mit den Schultern.

"Da vorne geht es zu dem kleinen Kirchenladen. Da gibt es Bibeln, Kreuze und das alles", erklärte sie und setzte sich in Bewegung. Ich folgte ihr und vor der Tür, auf der ein simples Schild "Laden" angebracht war, blieben wir wieder stehen. Öffnungszeiten standen da nicht und zögernd drückte Marie die Klinke runter. Die Tür ließ sich öffnen und wir blickten in einen kleinen Raum mit mehreren Regalen, auf denen Bücher, Figuren und Kreuze standen. An einem kleinen Schreibtisch saß eine junge Frau, die an einem Laptop arbeitete und hochblickte, als wir den Raum betraten.

"Guten Tag", grüßte sie uns höflich und erhob sich.

"Guten Tag", grüßten wir synchron zurück.

"Kann ich Ihnen helfen?" fragte sie und Marie lächelte unsicher.

"Hmm ... ich wollte gerne ein paar Kreuze kaufen", antwortete sie.

"Natürlich, gerne", sagte die Frau und wies mit einem freundlichen Lächeln auf die Regale. "Wir haben mehrere in verschiedenen Größen. Sie wurden auch alle geweiht."

"Die Figuren und Rosenkränze auch?" hakte ich nach und die Frau nickte.

"Alles, bis auf die Bücher", erklärte sie. "Wenn gewünscht, kann dies für die Bücher auch gemacht werden."

"Oh, danke, aber wir wollen nur ein paar Kreuze und vielleicht ein paar Figuren", meinte Marie und begann sich umzusehen, genau wie ich.

"Wie gesagt, wir haben verschiedene", wiederholte die Frau und trat um den Tisch herum, um auf eines der Regale zu zeigen. "Diese hier können an der Wand angebracht werden. Es gibt aber auch passende Gestelle, wenn das Kreuz frei stehen soll. Diese sind kostenlos. Und diese hier ...", bei diesen Worten wies sie auf die mittlere Reihe in dem Regal, "sind Anhänger und passen auf alle gängigen Ketten." Wir sahen uns alles eine Weile an und schließlich entschied sich Marie für einige Kreuze, Madonnenstatuen und Rosenkränze. Die junge Frau kassierte und packte die Sachen in einen schlichten Beutel aus hellem Stoff, dazu gab sie uns noch einen Schlüsselanhänger mit einem Anhänger in Kreuzform und einen kleinen Teelichthalter, der ebenfalls kleine Kreuze rundherum aufwies. Wir verabschiedeten uns von der Frau und verließen die Kirche dann auch, um wieder zurückzugehen.

"Wenn das hilft, wäre ich wirklich froh", sagte Marie und lächelte schief.

"Wir werden es ja sehen ..."


Kapitel 4


Gabriel kam erst spät am Abend zurück, so dass Marie und ich jede Menge Zeit zum Quatschen und Austauschen von Neuigkeiten hatten. Wir hatten nach unserer Ankunft auch gleich die Kreuze und die Figuren aufgestellt und die Rosenkränze aufgehängt. Es war ziemlich kühl geworden, aber das konnte auch dran liegen, dass wir Herbst hatten. Die Heizung lief allerdings, daher waren wir davon beide nicht so überzeugt. Wir blieben danach im Wohnzimmer, eine Kanne Kaffee und einen Teller Kekse vor uns auf dem Tisch und leise Musik im Hintergrund. Doch das alles half nicht dagegen, dass wir uns beide noch unwohl fühlten und nervös waren. Seltsame Geräusche gab es allerdings keine und wir hegten beide die leise Hoffnung, dass es an dem Salz und den geweihten Gegenständen lag. Wenn es so einfach sein sollte, würden wir uns in allen Foren zu diesem Thema anmelden und diesen Erfolg posten, nahmen wir uns vor.

"Ich sehe, wir haben neue Deko", stellte Gabriel fest, als er schließlich zu uns ins Wohnzimmer stieß. Marie sprang auf und fiel ihm um den Hals, um ihn zur Begrüßung zu küssen, danach ließ sie ihn los, damit ich ihn auch begrüßen konnte. Wir umarmten uns kurz und ich bemerkte Gabriels fragenden Blick.

"Ja, Marie hat mir erzählt, was hier alles so passiert ist", antwortete ich auf seine unausgesprochene Frage und er lächelte schief.

"Dann ist ja gut", meinte er. "Deswegen die Kreuze, vermute ich."

"Ja. Es ist ein Tipp aus dem Internet. Und probieren können wir es ja", sagte Marie und zuckte mit den Schultern. "Auch wenn ich ja nicht grad gläubig bin ..."

"Na, an Geister haben wir vorher doch auch nicht geglaubt, oder?" fragte Gabriel und blinzelte verwundert, als Marie und ich einen Blick tauschten und lachten.

"So ziemlich genau dieses Gespräch hatten Audrey und ich vorhin auch", erklärte Marie schmunzelnd. "Und wir haben seit vorhin auch nichts weiter mitbekommen. Keine Geräusche, keine offenen Türen oder Fenster, nichts. Wenn das wirklich klappt, wäre das super."

"Wäre es", stimmte Gabriel zu. Ich war froh, dass er die ganze Sache nicht einfach als nervöse Spinnerei von Marie abtat. So wie sie es mir erzählt hatte, war er viel in seinem Laden und hatte wenig von den Dingen mitbekommen, die hier passierten. Aber er hatte ihr zugehört und das, was er mitbekommen hatte, hatte wohl gereicht, dass ihn Maries Beobachtungen überzeugt hatte.

"Kommt, lasst uns was essen", schlug Marie vor und wir gingen in die Küche rüber. Sie hatte einen Auflauf mit Gemüse und Geflügel vorbereitet und diesen vorhin in den Ofen geschoben. Es roch köstlich, als wir den Raum betraten. Gabriel deckte den Tisch und ich half ihm, soweit ich mich schon auskannte. Danach machten wir uns auch schon alle über das Essen her. Wir unterhielten uns über alles Mögliche, Gabriel erzählte ein wenig von seinem Laden und fragte mich zu meinem Studium aus, aber lange blieb er nicht bei uns. Er wollte nur noch duschen und dann ins Bett. Nachdem wir uns von ihm verabschiedet hatten, half ich Marie dabei den Tisch abzuräumen und das Geschirr in den Geschirrspüler zu räumen. Da er sich automatisch abschaltete, ließ sie ihn oft über Nacht laufen und räumte ihn morgens wieder aus. Schließlich machten wir uns auch auf den Weg ins Bett. Marie sah mich bei der Treppe noch einmal bittend an. "Wenn etwas ist, komm direkt runter, du kannst uns jederzeit wecken", sagte sie und ich lächelte leicht.

"Hey ... ich hab das alles schon mal hinter mir, schon vergessen?" gab ich amüsierter von mir, als mir wirklich zumute war. Aber ich wollte Marie helfen und wenn ich nun wieder völlig verängstigt war, war ihr das ganz sicher keine Hilfe.

"Nein, aber dennoch ... Immerhin hab ich dich eingeladen ohne dir davon zu erzählen, das war nicht fair von mir", meinte Marie und seufzte leise. Ich umarmte sie kurz.

"Ist schon okay", sagte ich, als ich mich wieder von ihr löste. "Ich kann mir vorstellen, wie du dich gefühlt hast. Aber das wird sicher alles wieder aufhören."

"Hat es bei euch aufgehört?" fragte Marie und ich zuckte mit den Schultern.

"Die neuen Mieter scheinen keine Probleme zu haben", antwortete ich. "Und bei uns ist auch nichts mehr vorgefallen, seit wir ausgezogen sind."

"Hoffentlich bleibt es auch so."

"Das hoffe ich auch."


Kapitel 5


Langsam ging ich die Treppe hoch. Das Licht war zwar an, es war also ganz und gar nicht so wie in den Horrorfilmen, die ich früher so gerne gesehen hatte und in denen die Leute immer durch das dunkle Haus liefen, um dann von Geistern, Monstern oder sonst etwas Derartigem angegriffen zu werden. Doch ich hatte schon festgestellt, dass ein Spuk nicht nur in der Dunkelheit stattfand. Als ich mein Zimmer erreicht hatte, machte ich dort erst einmal Licht und blickte mich dann auf dem Flur um. Es gab dummerweise nur zwei Lichtschalter hier, einen bei der Treppe, einen hinten beim Badezimmer und dem letzten Schlafzimmer. Seufzend nahm ich meine Zahnputzsachen und ging ins Bad rüber, um mir erst einmal die Zähne zu putzen. Die Tür zu meinem Zimmer ließ ich dabei offen, damit ich einen Lichtschein hatte, wenn ich das Licht auf dem Flur ausmachte. Als ich fertig war, lauschte ich erst einmal, doch ich hörte nichts, also machte ich das Licht aus und huschte über den nun dunklen Flur zu meinem Zimmer zurück. Schnell schloss ich die Tür hinter mir und seufzte leise auf.

Was ich heute von Marie alles gehört hatte, hatte mich einfach wieder an all das erinnert, was in der WG passiert war. Es war einfach noch zu frisch, als dass ich etwas davon vergessen oder zumindest verdrängt hätte. Zumal es so sehr dem ähnelte, was Marie mir erzählt hatte. Wäre sie nicht meine beste Freundin gewesen und hätten wir uns nicht so lange gekannt, hätte ich geglaubt, dass sie mich auf den Arm nahm, um mir einen Streich zu spielen oder so. Aber das hätte Marie nie gemacht. Hier spukte es und ein paar Dinge, die dafür sprechen konnten, hatte ich heute ja auch mitbekommen. Zögernd griff ich nach dem Lichtschalter, ließ das Deckenlicht aber erst einmal an und machte zunächst die Lampe auf dem Nachttisch an, bevor ich das andere Licht löschte und ins Bett schlüpfte. Ich ließ die kleine Lampe noch eine Weile an, gab mir dann aber einen Ruck und machte sie ebenfalls aus.

Aufmerksam lauschte ich in die Dunkelheit, aber ich hörte nichts Ungewöhnliches. Zwar kannte ich weder das Haus noch die Geräusche, die es so normalerweise von sich gab, aber ich wusste ja, wie es bei uns gewesen war. Daher vermutete ich, dass es hier ähnlich sein würde, wenn sich doch etwas tun sollte. Ich drehte mich ein wenig hin und her, um eine bequeme Position zu finden. Langsam wurden meine Augen auch träge und ich kuschelte mich tiefer in meine Decke. Vielleicht brachten die Kreuze und Figuren ja tatsächlich etwas. Ich merkte, wie mein Körper immer schwerer wurde und freute mich schon auf den Schlaf, immerhin hatte ich einen langen Tag gehabt.

Ein leises Knarren riss mich aus diesem ruhigen, angenehmen Zustand und meine Augen flogen auf. Automatisch tastete ich zur Seite, um mein Handy zu greifen, bis mir einfiel, dass auf dem Nachttisch hier ja eine Lampe stand. Schnell hatte ich diese auch eingeschaltet und warmes Licht füllte den Raum. Hier war nichts Ungewöhnliches zu sehen und ich überlegte, ob ich mich geirrt hatte. Vielleicht war das Knarren ja auch aus einem nahenden Traum an mein Ohr gedrungen. Ich blieb in die Decke eingewickelt liegen und starrte zur Tür rüber. Nichts tat sich, aber nur wenige Herzschläge später hörte ich erneut etwas. Ein Quietschen dieses Mal. Ich erinnerte mich, dass die Tür des letzten Schlafzimmers quietschte. Marie hatte noch angemerkt, dass sie die Türangeln schon mehrmals geölt hatte, aber das Quietschen kehrte immer wieder sofort zurück. Ich zögerte kurz, dann stand ich auf und huschte zur Tür rüber, um diese abzuschließen. Den Schlüssel zog ich ab und nahm ihn mit zum Bett. Hier wickelte ich mich in die Decke ein und löste den Rosenkranz von dem Bettpfosten, den Marie hier vorhin angebracht hatte.

Wieder hörte ich leise Geräusche, nebenan bewegte sich jemand. Dann knallte etwas und ich fuhr zusammen. Irgendwas war in dem Raum nebenan umgekippt. Ich krallte mich in die Decke und umfasste mit der anderen Hand den Rosenkranz fester. Gläubig war ich nicht wirklich, aber ich war getauft und ich kannte Bruchstücke von dem einen oder anderen Gebet, die mir gerade allesamt durch den Kopf schossen. Wieder knallte es nebenan, dieses Mal klang es jedoch wie eine zufallende Tür. Gleich darauf hörte ich auch Schritte auf dem Flur und hielt den Atem an. Die Tür hatte ich zwar abgeschlossen, aber was half das schon gegen einen Geist? Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete ich, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde. Nichts geschah, natürlich, ich hatte ja abgeschlossen. Aber würde das den Geist abhalten? Ich musste schließlich ausatmen und nach Luft schnappen, gleichzeitig begann jemand oder etwas an der Tür zu rütteln.

"Geh weg, geh weg, geh weg", wisperte ich und presste den Rosenkranz an meine Brust. Ob Marie und Gabriel in ihrem Schlafzimmer hörten, was hier geschah? Nach einigen Sekunden hörte das Rütteln auf und es war für einen Moment herrlich still, dann rumste es, als hätte jemand etwas gegen die Tür geschlagen. Wieder zuckte ich heftig zusammen und rutschte auf dem Bett etwas zurück, doch gleich darauf war es auch bereits still und schließlich hörte ich Schritte, die sich von meiner Tür entfernten. Noch war es jedoch nicht vorbei, ich hörte, wie eine Tür aufgeschlagen wurde, dann knallte wieder etwas. So ging es noch eine ganze Weile weiter und als plötzlich mein Handy klingelte, fuhr ich erschrocken zusammen, musste dann aber leise lachen. Ich war durch diese ganzen Ereignisse wirklich furchtbar schreckhaft. Das Display verriet mir, dass Marie mich anrief und ich meldete mich sofort: "Hey ..."

"Geht es dir gut?" wollte sie sofort wissen.

"Ja, alles in Ordnung. Ich hatte abgeschlossen und etwas hat an der Tür gerüttelt, aber es konnte nicht rein", erklärte ich.

"Wir schließen auch ab", meinte Marie und ich hörte ihr an, wie erschöpft sie klang.

"Es ist still, oder?" fragte ich und einen Moment schwiegen wir beide, während wir lauschten.

"Ja ... scheint so ... Du willst dich doch nicht etwa jetzt umsehen?" hakte Marie nach.

"Warum nicht? Es kann immer was sein", sagte ich und wickelte mich aus der Decke.

"Nein ... Audrey, bleib lieber in deinem Zimmer ... vielleicht ist da noch etwas", sagte Marie und ich hörte deutlich, wie verängstigt sie war. Das war ich auch, aber ich wollte auch nicht alleine hierbleiben.

"Marie, es wird doch nicht besser, wenn wir alles ignorieren", meinte ich. "Und es ist doch nun schon länger still. Ich komm zu euch runter." Ich erhob mich und zog mir eine Strickjacke aus meiner Tasche, die ich noch nicht richtig ausgepackt hatte. Zum Schlafen trug ich wie oft einen kurzen Pyjama, was mir gerade etwas zu kühl war, aber komplett umziehen wollte ich mich nicht. Schnell schlüpfte ich in die Strickjacke, den Rosenkranz hatte ich mir davor über den Kopf gezogen und nun hing er irgendwie beruhigend um meinen Hals. Das Telefonat hatten wir auch beendet und ich ließ mein Handy auf dem Bett liegen, dann ging ich zur Tür rüber und presste mein Ohr kurz an das kühle Holz. Es war nichts zu hören und nachdem ich tief durchgeatmet hatte, schloss ich die Tür so leise wie möglich auf und öffnete sie langsam. Nichts geschah und so huschte ich auf den dunklen Flur. Vielleicht hätte ich mein Handy als Lichtquelle mitnehmen sollen, aber ich wollte jetzt nicht zurückgehen. Außerdem wollte ich auch schlicht keine Angst haben. Ich schloss meine Tür wieder ab, dann huschte ich den dunklen Flur entlang. Trotz der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass die Türen zu den anderen Zimmern offenstanden, und ich war froh, als ich die Treppe erreichte.

Ich hatte es nicht gewagt in die Zimmer zu schauen, wer wusste schon, was mich da erwartete. An der Treppe umklammerte ich fest das Geländer, bevor ich langsam Stufe um Stufe nach unten stieg. Doch auch hier tat sich nichts, keine Geräusche drangen an mein Ohr, keine unsichtbaren Hände schubsten mich. Vor Maries und Gabriels Zimmer blieb ich stehen und klopfte kurz an, während ich gleichzeitig Maries Namen aussprach, damit sie wusste, dass ich es war. Sie öffnete auch sofort und zog mich in das Zimmer rein. Gabriel war ebenfalls wach und kam zu uns rüber, um nach draußen zu lugen.

"Da war gerade nichts mehr", versicherte ich den beiden.

"Ich seh mich mal um", beschloss Gabriel und Marie ließ mich los, um seine Hand zu umklammern.

"Nein ... geh da jetzt nicht raus", bat sie.

"Wir könnten alle zusammen gehen", schlug er vor und ich nickte langsam. Marie sah uns unsicher an und seufzte schließlich.

"Ihr seid verrückt", murmelte sie und fuhr sich durch die Haare. "Okay ... ich komme mit. Ich will nicht allein hierbleiben." Wir verließen das Schlafzimmer und Marie machte erst einmal Licht in dem kleinen Flur. Daran hatte ich oben gar nicht gedacht, dass es ja bei der Treppe einen Lichtschalter gab. Früher hatte ich mich bei solchen Horrorfilmen immer gewundert, warum die Leute durch dunkle Häuser liefen und nicht einfach Licht machten, aber nun stellte ich fest, dass man einfach völlig neben sich stand, wenn man so etwas Übernatürliches erlebte, dass man nicht an solche Kleinigkeiten dachte. Gabriel ging schließlich vor und Marie und ich folgten ihm, wobei wir uns an der Hand hielten. Erst einmal wollte er sich oben umsehen. Schon das erste Zimmer zeigte uns, dass hier nicht nur mit der Tür geknallt worden war. Das Kreuz, welches Marie aufgehängt hatte, war von der Wand gerissen und in eine Ecke geschleudert worden. Dieses Bild zeigte sich uns auch in den anderen Zimmern. Die Statuen lagen zerbrochen auf dem Boden und die Rosenkränze waren zerrissen.

"Was auch immer es ist", begann Gabriel und hob das abgerissene Kreuz eines der Rosenkränze auf, "es scheint diese Dinge nicht zu mögen."

"Offensichtlich", murmelte Marie und umklammerte meine Hand fester. Ich wusste ja, dass sie nicht gläubig war, aber ich sah ihr auch an, dass sie gerade ins Grübeln kam. Sie fragte sich vermutlich, ob an der ganzen Sache mit den Religionen vielleicht doch etwas dran war. Dies hatte ich mich auch gefragt und ich musste zugeben, dass ich mich mit dem Rosenkranz um den Hals sicher fühlte.

"Und es kann wohl auch keine Schlösser magisch öffnen", fiel mir ein. "Es hat wie wild an meiner Tür gerüttelt, aber es kam nicht rein. Dabei dachte ich, Geister könnten auch durch Wände gehen."

"Bei uns ist es auch nicht reingekommen. Aber wir haben es im Wohnzimmer gehört", erklärte Marie und wir gingen weiter, nun wieder nach unten, um uns auch dort in den Räumen umzusehen. Es bot sich das gleiche Bild wie oben: die Kreuze, Rosenkränze und Figuren waren von ihren Plätzen gefegt und zerstört, alles andere sah völlig normal und intakt aus. Gabriel rieb sich übers Gesicht.

"Keine Ahnung, was wir machen sollen", seufzte er auf. "Ich bin schon soweit, dass ich einen Exorzisten rufen würde."

"Wenn die Kreuze schon nichts bringen, was soll dann ein Exorzist bringen?" fragte Marie mit erschöpfter Stimme.

"Einen Versuch ist es doch sicher wert", meinte Gabriel.

"Die Kreuze waren auch ein Versuch und sind gescheitert", stellte Marie fest. "Ich will doch auch nur, dass das hier aufhört. Aber das bringt doch alles nichts ..."

"Was sollen wir sonst machen? Ausziehen können wir nicht", sagte Gabriel und Marie nickte mit resignierter Miene.

"Ich weiß", seufzte sie und strich Gabriel sanft über den Arm. "Komm, geh wieder ins Bett. Du musst früh raus und zur Arbeit."

"Ich will euch jetzt nicht allein lassen", widersprach er und legte einen Arm um Marie.

"Schon gut. Wir ..." Marie sah fragend zu mir rüber.

"Wir machen uns Tee und räumen vielleicht etwas auf", schlug ich vor.

"Das klingt gut", stimmte Marie zu und lächelte Gabriel leicht an. "Geh schlafen." Er zögerte noch kurz, dann nickte er.

"In Ordnung. Wenn etwas ist, dann weckt mich", sagte er und gab Marie einen kurzen Kuss. "Gute Nacht." Er ließ uns allein im Wohnzimmer, aber wir gingen auch direkt in die Küche und ich setzte Wasser für einen Tee auf, während Marie zwei Tassen und eine Packung mit Kamillentee aus dem Schrank holte.


Kapitel 6


"Irgendwas muss es geben, was wir tun können", sagte ich. Nun, da ich es erneut erlebte, fühlte ich mich nicht mehr so unsicher wie damals in der WG. Vielleicht hätte ich irgendwann mit genügend Abstand zu dem Erlebten doch noch an einen ausgeklügelten Scherz geglaubt, aber da es hier, so weit weg von meiner Heimat, ja erneut passierte, konnte es kein Scherz gewesen sein. Marie hätte mich nie so auf den Arm genommen und eine so gute Schauspielerin war sie nicht, dass sie ihre Angst hätte spielen können. Irgendwas ging hier also vor, etwas Seltsames, Unheimliches. Wir mussten nur noch herausfinden, was los war und warum es Marie und mich traf. Nun, und Carol und Jenny auch, aber die waren immerhin nicht hier und bisher hatten sie auch nichts mehr erlebt, was auch nur im Entferntesten an das erinnerte, was in unserer WG geschehen war.

"Und was?" riss mich Maries Stimme aus meinen Gedanken und ich zuckte mit den Schultern.

"Irgendwas ... Es gibt doch unzählige Foren im Internet. Wir müssen einfach weiter forschen", erklärte ich. "Vielleicht auch Kontakt zu Leuten aufnehmen, die auch so etwas erlebt haben. Oder zumindest sagen, dass sie es erlebt haben."

"Da geraten wir doch sicher nur an Spinner", brummte Marie. "Okay, es mag ja sein, dass es Geister gibt, aber ganz ehrlich ... Die meisten erfinden doch solche Storys nur. Wie sollen wir denn wissen, wer da wirklich schon mal mit Geistern zu tun hatte und wer nur lügt?"

"Das können wir nicht. Aber gar nichts tun geht doch auch nicht", entgegnete ich und Marie seufzte.

"Aber es hilft doch nichts", meinte sie. "Die Kreuze brachten doch auch schon nichts. Und überall heißt es, der Glaube hilft. Man könne die Geister so vertreiben. Aber ich kann nicht an Gott glauben ... Und fang nicht damit an, dass ich auch nicht an Geister geglaubt habe. Hab ich auch nicht, aber jetzt ... passieren hier eben diese Dinge. Daher weiß ich auch, dass da etwas ist. Aber Gott ..."

"Gott hast du noch nicht gesehen und kannst deswegen nicht an ihn glauben?"

"Das trifft es ziemlich gut."

"Diesen Geist hast du auch nicht gesehen, oder?" fragte ich und Marie schnaufte.

"Nein, aber mitbekommen, was er macht", murmelte sie. "Ich kann einfach nicht von heute auf morgen an Gott glauben, tut mir leid. Daher sind auch diese Tipps für mich einfach nur Humbug." Das Wasser kochte und ich füllte erst einmal unsere Tassen. Marie hatte Recht, so einfach konnte man sicher nicht zum Glauben finden. Und es war ja auch nicht gesagt, dass das helfen würde. Ich hatte genügend Einträge von Leuten gelesen, die gläubig waren und dennoch Spuk und unheimliche Ereignisse miterlebt hatten.

"Vielleicht brauchen wir ein Medium oder so", sagte ich schließlich.

"Ein Medium?" wiederholte Marie skeptisch und ich nickte.

"Ja. Immerhin können die mit Geistern reden. Vielleicht kann sie den Geist erreichen und erfahren, was er will", führte ich meine Überlegung aus. "Ich meine, in Filmen ist es doch immer so, dass die Geister irgendwas wollen. Vielleicht wurden sie umgebracht oder so und müssen erlöst werden."

"Hier wurde aber niemand umgebracht", meinte Marie.

"Bist du sicher?" hakte ich nach und Marie zog die Nase kraus.

"Das Haus hat schon immer Gabriels Familie gehört. Seine Tante hat es von seinen Großeltern übernommen. Er wüsste es sicher, wenn in seiner Familie jemand umgebracht worden wäre", erwiderte sie.

"Vielleicht war es davor", gab ich zu bedenken. "So ein Geist kann ja nicht sterben, denke ich mal. Also kann er auch ewig irgendwo spuken. Es gibt doch viele Geschichten über Spukschlösser, wo irgendwelche Geister seit Jahrhunderten herumspuken."

"Und warum passiert erst jetzt so etwas? Gabriel hat hier vorher nie irgendwas in der Art beobachten können", meinte Marie und entfernte ihren Teebeutel. Sie nahm ein Glas Honig und gab einen großzügigen Löffel davon in ihre Tasse. Ich ließ meinen Teebeutel noch etwas drin, naschte aber etwas von dem Honig.

"Ich weiß es nicht", sagte ich schließlich und sah Marie leicht frustriert an. "Wüsste ich es, wären wir vielleicht schon weiter. Es muss irgendwas gewesen sein."

"Ja, aber was? Wir haben doch gar nichts gemacht", wandte Marie ein.

"Ihr habt renoviert", erinnerte ich sie. "Vielleicht hat das den Geist irgendwie geweckt oder so."

"Das ist doch Unsinn ..."

"So wie es Unsinn ist, dass es hier spukt?"

"Audrey ..."

"Nein, ernsthaft. Ich habe auch immer gedacht, Geister und so was wären Blödsinn. So etwas gibt es nicht. Und? Was hat es mir gebracht? Nichts. Es hat dennoch bei uns gespukt", sagte ich. "Warum könnte es dann nicht sein, dass dieser Geist durch etwas geweckt wurde, was ihr gemacht habt? Wie eben die Renovierung. Vielleicht habt ihr etwas entfernt, was ihm wichtig war." Marie seufzte leise auf.

"Ich kann ja gerade mal mit dem Gedanken leben, dass es wohl Geister gibt. Aber dass die auch noch Gefühle haben sollen ... Ich weiß nicht. Das ist alles einfach verrückt, Audrey", gab sie leise von sich und rührte in ihrer Tasse. Ich entfernte nun auch meinen Teebeutel und gab ebenfalls etwas Honig in meinen Tee. "Vor ein paar Wochen war noch alles prima. Wir sind hier eingezogen, haben alles eingerichtet und alles läuft ganz gut. Nicht perfekt, sicher. Das hier ist ein kleiner Ort, ich hab schon mitbekommen, dass ein wenig getuschelt wird, weil Gabriel und ich nicht verheiratet sind. Aber das sind nur Kleinigkeiten. Und plötzlich ... passieren diese Dinge."

"Ich weiß ja noch, wie es bei uns war. So ganz plötzlich aus heiterem Himmel. Und wir wussten ja auch nicht, was los war oder warum das passierte", erklärte ich. "Es war unheimlich und wir wussten alle nicht, was wir tun könnten. Und die ganzen Tipps aus dem Internet sind so vielfältig ... Der eine schwört auf Kreuze, der nächste auf Gebete, der dritte auf Schamanen und noch einer auf Exorzisten. Mehr als ausprobieren kann man da nicht, denke ich. Vielleicht findet man etwas, was hilft." Ich sah meine Freundin ernst an. "Aber dazu muss man sich informieren und offen sein und nicht einfach alles von vornherein ablehnen."

"Ich will doch einfach nur, dass es aufhört ..." Marie rieb sich über das Gesicht. "Ich will mit diesem Kram nichts zu tun haben."

"Das will wohl kaum jemand." Ich nahm einen Schluck von meinem Tee und blickte mich in der Küche rum. Das Kreuz, welches Marie hier aufgehängt hatte, lag am Boden und ich erhob mich, um es aufzuheben. Der Haken zum Aufhängen war noch intakt, auch der Nagel an der Wand war noch da, daher hing ich das Kreuz direkt wieder auf. Als ich mich wieder setzen wollte, knallte es hinter mir und ich fuhr herum. Das Kreuz lag auf dem Boden und mein erster Gedanke war, dass ich es nicht richtig befestigt hatte, aber dann sah ich, wie sich der Nagel aus der Wand drehte. Marie war aufgesprungen und ihre weit aufgerissenen Augen verrieten ihre Panik, doch sie rührte sich nicht. Vermutlich war sie, wie es so schön hieß, vor Schreck erstarrt. Der Nagel fiel aus der Wand und landete mit einem leisen Klirren auf dem Boden, wo er etwas davonsprang, bevor er schließlich still liegen blieb. Marie atmete scharf aus und auch ich holte erst einmal wieder Luft. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich sie angehalten hatte.

"Das ... ist das erste Mal, dass ich das live mitbekomme", murmelte Marie und starrte weiterhin auf den Nagel. "Sonst hab ich nur was gehört ... oder eben gesehen, dass etwas woanders stand. Ich hab vorher noch nie gesehen ..." Sie brach ab und sackte wieder auf ihren Stuhl.

"Wir suchen weiter", sagte ich entschlossen. "Und wenn wir alles gleichzeitig machen, was es da an Tipps gibt. Irgendwie beenden wir das hier schon." Bei uns in der WG hatte zwar auch nichts geklappt, Jenny und Carol hatten ja ein paar Sachen ausprobiert, aber letztlich hatte uns der Spuk wenigstens nicht verfolgt, als wir ausgezogen waren. Und es sah bisher so aus, dass es auch nicht mehr in dem Haus spukte. Vielleicht war es so, wie ich es ja zuvor zu Marie gesagt hatte: Vielleicht hatte den Geist etwas gestört. Es konnte ja sein, dass er eine von uns nicht gemocht hatte oder dass Maries Geist sauer war, weil sie beim Renovieren etwas weggeworfen hatte, was ihm wichtig war.

"Mir fällt grad ein, dass Gabriels Großmutter hier in diesem Haus gestorben ist", sagte Marie ein wenig zögernd. "Ich hatte gar nicht mehr dran gedacht, weil sie eigentlich in Sandersons Bay gelebt hat. Aber sie hatte hier ihre Tochter besucht und bekam an einem Abend einen Herzinfarkt." Sie runzelte leicht die Stirn. "Aber sie war sehr gläubig und würde doch keine Kreuze von der Wand werfen."

"Vielleicht gerade weil sie so gläubig war. Vielleicht ist sie enttäuscht, dass es sie als Geist hier hält oder so", überlegte ich und ging auf die Tür zum Wohnzimmer zu.

"Wo willst du hin?"

"Unsere Laptops holen. Wir können uns genauso gut jetzt weiter im Internet umsehen und nach Tipps suchen", schlug ich vor.

"Oh ... okay. Ich mach uns eine Kanne Tee. Wir könnten uns eigentlich dann auch ins Wohnzimmer setzen, da ist es bequemer", meinte Marie und füllte den Wasserkocher neu auf, bevor sie ihn schließlich anstellte.

"Klingt gut", stimmte ich zu. Meine Müdigkeit war verflogen, ich konnte ja nachher auch noch schlafen. Ich ging ins Wohnzimmer rüber und schaltete unsere Laptops ein, dann stellte ich das umgeworfene Kreuz wieder ordentlich auf. Fast erwartete ich, dass es wieder umgeworfen wurde, aber nichts geschah. Ich trug noch immer den Rosenkranz und betrachtete kurz die hellen Perlen und das silberne Kreuz, das an der Kette hing. Ob das wohl echte Perlen waren? Mit solchen Dingen kannte ich mich nicht aus, auch nicht mit solch religiösen Symbolen, aber ich hoffte, dass der Rosenkranz mir einen gewissen Schutz bot. Daher beschloss ich auch ihn einfach weiter um den Hals zu tragen. Schaden konnte es ja auch nicht. Während ich auf Marie wartete, meldete ich mich an meinem Laptop an und öffnete den Internetbrowser, um schon mal auf eine der Seiten zu gehen, die wir uns gestern schon angesehen hatten. Als ich Schritte hörte, blickte ich hoch, da ich dachte, es sei Marie.

Doch dort stand eine mir fremde Frau.


Kapitel 7


Im ersten Moment konnte ich die Frau nur völlig irritiert anstarren. Sie stand einfach nur da und erwiderte meinen Blick. Ihr blondes Haar war zu einem Dutt gebunden und die helle Bluse und der dunkle Rock ließen sie wie eine altmodische Lehrerin aussehen. Wer war das und wieso kam sie mitten in der Nacht hierher? Die Frau lächelte, doch ihr Lächeln wandelte sich mehr und mehr zu einem höhnischen Grinsen ...

Und dann war sie verschwunden.

Ich riss die Augen auf und umklammerte den Rosenkranz. Der Geist! Diese Frau war der Geist, der hier spukte! Sie musste es sein, niemand verschwand einfach so, wie sie es gerade getan hatte. Und ich war mir auch ziemlich sicher, dass ich keine Halluzinationen hatte, dafür war die Frau einfach zu genau und detailliert gewesen. Krächzend versuchte ich nach Marie zu rufen, bekam aber einfach kein Wort über die Lippen. Aber meine Freundin kam dann auch schon mit einem Tablett ins Wohnzimmer und sah mich fragend an. Ich konnte nur raten, wie ich auf sie wirken musste mit weit aufgerissenen Augen und dem offen stehenden Mund.

"Audrey ...?"

"Da war eine Frau", sprudelte es plötzlich aus mir heraus, wobei meine Stimme einen peinlich quietschenden Ton aufwies. "Sie stand einfach da ... und war plötzlich weg ..."

"Was ...?" Marie sah mich erschrocken an, bevor sie sich beunruhigt umsah und dann erst einmal das Tablett auf dem Wohnzimmertisch abstellte. "Was für eine Frau? Wir haben doch alles abgeschlossen!"

"Es war der Geist, Marie. Ganz sicher! So wie sie auf einmal weg war ..." Ich atmete tief durch und rief mir die Frau in Erinnerung. "Sie sah so normal aus ... aber dann ist sie einfach so verschwunden. Und dieses Grinsen ..."

"Der Geist", wiederholte Marie tonlos und sah mich an, als fürchte sie, ich würde nun völlig durchdrehen. Ich seufzte.

"Marie ... wenn ich es dir doch sage, sie ist einfach so verschwunden. Was soll das sonst gewesen sein als der Geist?" fragte ich.

"Okay ... gut. Warum nicht? Wenn es spukt, kann es wohl auch passieren, dass der Geist sich mal zeigt", meinte Marie mit resignierter Stimme und setzte sich zu mir. "Hat sie etwas gemacht? Oder was gesagt?"

"Nein, sie stand nur da und dann hat sie gelächelt und schließlich so komisch gegrinst. So höhnisch. Als würde sie uns auslachen", erzählte ich. "Und dann war sie einfach weg. Eben stand sie da und dann ... nichts mehr."

"Und ... du bist wirklich sicher, dass du sie gesehen hast?" hakte Marie nach. "Es ist spät, wir haben doch kaum geschlafen. Da bildet man sich schnell was ein."

"Ich bin mir ganz sicher, Marie. Ich habe mir diese Frau nicht eingebildet", entgegnete ich mit fester Stimme. "Du weißt, dass ich auch nie an Geister oder so was geglaubt hab. Aber alles, was passiert ist ... Da kann ich doch nicht mehr die Augen verschließen, dass es eben doch so etwas gibt."

"Es fällt mir einfach dennoch schwer", gab Marie zu und zog die Beine an. "Ich will das alles einfach nicht mehr."

"Ich doch auch nicht", sagte ich. "Aber das scheint leider nichts zu bringen. Hier ..." Ich reichte ihr ihren Laptop und nahm mir meinen. "Wir wollten doch weitersuchen." Sie nickte bloß und startete ihren Laptop. Meiner war wieder ausgegangen, aber ich störte mich nicht weiter daran, sondern steckte ihn an das Netzkabel und schaltete ihn wieder ein. In meiner alten WG war das auch öfter passiert, dass elektrische Geräte einfach von selbst an und wieder aus gegangen waren. Das passte zu dem, was ich so im Internet gefunden hatte. Geister schienen gerne elektrische Geräte zu stören. Dann fiel mir etwas ein und ich blickte fragend zu meiner Freundin. "Habt ihr eigentlich Fotoalben hier?"

"Wir haben unsere Fotos alle auf dem Laptop", erwiderte Marie leicht verwundert.

"Ich mein nicht Fotos von euch, sondern Familienfotos. Also von Gabriels Familie, die hier gelebt hat", erklärte ich und Marie legte die Stirn in Falten.

"Ja, seine Tante hat einige Alben hiergelassen. Warum fragst du?"

"Na ja ... vielleicht ist diese Frau ja jemand aus seiner Familie."

"Hmm ..." Marie sah mich skeptisch an und seufzte schließlich. "Vielleicht ... Aber die Alben sind im Keller und da will ich jetzt ehrlich gesagt nicht hin."

"Ich kann auch gehen", bot ich an.

"Willst du das wirklich? Ich finde es hier schon unheimlich", meinte Marie.

"Ich auch", gab ich zu. "Aber dennoch ... Ich bin neugierig, Marie."

"Okay, okay ..." Sie erhob sich und ich folgte ihr nach hinten zu der Treppe, die nach oben führte. Hier war eine versteckte Tür, die ich zuvor gar nicht bemerkt hatte. "Hier geht es runter", sagte Marie und nahm einen Schlüssel, der an der Unterseite der Treppe hing. Sie schloss die Tür auf und betätigte einen Lichtschalter. Eine schmale Holztreppe wurde sichtbar, die in die Tiefe führte. "Wenn du unten bist, sind die Regale mit den alten Alben gegenüber der Treppe."

"Gut, bis gleich ..." Ganz wohl war mir auch nicht jetzt allein in den Keller zu gehen, aber es brannte Licht, Marie war hier oben und der Spuk hatte ja bisher überall im Haus stattgefunden, also würde es im Keller nun auch nicht schlimmer sein als irgendwo anders. Die Treppe knarrte gelegentlich unter mir und ich beeilte mich auch nach unten zu kommen. An den Wänden standen hier überall Regale und es gab ein paar Möbel, die mit Tüchern verdeckt waren. Gegenüber der Treppe, hatte Marie gesagt, daher trat ich an diese Regale heran und betrachtete die Kisten und Kartons, die hier drinstanden. Sie waren beschriftet, was es mir erleichterte den richtigen Karton zu finden. Ich nahm ihn an mich und sah mich kurz um. Der Kellerraum war groß, reichte aber sicher nicht über die gesamte Größe des Hauses, und er wirkte auch nicht annähernd so unheimlich, wie es die Keller in Filmen immer taten. Ich schüttelte mit einem leichten Schmunzeln den Kopf und huschte rasch wieder nach oben, wo Marie mich an der Tür erwartete. "So, da bin ich auch wieder ..."

"Prima." Marie schaltete das Licht ab und schloss die Tür ab. Gemeinsam kehrten wir ins Wohnzimmer zurück und setzten uns aufs Sofa. Dann nahm ich mir das erste Album und begann zu blättern, während Marie sich ihrem Laptop widmete. Allerdings hatte ich kein Glück, bis auf Gabriel als Jugendlichen erkannte ich niemanden auf den Bildern. Die Frau mit dem blonden Haar war nirgendwo mit drauf. Auch bei den nächsten Alben hatte ich kein Glück. Langsam merkte ich, wie müde ich war, und ein Blick zur Seite verriet mir, dass Marie neben mir eingedöst war. Gähnend packte ich das Album wieder in den Karton, mit dem ich gerade durch war, und berührte Marie vorsichtig am Arm.

"Hey ... wir sollten schlafen gehen", murmelte ich und sie blinzelte mich schläfrig an.

"Hmmhm ..." Träge erhob sie sich und schob ihren Laptop beiseite. Ich stellte meinen daneben, dann folgte ich Marie. Vor ihrer Schlafzimmertür verabschiedeten wir uns und ich huschte nach oben. Das Licht schaltete ich nur ungern aus, aber brennen lassen wollte ich es auch nicht. In meinem Zimmer sah alles aus wie vorher und ich schloss hinter mir erleichtert ab, um anschließend ins Bett zu schlüpfen. Hoffentlich blieb es jetzt ruhig und wir konnten ein wenig schlafen. Ich brauchte nicht lange, um einzuschlafen, nach all den Ereignissen und dem langen Tag wohl auch kein Wunder. Wenigstens blieb ich von Träumen verschont.


Kapitel 8



Ich erwachte erst gegen elf Uhr und das erste, was ich hörte, war leise Musik. Mein Handy war an und spielte eine meiner Hörlisten ab. Ich atmete tief durch und stellte dann erst einmal das Handy aus, bevor ich mich aufrichtete. Dabei fiel mir auf, dass die Tür weit offenstand, obwohl ich sie doch gestern abgeschlossen hatte.

"Witzig", sagte ich laut in den Raum. "Sehr witzig." Ich stand auf und nahm meine Kleidung, um danach ins Bad zu gehen und kurz zu duschen. Es blieb ruhig, worüber ich sehr erleichtert war, dennoch beeilte ich mich. Meine Haare rubbelte ich nur kurz mit einem Handtuch trocken, sie konnten auch an der Luft trocknen. Ungeschminkt, noch immer etwas müde und verdammt hungrig ging ich schließlich nach unten. Marie war in der Küche und holte gerade einen Kuchen aus dem Ofen. Schokolade, wenn mich meine Nase nicht täuschte. "Guten Morgen."

"Guten Morgen." Sie grinste mich schief an und stellte das Backblech vorsichtig ab. "Ich konnte vorhin nicht mehr schlafen und ... brauchte etwas zu tun."

"Hast du wieder etwas gehört?" fragte ich und sie nickte.

"Aber nur kurz und diesmal kam es von draußen. Es hätte also auch der Wind sein können. Ein Stuhl ist umgefallen", antwortete sie.

"Bei mir ist auch was passiert", eröffnete ich. "Mein Handy lief und die Tür stand weit offen. Ich hatte sie abgeschlossen."

"Ja, das hab ich schon ein paar Mal beobachtet", meinte sie. "Aber hier im Haus hab ich nichts gehört. Ich hatte gehofft ..." Sie zuckte mit den Schultern. "Möchtest du etwas essen? Du hast doch sicher Hunger."

"Hab ich", gab ich zu und wir machten uns rasch ein paar Toasts fertig. Während ich mich an Käse hielt, gab Marie dick Marmelade und Honig auf ihre Brote. Kaffee und Tee hatte sie schon vorher gekocht und in schicke, hellgrüne Thermoskannen umgefüllt, die mich prompt an Frühling und Ostern denken ließen. Marie hatte schon immer eine große Vorliebe für so frische, helle Farben gehabt. Während wir aßen, unterhielten wir uns über Verschiedenes.

"Wir können auch gerne gleich einkaufen gehen", schlug Marie vor. "Dann kannst du auch Gabriels Laden sehen. Aber erwarte bloß keinen großen Supermarkt."

"Ich glaube, ich bin dran vorbei gekommen", erinnerte ich mich. "Glaydons? Kann das sein? Da war so ein Geschäft an der Hauptstraße."

"Ja, genau, der ist das. Sein Onkel und seine Tante hatten den Laden ja damals schon geerbt, er gehörte früher Gabriels Großvater und Großonkel", erzählte Marie. "Seine beiden Cousins wollten ihn nicht übernehmen und da hat seine Tante ihn jetzt einfach Gabriel übergeben."

"Also ein richtiger Familienbetrieb", stellte ich fest.

"Ja. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es wirklich noch lange so weiter gehen wird", seufzte Marie. Fragend sah ich sie an, sprechen konnte ich gerade nicht, da ich eben erst in meinen Toast gebissen hatte. Sie zuckte leicht mit den Schultern. "Na ja, auch wenn Gabriel und ich Kinder kriegen sollten, heißt es ja nicht, dass die später auch den Laden übernehmen wollen. Verübeln würde ich es ihnen ja nicht. Das ist hier ja nun wirklich kein toller, großer Ort." Ein verlegenes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. "Es gefällt mir hier, es ist angenehm und ruhig ... na ja, bis auf das hier im Haus. Aber ... du kannst dir vorstellen, groß Karriere kann man hier nicht machen." Ich nickte ihr zu.

"Ja, das glaub ich dir", meinte ich. Das Wort Kaff sparte ich mir, aber genau das war dieser Ort eigentlich. Ein kleines, verstecktes Kaff. Selbst der nächste Ort, Sandersons Bay, war nichts anderes als ein etwas größeres Kaff. Dass Gabriels Cousins lieber etwas anderes machen wollten als einen alten Laden weiterzuführen, konnte ich durchaus verstehen. Wäre ich hier aufgewachsen, wäre ich wohl auch direkt nach der Schule zum Studieren weggezogen und würde nur noch für Familienbesuche hierherkommen. Wir leerten unsere Teller und räumten schließlich auf. Der Kuchen war mittlerweile genügend ausgekühlt, dass wir uns ein kleines Stück gönnten, bevor wir letztlich unsere Taschen nahmen und das Haus verließen. Dieses Mal nahmen wir Maries Wagen, da sie keine Lust hatte die Einkäufe hinterher zu Fuß nach Hause zu schleppen.

Der Weg war nicht weit mit dem Wagen und Marie parkte auf dem kleinen Parkplatz neben dem Laden. Ich folgte ihr in das Geschäft und stellte als erstes einmal fest, dass es hier keine Einkaufswagen, sondern bloß Körbe gab. Marie nahm sich einen davon und hing ihn sich über den Arm, dann führte sie mich die schmalen Gänge entlang, die mir verrieten, warum es keine Einkaufswagen gab. Kamen sich hier zwei Wagen entgegen, wären sie nicht aneinander vorbeigekommen. Da war es mit einem Korb einfacher. Der Laden war ansonsten wie ein kleiner Supermarkt aufgebaut, auch wenn die Auswahl geringer war. Exotische Lebensmittel suchte man hier vergeblich, dafür waren Käse und Wurst frisch.

"Alles vom örtlichen Schlachter und den Bauernhöfen um Willows Lake herum", erklärte Marie und lächelte leicht. "Wenn es weg ist, ist es weg. Wir haben keine große Lagerhalle, wo der Nachschub wartet."

"Irgendwie ist das cool", meinte ich und beobachtete Marie, die munter ihren Korb belud. Das Regal mit den Marmeladen und dem Honig war enttäuschend, es gab nur die Standardsorten wie Erdbeere, Kirsche und Pflaume, beim Honig konnte man wählen zwischen Blütenhonig und Waldhonig.

"Das ist weniger cool, oder?" Marie lachte leise. "Aber andere Sorten laufen einfach nicht. Also bestellt Gabriel die auch gar nicht. Wenn ich mal Lust auf was anderes habe, fahre ich nach Sandersons Bay."

"Das muss ein wenig ätzend sein", stellte ich fest und sie nickte.

"Schon ein wenig. Früher hab ich mich aufs Rad gesetzt und war nach zehn Minuten im Supermarkt und hab alles bekommen", brummte sie und ihr Gesicht bekam einen träumerischen Ausdruck. "Einfach mal eben Kokosmilch und Zitronengras für ein Curry holen war da kein Problem. Aber hier ..." Sie seufzte und zuckte mit den Schultern. "Das ist halt ein Nachteil. Aber ansonsten finde ich es toll hier. Bis auf ..."

" ... euren speziellen Gast", fuhr ich Maries nicht beendeten Satz leise fort und sie nickte mir zu. "Kann ich verstehen. Der würde mich auch nicht freuen. Hat er ja auch nicht." Wir bogen in einen neuen Gang ein, in dem es Süßigkeiten und Gebäck gab, und während Marie weiter Waren in ihren Korb lud, stockte ich mitten im Schritt.

Das konnte doch nicht wahr sein!

Am Ende des Ganges stand die blonde Geisterfrau aus Maries Haus und schaute sich die kleine Auswahl an Fruchtgummi an. War sie uns gefolgt? Spukte sie etwa auch in Gabriels Laden? Ich blinzelte ein paar Mal, aber das Bild blieb. Die Frau stand immer noch da. Sie trug wieder Rock und Bluse, diesmal mit einem dezenten Blumenmuster, dazu einen violetten Schal und einen beigen Wollmantel. Ihr blondes Haar hing zu einem festen Zopf geflochten über ihren Rücken bis zur Hüfte. Ob Marie sie wohl auch sehen konnte? Fragend schaute ich zu ihr und bemerkte ihren irritierten Blick.

"Starr nicht so, das ist unhöflich und hier wird schnell getuschelt", murmelte sie mit gesenkter Stimme.

"Du siehst sie?" entfuhr es mir und Marie sah mich fragend an.

"Falls du die Frau bei den Gummibärchen meinst, ja, klar", antwortete sie leise und packte Butterkekse in ihren Korb. Die Frau drehte sich um und verließ den Gang. Ich drückte leicht Maries Hand.

"Marie!" flüsterte ich eindringlich. "Das war die Frau, die ich bei euch im Haus gesehen habe!" Verwirrt sah Marie mich an und sah dann zurück zu der Stelle, wo die Frau gestanden hatte, um danach wieder mich mit gerunzelter Stirn anzuschauen.

"Ich weiß zwar nicht, wie sie heißt, aber sie ist die Cousine vom Grundschuldirektor. Sie ist garantiert kein Geist", erklärte sie mit immer noch leiser Stimme.

"Aber sie war es. Ich irre mich nicht", sagte ich entschieden und ging zum Ende des Ganges, um nach der Blonden zu schauen, aber ich entdeckte sie nicht. Vielleicht hatte sie uns gesehen und den Laden nun verlassen. Marie folgte mir und sah mich skeptisch an.

"Also, davon hätten wir gehört, wäre sie gestorben", meinte sie.

"Vielleicht ... liegt sie im Koma? Ach, keine Ahnung, aber auf jeden Fall sieht sie genauso aus wie die Frau, die ich bei euch gesehen habe", erklärte ich. Wir gingen zur Kasse weiter, wo Gabriel saß und uns munter entgegenblickte.

"Hey, ihr beiden", begrüßte er uns und zog eine Karte über seinen Scanner, bevor er anfing die Waren aus Maries Korb zu kassieren. "Wie geht es euch?"

"Ganz okay", antwortete Marie. "War grad die Cousine von Mr. Melton hier?"

"Ja, sie hat mal wieder Fruchtgummi gekauft", erzählte Gabriel und sah uns fragend an. "Wieso fragst du?"

"Audrey hat heute Nacht ... jemanden bei uns gesehen", murmelte Marie.

"Und sie sah aus wie diese Frau", fügte ich leise hinzu. Gabriel runzelte leicht die Stirn, die Packung Kekse in seiner Hand für den Moment vergessen.

"Vielleicht war sie noch spät mit dem Hund raus", sagte er schließlich und fuhr mit dem Kassieren fort.

"Sie war im Haus", betonte ich. "Nicht vor dem Haus oder im Garten oder so. Im Haus. Im Wohnzimmer, einfach so. Und sie ist einfach so verschwunden."

"Wieso ...?" Gabriel brach ab und schüttelte mit einem leisen Seufzen den Kopf. "Wir können später darüber reden, okay?" Marie und ich nickten nur und er kassierte auch die restlichen Sachen ab, während wir bereits anfingen einzupacken. Mir ging aber die Sache mit der blonden Frau nicht aus dem Kopf. Sie war es gewesen - oder eben eine Frau, die aussah wie sie. Vielleicht hatte sie eine Zwillingsschwester, die verstorben war? Wenn wir zurück im Haus waren, würde ich Marie über sie ausfragen.



Kapitel 9



"Ich sag doch, ich kenn sie gar nicht wirklich", wiederholte Marie und zog die Nase kraus. Die Einkäufe waren verstaut und wir saßen mit Tee im Wohnzimmer, unsere Laptops wieder eingeschaltet, aber noch unbenutzt. "Sie ist die Cousine von Mr. Melton, dem Grundschuldirektor. Ich weiß ja nicht mal mehr, wie sie heißt. Was ich weiß, ist, dass sie schon ein paar Jahre hier lebt, sie macht den Haushalt für ihn, seit seine Frau bei einem Autounfall gestorben ist." Ich brummte leise und tippte mit einem Finger an den Rand meiner Tasse.

"Aber sie war es", beharrte ich. Ich hatte sie schließlich genau gesehen und ich war mir absolut sicher, dass ich mich nicht irrte und sie auch nicht verwechselte. Die langen blonden Haare und ihr Gesicht hatten sich mir einfach in die Erinnerung eingebrannt.

"Okay ... Aber wenn wir sagen, dass es hier spukt, dann müsste sie ein Geist sein. Und dafür müsste sie tot sein. Und wäre sie gestorben, hätten wir das erfahren", meinte Marie und stellte ihre Tasse ab. "Ich glaube dir ja, dass die Frau so ausgesehen hat. Aber es kann nicht Mr. Meltons Cousine gewesen sein."

"Vielleicht ... ist sie krank und hat öfter Nahtoderfahrungen. Und dabei spukt sie dann hier herum", überlegte ich und Marie hob eine Augenbraue.

"Warum sollte sie hier herumspuken? Wir kennen sie doch gar nicht. Wir haben auch keine Kinder, die zur Grundschule gehen und sie oder Mr. Melton geärgert haben, dass sie sich irgendwie rächen wollte oder so", entgegnete sie.

"Keine Ahnung", brummte ich und schnitt Marie eine Grimasse. "Ich überlege doch auch nur vor mich hin. Wobei ich noch nirgendwo gelesen hab, dass die Leute bei diesen Nahtoderfahrungen anfangen zu spuken." Marie nahm ihren Laptop und rief eine der Seiten auf, die wir seit meiner Ankunft hier schon einige Male durchforstet hatten.

"Hier ... schau mal, hier steht was über Poltergeistaktivitäten. Eine Theorie ist, dass das gar nicht echte Geister sind, sondern es durch die Psyche einer Person ausgelöst wird", fasste sie den Eintrag zusammen, den sie mir nun zeigte. Sie runzelte die Stirn und sah mich nachdenklich an. "Vielleicht lösen wir es selber irgendwie aus. Durch Stress oder Ängste oder so."

"Hmm ..." Ich erwiderte ihren Blick. Ganz abwegig klang es nicht, was sie erzählte. Immerhin war ich durch mein Studium massig im Stress gewesen und war es auch noch immer, genau wie Marie mit ihrem Umzug hierher im Stress gewesen war. Dann jedoch fielen mir die Ereignisse in meiner alten WG wieder ein und ich schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht, dass es an uns liegt ... In meiner WG sind auch Sachen passiert, wenn ich nicht da war", erklärte ich und Maries Stirnrunzeln vertiefte sich.

"Oh ... na ja, war auch nur eine Idee", meinte sie schließlich und lächelte schief. "Und ich muss zugeben, es ist mir auch lieber, wenn es nicht an uns liegt. Auch wenn mir die andere Variante auch nicht gefällt ..." Ein Seufzen verließ ihre Lippen und sie lehnte sich zurück. "Ich meine ... Das heißt dann ja, dass jemand gestorben ist und uns so sehr hasst oder so wütend auf uns ist, dass er uns als Geist heimsucht. Zumindest, wenn man nach diesen Seiten geht." Sie nickte in Richtung der Laptops und ich nickte.

"Ja, entweder das oder derjenige hat noch etwas zu klären. Allerdings kenne ich niemanden, der verstorben ist. Meine Großmutter wird es kaum sein und der Cousin meines Vaters wohl auch nicht", sagte ich. Beide hatte ich kaum gekannt, eigentlich so gut wie gar nicht. Sie waren verstorben, als ich noch sehr jung gewesen war.

"Ich auch nicht. Na ja ... als wir noch in der Grundschule waren, ist eine Nachbarin von uns verstorben", erinnerte Marie sich. "Aber sie war auch schon fast hundert Jahre alt und eigentlich total nett. Sie wird kaum jetzt noch herumspuken."

"Ach ja ... die alte Lady mit dem Pudel ..."

"Ja, genau. Und sie wird es wohl kaum sein. Sie sieht Mr. Meltons Cousine ja nicht mal ähnlich."

"Nein, wirklich nicht." Ich hatte nur noch ein verschwommenes Bild der alten Frau vor meinem geistigen Auge, aber sie war deutlich älter gewesen, hatte schneeweiße, sehr kurze Haare gehabt und immer ein schwarzes Kleid mit weißem Spitzenkragen getragen. Also wirklich ganz anders als die Blonde. "Wo wohnt dieser Mr. Melton denn?"

"Willst du etwa da hin?" Marie sah mich überrascht an. "Und dann? Willst du klingeln und sie fragen, ob sie hier spukt?"

"Eher nicht ... Da sagt sie sicher eh nicht die Wahrheit. Ich meine ... Wenn sie hier spukt, hat sie Gründe dafür, und will offensichtlich nicht drüber reden, denn sonst täte sie das doch und würde nicht spuken." Marie blinzelte etwas irritiert und ich grinste schief. "Okay, klang komisch, ich weiß ..."

"Allerdings." Marie lachte leise auf, bevor sie wieder ernst wurde. "Aber wir kommen so doch auch nicht weiter. Egal wie viel wir lesen oder grübeln oder auch wenn wir zu Mr. Melton gehen ... Das bringt doch alles nichts." Sie atmete tief durch. "Ich habe mir überlegt ein Medium anzurufen. Ich weiß, dass es verrückt ist. Da gibt es bestimmt viele Scharlatane. Aber ... ich weiß einfach nicht weiter, Audrey."

"Einen Versuch ist es wahrscheinlich wert", stimmte ich zu und gleichzeitig griffen wir nach unseren Laptops, im selben Moment gab es einen heftigen Knall und wir fuhren beide zusammen.

"Das kam aus der Küche ...", gab Marie mit leiser Stimme und fahler Miene von sich. Zögernd erhoben wir uns und gingen gemeinsam auf die Küche zu. So ganz traute sich aber keine von uns die Tür zu öffnen, um nach dem Rechten zu sehen. Es knallte erneut und wir zuckten zurück. Marie krallte sich in meinen Arm, während ich das Kruzifix fest umklammerte, welches ich immer noch trug. Gläubig war ich immer noch nicht, aber es half vielleicht. Hoffentlich.

"Wir ... könnten es einfach ignorieren", schlug ich krächzend vor.

"Vielleicht ... hilft es", murmelte Marie, doch sie klang wenig überzeugt. Wieder gab es einen lauten Knall aus der Küche, aber wir gingen zum Sofa zurück und setzten uns.

"Also ... ein Medium", setzte ich da an, wo wir vor dem ersten Knall aufgehört hatten und öffnete das Internetprogramm. "Hast du schon wen?"

"Nein. Aber es sollte sich jemand finden lassen." Auch davon klang Marie nicht ganz überzeugt, aber ich konnte ihre Zweifel durchaus verstehen. Ganz offensichtlich gab es ja Geister, also würde es wohl auch echte Medien geben, die mit ihnen sprechen oder sie sonst wie wahrnehmen konnten, aber unter all den Scharlatanen ein echtes Medium zu finden würde sicher schwer werden. Wir fingen beide an zu suchen und beschränkten uns erst einmal auf die nähere Umgebung, doch da gab es keine Treffer. In den größeren Städten gab es jedoch mehr als genug Auswahl. Medium, Geistheiler, Schamanen und weitere Treffer wurden uns beiden aufgezeigt und wir klickten uns durch die Seiten. Es gab so einige, die anboten Kontakt zu Geistern aufzunehmen, aber alle wollten Vorkasse oder verlangten einen Zuschlag für Hausbesuche.

"Das wird teuer", stellte ich schließlich fest und Marie schnaufte.

"Ja ... Und dann haben wir nicht mal Gewissheit, dass es nicht ein Lügner ist", meinte sie und rief eine weitere Seite auf. "Geistheilerin Lorana. Ich nehme für Sie Kontakt zu Ihrem Schutzengel auf, heile Sie von schädlichen Einflüssen und wecke Ihre geistigen Fähigkeiten", las sie vor und seufzte tief. "Da finde ich doch nie jemanden."

"Hmm, Geistheiler können wir wohl einfach komplett ausschließen", überlegte ich und änderte meine Suchbegriffe. Es gab einige neue Ergebnisse und ich klickte mich wieder durch die Seiten. Schließlich fanden wir einige, die in die nähere Auswahl kamen, und nach einer Weile nahm Marie ihr Handy und rief die Leute an, während ich wieder auf eine der Seiten ging, die sich mit Geistern und Übernatürlichem beschäftigten. Dabei fiel mir auf, dass es ruhig geblieben war. Vielleicht hatte es wirklich geholfen, dass wir den Geist einfach ignoriert hatten. Schließlich erhob ich mich und ging in die Küche, um Tee zu kochen. Zumindest war das mein Plan, aber ich entdeckte auch sofort, dass sowohl der Wasserkocher als auch die Kaffeemaschine völlig zerbeult am Boden lagen. Es hatte drei Mal geknallt, erinnerte ich mich, und sah mich um. Das Kreuz, welches Marie erneut aufgehängt hatte, lag in zwei Teile gebrochen in einer Ecke und ich ging rüber, um es hoch zu heben. Da hatte das wohl gar nichts gebracht. Ich tastete nach dem Kruzifix, das um meinen Hals hing. Vermutlich half das genauso wenig. Dennoch ließ ich es, wo es war, ich fühlte mich tatsächlich einfach wohler damit.



Kapitel 10



"Nun ... dann würde ich mir jetzt gerne einmal das Haus ansehen." Marie nickte und erhob sich. Sie hatte gestern noch ein Medium gefunden, Julie Myer. Julie war jung und sie wirkte irgendwie völlig ... normal. Sie trug keine wallenden Gewänder oder mystisch anmutenden Schmuck, wie wir es auf einigen Webseiten bei selbst ernannten Hexen und Schamanen gesehen hatte. Ganz im Gegenteil - Julie steckte in engen Jeans, schicken Stiefeln und einem modischen Oberteil und hätte sich auch auf dem Weg zu einer Party befinden können. Sie hatte uns gleich das Du angeboten und Marie und mir aufmerksam zugehört und sich gelegentlich ein paar Notizen auf ihrem abgegriffenen Notizblock gemacht.

"Es gibt zwei Stockwerke und einen Keller", erklärte Marie. "Aber im Keller passiert kaum mal etwas."

"Manche Geister halten sich lieber dort auf, wo auch Menschen sind. Wenn ihr den Keller kaum nutzt, hat er keinen Reiz für sie", meinte Julie. Marie führte uns zunächst im Erdgeschoss herum, danach folgten der Keller und das Obergeschoss und Julie hielt in jedem Raum kurz inne. Schließlich kehrten wir ins Wohnzimmer zurück und setzten uns. Julie hatte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck und sah Marie und mich ernst an.

"Was ist los?" fragte Marie unsicher und Julie seufzte.

"Also ... ich glaube euch, dass hier ... etwas passiert", begann sie und fuhr sich durch die Haare. "Aber was es auch ist, es ist kein Geist. Ich spüre keine Nachwirkungen eines Geistes." Irritiert sahen wir sie an und Julie leckte sich über die Lippen. "Wisst ihr ... Wenn es irgendwo spukt, bleiben immer ... Spuren. Die kann ich fühlen und kann so auch herausfinden, was oder besser wo die Quelle eines Geistes ist. Hier spüre ich nichts. Ich dachte erst, vielleicht kommt das noch in einem der anderen Räume, aber hier ist einfach nichts. Jedenfalls ... kein Geist."

"Aber ... Was soll das sonst sein, was hier passiert? Das bilden wir uns nicht ein!" rief Marie und fuhr sich durch die Haare.

"Nein, das gewiss nicht", bestätigte Julie. "Es ist nicht so, dass ich gar nichts spüre. Ich spüre ... etwas. Aber das ist kein Geist."

"Was dann? Ein Dämon?" fragte ich und Marie wurde bleich. Mittlerweile schloss ich jedoch nichts mehr wirklich aus. Julie schüttelte jedoch den Kopf.

"Dann hätte ich das Haus erst gar nicht betreten", antwortete sie ernst. "Ich bin keine Exorzistin. Bei Geistern kann ich helfen, nicht bei Dämonen."

"Kommt schon ... Dämonen ... Die gibt es doch nicht", sagte Marie mit schwacher Stimme.

"Dämonen sind nicht mein Gebiet", entgegnete Julie ruhig. "Aber es gibt sie. Hier ist es jedoch irgendwas anderes."

"Aber was?" hakte ich nach.

"Ich weiß es nicht", gab Julie zu und seufzte leise. "Es tut mir leid, dass ich euch nicht helfen kann. Aber hier spukt es nicht. Hier passiert irgendwas anderes."

"Und was machen wir jetzt?" wollte Marie wissen.

"Vielleicht wäre ein Hellseher eher etwas für euch", meinte Julie. "Ihr habt ja auch von dieser Frau erzählt, die ihr gesehen habt."

"Nein, nur Audrey hat sie gesehen", widersprach Marie. "Und sie hat mich auf sie aufmerksam gemacht. Aber die Frau ist eindeutig lebendig."

"Es gibt viele Bereiche in der Parapsychologie", begann Julie und sah zu mir. "Du hast die Frau gesehen. Möglicherweise ... ich sag nicht, dass es so ist, aber es ist zumindest eine von vielen Möglichkeiten ... vielleicht hast du einen Einblick in die Vergangenheit des Hauses erhalten. Die Frau könnte mal hier zu Besuch gewesen sein und du hast einen Blick darauf erhascht. Oder", sie hob beschwichtigend die Hand, als ich etwas sagen wollte, "bitte, lass mich ausreden. Oder vielleicht hast du die Zukunft gesehen und sie wird dieses Haus noch besuchen. Vielleicht aber hängt es auch nicht mit dir zusammen und die Frau war tatsächlich hier. Sie könnte ihren Körper verlassen haben und zufällig hier gelandet sein. Oder auch völlig absichtlich. Ich will euch gar nicht mit irgendwelchen Fachbegriffen nerven. Das sind einfach alles Möglichkeiten, was es sein könnte."

"Ich kann aber nicht hellsehen oder so etwas", widersprach ich und Julie zuckte leicht mit den Schultern.

"Das dachte ich auch immer, bis es mich mit 19 Jahren erwischte. Der erste Geist, den ich sah ... Ich dachte, ich werde verrückt oder das Studium hätte mich schon so hart im Griff, dass ich da schon Halluzinationen hätte", erzählte sie und ihre Miene verdüsterte sich etwas. "Aber das war es nicht. Ich konnte Geister sehen. Einfach so. Urplötzlich, ohne dass ich es gewollt hätte oder je daran gedacht hätte. Um ehrlich zu sein, hab ich mich bis dahin nie mit solchen Dingen beschäftigt, nicht daran geglaubt ..." Sie zuckte leicht mit den Schultern. "Es wäre also eine Möglichkeit, Audrey. Natürlich muss es nicht so sein, es könnte auch was anderes sein."

"Dass sie ihren Körper verlassen hatte", wiederholte ich Julies vorherige Worte und sie nickte.

"Ja. Das kann man lernen, auch wenn es nicht so einfach ist, wie manche schreiben", sagte sie und lächelte schief. "Aber es ist möglich."

"Meinst du ... Astralreisen?" fragte Marie. "Ich hab etwas auf einem Forum dazu gelesen, aber das klang so, als ob man da nur ... na ja ... in einer anderen Dimension ist." Sie sah Julie skeptisch an, diese ganze Thematik war ihr immer noch nicht geheuer trotz ihrer Erlebnisse. Irgendwie konnte ich meine Freundin auch verstehen, das hier warf unser ganzes Leben auf den Kopf. Doch wir konnten doch auch nicht leugnen, dass das, was hier geschah, echt war. Ich jedenfalls konnte das nicht. Und wenn ich akzeptierte, dass es Geister gab, dann konnte ich auch akzeptieren, dass es andere Dinge zumindest geben könnte. Auch wenn ich immer noch nicht viel davon hielt und mich das Ganze nicht so richtig interessierte, würde ich gewiss nicht die Augen vor möglichen Lösungen verschließen. Selbst wenn das bedeutete, dass ich vielleicht in Erwägung ziehen musste irgendwelche Fähigkeiten zu haben, wie Julie es angesprochen hatte.

"Ja", antwortete Julie auf Maries Frage und zog die Nase kraus. "Ich mag es nicht. Aber es ist möglich sich damit frei zu bewegen."

"Kannst du es?" wollte Marie wissen und runzelte die Stirn. Julie seufzte leise.

"Ja, wenn auch nicht besonders gut und auch nicht lange", erklärte sie. "Ich habe mich nur kurze Zeit damit beschäftigt und als ich merkte, dass es nicht meins ist, habe ich es aufgegeben. Wenn du eine Demonstration willst ..." Sie und Marie sahen sich einen Moment schweigend an und ohne dass Marie etwas sagte, lehnte Julie sich bequem auf dem Sofa zurück und schloss die Augen. "Erwartet nicht zu viel. Mein Astralkörper ist nur ein schwacher Schemen ..." Sie begann tief und ruhig einzuatmen und ich merkte, wie sie immer mehr entspannte. Aufmerksam beobachtete ich sie, doch an Julie selbst bemerkte ich keine Veränderung. Allerdings sah ich nach einer Weile einen feinen, hellen Dunst über ihr, der sich zu bewegen begann und eine vage, menschenähnliche Form annahm. Marie zog scharf die Luft ein und ich glaube, ich tat es auch. Den ganzen Spuk mitzuerleben ohne zu wissen was geschah, war eine Sache, doch Julie nun zu beobachten wie sie ihren Körper verließ, war etwas ganz anderes.

"Wow ...", entkam es mir und zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie faszinierend diese Sache eigentlich war. Wir erlebten etwas, von dem die meisten Menschen glaubten, dass es das nicht gab. Geister galten doch gemeinhin als Hirngespinste, Hellseher und andere Menschen, die sich mit dieser Thematik befassten, als Spinner ... Doch Marie und ich erlebten am eigenen Leib, dass es kein Hirngespinst war, dass es doch übernatürliche Phänomene gab und dass nicht alle, die sich mit diesen Dingen beschäftigten, Scharlatane und Verrückte waren. Der helle Nebeldunst vor Julie bewegte sich, drehte sich hin und her. Sie schien uns anzusehen. Da, wo ihr Gesicht sein sollte, war der Dunst etwas heller und um ihren Kopf herum wogte etwas ... Ihr Haar? Vermutlich war es das. Sie streckte eine Hand nach mir aus und berührte mich sacht an der Schulter - und ich fühlte diese Berührung, auch wenn sie deutlich leichter war als von einer echten Hand aus Fleisch und Blut. Lange blieb sie nicht so, der Dunst löste sich langsam auf und Julie begann sich zu rühren, um sich schließlich langsam aufzurichten.

"Ich sag ja, so gut kann ich das gar nicht", meinte sie und lächelte schwach. "Aber es ist durchaus möglich."



Kapitel 11



Wir hatten uns noch ein wenig unterhalten und Julie hatte uns genauer erklärt, welche Möglichkeiten sie in Betracht zog. Sie hatte uns auch gesagt, dass die Blonde ja einen Grund haben musste, warum sie hier auftauchte, doch sie hatte uns auch gleichzeitig sehr eindringlich erklärt, dass diese Frau gar nichts mit dem Spuk zu tun haben musste. Ich war mir da nicht so sicher, dieser seltsame, höhnische Gesichtsausdruck war mir zu gut in Erinnerung geblieben. Schließlich hatten wir uns voneinander verabschiedet und Julie war gegangen. Da sie uns nicht hatte helfen können, wollte sie auch kein Geld von Marie, auch die angebotenen Fahrtkosten schlug sie aus. Marie und ich hatten gekocht und uns dann wieder ins Wohnzimmer gesetzt, um uns weiter zu unterhalten und wieder im Internet zu forschen. Als es am Abend klingelte, lachte Marie leise und meinte bloß, das sei wohl Gabriel, der seinen Schlüssel vergessen hatte. Ich blieb im Wohnzimmer, während sie ihm öffnen ging, und dachte mir zunächst nichts, als sie nicht gleich hierherkamen. Immerhin sahen sie sich den ganzen Tag kaum, da kosteten sie die gemeinsame Zeit sicher immer so gut aus, wie es möglich war. Zudem las ich gerade einen Artikel über Astralreisen, da ich mich fragte, ob die Frau wohl tatsächlich so hier erschienen war. Unmöglich war es immerhin nicht, wie Julie uns gezeigt hatte.

Schließlich erregte eine Bewegung von der Tür her meine Aufmerksamkeit. Marie kam ins Zimmer getappt, die Arme um den Oberkörper geschlungen und das Gesicht fast so weiß wie die Wand. Zwei Polizisten in Uniform folgten ihr und für einen Moment starrte ich nur zu meiner Freundin und den Polizisten, bevor ich meinen Laptop zur Seite stellte und zu Marie eilte. Widerstandslos ließ sie sich von mir umarmen und schluchzte leise auf.

Gabriel.

Ihm war etwas zugestoßen.

"Was ... ist passiert?" fragte ich mit rauer Stimme. Der ältere der beiden Männer trat einen Schritt vor und erklärte mir, dass Gabriel einen Unfall gehabt hatte. Er hatte Waren im Lager eingeräumt, war dabei von der Leiter gestürzt und hatte sich eine schwere Wunde am Kopf zugezogen. Da er keine festen Mitarbeiter hatte und zu dieser Zeit außer ihm niemand mehr im Laden gewesen war, war es ein glücklicher Zufall gewesen, dass man ihn gefunden hatte, bevor Marie sich ernsthafte Sorgen um seinen Verbleib gemacht hatte: Seine Aushilfe hatte ihr Handy vergessen und war noch einmal zurückgekehrt, dabei hatte sie ihn gefunden. Er war direkt zum Arzt und von dort ins nächste Krankenhaus gebracht worden und erst hier wurde mir klar, was für ein kleines Nest dieser Ort eigentlich war, wenn er nicht einmal ein eigenes Krankenhaus hatte. Zugleich wunderte ich mich, dass ich in diesem Moment an so etwas denken konnte, vermutlich hatte mich der ganze Schrecken der Nachricht noch nicht wirklich erreicht.

Der jüngere Polizist bot uns schließlich an uns ins Krankenhaus zu fahren, er war ein Freund von Gabriel und Marie, wie sich herausstellte. Wir nahmen das Angebot an und waren nur kurze Zeit später bereits unterwegs. Es war eine schweigsame Fahrt, Marie starrte aus dem Fenster, blass und mit vom Weinen geröteten Augen, und weder mir noch Peter, so hieß der Polizist, war nach Smalltalk zumute. Zwar war es bereits spät, doch die diensthabende Krankenschwester ließ Marie kurz zu Gabriel. Peter und ich mussten auf dem Flur warten, aber es dauerte nicht lange, bis Marie wieder zu uns rauskam, das Gesicht von Tränen überströmt. Ich nahm sie sofort in den Arm und zog sie zu der Sitzbank in der Nähe des Schwesternzimmers. Wir setzten uns und kurz darauf kam Peter zu uns und reichte uns zwei Plastikbecher mit Kaffee. Marie hatte mittlerweile ihre Tränen getrocknet, aber ich ahnte, dass es jederzeit wieder losgehen konnte. Dennoch nahm sie den Kaffee entgegen, trank ihn jedoch nicht, sondern lehnte sich an mich.

Eine Weile saßen wir so da, bis sie sich schließlich rührte und einen Schluck von dem Kaffee nahm, nur um kurz das Gesicht zu verziehen. Ich konnte es verstehen, der Kaffee schmeckte nicht gerade besonders gut. Peter hatte seinen Becher bereits geleert, er lehnte an der Wand und blickte immer mal wieder zu uns, bevor er wieder den Gang entlang schaute. Im Moment waren wir alleine auf dem Flur, es war immerhin spät und niemand mehr zu Besuch, auch das Personal wartete nun wohl eher in den Dienstzimmern auf das Ende der Nacht. Es war irgendwie absurd, aber für einen Moment fragte ich mich, ob es in Maries und Gabriels Haus vielleicht gerade spukte. Und von diesem Gedanken war es nicht weit zu der Frage, ob vielleicht der Geist für Gabriels Unfall verantwortlich war. Ich leerte meinen Becher und warf diesen in den Mülleimer, der neben der Sitzbank angebracht war, während meine Gedanken sich weiter um diese Überlegung drehten, jetzt da sie mir einmal gekommen war.

Ganz ausschließen konnte ich es nicht. Zwar hatten die beiden den Spuk immer nur im Haus erlebt, aber das hieß ja nicht, dass der Geist auch nur an das Haus gebunden war. Vielleicht konnte er dieses verlassen, war Gabriel gefolgt und hatte schließlich auch den Unfall ausgelöst. Natürlich konnten meine Gedanken auch völliger Blödsinn sein und Gabriels Unfall war eben genau das - ein Unfall, weiter nichts. Unfälle passierten jeden Tag, überall, und es waren sicher nicht immer Geister dafür verantwortlich. Doch nun war der Gedanke da und er machte mir auch Angst. Immerhin konnte es sein, dass der Geist dann auch Marie und mir etwas antun würde.

"Du musst nicht hier bleiben", riss mich Maries Stimme aus meinen Gedanken und ich blickte zu meiner Freundin, aber sie hatte mit Peter gesprochen. "Ihr beide nicht", fuhr sie fort, bevor er etwas sagen konnte, und schaute zu mir.

"Ich lass dich doch jetzt nicht allein", erklärte ich.

"Und ich hab morgen einen freien Tag, also kann ich auch noch etwas bleiben", sagte Peter. Marie murmelte nur ein leises "Danke", bevor sie sich wieder an mich lehnte. Wir konnten natürlich nichts machen und zu Gabriel durften wir auch nicht wieder, aber ich konnte verstehen, dass Marie hierbleiben wollte, und ich hätte sie auf keinen Fall alleine gelassen. Ein bisschen spielte auch die Angst mit alleine in das Haus zurückzukehren und dort von dem Geist erwartet und angegriffen zu werden, doch ich wäre auch bei Marie geblieben, hätte es bei ihr nicht gespukt. Sollte sich Gabriels Zustand verschlechtern, wollte ich für sie da sein.

Viel konnten wir natürlich nicht tun. Gabriel war und blieb bewusstlos und wir durften auch nicht wieder zu ihm. Sein behandelnder Arzt kam aber zwischenzeitlich und sprach mit Marie, er erklärte ihr, wie es momentan um Gabriel stand. Es sah nicht wirklich gut aus, er hatte viel Blut verloren und momentan gingen sie von einer Gehirnerschütterung und womöglich einer inneren Blutung aus, aber dies wurde noch untersucht. Das klang nicht gut und Marie wurde auch noch blasser als ohnehin schon. Sie wollte hierbleiben und bot mir erneut an, dass ich ruhig zurückfahren konnte, aber das wollte ich immer noch nicht.

Und das war auch die bessere Wahl, sollten wir noch erfahren.



Kapitel 12



Es war nicht gerade bequem die Nacht auf den Sitzbänken des Krankenhauses zu verbringen. Wenigstens brachte uns eine der Krankenschwestern später noch Wolldecken und Tee, der nicht aus dem Automaten stammte, was man auch direkt schmeckte. Peter verließ das Krankenhaus schließlich doch noch, nahm Marie aber das Versprechen ab sich bei ihm zu melden. Am Morgen konnte uns Gabriels Arzt zumindest ein paar gute Nachrichten bringen. Gabriel war zwar immer noch bewusstlos, aber er war soweit stabil und die vermutete Blutung im Gehirn konnte nicht bestätigt werden. Er hatte da Glück gehabt, meinte der Arzt und riet uns erst einmal nach Hause zu fahren und später mit ein paar Sachen für Gabriel wieder zurück zu kommen. Da Marie das Krankenhaus immer noch nicht verlassen wollte, bot ich an alleine zu fahren. Die Rückfahrt hatten wir schnell organisiert und es dauerte nicht lange, bis ich die Haustür aufschloss und in das leere Haus trat.

Dass etwas nicht stimmte, merkte ich, als ich das Wohnzimmer betrat.

Hier sah es aus, als wäre die sprichwörtliche Bombe eingeschlagen. Möbel waren umgestoßen, die Gardinen heruntergerissen, Pflanzen und Dekogegenstände lagen auf dem Boden, der von Scherben übersät war. Die Fenster waren eingeschlagen worden, stellte ich fest, und mir wurde heiß und kalt. Was, wenn die Einbrecher noch im Haus waren? Verängstigt drehte ich mich um und flüchtete aus dem Haus. Auf der Straße zog ich mit zittrigen Fingern mein Handy aus der Hosentasche und rief die Polizei an. Nervös lief ich ein Stück die Straße runter, ich wollte nicht in der Nähe des Hauses bleiben, falls dort noch jemand drin war. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis der Polizeiwagen in die Straße einbog, und ich eilte dem Auto entgegen. Es hielt und ein Mann und eine Frau stiegen aus. Sie fragten mich nur kurz, ob ich angerufen hätte, wer ich sei und was denn passiert war, bevor sie schließlich das Haus betraten. Ich sollte beim Wagen warten und dies tat ich auch. Nervös drehte ich mein Handy in den Händen.

Sollte ich Marie anrufen? Ihr Bescheid geben musste ich so oder so, auch wenn es ihr gerade nicht wirklich gut ging und sie gedanklich voll und ganz bei Gabriel war. Aber sie musste erfahren, was passiert war. Vielleicht würde aber auch die Polizei ihr erzählen, was passiert war, sicher würden sie Marie auch befragen. Der Geist kam mir in den Sinn. Steckte er hinter der Verwüstung? Möglich war es, er hatte ja auch die Kreuze zu Boden geworfen. Sie, korrigierte ich mich selbst. Ich hatte diese Frau gesehen und war mir auch recht sicher, dass sie der Geist war. Oder wie auch immer man es nannte, wenn sie noch lebte und dennoch spukte.

Astralprojektion.

Genau, so hatte Julie es genannt. Doch warum machte die Frau das? Marie hatte mir ja erzählt, dass sie und Gabriel gar nichts mit ihr zu tun hatten, sie wusste ja gerade mal, dass die Frau die Cousine des Grundschuldirektors war. Ich wäre am Liebsten zu ihr gegangen und hätte mit ihr gesprochen, aber ich wusste ja nicht, wo sie wohnte. Auch den Namen des Grundschuldirektors hatte ich wieder vergessen, so dass ich nicht mal im Internet nach seiner Adresse hätte suchen können, während ich auf die beiden Polizisten wartete. Diese kamen aber auch schon bald und die Frau begann mich zu befragen, ihr Kollege forderte derweil Unterstützung an. Ich erfuhr, dass sich die Verwüstung im ganzen Haus zeigte, aber es war niemand mehr da gewesen. Sie würden nun die Spuren sichern und die Polizistin wollte erst einmal wissen, wer ich war und warum ich hier war. Das war schnell und einfach beantwortet, ihre Fragen danach, ob ich einen Verdacht habe, wer das gewesen sein könnte, musste ich verneinen.

"Wie gesagt, ich bin nur zu Besuch hier", wiederholte ich. "Ich wollte ein paar Sachen für Marie und Gabriel holen und dann wieder ins Krankenhaus ... Gott, wie sag ich ihr das denn?"

"Sie sagten, Mr. Kendrick hatte einen Unfall?" hakte die Polizistin nach.

"Ja, genau. In seinem Laden ..." Ich atmete tief durch und fuhr mir durch die Haare. "Deswegen waren wir auch nicht im Haus ... zum Glück wahrscheinlich. Was mach ich denn jetzt? Marie ist doch eh schon völlig durch den Wind."

"Wir begleiten Sie. Wir müssen Miss Thorpe ohnehin befragen", stellte die Polizistin fest. "Haben Sie eine Möglichkeit anderweitig unterzukommen?"

"Ich weiß nicht. Außer Marie und Gabriel kenn ich hier niemanden", erklärte ich und rieb mir übers Gesicht. Gut, Peter hatte ich nun auch noch kennengelernt, das zählte aber nicht, fand ich. Marie wusste bestimmt jemanden, bei dem wir übernachten konnten, bis die Polizeiarbeiten im Haus abgeschlossen waren.

"Konnten Sie schon feststellen, ob etwas fehlte?" fragte die Frau und ich schüttelte den Kopf.

"Nein. Ich bin sofort raus und hab die Polizei gerufen", antwortete ich. "Oben war ich erst gar nicht. Ich hatte Angst, dass noch jemand da ist."

"Das ist auch völlig in Ordnung so", beruhigte die Polizistin mich und ihr Kollege kam zu uns rüber. Sie erzählte ihm kurz, was sie von mir erfahren hatte, bevor sie mir noch ein paar Fragen stellten. Alles Routinefragen, wie sie mir versicherten, als sie mich nach meinem Alibi fragten. Dennoch fühlte ich mich mies bei dem Gedanken, dass auch ich zu den Verdächtigen gehören könnte. Als ob ich Marie und Gabriel so etwas angetan hätte!

Ich musste mit dieser Frau sprechen, eindeutig. Beweise hatte ich natürlich nicht, aber ich war mir sicher, dass diese blonde Möchtegerngeisterfrau hinter der Verwüstung im Haus steckte, und ich wollte herausfinden, warum sie das getan hatte. Marie würde wohl im Moment nicht mitkommen wollen, sicher wollte sie bei Gabriel im Krankenhaus sein, was ich völlig verstehen konnte. Aber mich ließ einfach der Wunsch nicht los dies endlich zu klären und die Frau zur Rede zu stellen.

Was hatten wir nur getan, dass sie uns so zusetzte?



Kapitel 13



Die nächsten Stunden wurden nicht besser. Marie war völlig geschockt, als sie von dem Einbruch und der Verwüstung in ihrem Haus erfuhr. Auch sie hatte keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte, und fuhr nur widerstrebend zurück, um zu überprüfen, ob und was fehlte. Die Polizei war mit der Spurensicherung noch nicht ganz fertig, aber wir durften schon rein, zumindest in die Bereiche, in denen sie schon durch waren. Unsere Schlafzimmer gehörten zum Glück dazu und ich sah schnell meine Sachen durch. Es war noch alles da, auch meinen Laptop hatte ich im Wohnzimmer auf dem Boden hinter dem Sofa gesehen, der von Marie hatte unter dem Tisch gelegen. Die Polizisten hatten sich bereits verwundert darüber geäußert, dass die beiden Geräte noch da waren. Wenn ich aber mit meinem Verdacht Recht hatte, dann wunderte ich mich nicht darüber. Was hätte diese komische Geisterfrau auch schon mit unseren Laptops anfangen sollen?

Ich sprach Marie zunächst nicht darauf an, dass ich die Geisterfrau in Verdacht hatte. Aber ich fand ein dünnes Telefonbuch für die umliegenden Ortschaften und ich erinnerte mich, dass der Name Grundschuldirektor mit M begonnen hatte. Martin? McLannon? Melton? Melton ... Da klingelte etwas bei mir, den Namen hatte ich doch hier schon mal gehört. Ich notierte mir die Adresse auf einem kleinen Zettel und steckte diesen in mein Portemonnaie. Ein kleiner Spaziergang würde mir sicher guttun und ein kleiner Blick auf die Straßenkarte hinten in dem Telefonbuch verriet mir auch, wo die Straße war, wo dieser Melton wohnte. Es war auch gar nicht so weit weg von hier, was ja nun auch kein Wunder war, wenn man bedachte, wie klein der Ort war.

Marie packte auch schließlich ein paar Sachen für Gabriel ein, da sie wieder zu ihm ins Krankenhaus fahren wollte. Ich bot ihr an mit dem Aufräumen zu beginnen, sobald die Polizei ihr Okay dafür gab. Sie nahm mein Angebot dankend an, auch wenn wir uns einig waren, dass es wohl ewig dauern würde das Chaos zu beseitigen. Bevor sie jedoch ins Krankenhaus zurückfuhr, rief Marie noch bei einem Handwerksbetrieb an, bei dem sie und Gabriel schon bei der ersten Renovierung Kunden gewesen waren. Sie wollte so bald wie möglich die Fenster wieder repariert haben. Zum Glück waren sie nur im unten im Wohnzimmer zerstört, ich hatte anfangs noch befürchtet, es wäre im ganzen Haus so. Aber auch so würde es eine Heidenarbeit werden.

Schließlich verabschiedeten wir uns jedoch voneinander und Marie fuhr wieder ins Krankenhaus. Die Polizei hatte das Haus inzwischen auch wieder freigegeben und uns gebeten uns sofort zu melden, wenn uns etwas einfiel. Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein, erklärte die Polizistin uns, und ich musste mir ein Schnauben verkneifen. Solche Kleinigkeiten wie die Geisterfrau konnte ich kaum ansprechen, die Polizei hätte mich doch bloß für verrückt gehalten. Da die Polizisten die Fenster fürs Erste gesichert hatten, mussten wir uns zumindest keine Sorgen machen, dass jemand ins Haus kommen könnte, daher brach ich kurz nach Marie zu meinem Spaziergang auf.

Die Straße hatte ich schnell erreicht und stand schließlich vor dem Haus von diesem Mr. Melton. Es unterschied sich nicht großartig von den anderen Häusern in der Straße. Ein unauffälliger Pastellanstrich, helle Fensterläden, eine grüne Hecke am eisernen Zaun und ein paar Blumen neben der Haustür, einfach ein Haus wie viele andere auch. Hier wohnte also auch die Geisterfrau, die Cousine von Mr. Melton. Zögernd schob ich das Zauntor auf und trat auf das Grundstück. Ein Maunzen lenkte meinen Blick zum Boden und auf eine schwarzweiße Katze, die sich mir mit erhobenem Schwanz näherte und sich kurz an meine Beine schmiegte, bevor sie mich erwartungsvoll ansah. Ich beugte mich zu ihr und kraulte sie kurz am Hals, was ihr wohl ausreichte, denn sie lief direkt weiter und verschwand um die Hausecke. Ich ging zur Haustür, wo ich wieder zögerte. Schließlich atmete ich tief durch und drückte auf die Klingel. Wenn ich etwas herausfinden wollte, musste ich mit der Blonden sprechen.

Allerdings kam keine Reaktion, auch nicht, als ich ein zweites Mal klingelte. Etwas unschlüssig stand ich da, bevor ich schließlich um das Haus herumging. Vielleicht war jemand im Garten und hörte einfach mein Klingeln nicht. Mein Verdacht bestätigte sich, die blonde Frau bepflanzte im Garten Blumentöpfe. Sie drehte sich um, als ich näherkam, und ein kleines Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ein zufriedenes, spöttisches Lächeln. Überrascht über meine Anwesenheit wirkte sie nicht. Schweigend standen wir uns gegenüber. Mein Kopf war wie leergefegt. Was sollte ich ihr sagen? Alles, was ich mir vorher überlegt hatte, klang auf einmal irgendwie total bescheuert. Wenn ich sie fragte, warum sie bei Marie und Gabriel spukte, würde sie mich doch nur auslachen und für verrückt erklären. Schließlich zog die Blonde ganz in Ruhe ihre Gartenhandschuhe aus und kam auf mich zu. Ihre graublauen Augen bohrten sich in meine und ein kühler Ausdruck lag in ihnen.

"Hallo, Audrey", begrüßte sie mich und es durchfuhr mich siedend heiß. Woher wusste sie, wie ich hieß? Bis vor kurzem hatte ich doch nicht einmal gewusst, dass diese Frau existierte, und sie kannte meinen Namen? "Schön dich mal in Natura zu treffen. Auch wenn du deiner Mutter wirklich sehr ähnlich siehst." Meine Mutter?

Was zum Teufel hatte denn meine Mutter nun mit der ganzen Sache hier zu tun?



Kapitel 14



"Hallo", erwiderte ich ziemlich mechanisch, während ich immer noch überlegte, wieso die Frau auf meine Mutter zu sprechen kam. Zudem hatte der Satz so negativ geklungen. So, als könne sie meinen Anblick nicht ertragen, eben weil ich meiner Mutter ähnlich sah. Sie mussten sich demnach ja kennen, aber ich konnte mir kaum erklären woher. Meine Mutter hatte hier nie gewohnt, das wusste ich. Jedoch fiel mir ein, dass sie mal erzählt hatte, sie sei für ihr Studium nach Dublin gezogen. Wo sie davor gelebt hatte, wusste ich gar nicht, wir hatten da nie großartig drüber gesprochen. Hätte es hier sein können? Oder zumindest in der Umgebung?

"Ach, wie unhöflich von mir, ich hab mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Helen", fuhr die Blonde fort.

"Woher kennen Sie meine Mutter?" brach es aus mir hervor, als hätten ihre Worte die Verwirrung in meinem Inneren so gelöst, dass ich wieder reden konnte.

"Oh ... Wir sind zusammen zur Schule gegangen", entgegnete Helen betont heiter und der kühle Ausdruck in ihren Augen nahm zu. Meine Gedanken begannen zu rattern. Alte Schulfreunde also. Wobei sie wohl weniger Freunde gewesen sein würden, so wie sie auf meine Mutter reagierte. Ob sie Streit gehabt hatten? Aber wie groß musste dieser Streit gewesen sein, dass sie nun Marie, Gabriel und mich mit diesem Spuk tyrannisierte. Und wenn sie Streit mit meiner Mutter gehabt hatte, warum spukte sie dann bei Marie und Gabriel?

"Und warum spuken Sie bei Marie? Was soll das?" fragte ich auch schon, bevor ich mich zurückhalten konnte. Helen lächelte kalt.

"Auch ihre Mutter ging mit uns zur Schule", antwortete sie.

"Das erklärt nicht, warum Sie bei ihr spuken! Was soll das? Warum machen Sie das?" wollte ich wissen. Jetzt hatte ich es ohnehin schon ausgesprochen, da konnte ich auch nachbohren.

"Du scheinst dir ja sehr sicher zu sein, dass ich das tue", sagte Helen amüsiert, doch ihre Stimme hatte zugleich einen kalten, harten Ton. "Und ganz unter uns ... Du hast ja Recht. Auch wenn ich nicht wirklich spuke, immerhin lebe ich." Dass sie es einfach so zugab, verblüffte mich dann doch, egal wie sicher ich mir auch gewesen war.

"Und warum? Warum machen Sie das?" wiederholte ich meine Frage mit schwacher Stimme. Helen schnaubte.

"Warum ...?" Sie schüttelte leicht den Kopf. "Vielleicht solltest du deine Mutter fragen, ob ich Grund habe, wütend auf sie zu sein." Sie trat noch einen Schritt auf mich zu, so dass wir uns beinahe berührten, und ihre Augen bohrten sich erneut in meine, ein manischer Ausdruck lag plötzlich in ihnen und ich zuckte zusammen, konnte mich aber nicht rühren, sondern starrte sie bloß an wie das berühmte Kaninchen die Schlange. "Ob ich Grund habe sie zu hassen", wisperte sie. "Sie und Margaret. Frag sie doch nach mir und nach Thomas Lincoln." Damit drehte sie sich um und ging hoch aufgerichtet auf das Haus zu. Ich stand noch immer wie erstarrt da und blickte ihr nach.

Meine Mutter fragen? Sie und Margaret? Mit Margaret konnte sie eigentlich nur Maries Mutter meinen, zumindest hieß diese Margaret und unsere Mütter waren auch befreundet. Der Name Thomas Lincoln sagte mir jedoch gar nichts, unter den Freunden meiner Eltern war kein Thomas. Ich schluckte und leckte mir über die trockenen Lippen, bevor ich mich schließlich umdrehte und mit steifen Schritten das Grundstück verließ. Meine Gedanken drehten sich um dieses kurze Gespräch, das mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hatte. Ich nahm meine Umgebung kaum wahr, während ich mich auf den Rückweg machte. Schon bald war ich wieder in Maries Haus und saß in der Küche auf der Essbank, mein Handy in der Hand und die Kontaktdaten meiner Mutter aufgerufen.

Sollte ich sie anrufen? Ich wollte wissen, was los war, aber wie sollte ich meiner Mutter erklären, warum ich ihr diese Fragen stellte? Von dem ganzen Spuk bei mir in der WG hatte ich ihr schon nichts erzählt, sie hätte mir ja ohnehin nicht geglaubt. Vielleicht reichte es ja auch, wenn ich nur beiläufig sagte, ich wäre zufällig mit dieser Helen ins Gespräch gekommen. Schließlich drückte ich einfach den Wählbutton, bevor ich weiter grübelte, denn das würde mich ja auch nicht weiterbringen. Nach dem dritten Klingeln meldete meine Mutter sich auch bereits.

"Hallo, Audrey. Wie geht es dir?" begrüßte sie mich gut gelaunt und ich musste trotz meiner Anspannung lächeln.

"Hey, Mom. Mir geht es gut. Dir?"

"Auch. Wie ist es bei Marie und Gabriel?"

"Oh ..." Ich zögerte kurz und leckte mir über die Lippen. "Eigentlich ganz schön. Nur gestern hatte Gabriel einen Unfall und ist jetzt im Krankenhaus."

"Oh ... Es ist hoffentlich nicht schlimm?" fragte Mom besorgt.

"Na ja, es sieht schon besser aus. Er hat sich am Kopf verletzt und ist bewusstlos, aber er hat keine inneren Verletzungen", erzählte ich. "Marie ist bei ihm."

"Grüß sie von mir und richte ihm gute Besserung aus", bat Mom und ich lächelte.

"Ja, mach ich", versprach ich und leckte mir erneut über die trockenen Lippen. "Mom, kennst du einen Thomas? Thomas Lincoln glaub ich ..." Für einen Moment war es still am anderen Ende und ich vermutete kurz, dass unsere Verbindung unterbrochen worden war. "Mom?"

"Ja ... ich bin noch da", erwiderte meine Mutter leise. "Wie kommst du auf diesen Namen?"

"Also kennst du ihn?" hakte ich nach und sie seufzte leise auf.

"Ich kannte mal einen Jungen mit diesem Namen", erklärte sie. "Er war ein Mitschüler von mir. Warum fragst du nach ihm?" Da war sie, die Frage, die ich so befürchtet hatte.

"Ach ... nur so. Eine Frau hat erwähnt, dass sie dich und Margaret kennt und hat da auch diesen Thomas angesprochen", antwortete ich so beiläufig wie möglich.

"Oh, wer denn?" fragte Mom auch direkt neugierig und ich zog eine Grimasse.

"Ihr Name ist Helen", entgegnete ich und wieder war es für einen Moment still.

"Helen?" wiederholte Mom schließlich und ihre Stimme klang seltsam.

"Ja. Wer ist das, Mom? Du klingst irgendwie komisch", sagte ich offen und sie seufzte erneut leise auf.

"Ich kenne nur eine Helen. Helen Lincoln, die Zwillingsschwester von Thomas", sagte sie. "Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es diese Helen ist."

"Warum nicht?" hakte ich direkt nach.

"Audrey, warum willst du das alles wissen? Das sind alte Geschichten, nicht mehr von Interesse", meinte Mom und ich schnaufte auf.

"Weil sie komisch war", sagte ich. "So richtig komisch. Sie meinte, ich würde dir ähnlich sehen und klang dabei total komisch."

"Es kann nicht Helen sein", murmelte meine Mutter.

"Warum nicht?" wiederholte ich.

"Weil sie in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert wurde", eröffnete meine Mutter mir. "Sie ... hatte einen totalen Zusammenbruch in der neunten Klasse. Ihr Bruder ... Thomas ..." Mom atmete tief durch. "Er hat sich das Leben genommen und sie hat das nicht verkraftet. Nach ihrem Zusammenbruch ging sie aber wieder zur Schule und alles schien gut. Kurz vor unserem Abschluss ... hatte sie aber wieder einen Zusammenbruch. Und da wurde sie dann eingeliefert. Audrey, halt dich bitte von ihr fern."

"Warum? Was war denn? Was hat sie gemacht, Mom?" bohrte ich nach.

"Audrey, das ist so eine alte Geschichte. Ich möchte es gar nicht wieder aufwärmen. Bitte, halte dich einfach von ihr fern", bat Mom.

"Mom, komm schon. Was hat sie gemacht? Man wird doch nicht einfach für lange Zeit eingeliefert. Und du klangst so, als müsse sie noch immer in der Psychiatrie sein", sagte ich.

"Audrey, bitte ..."

"Nein. Mom, ich will das jetzt wissen. Was ist passiert?"

"Wir ... waren einfach alle sehr jung, Audrey", murmelte Mom. "Und wie es so ist, es gab Cliquen und diejenigen, die nirgendwo dazugehörten." Sie zögerte, aber dieses Mal drängte ich sie nicht, da ich merkte, dass sie nach Worten suchte. "Thomas ... war einer von denen, die nirgendwo dazu gehörten. Helen war akzeptiert. Sie war intelligent und hübsch und hatte sich den Kapitän des Fußballteams geangelt. Aber das alles half ihrem Bruder nicht. Er war ... nun ... anders. Er war zu intelligent, zu ruhig, sah nicht besonders gut aus. Er hatte Akne. Dafür konnte er nichts, aber es war eben nicht hilfreich. Und er hat auch noch gestottert."

"Also ... so ein richtiger Außenseiter", stellte ich mit leiser Stimme fest.

"Ja. Ich bin wirklich nicht stolz darauf, Audrey, glaub mir das. Aber wir haben ihm alle das Leben schwer gemacht. Heute ... würde man es wohl Mobbing nennen", gestand Mom mir und ich atmete tief durch. Von solchen Dingen zu lesen und zu hören war eine Sache, dann aber zu erfahren, dass die eigene Mutter auch zu denen gehörte, die mal jemanden gemobbt hatten, war etwas ganz anderes. "Hätte ich mich rausgehalten, hätten mich die anderen genauso behandelt. Das wollte ich nicht. Also war ich genauso. Es ist keine Entschuldigung, auf keinen Fall. Mein Verhalten war widerlich, das weiß ich."

"Er ... hat sich umgebracht, hast du gesagt", murmelte ich, da ich nun ahnte, wie es dazu gekommen war.

"Ja. Herrgott, wir wussten doch nicht, dass es so weit kommen würde, dass er ... Wir wollten das nicht. Er fing mich eines Tages nach der Schule ab, als ich grade auf Maggie wartete, und gestand mir, dass er sich in mich verliebt hätte", erzählte Mom leise weiter. "Ich konnte ihn da nur anstarren. Und als Maggie kam, da machte es irgendwie klick bei mir und ich schaltete wieder auf die fiese Schlange um, als die ich mich sonst gegeben hatte. Ich machte mich über Thomas lustig. Über sein Geständnis. Und Maggie fiel mit ein, als sie merkte, worum es ging. Am nächsten Morgen erzählten wir es allen und alle lachten ihn in der Pause aus. Er könne sich doch nicht wirklich Hoffnungen gemacht haben bei einem Mädchen wie mir? Es war widerlich, das weiß ich. Widerlich, grausam, einfach völlig unmöglich." Mom wurde immer schneller, als wolle sie diese Geschichte möglichst schnell loswerden, was vielleicht auch stimmte. Es war sicherlich keine schöne Erinnerung an diese Zeit. Und schon gar nicht daran, wie sie selber gewesen war. Ich konnte mir meine Mutter gar nicht so vorstellen, ich kannte sie doch nur als liebevolle, nette Person.

"Und deswegen ist Helen so wütend auf dich und Margaret", sagte ich leise.

"Ja. Wir haben Thomas zum Gespött der Schule gemacht. Das war er vorher zwar auch schon, aber da wurde er es nur noch mehr", fuhr Mom fort. "Aber dann kam sie wieder zur Schule und alles schien normal. Doch dann ..." Mom atmete tief durch. "Sie kam kurz vor den Abschlussprüfungen mit dem Jagdgewehr ihres Vaters in die Schule." Ich schnappte nach Luft und Mom erzählte direkt weiter: "Margaret und ich waren ihr Ziel. Einer unserer Lehrer ... Mr. Gordon ... ging dazwischen." Ein leises Schluchzen begleitete die Worte meiner Mutter und ich spürte einen Kloß im Hals. Ich hatte sie sicher nicht zum Weinen bringen wollen, aber ich hatte auch nicht geahnt, was damals passiert war. "Ein Schuss löste sich und hat ihn getroffen. Er ist verblutet. Helen wurde verhaftet und kam schließlich in die Psychiatrie. Und Margaret und ich haben zugesehen, dass wir nach dem Abschluss Sandersons Bay verlassen."

"Aber in der Psychiatrie ist sie nicht mehr", stellte ich fest.

"Geh ihr einfach aus dem Weg, solange du da bist, Audrey", bat meine Mutter mich leise und ich verkniff mir einen Kommentar dazu. Ich konnte Helen nicht aus dem Weg gehen. Sie konnte mich überall finden. Immer.



Kapitel 15



Wir unterhielten uns noch eine Weile, bevor ich mich schließlich verabschiedete, weil ich aufräumen wollte. Mit Marie wollte ich erst sprechen, wenn sie wieder hier war, am Telefon war das irgendwie blöd und außerdem machte sie sich ohnehin gerade solche Sorgen um Gabriel, dass es mir unpassend erschien sie mit dieser alten Geschichte zu belasten. Das Aufräumen lenkte mich ein wenig ab, aber ganz fertig würde ich nicht werden, dazu war das Chaos zu groß. Am Abend telefonierte ich mit Marie, aber sie hatte nichts Neues zu berichten. Gabriel war noch immer bewusstlos und sie wollte noch bei ihm bleiben, meinte aber auch, dass sie wohl am nächsten Tag zurückkommen würde. Ich hoffte es, auch wenn das in dieser Situation vielleicht egoistisch war. Doch ich fühlte mich alleine im Haus einfach unwohl. Wer wusste schon, wann Helen wieder auftauchen würde?

Nach dem Telefonat mit meiner Freundin machte ich mir ein paar Brote und setzte mich mit denen an den Küchentisch. Im Wohnzimmer mochte ich nicht sitzen. Meinen Laptop hatte ich schon vorher hier aufgebaut und angemacht, um ein wenig Musik zu hören. Während ich aß, surfte ich ein wenig im Internet, auch wenn mir eigentlich nach dem Gespräch mit Helen klar war, dass uns die ganzen Seiten über Geister, Spuk und Paranormales nicht weiterhelfen würden. Helen war kein Geist, also war ein Medium nicht die Lösung. Aber ich hatte auch keine Ahnung, was wir sonst machen konnten. Sie war wütend und wollte uns vermutlich heimzahlen, was sie hatte durchmachen müssen. Doch warum sie Marie und mich so heimsuchte und nicht unsere Mütter, verstand ich nicht. Immerhin hatten unsere Mütter ihren Bruder gemobbt, nicht wir. Natürlich wollte ich nicht, dass sie überhaupt jemandem so zusetzte, ich wollte einfach wissen, warum sie Marie und mich ausgesucht hatte. Ich hätte sie wohl verstanden, wenn sie meine Mutter so gequält hätte, jetzt wo ich wusste, was alles passiert war. Nicht gutgeheißen, das nun wirklich nicht, aber doch irgendwie verstanden.

Nachdem ich aufgegessen hatte, spülte ich das benutzte Geschirr ab und machte mir einen Kaffee. So ganz wusste ich nicht, was ich machen sollte. Weiter aufräumen mochte ich grad nicht, auf einen Film hatte ich keine Lust und zum Lesen hatte ich mir auch nichts mitgenommen. Also wandte ich mich wieder dem Internet zu und sah mir ein paar Videos auf YouTube an. Lustige Tiervideos, genau das Richtige zum Entspannen und um auf andere Gedanken zu kommen. Dennoch brodelten die Geschehnisse der letzten Tage immer noch irgendwo in einer Ecke meines Verstandes und ich merkte, dass ich mich immer wieder kurz umblickte.

Dabei bemerkte ich schließlich, wie sich eine der Küchenschubladen leicht aufschob. Ich atmete tief durch und hielt den Blick auf die Schublade gerichtet. Ruckartig ging sie noch ein ganzes Stück weiter auf und das Besteck in ihr schepperte, im gleichen Moment verstummte mein Laptop und aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie der Bildschirm schwarz wurde.

Es ging also wieder los.

"Helen, warum tust du das?" Konnte sie mich überhaupt hören? Wie genau machte sie das alles eigentlich? Erneut schepperte es leise in der Schublade, dann erhob sich langsam ein großes Messer mit Keramikklinge aus dieser und blieb einen Moment auf der Spitze stehen, bevor es sich zitternd weiter in die Luft erhob. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Das war neu. Bisher hatte Helen nur Dinge bewegt oder auch mal etwas zerstört, aber so richtig angegriffen hatte sie uns noch nie. Und nun holte sie ein Messer aus der Schublade. Vielleicht wollte sie mir nur Angst machen, zumindest hoffte ich das. Eine Antwort auf meine Frage erhielt ich nicht, aber das Messer näherte sich mir langsam. Als ich aufstand und vom Tisch wegtrat, machte es einen Satz auf mich zu und ich erstarrte mitten in der Bewegung. Auch das Messer hielt inne, nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt.

"Was willst du, Helen?" fragte ich mit zittriger Stimme, auch wenn ich keine Antwort erwartete. Doch ich bekam eine.

"Geh raus", ertönte eine leise, geisterhafte Stimme aus dem Nichts. Ich überlegte mich zu weigern, aber mit einer Gegnerin, die ich nicht sehen konnte, einem schwebenden Messer vor mir und der Unsicherheit, wozu Helen noch alles fähig war, wollte ich sie nun nicht wirklich provozieren. Also drehte ich mich langsam um und verließ die Küche. Im Flur zog ich mir meine Jacke über, bevor ich schließlich nach draußen trat. Ich wartete auf weitere Anweisungen, aber stattdessen spürte ich, wie sich das Messer in meine Hand schob. Irritiert blickte ich runter, dann spürte ich auch schon einen Zug an meiner Hand. Aha. Sie wollte mich also mit dem Messer lenken. Ich folgte einfach Helens Weisungen, die mich die dunklen Straßen entlangführten. In einigen Fenstern brannte Licht, aber ich bezweifelte, dass mich jemand sah oder gar erkannte, was hier gerade geschah.

Das Messer oder wohl vielmehr Helen zog mich immer weiter und mir fiel es schwer mich weiterhin zu orientieren. Da ich mich aber vom Kirchturm wegbewegte, verließ ich den Ortskern wohl. Schon bald wurden die Abstände zwischen den Häusern größer und ich sah im schwachen Mondlicht, dass wir uns einer Baumgruppe näherten. Einen Wald wollte ich das nun nicht nennen, der lag, soweit ich wusste, auf der anderen Seite des Dorfes. Aber wohin wollte Helen mich bringen? Sie wohnte woanders, zumindest hatte ich einen anderen Weg genommen, als ich sie besucht hatte.

Mir dämmerte, was ihr Ziel war, als ich schließlich vor einem eisernen Zaun stand.

Sie hatte mich zum Friedhof gebracht.



Kapitel 16



Das Messer zuckte vor und so streckte ich meine freie Hand aus, um das eiserne Tor zu öffnen. Es war nicht einmal abgeschlossen, aber warum auch? Hier würde doch sicher niemand einbrechen und etwas stehlen wollen und wenn doch, hielt denjenigen doch ein verschlossenes Tor nicht davon ab. Auch ein Quietschen blieb aus, offensichtlich wurde das Tor gut gepflegt. Ich ging weiter, dem Zug des Messers folgend. Links von mir erhob sich die Kapelle, still und dunkel, aber auch irgendwie fast schon tröstlich. Doch wir hatten unser Ziel noch nicht erreicht, Helen führte mich tiefer auf den Friedhof. Ich hoffte, dass ich nachher noch den Weg zurückfinden würde, und mit diesem Gedanken erwachte eine kleine, böse Stimme in mir.

Wenn es noch ein Nachher gab.

Wer wusste schon, was Helen mit mir vorhatte? Vielleicht würde sie mich hier auf dem Friedhof töten. Dass sie dazu in der Lage war, konnte ich nach der Geschichte von meiner Mutter nicht mehr ausschließen. Schließlich entdeckte ich ein Stück vor mir einen schwachen Lichtschimmer und als ich näherkam, sah ich, dass an einem der Gräber ein paar Grablichter angebracht waren. Jemand kniete dort und ich erkannte Helen. Ob das wohl das Grab ihres Bruders war? Vermutlich. Warum sollte sie sonst hier sitzen?

"Wie schön, dass du uns Gesellschaft leistest, Audrey", begrüßte Helen mich mit so vergnügter Stimme, als wäre ich nur zu Kaffee und Kuchen vorbeigekommen.

"Was willst du von mir, Helen?" brachte ich krächzend hervor. Das Messer ruckte aus meiner Hand und landete neben Helen in der Erde.

"Hast du mit deiner Mutter gesprochen oder muss ich dir wirklich alles erzählen?" Sie sah mich fragend an und der abwesende, nichtssagende Ausdruck in ihren Augen jagte mir kalte Schauer über den Rücken.

"Habe ich. Aber ich verstehe dennoch nicht, was du von mir willst ..."

"Oh ... Ich will gar nichts von dir. Du hast einfach Pech, dass du Liz' Tochter bist", sagte Helen so beiläufig, als überlege sie, was sie morgen essen wollte. "Aber Liz ... Liz und Maggie, von ihnen will ich etwas. Sie sollen genauso leiden wie ich. Wie unsere Eltern. Sie sollen wissen, wie es ist jemanden zu verlieren, der Teil von einem ist." Mir wurde heiß und kalt zugleich. Ihre erstaunlich ruhig vorgebrachten Worte ließen keinen Zweifel daran, was sie vorhatte. Und wir waren allein hier draußen. Niemand würde mir helfen können, wenn sie sich das Messer nahm und mich angriff. Zumal sie dieses nicht einmal brauchte, nicht mit ihren Fähigkeiten. Sie konnte mich sicher auch ohne das Messer umbringen.

"Das macht aber nichts besser und nichts rückgängig", hörte ich mich sagen und hätte mir dafür in den Hintern treten können. Das würde Helen sicher nicht umstimmen. Sie war doch einfach völlig verrückt, völlig in ihren Gedanken gefangen.

"Es verschafft mir Genugtuung", entgegnete Helen und ein kaltes Lächeln umspielte ihre Lippen. "Und ich bekomme meine Rache, wenn auch anders, als ich früher dachte." Das Messer erhob sich wieder in die Luft und schwebte auf mich zu. "Deine Mutter wird auch den Schmerz erleben, wenn jemand stirbt, den sie liebt, der ihr nahe ist." Ich stand wie erstarrt da, als sich das Messer meinem Gesicht näherte. Die Spitze fuhr bereits über meine Wange, aber ich konnte mich einfach nicht rühren. Mein Herz begann zu rasen, aber ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Helen konnte mich überall finden und sie hätte mich sofort erwischt, wenn ich nun versuchte zu fliehen. "Allerdings, meine Liebe, musst du es schon selber tun. Immerhin hat Thomas es auch selber getan." Wie bitte? Es selber tun?

Da konnte sie lange warten!

Doch mir kam eine verzweifelte Idee. Wenn ich es selber tun sollte, musste ich auch das Messer halten. Und wenn ich erst einmal das Messer hatte, hatte ich eine Waffe. Sie konnte mir zwar das Messer sicher sofort wieder abnehmen, aber wenn ich schneller war, wenn ich es tatsächlich wagte, konnte ich sie verletzen. Vielleicht würde sie davon so abgelenkt sein, dass sie sich nicht auf mich konzentrieren und ich weglaufen konnte. Ich leckte mir über die trockenen Lippen und griff langsam, fast in Zeitlupe nach dem Griff des Messers. Helen nickte zufrieden und blickte zu dem Grabstein, der von den vielen Grablichtern beleuchtet wurde.

"Bald wird alles gut, Thomas. Ich hab es dir doch versprochen. Sie werden es büßen", sagte sie leise und ich wollte es tun, ich wollte ihr das Messer in die Schulter rammen, um sie so beschäftigt zu halten, aber ich konnte es nicht. Stattdessen nutzte ich diesen Moment, in dem sie mich nicht ansah, um herumzuwirbeln und wegzulaufen. Das Messer hielt ich fest umklammert, bis ich um eine Ecke gebogen war, dann warf ich es in weitem Bogen von mir weg ins Gebüsch. Hoffentlich fand Helen es nicht. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass sie mir nicht folgte, aber das musste sie wohl auch nicht. Nein, sie konnte mich ja immer erwischen. Als ich wieder nach vorne blickte, bemerkte ich vor mir auch schon einen dunklen Schatten. Im schwachen Mondlicht konnte ich die Gestalt nicht so genau erkennen, aber die Statur sprach für Helen. Ich spannte mich an und lief weiter, direkt auf sie zu. Sie war gerade noch am Grab ihres Bruders gewesen, also konnte sie gar nicht vor mir sein. Das war sicher nur eine Illusion oder sie konnte wie Julie diese Sache mit den Astralreisen. Aber sie war nicht echt.

Dass ich tatsächlich Recht hatte, merkte ich, als ich einfach durch den dunklen Schatten durchlief. Ich spürte keinen Widerstand, keine Kälte, nichts, was man so in Filmen oder Büchern miterlebte. Da war einfach gar nichts. Erleichtert lief ich weiter, auch wenn ich nicht so recht wusste, wohin ich mich wenden sollte. Es war dunkel und ich kannte mich auf diesem Friedhof nicht aus, vermutlich würde ich noch länger hier herumirren.

Und die Chancen standen gut, dass Helen mich erwischte.



Kapitel 17



Nach einer Weile erreichte ich ein Mausoleum, vor dem eine Steinbank stand, und ich nutzte diese Gelegenheit, um mich kurz auszuruhen. Von Helen hatte ich nichts mehr gesehen oder gehört, vielleicht konnte sie mich doch nicht so einfach verfolgen. Wenn ich so darüber nachdachte, hatte ich sie bisher auch nur an Orten bemerkt, an denen ich ohnehin gewesen war. Der Spuk hatte immer nur bei Marie im Haus stattgefunden, nie auf der Straße oder irgendwo anders. Und in meiner WG war es damals auch schon so gewesen, dass es ja nur im Haus gespukt hatte. Ich wusste nicht, ob Helen auch dafür verantwortlich war, aber ich vermutete es. Nachdenklich und etwas angespannt blickte ich in die Dunkelheit hinaus.

Helen lebte, sie nutzte eine Astralprojektion für ihre Spukerscheinungen. Also konnte es ja sein, dass sie Marie und mich nur deswegen so hatte ängstigen können, weil wir eh im Haus waren. Vielleicht musste sie einfach vorher wissen, wo sie hinging, bevor sie diese Astralprojektion machte. Und dann war es vielleicht eher unwahrscheinlich, dass sie mich einfach so finden konnte.

Vielleicht.

Ein Vielleicht half mir ganz und gar nicht weiter. Aber mehr als spekulieren konnte ich nicht, ich wusste über solche Dinge einfach nichts, abgesehen von dem Bisschen, was ich mir in den letzten Tagen so angelesen hatte. Kurz überlegte ich, Julie anzurufen und sie um Rat zu bitten, aber ich wollte mein Handy nicht benutzen. Der Lichtschein hätte mich doch sofort verraten. Eine Weile saß ich noch da, bis ich mich wieder fit genug fühlte, um weiterzugehen. Ich lauschte, doch ich hörte nichts, daher erhob ich mich leise und machte mich wieder auf den Weg. Langsamer dieses Mal und mit gespitzten Ohren, doch noch immer nahm ich nichts wahr. Vielleicht war Helen auch noch immer am Grab ihres Bruders. Hoffentlich bog ich nicht irgendwann versehentlich in diese Richtung ab.

Schließlich erreichte ich das Ende des Weges und fand mich am Zaun wieder. Das war gut, wenn ich dem Zaun folgte, würde ich den Ausgang früher oder später ja erreichen. Aber gleichzeitig hatte ich Angst, dass Helen mich dort erwartete. Wo anders als dort würde ich denn auch hinwollen? Ich blickte den Zaun entlang. Eine großartige Kletterin war ich nicht, aber er war nicht hoch. Vorsichtig tastete ich das obere Ende des Zaunes ab und stellte fest, dass er hier glatt war. Ich atmete tief durch, dann griff ich die Streben fester und rüttelte leicht an ihnen. Nichts. Sie rührten sie nicht und es gab auch keine Geräusche, auch nicht, als ich stärker an ihnen zu rütteln versuchte. Ich hatte kurz die Befürchtung gehabt, dass man es hören würde, wenn ich versuchte über den Zaun zu klettern, aber das konnte ich nun wohl ausschließen.

Erneut atmete ich tief durch, um meinen plötzlich wieder rasenden Herzschlag ein wenig zu beruhigen, dann zog ich mich vorsichtig hoch. Ich brauchte mehrere Anläufe, bis ich endlich ein Bein über den Zaun schwingen konnte. Danach war es einfacher, auf der anderen Seite musste ich mich bloß wieder auf den Boden gleiten lassen. Rasch sah ich mich um, aber mir fiel nichts weiter auf, auch zu hören war nichts. Jetzt musste ich nur noch entscheiden, wo ich lang gehen wollte. Klar, wenn ich mich einfach am Zaun hielt, kam ich irgendwann zum Tor und von dort konnte ich zu der Straße finden, die hierherführte. Aber ich befürchtete auch, dass Helen bereits dort auf mich wartete. Ich war hier fremd, wenn ich also zurückwollte, würde ich mich an die mir bekannten Wege halten müssen. Und sie ahnte sicher, dass ich während meines Besuchs hier bei Marie nicht allzu viel von dem Ort und noch weniger von der Umgebung erkundet hatte. Nur hatte ich keine Wahl. Wenn ich hierblieb, würde sie mich sicher auch früher oder später finden. Sie musste ja nur den Friedhof absuchen und mit einem Astralkörper ging das sicher einfach.

Ich leckte mir über die trockenen Lippen und für einen Moment wünschte ich mir einfach zu erwachen und festzustellen, dass ich alles nur geträumt hatte. Geister, Spuk, Paranormales ... Das alles hatte mich nie interessiert, ich hatte mich nie mit so etwas beschäftigt. Sicher, hin und wieder hatte ich mit Freunden Horrorfilme gesehen, aber ich hatte nie an diese Dinge geglaubt. Jedoch gab es sie, sie waren real. Aber warum mussten sie ausgerechnet mir passieren? Das war nicht fair, ich hatte nichts getan. Allerdings reichte es Helen ja, dass meine Mutter etwas getan hatte. Plötzlich völlig erschöpft ging ich etwas von dem Zaun weg und zu ein paar Bäumen hin, um mich hier auf den Boden zu setzen. Das hier Käfer sein könnten und meine Sachen dreckig wurden, interessierte mich gerade herzlich wenig. So konnten sich die Prioritäten ändern, ich hätte mich in einer normalen Situation nie einfach auf den Boden gesetzt.

Müde lehnte ich mich an den Stamm in meinem Rücken und blickte zum Nachthimmel hinauf. Er war wolkenlos und zum ersten Mal fiel mir auf, wie viele Sterne man doch hier sehen konnte. In der Stadt war das nicht so. Der Anblick beruhigte mich irgendwie und ließ mich tatsächlich für einen Moment vergessen, was hier passierte. Der hellste Stern musste wohl die Venus sein. Mein Exfreund war begeisterter Hobbyastronom gewesen und hatte mir ständig was von Sternen und Planeten und Schwarzen Löchern erzählt, nur hatte ich mir kaum etwas von diesen Dingen gemerkt. Aber ich hatte es doch interessant gefunden, als er mir die Venus mal durch sein Teleskop gezeigt hatte. Ein anderer Planet, so nah und so gut sichtbar, war einfach irgendwie was Besonderes. Allerdings musste ich für etwas Besonderes gar nicht mal die Erde verlassen. Helen hatte doch immerhin sehr deutlich demonstriert, dass es auch hier besondere Dinge gab.

Leise seufzend fuhr ich mir durch die Haare und tastete in meine Jackentasche. Hier war mein Handy drin, aber ich wollte es noch immer nicht benutzen. Es fehlte mir gerade noch mich durch meine eigene Blödheit zu verraten. Gleichzeitig wollte ich unbedingt mit Marie sprechen. Was, wenn Helen sich nun erst einmal ihr zuwandte, während sie im Krankenhaus bei Gabriel war? Funktionierte eine Astralprojektion überhaupt auf eine solche Entfernung und konnte sie überhaupt zu Marie gelangen, wenn sie doch gar nicht wusste, wo sie war? Gleich nachdem ich mir diese Fragen gestellt hatte, schalt ich mich mental eine Närrin. Wenn Helen auch für den Spuk in meiner WG verantwortlich gewesen war, dann funktionierten Astralprojektionen definitiv auch auf solch eine weite Entfernung. Sie war sicher nicht bei mir in der Nachbarschaft gewesen.

Allerdings ... wusste ich das auch nicht mit Sicherheit.

Wer wusste schon, was in Helen vorging? Sie war erwachsen und wenn sie für ein paar Tage verreist war, hatte sich ihr Cousin sicher nichts dabei gedacht. Ein Schauer lief mir über den Rücken, wenn ich daran dachte, dass sie mich womöglich beobachtet und ausspioniert hatte. Überhaupt konnte ich mir doch nie wieder sicher sein, dass ich wirklich alleine war. Bei diesem Gedanken huschten meine Augen umher, doch in der Dunkelheit erkannte ich kaum etwas. Der Mond war auch schon wieder ein ganzes Stück über den Nachthimmel gewandert, ich musste schon eine Weile hier gesessen haben. Aber ich hatte auch Angst in das Haus zurückzukehren. Selbst wenn Helen nicht hier am Friedhofstor auf mich wartete, würde sie mich im Haus finden. Vielleicht war sie auch schon da. Ich kannte hier niemanden, also musste ich ja dorthin zurückkehren. Dieser Gedanke ließ mich schwer schlucken.

Ich wollte nicht ins Haus zurück.



Kapitel 18



Schließlich war ich doch aufgebrochen und hatte mich langsam im Schutz der Bäume um den Friedhof herumbewegt. Helen hatte ich nirgendwo bemerkt, aber Erleichterung darüber hatte ich nicht verspürt. Sie konnte mich immerhin bereits im Haus erwarten. Daher war ich auch nicht zu diesem zurückgegangen, sondern streunte nun durch die dunklen Straßen. Nirgendwo brannte mehr Licht, nicht einmal die wenigen Läden hatten eine Beleuchtung. Mir kam die absurde Idee in die Kirche zu gehen. Nicht, weil ich mir von dort Hilfe erhoffte, immerhin war Helen ja auch kein Geist, sondern vielmehr, weil ich mir überlegte, dass die Kirche sicher offen war und ich mich dort verstecken konnte, zumindest für eine Weile. Bevor ich lange über meinen Plan nachdenken konnte, drehte ich mich auch schon um und bog in die Straße ein, die mich zur Kirche führen würde. Ich zögerte auch nur kurz, bevor ich eine Hand nach dem Kirchentor ausstreckte und zaghaft versuchte es zu öffnen.

Es war tatsächlich offen.

Schnell schlüpfte ich ins Innere der Kirche und schloss die Holztür hinter mir. Hier sah ich auch das erste Licht seit langem, am Altar brannten einige Kerzen, genau wie an den Säulen am Gang. Ich ging leise nach vorne und setzte mich in die erste Reihe. Hoffentlich würde Helen mich hier nicht suchen. Außer mir war niemand hier, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass es bereits 1.24 Uhr war. Ich hatte mehrere Nachrichten von Marie mit der dringenden Bitte sie anzurufen, wenn ich sie las. Kurz zögerte ich, dann rief ich meine beste Freundin an, die sich nach dem ersten Klingeln auch mit einem hektischen "Audrey? Wo bist du?" meldete.

"In der Kirche", antwortete ich direkt und seufzte leise auf.

"Was? Wieso ...? Was ist los? Ich hab versucht dich zu erreichen, aber du hast dich nicht gemeldet. Und dann hab ich bei den Nachbarn angerufen, ich dachte, es sei etwas passiert", brach es aus Marie hervor.

"Ist es auch", murmelte ich und dann erzählte ich Marie alles. Ich erzählte ihr von dem Gespräch mit Helen und meiner Mutter, von der zweiten Begegnung mit Helen auf dem Friedhof und meiner Flucht und auch von meiner Angst ins Haus zurückzukehren. "Ich weiß es nicht, aber vielleicht kann sie nur dann bei uns spuken, wenn sie auch weiß, wo wir sind. Das Haus kennt sie, da könnte sie mich erwarten. In der Kirche wird sie wohl nicht sofort suchen. Und vielleicht weiß sie auch, wo Gabriel und du jetzt seid."

"Das ... das ist einfach unglaublich", sagte Marie leise. "Ich meine ... ich glaube dir ja, Audrey, aber ... Wir haben doch gar nichts gemacht?!"

"Ich weiß. Aber das ist ihr wohl egal", erwiderte ich mit gedämpfter Stimme, damit es im Kirchenraum nicht zu sehr hallte. "Was sollen wir denn nun machen?"

"Du ... hast ja gesagt, sie wollte, dass du ... es selbst machst. Vielleicht hört sie ja auf, wenn wir deutlich zeigen, dass wir das nicht wollen", meinte Marie, aber sie klang selber nicht überzeugt von dem, was sie da sagte.

"Schön wäre es, aber das glauben wir beide nicht, oder?" fragte ich, was Marie ein zustimmendes Brummen entlockte. "Vielleicht müssen wir der Polizei Bescheid geben. Sie haben ja gesagt, wenn uns etwas einfällt, sollen wir uns melden. Und es ist bestimmt wichtig für sie zu wissen, was damals mit unseren Müttern und Helen war."

"Aber selbst, wenn Helen das war, werden sie sicher keine Beweise haben. Sie kann es so gemacht haben wie sonst auch. Wobei ich fast froh bin, dass sie kein Geist ist", gab Marie zu. "Auch wenn ich diese Lösung auch nicht besonders toll finde ..."

"Ich auch nicht." Ich seufzte leise auf. "Ich werde aber der Polizei erzählen, was ich von meiner Mutter erfahren habe. Vielleicht verrät sie sich irgendwie."

"Denkst du denn, dass sie zugibt Geist gespielt zu haben? Oder dass sie solche Dinge kann?" fragte Marie skeptisch und ich schnaufte leise.

"Nein, das nun nicht. Aber wenn die Polizei sie zu dieser Geschichte befragt, könnte sie vielleicht die Nerven verlieren und sich irgendwie verraten", meinte ich.

"Vielleicht müssen Gabriel und ich einfach Willows Lake verlassen. Wenn du Recht hast und sie den Ort kennen muss, an dem wir sind, findet sie uns so vielleicht nicht mehr", überlegte Marie.

"Darüber könnt ihr euch ja Gedanken machen, wenn er wieder wach ist", entgegnete ich und konnte Maries Nicken beinahe sehen.

"Werden wir wohl auch. Ich weiß nicht, ob ich noch hierbleiben kann. Und schon gar nicht, wenn Helen ja auch hier ist", murmelte Marie. "Ich hatte bestimmt nicht so etwas erwartet ... Sie könnte doch jederzeit wieder hier auftauchen und etwas machen."

"Ich weiß." Vielleicht konnten wir wirklich nicht viel mehr machen als umziehen und unsere Adressen geheim halten. Aber sollten wir wirklich die nächsten Jahre lang immer wieder fliehen, wenn Helen uns vielleicht doch fand? Wir verabschiedeten uns schließlich und ich steckte mein Handy weg. Jetzt in der Nacht würde ich hier wohl kaum die Polizei erreichen, daher konnte ich auch versuchen mich etwas auszuruhen. Ich streckte mich auf der harten, schmalen Bank aus und schloss die Augen.

Schlaf fand ich allerdings keinen. Mir ging zu viel im Kopf herum und ich fand einfach keine Lösung für unser Problem. Helen würde nicht aufgeben und wir konnten doch auch nicht nur vor ihr weglaufen. Sollten wir mit ihrem "Spuk" leben? Sie hatte ja deutlich gesagt, dass sie meinen Tod wollte, ich es aber selber tun sollte. Wenn sie also wirklich nie diesen Schritt ging, konnten wir uns vielleicht mit dem, was sie tat, arrangieren. Und vielleicht wurde sie es irgendwann leid und ließ uns auch in Ruhe.

Entnervt richtete ich mich schließlich auf. Meine Gedanken gingen ja doch nur im Kreis und all diese Überlegungen brachten mich nicht weiter. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass es bis zum Morgen noch etwas hin war. Ich suchte in meinen Kontakten nach Peters Nummer und zögerte kurz. Sollte ich ihm schreiben? Aber was konnten er und seine Kollegen schon machen? Marie hatte doch Recht. Sie hatten keine Beweise und Helen würde nichts zugeben. Da machte es auch keinen Sinn der Polizei etwas von dem zu erzählen, was ich erfahren hatte.

Wir mussten selber eine Lösung finden.



Kapitel 19



Es dauerte nicht lange, bis ich das Haus erreicht hatte, in dem Helen lebte. Auch hier brannte kein Licht, was natürlich nicht heißen musste, dass Helen nicht da war. Ich betrat das Grundstück und erst jetzt durchfuhr es mich siedend heiß, dass ich vielleicht einen Bewegungsmelder auslösen könnte, doch nichts tat sich. Glück für mich. Was ich hier aber eigentlich wollte, wusste ich auch nicht so recht. Ich streckte eine Hand nach der Haustür aus und drückte mit angehaltenem Atem die Klinke runter. Tatsächlich ließ sich die Tür öffnen und ohne lange zu überlegen schlüpfte ich in das Innere des Hauses. Leise schloss ich die Tür wieder und blieb einen Moment hier stehen, um in die Dunkelheit zu lauschen, doch ich hörte nichts. Es war auch zu dunkel, um etwas zu erkennen, doch ich konnte mich einigermaßen orientieren und schlich nach hinten durch in die Wohnküche. Hier kam etwas Licht von einer digitalen Uhr und einem Terrarium, welches schwach beleuchtet war. Ob es bewohnt war, konnte ich nicht ausmachen, jedenfalls sah ich kein Tier darin.

Ich sah mich etwas in dem spärlich beleuchteten Raum um und erkannte auf einem Schrank eine Dose mit Stiften. Eine vermutlich bescheuerte Idee kam mir und ich nahm mir einen der Stifte, um an den Kühlschrank zu treten. "Helen" schrieb ich als erstes mit großen Buchstaben auf die Tür und setzte dann etwas kleiner darunter "Hör auf mit dem Unsinn". Den Stift wischte ich ab, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, und steckte ihn zurück, bevor ich wieder zur Haustür schlich. Auch die Türklinke wischte ich mit meinem Ärmel ab, bevor ich das Haus verließ und die Tür wieder hinter mir schloss. Es war vermutlich sinnlos und völlig bescheuert, aber es hatte mich einfach überkommen, als ich gerade in der Küche gestanden hatte.

Erst auf der Straße wurde mir bewusst, was ich eigentlich getan hatte. Einbruch und Sachbeschädigung. Allerdings war ja die Tür offen gewesen, also war es doch eigentlich kein richtiger Einbruch. Mein Herz raste, während ich durch die dunklen Straßen lief. Ich hatte mich gerade strafbar gemacht. Gleichzeitig versuchte ich mich aber auch wieder zu beruhigen. Helen würde ahnen, von wem der Schriftzug kam, aber sie würde ganz sicher nichts sagen. Immerhin würden sonst Fragen aufkommen, warum ich das getan hatte und was ich mit diesen Worten meinte. Und dann würde Helen in Erklärungsnot geraten. So hatten wir nun wohl eine Pattsituation.

Schließlich wagte ich es doch und kehrte zum Haus meiner Freundin zurück. Es lag in völliger Dunkelheit da und ich lauschte angestrengt, als ich es betrat. Zu hören und zu sehen war nichts, aber das musste ja nichts heißen. Helen konnte überall sein. Ich schlich in der Dunkelheit nach oben, erst hier benutzte ich die Taschenlampe meines Handys, um etwas sehen zu können. Rasch ging ich ins Bad, ich musste dringend auf Toilette. Vorher war es mir nicht aufgefallen, aber jetzt bemerkte ich die Bedürfnisse meines Körpers. Ich benutzte die Toilette und wusch mir anschließend Hände und Gesicht. Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich grauenhaft aussah. Blass, mit dunklen Ringen unter den Augen und wirren Haaren. Schnaubend wandte ich mich ab und ging in mein Zimmer, um mich ins Bett zu legen. Vielleicht würde ich hier ein wenig Schlaf finden. Neben dem Bett zögerte ich, dann ging ich noch mal nach unten in den Haushaltsraum. Hier nahm ich mir einen Besen und schraubte den Stiel ab, um ihn mit nach oben zu nehmen. Wenn Helen wieder auftauchte, hatte ich so etwas, womit ich mich verteidigen konnte.

Mit dem abmontierten Besenstiel legte ich mich ins Bett und starrte eine Weile an die Decke, bevor ich die Augen schloss. Wieder wollte sich kein Schlaf einstellen. Jedes Mal kurz vorm Einschlafen glaubte ich etwas zu hören, Schritte, ein Kratzen an den Wänden oder am Fenster, ein Knarren, und riss die Augen wieder auf, doch ich sah nie etwas. Da ich sowieso alleine im Haus war und die Häuser der Nachbarn nicht direkt angrenzten, schaltete ich mein Handy ein und ließ die Musik laut laufen. Das lenkte mich genügend von irgendwelchen Geräuschen ab und ich hatte noch nie Probleme gehabt bei lauter Musik zu schlafen. Richtig schlafen konnte ich dennoch nicht, es war vielmehr ein Dösen, wobei immer wieder wirre Bildfetzen vor meinem inneren Auge vorbeizogen. Ich sah Helen mit einem Messer vor mir oder auch nur das Messer, doch sobald ich die Augen öffnete, war da nichts. Aber nach allem, was geschehen war, war es wohl kein Wunder, dass ich Alpträume bekam.

Als ich irgendwann wieder die Augen öffnete, war es hell. Mein Handy lief immer noch und alles sah normal aus. Ich richtete mich auf und stellte das Handy aus, dann sah ich mich erneut und etwas genauer um. Nichts. Keine Unordnung, alles lag an seinem Platz. Ob Helen wohl schon meine Schmiererei entdeckt hatte? Es war kurz nach neun Uhr, sie war sicher schon wach. Und wenn nicht sie, dann vielleicht ihr Cousin. Leise seufzend stand ich auf und ging ins Bad rüber. Auch auf dem Flur und im Bad sah alles normal aus, hoffentlich war das im ganzen Haus so. Ich putzte mir die Zähne und duschte rasch, bevor ich in mein Zimmer huschte und mich anzog. Danach griff ich mir den Stiel des Besens und ging nach unten, wo ich mich auch erst einmal umsah. Alles sah aus wie immer, daher machte ich mir erst einmal einen Kaffee und einen Toast mit Honig. Ich hatte gerade aufgegessen, als ich Geräusche hörte. Eine Tür, die sich öffnete und wieder schloss, dann leise Schritte. Das musste Marie sein.

"Marie? Ich bin in der Küche", rief ich und erhob mich. Doch nicht Marie betrat die Küche, sondern Helen. Sie war blass und ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint.

"Ich weiß, dass du das warst", sagte sie leise.



Kapitel 20



"Was war ich?" fragte ich mit erstaunlich ruhiger Stimme, obwohl mein Herz bei ihrem Anblick zu rasen begonnen hatte. Ich wusste natürlich wovon sie sprach, aber ich würde den Teufel tun und dies zugeben.

"Du weißt genau, was ich meine", entgegnete Helen mit zitternder, schwacher Stimme und machte einen Schritt auf mich zu.

"Nein. Ich habe keine Ahnung", log ich eiskalt und Helen ballte die Hände zu Fäusten.

"Lüg doch nicht! Du warst es! Du warst bei uns und hast das geschrieben!" rief sie und ihre Lippen begannen zu zittern, während ihre Augen feucht schimmerten. "Du warst es, gib es zu!"

"Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst", erklärte ich. "Ich war ganz bestimmt nicht bei euch. Im Gegenteil. Ich hab zugesehen irgendwo zu sein, wo du mich garantiert nicht erwartet hast. Warum sollte ich auch zu euch kommen, nach allem, was du getan hast?"

"Ich weiß, dass du es warst!" schrie Helen auf. "Du warst es! Gib es zu!"

"Ich war gar nichts", beharrte ich. "Ich hab mich in der Nacht versteckt, sonst nichts." Helen machte einen Satz nach vorne und packte mich am Kragen, dabei stolperte ich nach hinten und stieß gegen den Küchentisch. Gleichzeitig griff ich mit einer Hand nach Helen und mit der anderen nach dem Tisch, um mich irgendwo festzuhalten und nicht zu stürzen. Als ich meine Tasse zu greifen bekam, handelte ich ohne nachzudenken. Ich hob sie und schlug sie Helen mit voller Kraft an den Kopf. Sie gab ein beinahe komisches "Oh" von sich, verdrehte die Augen und sackte zusammen, wobei sie mich mit sich zog. Aber ihr Griff hatte sich auch bereits gelockert, so dass ich von ihr loskam und zurücktreten konnte. Entsetzt starrte ich sie an. Sie blutete und rührte sich nicht mehr, aber ihr Brustkorb hob und senkte sich noch, also lebte sie. Ich musste Hilfe rufen, zumindest ging mir dieser Gedanke durch den Kopf, aber ich konnte mich nicht rühren. Vielleicht hatte ich einen Schock? Doch dann kam endlich Leben in mich und ich stellte die Tasse auf dem Tisch ab. Erstaunlicherweise war sie nicht kaputtgegangen bei meiner Aktion, registrierte ich geistesabwesend. Fahrig griff ich nach meinem Handy und rief Peter an, da ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte.

"Peter ... ich brauch Hilfe", brach es aus mir hervor, kaum dass er sich gemeldet hatte.

"Audrey? Was ist passiert?" wollte er wissen.

"Ich ... ich war zu Hause ... also bei Marie ... und dann kam Helen ... und sie hat mich angegriffen und ich hab sie mit einer Tasse geschlagen und jetzt liegt sie hier und rührt sich nicht und sie blutet und ich weiß nicht was ich tun soll", ratterte ich herunter.

"Hey, ganz ruhig, Audrey. Atme tief durch, hörst du? Tief ein und dann tief aus. Tief ein, tief aus", sagte Peter ruhig und ich versuchte seinen Worten zu folgen, doch mein Herz raste immer noch und mein Atem ging hektisch. "Bist du noch vor Ort?"

"Ja, bin ich ..."

"Okay. Verstehst du dich auf erste Hilfe?"

"Nur wenig ... mein Kurs ist so lange her."

"Okay, ganz ruhig. Ich informiere einen Krankenwagen und komme dann mit einem Kollegen. Bleib da und zeig den Kollegen, wo Helen ist", wies Peter mich an und ich nickte, ließ aber gleich ein "alles klar" folgen, da er mein Nicken übers Telefon ja nicht sehen konnte. Wir beendeten das Gespräch und ich stellte mich an die Tür, um sofort zur Haustür gehen zu können, wenn es klingelte. Helen rührte sich nicht, worüber ich ganz froh war. Sollten sich doch gleich die Sanitäter und die Polizei um sie kümmern. Eine ganz kleine Stimme in mir fragte flüsternd, warum sie wegen der Schmiererei so außer sich gewesen war, aber eine Antwort fand ich nicht.

Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug und waren irgendwie verschwommen. Helen war erwacht, während sich die Sanitäter um sie gekümmert hatten, und Peter und sein Kollege hatten mich befragt, was passiert war. Ich hatte es ihnen erzählt und als sie nachhakten, warum sie hier gewesen war und mich für irgendwas beschuldigte, erzählte ich ihnen auch, was ich von meiner Mutter gehört hatte. Helens Cousin traf auch kurze Zeit später ein und Peter befragte ihn, während sein Kollege mich weiter ausfragte. Er machte sich genaue Notizen und bohrte immer wieder alles nach. Die Sanitäter nahmen Helen mit, um sie im Krankenhaus von Sandersons Bay genauer zu untersuchen. Mir war das nur recht. Mr. Melton entschuldigte sich schließlich bei mir für Helens Verhalten. Er bestätigte Peter und seinem Kollegen, dass alles stimmte, was ich von meiner Mutter gehört hatte, und äußerte seine Befürchtung, dass Helen einen Rückfall erlitten hatte. Sie verhielt sich seiner Meinung nach seit Tagen schon anders, aber er hatte dem Ganzen nicht viel Beachtung geschenkt, worüber er nun sein Bedauern äußerte. Erst an diesem Tag hatte er wirklich angefangen sich Gedanken zu machen, als er eine Schmiererei an seinem Kühlschrank entdeckt hatte. Helen hatte ihm zwar erklärt, sie sei das nicht gewesen, aber da die Alarmanlage nicht ausgelöst hatte, konnte es seiner Meinung nach auch kein Einbrecher gewesen sein. Mich durchfuhr es siedend heiß bei seinen Worten. Eine Alarmanlage. Daran hatte ich gar nicht gedacht, nicht in diesem verschlafenen, kleinen Ort. Da hatte ich wirklich verdammtes Glück gehabt, dass die Anlage wohl einen Defekt gehabt hatte.

Als ihn Peter darauf ansprach, ob er wisse, wo Helen gewesen war, als bei Marie und Gabriel eingebrochen worden war, durchflutete mich Erleichterung und fast so etwas wie Triumph. Also verdächtigte er nun Helen. Vielleicht würde man sie nun auch einsperren, ob im Gefängnis oder in einer Psychiatrie war mir dabei egal. Mr. Melton konnte nicht aussagen, ob sie zu Hause gewesen war. Seiner Aussage nach ging sie täglich zum Grab ihres Bruders und blieb lange dort. Bevor ich es mir verkneifen konnte, hatte ich auch von unserer Begegnung am Friedhof erzählt. Peter und sein Kollege machten sich sofort Notizen und hakten genau nach, warum ich nicht früher davon erzählt hatte oder gleich die Polizei angerufen hatte. Meine Antwort darauf war ganz einfach.

"Ich hatte Angst", erklärte ich. "Nach allem, was ich von meiner Mutter gehört hatte, hatte ich einfach Angst. Und sie hatte ein Messer. Und ganz ehrlich ... Wäre Gabriel nicht im Krankenhaus, wäre ich schon längst hier weg. Aber ich bin wegen Marie geblieben." Sie machten sich weiterhin ihre Notizen und Mr. Melton versprach, dass er mit dem Psychologen seiner Cousine telefonieren würde. Ich war so unglaublich erleichtert, als ich hörte, dass er eine erneute Unterbringung in einer Psychiatrie nach allem, was er gehört hatte, unterstützen würde. Vielleicht würde sie das davon abhalten Marie und mich weiter zu belästigen.

Natürlich erzählte ich auch Marie von allem, was passiert war. Sie war nicht gerade erfreut, als sie hörte, dass Helen nun im gleichen Krankenhaus war wie sie und Gabriel, aber zumindest hatte sie im Gegenzug eine gute Nachricht für mich: Gabriel war aus dem Koma erwacht. Noch würden die Ärzte ihn nicht entlassen, aber dass er wach war, war für sie eine große Erleichterung, genau wie für Marie und mich.

An diesem Abend konnte ich zum ersten Mal seit langem wieder ruhig und entspannt ins Bett gehen.



Epilog


Die restlichen Tage meines Urlaubs bei Marie und Gabriel verliefen ruhig, angenehm und eben so, wie man sich den Besuch bei Freunden, die man lange nicht gesehen hatte, vorstellte: Einfach schön. Gabriel musste zwar noch einige Tage im Krankenhaus bleiben, aber Marie richtete es nun so ein, dass sie vormittags zu ihm fuhr und nachmittags wieder zurückkam, so dass ich nicht ganz alleine bleiben musste. An einem dieser Nachmittage besuchte uns Mr. Melton und erzählte uns, dass Helen nun wieder in einer Psychiatrie war. Ihre beiden Angriffe auf mich und der Verdacht, dass sie hinter dem Einbruch und der Verwüstung steckte, hatten ihre Psychologin und eine Gutachterin der Polizei dazu gebracht, dass sie noch immer nicht über den Verlust ihres Bruders hinweg war und auch weiterhin unseren Müttern die Schuld an seinem Selbstmord gab. Ich war wirklich froh, dass sie nicht mehr auf freiem Fuß war, und ich erzählte auch noch am gleichen Abend meiner Mutter davon. Sie war geschockt von allem, was ich ihr zu berichten hatte, aber auch froh, dass es Marie und mir gut ging. Immerhin hatte sie selber erlebt, zu was Helen in der Lage war.

Es hatte mir leid getan wieder abzufahren, aber ich musste auch wieder zur Uni und mich weiter meinem Studium widmen. Marie und ich nahmen uns vor uns nun öfter zu besuchen und sie gestand mir bei unserem Abschied, dass der Gedanke an einen Umzug noch nicht ganz aus ihren Gedanken verschwunden war. Sollte es dazu kommen, würde ich den beiden natürlich bei der Suche nach einer Wohnung und auch beim Umzug selber helfen. Aber bis zu dieser Entscheidung war es sicher noch etwas hin. Ich war jedenfalls sehr froh und erleichtert, als ich wieder zu Hause in meinem Wohnzimmer saß, meinen Laptop und eine Tasse Kaffee vor mir. Keine Helen mehr, die uns belästigen und bei uns herumspuken würde. Endlich Ruhe. Sollten sich doch die Psychologen und Psychiater um sie kümmern.

Ich wollte nur noch mein Leben wieder genießen.

Hatte sich der Kugelschreiber gerade bewegt?

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Tag der Veröffentlichung: 25.07.2018

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