Lino Entlebucher - Such und Hilf!
Unfug? Kann ich schon!
Von Christine Futter
2. Auflage, 2020
© Alle Rechte vorbehalten.
Bookrix
Der pfiffige Entlebucher-Sennenhund Lino hat bei seiner Dosenöffnerin Franziska im Tierpark einen tiefenentspannten Tagesablauf. Zwischen Ententeich, Streichelzoo und Futterküche gibt es für einen jungen und vor allem kreativen Kopf wie Lino täglich etwas Neues zu erleben. Bis zu dem Tag, an dem er es mit seinen Streichen übertreibt und der sonst so geduldigen Franziska der Kragen platzt.
Sie entscheidet: So geht das hier nicht weiter!
Aber ist eine disziplinierte Rettungshundestaffel wirklich die richtige Lösung?
Denn mit seinem komplizierten Verhältnis zu Hundeplätzen im Allgemeinen und zum Gehorsam im Besonderen, sowie seiner charmant-explosiven Mischung aus Hundelogik, Renitenz und Durchhaltevermögen, macht es die Töle für Franziska zu einer Herausforderung, ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Kann aus einem Entlebucher-Sennenhund überhaupt ein erfolgreicher Rettungshund werden? Oder ist dieses Projekt zu verrückt und endet zwangsläufig im kompletten Chaos?
Und wie wird man das überhaupt: ein Rettungshund?
Liebe Leser*innen,
ich hoffe die Geschichten von Lino und seiner Franziska, ihren Freunden, Kollegen und Kameraden, werden euch gefallen. Sie zu schreiben, war jedenfalls ein riesen Spaß für mich.
Bitte denkt ab und zu daran, wie wichtig die Arbeit der freiwilligen Helfer für unsere Gesellschaft ist und wenn ihr ihnen begegnet, beim Sanitätsdienst auf Kirmes oder Popkonzert, bei Rettungseinsätzen, im Katastrophenfall oder mit ihren Rettungshunden bei einem Sucheinsatz, sagt ihnen einfach mal "Danke, schön dass ihr da seid." Die freuen sich!
Und Ähnlichkeiten mit jedweder Realität, gleich ob Personen, Organisationen oder Gegebenheiten, wären rein zufällig und in überhaupt keiner Weise beabsichtigt.
Christine Futter
Gestern ...
‚Rabummm!‘ DIE Haustür ist zu. Völlig mit ihren Nerven am Ende reißt Franziska den Reißverschluss ihrer Daunenjacke runter. Am rechten Ärmel schaut durch einen großen Riss die Füllung raus und auch der Ärmel ihres Pullovers darunter ist zerrissen. Sie zieht die Jacke aus, krempelt den Ärmel des Pullovers hoch und schaut sich die Bescherung an. Zwei tiefe runde Löcher im Unterarm und ein Riss kurz oberhalb des Handgelenkes bluten so vor sich hin.
„Verdammt“, murmelt sie, mehr zu sich selbst, als zu Lino. Ihr Entlebucher-Sennenhund sitzt neben ihr auf den Fliesen und schaut so traurig in die Weltgeschichte wie ein waidwundes Reh. „Das müsste eigentlich ein Arzt draufschauen aber erstens habe ich da absolut keinen Bock drauf und zweitens lässt man Hundebisse eh‘ offen.“
„Kann ich helfen?“, kommt es befremdlich kleinlaut von unten.
„Nein“, gibt sie ihm Bescheid, ohne ihn anzuschauen. Da sinkt Linos Kopf noch ein wenig trauriger zum Boden hinab. Seine sonst so fröhlichen Schlappohren fallen über seine Kulleraugen und seine Rute, mit der lustigen weißen Spitze, liegt leblos neben ihm auf den Fliesen. Franziska kramt derweil in einer Küchenschublade nach der Pflasterbox, um wenigstens den Riss etwas zu verkleben. Dann wickelt sie eine elastische Mullbinde um ihren Unterarm. Dabei fällt ihr das Papier der Verpackung zu Boden. Lino schleicht aus dem Flur in die Küche, hebt die Schnipsel mit der Schnute auf und hält sie ihr hin. Da erst schaut sie ihn vorwurfsvoll an.
„Kannst du mir bitte mal erklären, was da eben passiert ist? Warum hast du um dich gebissen wie ‚ne blinde Wildsau?“ Mit der unverletzten Hand nimmt sie ihm die Schnipsel ab und wirft sie in den Müll. Ein Leckerchen fordert Lino diesmal nicht ein.
„...“, keine Antwort.
„Lino, rede!“
„Ich weiß doch auch nich‘“, nuschelt er und schaut in eine andere Richtung.
„Was weißt du nicht? Weißt du nicht mehr, was es bedeutet, wenn ich ‚Nein‘ rufe? Weißt du nicht, warum du keine anderen Hunde anblaffen sollst? Oder weißt du nicht, was mit Hunden passiert, die sich in einer belebten Fußgängerzone, an einem Samstagnachmittag aufführen wie ein tollwütiges Wildschwein? Sag es mir, Schnuppel. Was genau weißt du nicht?“ Wieder Stille. „Und, wo du gerade beim Nachdenken bist, warum sind deine Zähne in meinem Arm gelandet?“
Traurig schaut Lino auf seine Vorderpfoten und fragt: „Komm‘ ich jetzt ins Tierheim?“
Franziska, guckt ihn an. Was da vor ihr sitzt, ist nur ein dreifarbiges Häuflein Elend. Eine halbe Stunde früher, ja da war er anders drauf. Aber, was soll’s, wer kann solchen Augen schon böse sein? Sie kniet sich zu ihm auf den Boden und wuschelt mit der Hand über seinen Kopf, das seine Schlappohren wackeln. „Aber nein, mein Bärchen. Trotzdem, was war da eben los?“
„Ich weiß auch nich‘, das war alles so viel auf einmal. So viele Leute, alles so laut, ich hab‘ das doch noch nie gesehen. Dann noch die vielen anderen Hunde.“
„Die hättest du alle ignorieren können.“
„Schon ... alle, bis auf den einen.“ Er hebt den Kopf etwas und es blitzt in seinem Augenwinkel.
„Ja, ich habe es mitbekommen, du Dödel! War es ungefähr so: Du wolltest dich geifernd auf diesen Foxterrier stürzen. Weil ich dich aber an der Leine hatte, konntest du nicht hin und das brachte dich derartig in Fahrt, dass du mal ganz nebenbei ersatzweise mich in den Arm gebissen hast!“
„Ich hab‘ das doch garnich‘ gemerkt“, versucht er eine Verteidigung. „Ich wollt‘ einfach nur die Leine zu fassen kriegen und ...“
„...und hast dummerweise, gaaanz sachte meinem Arm erwischt und mir deine Zähne, durch die dicke Winterjacke und durch den Pullover, schwungvoll direkt zwei Zentimeter tief in die Haut gejagt. Danke, hat echt Spaß gemacht.“
„Warum hast du mich überhaupt dorthin mitgenommen?“
„Wohin?“
„In die Fußgängerzone, an einem Samstagnachmittag, wo auch noch Markt ist, mit vielen Hunden ...“
„Du wolltest doch mit.“
„Ich dachte, wir fahren in den Wald. Fußgängerzonen mag ich nicht.“
„Trotzdem, hättest du dich benehmen können.“
„Ich bin auch nur ein Hund“, wehrt er sich, „Ich tu, was ich kann.“
„Seh ich, mich in den Arm beißen. Teufel noch eins, das darf ich doch niemandem erzählen. Entweder halten die mich alle für total unfähig.“ Lino will für eine Bemerkung Luftholen.
„Überleg dir gut, was du sagen willst!“, droht Franziska und seine Schnute klappt wieder zu. „Die andere Hälfte hält dich für gefährlich.“
„Du sagst doch immer ‚Der Hund ist nie schuld‘.“
„Ob ich das sage oder ob auch andere daran glauben, sind zwei ganz verschiedene Stiefel, mein Schnuppel.“ An der Stelle ist Lino wieder etwas erleichtert. Wenn sie ihn wieder Schnuppel nennt, hat er das Schlimmste hinter sich. „Aber is‘ doch wahr. Hättest du mich nich‘ da hingeschleppt, wäre das alles nicht passiert. Oder?“
„Schon ...“
„Siehste, Prinzessin!“
„Trotzdem, egal, wir müssen was unternehmen. Das kann so nicht weiter gehen mit uns zwei Beiden. Wir brauchen jemanden, der uns hilft.“
„Du meinst, einen der Dir hilft.“
„Jaaa, von mir aus auch einen der mir hilft. Aber du wirst dabei sein, und zwar ganz dicht, du Terrorist.“ Seine Franzi ist offenbar wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Erleichtert sieht Lino zu, dass der Alltag wieder einzieht.
„Was gibt’s zu essen?“, will er wissen. Ihre Hände in die Seiten gestemmt schaut Franziska auf ihn herunter. „Für dich, nicht mehr so viel fürchte ich. Denn weißt du, heute früh im Tierpark kamen mir die Portionen für die Leoparden ein bisschen klein vor, die habe ich zur Sicherheit mal nachgewogen. Was meinst du, habe ich herausgefunden, Schätzelein?“ Lino
„Du hast beim Abwiegen Mist gebaut, den du mir in die Schuhe schieben willst.“
„Nee, mein Bester. Ich bin ziemlich sicher, nachdem du da vorbeigekommen bist, fehlten in jeder Schale gut zweihundert Gramm. Bei vier Leoparden macht das nach Adam Riese achthundert Gramm, die in deinem Bauch verschwunden sind“, sie pikt ihm prüfend einen Finger in die Rippen. „Los gib es zu, du bist überführt, du Kleptomane.“
„Lass das piken“, knatschig tritt Lino einen Schritt zur Seite. „Stell dich ma‘ nich‘ so an. Bei den Mengen, die ihr jeden Tag in der Futterküche verarbeitet, fällt das bisschen Rind oder Pferd doch kaum ins Gewicht.“
„Du Gierschlund glaubst allen Ernstes, dass du auf Tierparkkosten unbemerkt wie eine Made im Speck leben kannst, ohne dass es jemandem auffällt. Für alles, was im Laufe eines Monats klammheimlich in deinem Magen verschwindet, berappe ich bei der Tierprakleitung eine monatliche ‚Lino-Verpflegungspauschale‘.“ Lino bläst ungehalten die Backen auf. „Na danke schön auch. Und ich mache jeden Tag Klimmzüge, um nicht erwischt zu werden. Da brauche ich mich ja gar nicht um Geheimhaltung bemühen, Prinzessin.“
„Dich bei der ‚Jagd‘ zu beobachten, Bärchen, war mir ein Ver-gnü-gen“, freut sich Franziska und klappt die Hände zusammen.
„Nenn mich nicht ‚Bärchen‘“, blafft er sofort, wittert allerdings, nach einer kurzen Denkpause, die neuen Möglichkeiten. „Wenn ich dafür bezahle, dann darf ich ja überall dran.“
„Oh, was für eine Vorstellung! Morgens um zehn in der Futterküche. Fünf Meter an der Wand entlang stehen Eimer und Bottiche bereit. Jeder gefüllt mit Obst, Gemüse, Gebäck und Fleisch aller Sorten, und bevor die Kollegen es abholen, flanierst du dran entlang und pickst dir die besten Brocken raus.“
Lino nickt eifrig und zustimmend, dass die Schlappöhrchen wackeln. „Von den Haferflockenbällchen mit Quark und Honig für die Braunbären mach in Zukunft etwas mehr“, gibt er gleich seine Bestellung auf, „die sind lecker.“
„Wäre es nicht einfacher, wenn ich dir einen eigenen Eimer zusammenstelle, euer Hochwohlgeboren?“
Er überlegt. „Wo bliebe da der Spaß? Bei genauem Hinsehen ... Ich bleibe lieber beim Klauen, ja?“ „Guut, ookeh...“, fügt Franziska sich in ihr Schicksal.
„Jetzt hab‘ ich vom Reden erst recht Hunger. Mach ma‘ mein‘n Pott voll“, bestimmt der Hund und setzt sich neben seinen Futternapf. Da Franzi die Augenbrauen hochzieht, schiebt er gerade rechtzeitig ein „Bitte!“ hinterher.
Nein, das ist kein Schreibfehler. Lino’s ‚Bitte‘ hat fast immer Ausrufzeichen.
Beim Richten seiner Frischfleischportion erinnert ihr schmerzender Arm Franziska daran, dass sie etwas tun muss, bevor ihr ‚Unternehmen Entlebucher‘ gnadenlos aus dem Ruder läuft. Lino ist zwar nicht ihr erster Hund, und als Zootierpflegerin hatte sie eigentlich erwartet, besser auf so einen kleinen Flegel vorbereitet zu sein aber offenbar fehlen ihr entscheidende Informationen, Fähigkeiten und Wissen. Jedes Mal, wenn sie nicht weiter weiß, nutzt die Töle das für Oberwasser, macht, wonach es ihn gelüstet und sieht dabei auch noch gut aus. Und das mit grade Mal zehn Monaten. Was soll das werden, wenn er erwachsen wird? Wird er dann noch haarsträubender? Vor einigen Wochen hat er das Stänkern bei Leinenbegegnungen für sich entdeckt und findet es brüllend komisch. Seit dem resultiert jede zweite Hundebegegnung in einem fabelhaften Bellkonzert.
Den morgendlichen Spaziergang zum Bäcker hat Franziska bereits durch eine Autofahrt in den Wald ersetzt, weil er morgens um sechs die ganze Nachbarschaft wachgebellt hat.
Mit einem wild grölenden Hund an der Hand, in der Straße zu stehen und rundum werden die Jalousien ratternd hochgezogen, ist megapeinlich. Dumm gelaufen. Ihr nächstes Projekt trägt die Überschrift: Hundeschule suchen. Dabei hatte alles so schön angefangen.
Zwei Jahre ist es her, da hatten Franziska und ihr Mann an einem einsamen Waldsee im Sauerland ihre erste Begegnung mit einem Entlebucher-Sennenhund.
„Oh ist der aber lieb und sooo niedlich. Was ist das denn für eine Rasse?“, hatte sie den Menschen am anderen Ende der Hundeleine gefragt und den Vierbeiner hinter den schwarzen Schlappohren gekrault. Wo er sich schon mal so schön verschmust an ihre Beine drückte und mit der weißspitzigen Rute wedelte.
„Das ist ein Entlebucher“, die Antwort des Besitzers klang ein kleines bisschen abgenutzt, er hatte sie wohl schon mehr als nur einmal gegeben.
„Was für ein Buch?“
„Ein Entlebucher-Sennenhund“, erklärte er geduldig und deutlich, „das ist die Kleinste der vier Sennenhunderassen aus der Schweiz.“
„Schatz schau doch mal, Schatz, ist der nicht allerliebst? Und so menschenbezogen und so aufgeschlossen.“
Zwei Jahre nach diesem Sommertag im Sauerland, zieht kurz vor Weihnachten ein Entlebucher in den Haushalt der beiden ein. Name: Bardolino vom Hubertusdiek. Sechster aus einem Wurf mit fünf weiteren Geschwistern. Franziska freut sich auf ein Herzilein zum Knuddeln und Liebhaben. Ihr Mann, auf einen repräsentativen Bewacher des Familienanwesens.
Dummerweise pendelt Linos Lebenseinstellung meist zwischen ‚Alles meins‘ und ‚Es kann nur einen geben‘. Aber wer ahnt das beim Kauf eines niedlichen Welpen mit Knopfaugen, so was stellt sich erst später heraus. Die Züchterin hatte die beiden gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, aus Lino einen Deckrüden werden zu lassen. Ein Vorhaben, das mit einer Mitgliedschaft im Züchterverein und einigen Besuchen von Hundeausstellungen verbunden sein würde. Franziska und ihr Mann sagten, ja, das könnten sie sich vorstellen und da sie für den Wurf die einzigen Interessenten mit Hundeerfahrung waren, griff die Züchterin in den wuselnden Welpenhaufen, zog ein recht aufgewecktes, dreifarbiges Fellding heraus und meinte: „Dann ist der hier für Sie. Das ist der Schönste und Aufgeweckteste.“
Die Rückfahrt ins Sauerland verlief, na ja, anders.
Franziska sitzt hinter dem Lenkrad und aus dem Beifahrerfußraum tönt hartnäckiges Quengeln.
„Ich will aber raus gucken!“, quiekt Lino so lange, bis ihr Mann den Quälgeist auf seinen Schoß hebt, damit er aus dem Beifahrerfenster schauen kann. Er sitzt aber nur kurz still, dann geht das Quieken wieder von vorne los.
„Sag, mal hörst du das auch?“, fragt die Chefin ihren Mann, der mit einem weichen Ausdruck in den Augen den kleinen Quieke-Kerl auf seinen Beinen beobachtet und im lobend das Fell krault.
„Was soll ich denn hören? Ist am Motor was kaputt?“, schreckt er aus seinen Gedanken hoch.
„Den Hund.“
„Was meinst du?“ Scheint, er hat wirklich keine Ahnung.
„Na das ... ach egal.“
Lino verfolgt den kurzen Wortwechsel zwischen den beiden und schaut zu ihr herüber. „Wo fahren wir hin?“
„Ins Sauerland mein Bärchen“, beantwortet Franziska überrascht, aber ganz automatisch seine Frage.
Die Retourkutsche ist prompt und unmissverständlich. „Nenn mich nich‘ Bärchen!“
Sie zieht verblüfft ihre Augenbrauen zum Ansatz ihrer blonden Haare. „Du siehst aber aus wie ein süßes Bärchen. Schwarze Nase, Kulleraugen, kurze Beine.“
„Und du wie ‘ne überreife Prinzessin. War’n dein Hintern immer schon so dick?“, altklug und vielsagend schielt er genau dort hin. Franziska ist sprachlos.
„Außerdem“, stellt die acht Kilo Mini-Töle klar, „bin ich nicht niedlich, sondern gefährlich und ich kann schwimmen!“
„Schwimmen?“, wundert sie sich.
„Jepp.“
„Ach so“, sie nickt. „Na dann schau’n wir mal. Jetzt fahren wir heim, ja?“
„Mach mal“, gibt er ihr sein ‚ok‘ und mit, „ich bleib‘ hier sitzen“, lümmelt er sich gemütlich beim Hausherrn auf dem Schoß zurecht und peilt aus dem Fenster aber schon wenige Minuten später, turnt er erneut herum. Um besser an den Polstern schnüffeln zu können, drückt er seine feuchte Schnute zwischen Chefhintern und Sitz und saugt Luft in die Lungen wie ein kleiner Staubsauger.
„Suchst du was Bestimmtes?“, erkundigt sich Franziska mit einem schnellen Seitenblick und schaut dann wieder auf die Autobahn. Die A2 ist voll und bald muss die Ausfahrt Ryhnern in Sicht kommen.
„Irgendwas riecht hier.“
„Da riecht nix, der Wagen war gerade zur Grundreinigung in der Werkstatt.“
„Doch da ist was, ich riech’s doch“, lässt Lino nicht locker und versucht auf die Rückseite des Sitzes zu gelangen. Weil er so klein und wendig ist, ist er nur zehn Minuten später den großen Händen vom Chef entwischt und hinter dem Beifahrersitz verschwunden.
„LINO komm sofort da raus!“, rufen Chef und Chefin gleichzeitig.
„Kann grad‘ nich‘“, klingt das Welpengequieke etwas dumpf aus dem Fußraum, „das hier ist lecker.“
„Was hast du da gefunden. Gib es sofort her“, ruft Franziska. Sie ist erschrocken, ein Hund sollte doch nicht einfach alles fressen, was so herumliegt. Aus dem ‚Keller‘ kommt ein leises Knack-Knack, dann taucht Lino aus der Versenkung wieder auf und krabbelt zurück auf seinen Beobachtungsposten beim Chef.
„War das ein Hustenbonbon? Du riechst so nach Eukalyptus.“
„Schmeckt’n bisschen komisch, is‘ aber essbar“, bewertet Lino seine Jagdbeute.
„Ich hoffe, es war kein Papier mehr drum?“
„Nö, war am Teppich fest getrocknet.“
„So so, und das hast du gerochen?“
„Blöde Frage, Prinzessin, die ganze Karre riecht wie ein Pfefferminzbonbon.“ Linos Mini-Nase funktioniert offenbar hervorragend.
„Ich rieche nichts.“
„Dann ist meine Nase wohl die Bessere“, Lino klingt überheblich und guckt auch so.
„Du bist frech, trägst für deine ‚Größe‘ die Nase zu hoch und du riechst wie ein Koalabär, Bärchen.“ Provozieren kriegt Franzi auch hin.
Lino lässt sich aber gar nicht drauf ein. „Was is’n ein Kolalabär.“ Er fühlt sich sicher denn, sind wir doch mal ehrlich, wer schlägt schon niedliche Welpen?
„Ein kleines wolliges Beuteltier, das Eukalyptusblätter frisst und deshalb riecht wie eine ganze Eukalyptusplantage. Wirst du noch kennen lernen, wenn du mit mir zur Arbeit fährst.“
„Wo ist das?“
„Im Tierpark. In vier Wochen ist mein Urlaub vorbei, dann gehen wir in Zukunft gemeinsam zur Arbeit.“
Eine Stunde später, hält der Wagen vor Linos neuer ‚Immobilie‘. Eine hübsche Doppelhaushälfte mit Terrasse, Balkon und Garten, der Wald beginnt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Kaum hat er die Freitreppe erklommen, das ist, wegen der kurzen Beine etwas umständlich, stürmt Lino an der Chefin vorbei durch die Haustür. Schlittert schwungvoll durch den gefliesten Hausflur bis zur Küche und schafft es rechtzeitig, vor der gläsernen Terrassentür zu bremsen, die in seinen neuen Garten führt.
„Mach auf!“, befiehlt er Franziska.
„Ja, ich bin ja schon da.“ Sie beeilt sich, öffnet die Tür zum Garten. Er überspringt die Türzarge, galoppiert mit hoch gerollter Rute weiter über die Terrasse auf die Rasenfläche, dass die Amseln erschrocken von ihrer Badestelle am Teich flüchten, und flitzt bis fast unter die Ligusterhecke, die das Grundstück zum Nachbargarten hin begrenzt. „Is’ das alles?“, fragt er mit Blick über die Schulter.
„Tut mit leid, euer Hochwohlgeboren, dass es kein Palast mit hundert Räumen und Tanzsaal ist. Du wirst mit dem vorliebnehmen müssen, was du hier siehst.“
„Ich brauch‘ keine hundert Räume, fünfzig gut gefüllte Speisekammern reich‘n völlig. Was gibt’s hier’n so zu essen, Prinzessin?“ Prüfend zieht er wieder, wie schon im Auto, die Luft durch die Nase.
„Wie wäre Dosenfleisch? Wir haben zwar etwas von deinem gewohnten Futter mitbekommen, die Speisekammer ist aber gut gefüllt mit Dosen verschiedener Fleischmenüs.“
„Welpenfutter?“
„Wäre das gut?“
„Ich will kein Welpenfutter, bin doch kein Baby.“ Inzwischen glaubt Franziska zu wissen, wie der Hase hier laufen wird. „Nein, natürlich kein Welpenfutter“, flunkert sie, mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern, „Rindermenü, Pansen, Hühnchen, Fisch, Ente. Geht das fürs Erste?“ Sie nimmt sich vor, es ihm einfach zu zerkleinern. „Weißt du Schnuppel, ich arbeite im Zoo, ich bin Tierpflegerin. Über das Essen wirst du dich wirklich nicht beschweren müssen.“
„Schnuppel?“
„Du schnuppelst schon die ganze Zeit hier so herum, darum.“
„Schnuppel ist ok.“
„Na dann schlage ich vor, es gibt jetzt was zu essen und danach gehst du eine Runde pennen. Für einen Welpen bist du schon ganz schön lange auf den kurzen Beinen.“
Lino versucht, mit gelupftem Hinterbein an einen Blumentopf zu pinkeln, verliert mangels Übung das Gleichgewicht, fällt um, tut als sei alles geplant und trollt sich mit hoch erhobenem Kopf in die Küche. Drinnen setzt er sich auf den Läufer vor der Terrassentür. Solange Franziska damit beschäftigt ist, eine Fleischdose zu öffnen und in seinen Pott zu füllen, zuckt keins seiner Ohren. Sobald sie jedoch den Pott aus der Mikrowelle holt, warmes Essen schmeckt es besser und ist bekömmlicher, schießt er los und verbeißt sich von hinten, mit seinem Welpenstimmchen knurrend in ihrem Hosenbein. „Stell’s runter! Aber flott!“, kommandiert der Zwerg, derweil er mit aller Kraft an der Jeans zieht und zerrt.
„Hey du Wichtel!“, Franziska erschrickt, stellt die Schüssel auf die Anrichte und versucht, ihr Bein wieder zu bekommen. „Wat für’n Problem hast du denn? Lass mich los!“, sie packt ihn am Kragen und zieht, bekommt ihn aber erst nach einigen Sekunden vom Stoff ab. So fest hat der Kobold zugebissen.
„Lass mich los!“, krakeelt der Fellzwerg. „Ich hab‘ Hunger.“
„Was sollte denn diese Attacke?“, Franzi ist sauer.
„Ach was, Attacke. Ist doch alles im grünen Bereich, Schneewittchen. Die Chefin meiner Mama musste ich auch immer ein bisschen anschieben, wenn’s um Fressen ging. Also reg dich ab, ihr braucht das.“
Später am Abend klärte ein Telefonat mit Linos Züchterin die Ursache. Bei Futterezeit in der Welpenstube, betrat die, übrigens sehr liebenswerte, Dame mit den Futterschalen den Auslauf der sechs Zwerge. Die fielen dann geschlossen über ihre Hosenbeine her und traktierten sie so lange, bis sie die Schüsseln glücklich auf den Boden gestellt hatte. Nicht in jedem Fall unfallfrei übrigens, was den kleinen Wegelagerern immer besonders viel Spaß brachte, weil sich dann alle sechs fröhlich um das auf dem Boden verteilte Fleisch geprügelt haben. Klar, dass Lino dabei immer in der vordersten Riege mitmischte. Eine Strategie, auf die er im späteren Leben noch mehrfach zurückgreifen sollte. Zum äußersten Verdruss seiner Franziska. Unter Fersenstechen steht es sogar im Rassestandard.
Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, Küche. Lino trappelt zu Franziskas Füßen von rechts nach links und quengelt. „Meine Mama Hera meinte, Rindviecher treiben, klappt mit Fersenstechen am besten. Was ist jetzt? Ich warte. Ich hab Hunger.“ Er lässt die Spitze seiner Rute ungehalten auf die Fliesen klopfen.
Franziska blickt auf ihn runter, gibt schließlich nach und stellt die Schüssel auf den Boden.
„Geht doch, Prinzesschen“, stellt Lino fest und lässt das Fleisch in seinem Bauch verschwinden.
Mit der Wampe voll und schwer vom Welpenfleisch, fällt er anschließend wie tot in sein neues Körbchen im Wohnzimmer und schläft, wie nur ein Hundewelpe schlafen kann. Auf dem Rücken liegend, halb über dem Rand hängend, allerliebst schnarchend und mit so völlig verdrehter Wirbelsäule, dass Franziska nur vom Hinsehen Rückenbeschwerden bekommt.
Endlich, nach viel zu vielen hundelosen Jahren, ist wieder ein Hund im Haus. Und auch noch ein ziemlich Bunter.
Lino benötigte vier Wochen, dann hatte er den Haushalt im Griff und straff durchorganisiert. Spazieren gehen, vier Mahlzeiten am Tag plus Leckerchen, Kuscheln und Kraulen ohne Obergrenze, nachts mindestens einmal in den Garten zum Pullern. Die ganze Stimmung im Hause hat sich verändert, sie ist irgendwie dynamischer geworden? Ja, das passt, Lino verbreitet um sich herum eine erhebliche Portion Dynamik.
Dabei sollte er echt ausgelasteter sein als der deutsche Durchschnittshund. Nach Ende des Eingewöhnungsurlaubes, im Alter von vierzehn Wochen, begleitet er Franzi zur Arbeit in den Tierpark und ist dort den ganzen Tag auf den Pfoten.
Franziska ist Reviertierpflegerin, sie ist für das Raubtierrevier verantwortlich, das alle Viecher umfasst, die Fleisch oder Fisch fressen.
Wenn sie früh um sieben die Arbeit aufnehmen und die großen Eingangstore aufschließen, warten jeden Tag hunderte Aufgaben. Tiere zählen, Futter richten und verteilen, Zäune und Absperrungen kontrollieren, Viecher auf ihre Anlagen lassen, die Innenkäfige putzen, die Außenanlagen reinigen, die Besucherbereiche säubern, Müll wegbringen, Mist wegfahren, Show-Fütterungen abhalten. Und am Abend alles wieder umgekehrt. Erneut Futter richten und verteilen, Tiere für die Nacht wieder einsperren – was die nicht immer wollen, Besucher zum Tor hinauskomplimentieren – was die ebenfalls nie wollen, trotzdem darf niemand übersehen werden. Später alles abschließen, ein letzter Kontrollgang, dann ist endlich Feierabend. Und am Wochenende dieses ganze Programm mit halber Besetzung. Dazu gesellt sich das, was eben keine Routine ist, aber immer wieder gerne genommen wird: Die Berberaffentruppe rödelt in tagelanger Kleinarbeit den Maschendraht ihres Außengeheges auf und planet einen Ausbruch. Die Pavianfamilie hat eine Ratte ermordet und rollt sie solange per Hand über den Boden, bis sie ihre Länge verdoppelt hat. Vor den entsetzen Besuchern, versteht sich. Ein offensichtlich komplett irrer Vater hebt mit dem Spruch „Geh mal die Teddys füttern“, seine fünfjährige Tochter über die Absperrung und schiebt sie bis an das Käfiggitter. Darauf angesprochen, schimpft er Franziska an, der bei dem Anblick der Angstschweiß, den Rücken hinunterläuft, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, er habe das schon im Griff.
Der Traktor mit dem Mistanhänger springt nicht an. Die Jaguardame prügelt sich mal wieder nur aus Spaß an der Freud‘ mit ihrem Kater. Beide müssen getrennt werden. Ein Flamingo unternimmt einen netten Ausflug in die angrenzende Schrebergartenkolonie und wird dort für eine Taube gehalten. Die zahme Dohle ‚Jakob‘ ist mal wieder mit voller Absicht aus ihrer Voliere entkommen und vertreibt sich die Zeit mit der Jagd auf Tierparkbesucher, denen sie im Sturzflug neue spaßige Frisuren verpasst. Nur das Wolfsrudel, führt in seinem großen waldigen Gehege ein relativ harmonisches Familienleben.
Lino darf überall dabei sein, wo es für ihn ungefährlich ist und Franziska ihn im Auge hat. Trotzdem sind eine Menge Regeln zu beachten.
„Du tust, was ich oder meine Kollegen dir sagen, sonst sind deine Freiheiten gestrichen. Außerdem, mein Schnuppel, lässt du deine Pfoten und Zähne von jedweden Schlössern und Riegeln. Du bleibst von den Zäunen weg, fasst keine Türen an, jagst keine Tiere und du bellst sie nicht an, auch nicht, wenn sie im Gehege sind und nicht an dich ran können. Genau genommen bellst du sie erst recht nicht an, wenn sie im Gehege sind und nicht an dich ran können. Capisci?“, hält sie ihm einen Vortrag.
„Hä?“, macht er und schielt einer freilaufenden Ente hinterher. Franziska dreht mit einer Hand seinen Kopf in ihre Richtung. „Ob du das verstanden hast?“, hakt sie nach und wuschelt ihm über den Kopf, das seine Ohren wackeln.
„Glaub‘ schon, Prinzessin. Pfoten und Klappe still halt‘n, ‚Bella Figura‘ mach‘n, nich‘ selbst als Löwenfutter end‘n.“
„Genau“, der Hund bringt Sachverhalte auf den Punkt. „Ernsthaft Bärchen, einige Ecken hier sind wirklich gefährlich für so eine halbe Portion wie dich. Bist du startklar für deinen ersten Arbeitstag, mein Kleiner?“ Er nickt. „Dann los. Zuerst spannen wir Dumdum, den faulsten Ponyhengst der Welt, vor seine Kutsche. Zu dritt holen wir dann das Futter aus der zentralen Futterküche auf dem Wirtschaftshof und verteilen es bei den Kollegen in den Revieren, die warten schon darauf“, erzählt sie.
Einige Minuten später kommt sie mit dem gutmütigen Pony aus seinem Gehege und spannt das braune Wollknäuel mit routinierten Handgriffen vor die kleine vierrädrige Kutsche. Lino sitzt derweil auf einem dicken Findling und nimmt über einen Zaun hinweg Kontakt zu den Bewohnern des Streichelzoos auf. Die ihrerseits, beobachten zurück. Der Trupp Zwergziegen, die Familie Vierhornschafe, das Hängebauchschwein Anton mit seiner Sau Elise und die drei kleinen Esel, stehen unbeweglich im Halbkreis vor ihrem Stallgebäude und beäugen das neue dreifarbige Quiekeding. Kein Ohr bewegt sich, keiner blinzelt. Plötzlich lässt Lino ein welpenmäßiges Bellkonzert los und alle spritzen erschrocken durcheinander. Nur Anton, das Hängebauchschwein steht noch immer auf derselben Stelle, in der Mitte. So alt und taub, wie er ist, hat er nicht mitbekommen, worüber sich die anderen so aufregen.
„Lino, lass die Tiere in Ruhe!“, ruft Franziska fröhlich. „Komm her, wir können los“, mit einer Hand unter seinem Bauch hebt sie Lino auf den Kutschbock des Pritschenwagens und lenkt das Gespann auf den Weg, der zum Wirtschaftshof führt.
Sie liebt es, jetzt im Frühling im Freien zu arbeiten. An jeder Ecke singen die Vögel in den Baumkronen, die Sonne hat bereits ausreichend Kraft und überall genießen die Tiere die warmen Strahlen.
„Der Tierpark ist grob in fünf Reviere aufgeteilt, Lino. Vögel, Affen, Huftiere, Raubtiere, Reptilien, dann das Naturkundemuseum, das ist der runde Bau dort drüben“, sie zeigt dorthin, wo ein Dach aus den Bäumen schaut, denn der Tierpark hat einen großen alten Baumbestand, „und den Spielplatz. In der Mitte der Anlage siehst du die Ponyranch, wo Kinder Ponyreiten können. Da gibt es übrigens einen alten Schäferhund, mit dem du dich anfreunden solltest. Dort drüben“, sie wedelt mit dem Arm in die andere Richtung, „ist das Restaurant und direkt hinter dem Haupteingang vom Tierpark ist noch das städtische Tierasyl, wo Fundtiere aus der Stadt aufgenommen werden. Darum müssen wir uns aber normalerweise nicht kümmern, die haben ihre eigenen Tierpfleger. Ganz im hinteren Bereich der Anlage sind der Wirtschaftshof, der Misthaufen, das Kühlhaus mit der Fleischkammer“, da spitzt Lino die Ohren, „dort wird das täglich nötige Fleisch aufgetaut und wegen der Hygiene getrennt von allem Anderen, grob zerlegt. Ein Großhändler liefert jede Woche Tiefkühlfleisch, in Form von Rinderhälften, und Fisch. Gemüse und Obst holen wir jeden Montag und Freitag frisch vom Großmarkt. Zusatzfutter und Getreide kommen vom Landhandel, Heu und Stroh von lokalen Bauern. Auf dem Wirtschaftshof sind außerdem die zentrale Futterküche, eine Krankenstation mit Behandlungsraum und ein Quarantänebereich, die Gärtnerei, die Werkstatt und zuletzt noch die Pausen- und Umkleideräume der Mitarbeiter. Wir haben hier
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Christine Futter
Bildmaterialien: Christine Futter
Cover: Christine Futter
Tag der Veröffentlichung: 13.03.2019
ISBN: 978-3-7438-9952-0
Alle Rechte vorbehalten