Ein funkelnagelneues Herrenradl hat es sein müssen. Lila mit grünen Streifen. 21- Gang- Schaltung und 28- Zoll- Reifen. Mit Gepäckträger und Sportsattel. Ein nagelneues LED- Lichtsystem, Scheibenbremsen, Sportfederung. Der blanke Wahnsinn dieses Gefährt. Kostenpunkt ca. 2000€. Das war es ihm auch wert, nachdem das Herrenradl vom Vater mit Doppelachter, Kettenleierung, Sattelriss und Beleuchtungsdefekt, aber einer Gebrauchszeit von mindestens 30 Jahren endlich dem Hansl übergeben wurde. Der ist bei uns der Schrotthandler und hat dem Radl zwar nimmer viel abgewinnen können, aber aus zwei ähnlich gebauten Modellen plus ein bissl Schweiß- und Bastlarbeit hat er dann wieder ein Studenten- am Bahnhof- stehlass- Gefährt gebastelt ghabt, das dann trotz seiner Farbmischung, welche dem Radl ein bisserl den Anschein eines Kanari gab, und der groben Schweißnäte, 14 Tage nach Inbetriebnahme von irgendeinem Bsuffl als nächtlicher Taxiersatz verwendet wurde. Trotz der Baumängel reichte dann der Schwung des Gefährts trotzdem noch aus, um es bei der Abfahrt am Liebeswegerl, welcher bei uns in den Stadtteil Fronhaus führt und nahe an unserem Heimatfluss Raab entlangläuft, schnurgerade, was für einen derart der Fahreigenschaften beeinträchtigten Zeitgenossen direkt eine Glanzleistung war, in den besagten Fluss hineinzuversenken. Radl plus Bsuffl wurden tagsdarauf vom Breitner Isi, welcher sein Dackerl gerne schon um Fünfe an diesem Wegerl entlanggassiert, in erbärmlichem Zustand aufgefunden. Der Fahrer schaffte es irgendwie aus den Fluten und lag nun unterkühlt am Ufer, während das Studentenradl, einem Kunstwerk gleich mit dem Hinterteil noch aus dem seichten Wasser ragte. Fast zwei Jahre war dies dann eine schöne Sehenswürdigkeit, denn keiner interessierte sich dafür, das edle Teil aus der Raab zu fischen, bis dann beim Frühjahrshochwasser 2012 das Kunstwerk endgültig in den Fluten versank. So ergings dem alten Radl, bzw. den Radlteilen vom „Brbr“. Oder „Drdr“, wie ihn die Leute je nach Stadtteil unterschiedlich nennen. Aber das mit dem alten Radl interessiert ihn nicht mehr. Jetzt, wo das neue frisch polierte Superradl vorm Radlhändler Zuckner aufgebaut ist. Genau so eines hatte er sich eingebildet, lange gespart und dann endlich zugeschlagen. Sanft streicht er über das Nabukleder des Sattels, gleitet mit einem Finger über den Lack der Herrenstange,… ein Glücksgefühl. Plötzlich verzieht er keine Miene mehr. Der Brbr, bzw. Drdr, denkt nach. Ein bisserl dauerts. Zuerst stemmt er die Arme in die Hüften. Dann hebt er sein Köpfl leicht an. Und: „Jetzan, br…br…brachade no a baar S…S…Saddldaschn, a..aa…a…an Spiechl und so a…a….Wingagelln.“ Da Brbr is heut wieder fränkisch. Was es mit seiner dialektalen Varianz auf sich hat, erzähln wir dann, wenn der Kauf rum ist, weil seine Fahrt doch über 3 Kilometer geht und falls nix dazwischenkommt, etwas Zeit dafür ist. Jetzt sind wir aber voll im Verkaufsgespräch. Der Zuckner Kare kennt natürlich den Brbr. Wie hat er das nur vergessen können. Freilich braucht der Brbr seine Expeditionsausrüstung. Die hat er auf seinem alten Radl schon drauf gehabt, aber farblich passt die nimmer ganz zum neuen Superradl, deswegen braucht er alles neu. Die Spiegel sind schnell gefunden. Zwei wunderbar verchromte Mofa- Außenspiegel, wobei auf das Chrom zwei hellgrüne Rallyestreifen aufgebracht sind. Superschnittig. Wie als wenn die Hersteller den Brbr kennen würden und ausschließlich für sein neues Radl das Outfit maßgeschneidert hätten, findet sich im Lager des Zuckner auch eine Doppelsatteltasche im farblich gleichen Stil wie das neue Gefährt. Nur mit der Winkerkelle, welche am Hinterreifen angebracht wird, ist eine farbliche Übereinkunft nicht möglich, da die nur in Einheitsorange hergestellt werden. Der Zuckner nimmt die Teile unter dem strengen Auge des Brbr und bringt sie in die Radlwerkstatt. Da gerade kein Meachaniker frei ist, wird der Brbr mit einer Tasse Kaffee vertröstet, welche er in Lauerstellung direkt neben dem Mechaniker einnimmt, der gerade noch das zerschlissene Mofa vom Wackerl, einem weiteren Helden unserer Geschichte, mit einer Fettpresse bearbeitet. Während der Zotti, der Mechaniker vom Zuckner, noch rumbastelt a dann erst dem Brbr sein Radl herrichten kann, kann ich, Lieber Leser, endlich ein bisserl von unserer Kleinstadt erzählen. Anstandshalber stelle ich mich einmal vor. Mein Name ist Leachim. Leachim Fualop. Lachens nicht, aber ich kann auch nichts dafür. Abstammen tu ich nämlich von einem Griechen und einer seiner ersten Bedienungen aus seinem ersten Restaurant „Korfu“. Dieses betreibt er heute noch in einer kleinen Nebenstraße in unserer Stadt. Unsere Stadt liegt in Bayern, wie Sie vielleicht an meiner dialektalen Färbung bereits herausgefunden haben dürften. Genauer gesagt liegt unser kleines Städtchen Schweinsdorf im Dreiländereck Oberpfalz- Tschechien- Franken. Wäre es geschichtlich anders verlaufen, wären wir jetzt entweder Tschechen oder Franken. Mit viel Glück wurden wir jedoch der Oberpfalz einverleibt, was uns nicht nur unser „Hou- hou“ in der Aussprache erhielt, sondern uns leider auch zum Gespött von Bayern macht. Mein Vater kam 1975 als Gastarbeiter nach Schweinsdorf und arbeitete zuerst in unserem Stromkraftwerk, welches dann 2002 mit großer lokaler Wehmut, bis auf ein paar kleinere Komplexe, mit C4 dem Erdboden gleich gemacht wurde. 1982 eröffnete er dann eine kleine Imbissbude. Die erste mit ausländischen Spezialitäten überhaupt in Schweinsdorf, wodurch nicht etwa der heute so bekannte Döner, sondern zuerst das griechische Gyros in Schweinsdorf Einzug hielt. Da er mit seiner griechischen Exotik den Nagel genau in den Gaumen der Schweinsdorfer versenkte und ein derartiges Geschäft machte, dass er nicht nur seinen eigenen Eltern, also meinem griechischen Opa, und unserer restlichen Sippschaft, finanziell etwas unter die Arme greifen konnte – was heißt hier unter die Arme greifen, diese Bagage lebt heute noch ganz gut von meinem Vater – sondern eben bereits nach weiteren zwei Jahren, also 1984, sein erstes eigenes Restaurant eröffnete: Das „Korfu“. Kulinarisch war es zwar nichts anderes als unsere Imbissbude, aber der Schweinsdorfer, der etwas auf sich hielt, ging ausschließlich zu uns exotisch essen. Heute verteilt sich das Geschäft etwas, da in den Folgejahren der Matto, übrigens ein guter Spezl von meinem Vater, und später dann der Üzgür ebenfalls Restaurants eröffneten, und so die Gaumenfreuden ihrer Heimat nach Schweinsdorf brachten. Alle drei, also Matto, Üzgür und mein Vater sind derweil die besten Freunde geworden. Und das nicht nur allein deswegen, weil sie sich jeden Samstag zum Schafkopfen im Weidener Hof treffen, wo sich dann jeder mit Heißhunger an deutschen Köstlichkeiten sättigt. Dabei geben die drei dem Gericht „Leberkäs mit Ei“ eindeutig den Vorzug, auf Platz zwei liegt dann die „Currywurst mit Pommes“, dicht gefolgt vom „Pressack mit Musik“. An besonderen Festtagen laden sie sich dann gegenseitig zu einem saftigen „Schnitzel mit Kartoffelsalat“ ein. Dem aufmerksamen Leser dürfte an dieser Stelle nicht entgangen sein, dass mindestens eine Ungereimtheit, was unsere drei Verzehrer angeht, aufgetreten sein dürfte. Ja der Üzgür stammt nicht etwa aus dem Voralpenland, sondern ist ein waschechter Türke. Also mit allem was dazugehört. Also auch glaubenstechnisch ist er voll auf der muslimischen Schiene. Dass ihm jedoch gerade der Leberkäs von der Metzgerei Siegler so gut schmeckt, jedoch gerade darin wunderbares Schweinefleisch verarbeitet ist, weiß dieser Bazi natürlich ganz genau. Doch keiner sagt etwas unter guten Freunden, da die Diskussion nur einmal, und da ganz kurz, für immer beendet wurde. Damals fragte der Zattenberger, also der Wirt vom Weidener Hof: „Sag einmal Üzgür, derfst etz du den Leberkas iberhapt essn. Dou is doch a Sau drin. Schimpft dou da Allah niad?“ Üzgür schluckte, nach Aussagen von Zeugen, sein Dotter- Leberkas- Bratkartoffel- Senf- Gemisch, welches er mit Bedacht zuerst zerkaute, damit auch ja kein Geschmacksfinzerl verloren ging, mit zufriedenem Ausdruck hinunter, „schwoabte“ ein bisserl einheimisches Weißbier hinterher, koppte ein klein weinig auf, wischte sich dann den Schaum von seinem dicht stehenden schwarzen Schnurrbart und äußerte: „Allah? Allah is in Türkei.“ Ohne Diskussion und ohne einer weiteren großartigen Aufregung wurde dann von den drei Spezln der Gaumenschmauß beendet, wobei dem Schmauß als Krönung, und um den Verdauungsvorgang zu unterstützen, ein frischer Blutwurz aus einer Privatwurzerei des Bayerwaldes aufgethront wurde. Man kann die drei durchaus verstehen, dass ihnen der tägliche Pizzadampf oder das verknoblauchte Gyrosgschmackl irgendwann einmal keinen Freudenschrei mehr entlockte, weshalb sie nach ihrer jeweiligen persönlichen Einschätzung beim vierten Mann des Wirtshauskleeblatts, dem alten Zattenberger, kulinarisch im Himmel schwebten. Lustigerweise beruhte dies nicht auf Gegenseitigkeit, da der Zattenberger immer selbst sein bester Kunde war und solche „Türkischn Wurschtsemmln“ von Haus auf nicht mochte und einem „Mafiadotsch“ konnte er auch nichts abgewinnen. Dafür hielt der Zattenberger die Freundschaft anderweitig auf Vordermann. Das ist also einmal in Kürze das Milieu, das meinen Vater umgibt. Meine Mutter stammt da aus einer ganz anderen Richtung. Sie ist ein typisches Bauernmoidl. Sieben Kinder warens aufm Hof, wobei sie als sechster Sproß vom Erbschaftskuchen einmal mäßig viel, bis nichts abbekommen hätte. Da sie, wie sie selber zugab, in der Schule nicht ganz so fleißig war, lernte sie zuerst die Hauswirtschaft in Regensburg. Das gefiel ihr aber nicht gerade besonders, weswegen sie dann nach einem halben Jahr das Handtuch nicht nur sprichwörtlich hinschmiss. Als 17jährige überbrückte sie dann durch Gelegenheitsjobs die Zeit. Dann kam der Schnackler. Mit 18 fuhr sie täglich zur Abendschule nach Weiden, lernte sehr fleißig und holte den Realschulabschluss nach. Um finanziell auch etwas auf der Seite zu haben, heuerte sie während dieser Zeit bei meinem Vater an. Obwohl er gut 15 Jahre älter als sie war, hat es irgendwie zwischen beiden gefunkt und nach einem halben Jahr musste mein Vater bereits auf dem Standesamt einen Termin vorbestellen. Kirchlich wollten sie vorerst noch nicht heiraten, dieses aber alsbald nachholen. Dieser Vorsatz dauert bis heute an und gibt an jedem Hochzeitstag die schönsten Gaudistreitereien zwischen den beiden. Opa und Oma als Bauern, bzw. Gütler, des Ortsteils Reith waren zwar nicht ganz begeistert. Besser gesagt schwören Zeugen darauf, dass nach Verkündigung der Hochzeitspläne mein Opa ganz ruhig in sein Musikkammerl gegangen sei, seine Trachtenjoppe angelegt habe und von der Oma zwei Sachen verlangt habe: „Einen Strick und einen Hunderter.“ Den einen, also den Hunderter, wollte er im Wirtshaus auf den Kopf hauen, „und wenn der furt is, dann schau ma amol obe dann midm Schädl dou nu durchkumm.“ Da mein Opa immer schon renitent war, er also keine Diskussion duldete, gab meine Oma das Verlangte ohne Wiederworte heraus, wusste aber genau, dass der Strick wieder einmal erst nach dem Wirtshausbesuch in Anspruch genommen werden sollte, weshalb sie der Aussage meines Opas bezüglich seiner suizidalen Androhung auch keine weitere Bedeutung zumaß. (Dass er den alten Kaiblstrick dann auch wirklich nicht benutzte, ich meinen Opa also noch kennenlernen durfte, war ein Glück für meine Kindheit). Die weiteren Ereignisse lassen sich wiederum nur über Zeugenaussagen rekonstruieren. So ruhig, wie mein Opa nämlich zu Hause blieb, so redseelig wurde er am Stammtisch, … halt, nicht dass wir den Brbr vergessen und er fährt ohne uns heim, ah ja… also das Radl vom Brbr ist noch nicht fertig, dann kann ich kurz weiter erzählen… Also mein Opa war immer sehr ruhig, zur gerade geschilderten Situation vollbrachte er aus sprachwissenschaftlicher Sicht aber wahre Meisterleistungen. Er verbrauchte nicht nur sein ihm über Jahre auf diversen Viehmärkten erlerntes Schimpfwortvokabular, woran wegen gewisser Substantivierungen und Kompositabildungen Sprachwissenschaftler auch heute noch ihre Freude hätten. Nein, die Neologismen, welche einmalig und unwiederbringlich an diesem Abend formuliert wurden, hätten Jakob Grimm an seinem Wörterbuch verzweifeln lassen. Persönlich beleidigend wurde er dabei nicht, lediglich den sexuellen Vorgang verunglimpfte mein Großvater in den schönsten bayerischen Grantlausdrücken, wobei wiederum seine Genitalbeschreibungen, welche mit verschiedenen Kombinationen aus Jägersprache, landwirtschaftlichen Ausdrücken und dem Wortschatz von niederen sozialen Schichten, wegen ihrer Bildhaftigkeit noch heute, also fast dreißig Jahre später, vielen „Gangsterrapern“ Respekt abverlangt hätten. Einige wenige Ausdrücke haben sich im Soziolekt unserer Kleinstadt sogar erhalten, sind also so etwas wie Kulturgut und werden spätestens während des Besuchs der Volksschulen unserer Stadt erlernt und in der Praxis mit absolut entwaffnender verbaler Tiefenwirkung verwendet. Alle Begriffe sind wegen der Lektorenzensur in diesem Buch leider nicht erwähnbar. Um die ganze Sache abzukürzen, neun Monate später war ich dann geboren. So sehr mein Opa meinen Vater nicht mochte, umso mehr Liebe erhielt ich von ihm… Aber ich verplaudere mich gerade wieder. In welcher Beziehung ich und meine Familie zum eigentlichen Hauptakteur unserer Geschichte stehen, wird im weiteren Verlauf der Geschichte sowieso klar. Jetzt zischt eh gerade die Hydraulik der Montagehilfe, ein leichtes aufditschen der beiden Reifen und das Fahrrad unseres eigentlichen Helden, unseres Brbr ist fertig. Kein Tröpferl des ihm angebotenen, aus Instantpulver gefertigten Kaffees hat er verzehrt. Aufgeregt, gespannt wie ein Abzug an einem Präzisionsgewehr, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, stand er keine zwei Meter von seinem neuen Schmuckstück entfernt. Die Zähne aufeinander gepresst, eine leichte Mahlbewegung ausführend, zerriss es ihn in den letzten 5 Minuten beinahe. Beim Auftreffen der beiden Fahrradreifen auf dem Werkstattboden konnte man auch ein leises ploppen des von Brbr`s Herzen fallenden Felsbrocken vernehmen. Ein fast hilfloser Moment für den Brbr, er musste ja noch die Rechnung begleichen. „Was dätschn macha?“ jetzt mischte er, fast schien er durch den berühmten Geschäftssinn dieses bayerischen Stammes beflügelt, Brocken aus dem Schwäbischen mit hinein. „Mach ma 2000 gradaus.“ „Hanne dabaa!“ Er griff in die Seitentasche seiner Cargohose und beförderte einen alten, bräunlich vergilbten Umschlag heraus. Mit Wachsmalkreiden, wie es ausschaute, war auf den Umschlag die gewünschte Zahl notiert. „N…n…achzähla!“ forderte er den Zuckner auf. Dem grauste ein bisserl, weil der Umschlag nicht mehr ganz so lecker ausgeschaut hat und ein bisserl nach einer Mischung aus Schnupftabak und Old Spice roch. Die Scheine waren jedoch sauber geordnet und der Betrag passte genau. „Passt…dann guade Fahrt, und pass auf! Bfiad di God…“ „Wiaschaun…“ also auf „Wiederschaun“ nuschelte Brbr noch durch die Ladentür. Jetzt stand es da. Abfahrfertig. Die Sonne schien auf den Lack. Zuerst klappte er langsam den Seitenständer ein…hob das rechte Bein über den Gepäckträger und den Sattel…postierte sich auf dem Nabukledersattel….beide Beine auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Zucknerschen Laden… dann stellte er zuerst den linken, dann den rechten Spiegel ein…zog seine Fliegerbrille aus der Cargohose und streifte sie langsam über den Kopf…zog beide Handbremsen an…richtete den rechten Treter für einen Kickstart nach vorne aus und dann….“Brrrmmmmmm, Brrrmmmm…….“, das Motorengeräusch konnte er mittlerweile wie kein Zweiter simulieren, mit vollem Schwung die Bergstraße hinunter…Richtung Marktplatz „Brrrrrrr……….Brrrrrrrrrrrrrrrr…….!“ Und so startet unser Abenteuer.
Wie schon gesagt, wir haben gut drei Kilometer Fahrt vor uns, weshalb ich einiges über den Brbr erzählen kann. Alles was ich hier aufschreibe ist Erinnerung. Erinnerung an meine eigene Kindheit und Jugend, deshalb vielleicht ein bisschen aus dem liebevolleren Blickwinkel heraus geschildert, welcher das Grobe und unschöne vergisst. Das Superradl hat Brbr an einem Samstag am Vormittag gekauft. An einem schönen Frühlingstag irgendwann Mitte der 90er. Zu bemerken ist, an einem normalen Samstag. Warum normal? Bis zu Beginn der 2000er gab es das noch, dass nicht jeder Samstag ein Einheitssamstag war. Es gab die normalen und dann die „langen“ Samstage. Lang deshalb, weil an diesen Samstagen, meistens der erste Samstag im Monat, die Geschäfte im Stadtgebiet bis 16.00Uhr offen haben durften. An den normalen Samstagen wurde bereits um 12.00Uhr mittags der Einzelhandel eingestellt. Böse Zungen behaupten, dass dies deshalb so war, da sich die Stadt zu dieser Zeit noch eigene städtische Gehsteighochklapper leisten konnte, denn nach 12.00Uhr war die Innenstadt praktisch tot. An den langen Samstagen mussten dann alle länger arbeiten, sowohl die im Einzelhandel Beschäftigten als auch die vermeintlichen Gehsteighochklapper. Mit der Ansiedlung der ersten Gewerbegebiete in unserer Stadt änderte sich die Situation dann schlagartig. Die konkrete Situation also in der Innenstadt kaum. Ab Mittag ist, bis auf einige Plätze, zwar immer noch alles ausgestorben, weshalb viele Händler auch heute wieder um die Mittagszeit ihr Geschäft schließen und ins Wochenende gehen, aber theoretisch wäre eine Öffnungszeit bis 20.00Uhr möglich. Für uns Kinder waren diese langen Samstage oft das Highlight, da es unsere Mama mit uns in die Stadt zum „Bummeln“ zog und wir dann die Wunschlisten für die anstehenden Beschenktage, wie Weihnachten oder Geburtstage, vervollständigen konnten. Damals hatte auch das Feierabendgeläute der Kirchtürme eine stärkere symbolische Wirkung. Punkt 16.00Uhr geht es bis heute jeden Samstag los und läutet den Sonntag ein. Zur damaligen Zeit also ein sicheres Zeichen, dass auch der lange Samstag zu Ende war. Heute interessiert das kaum mehr. Jedoch habe ich mir es bis heute erhalten, abgeschaut von meinem Opa, der, auch wenn er gerade dabei war irgendetwas im Stall zu richten oder bei uns im Garten werkelte, beim Glockenklang den Hammer hinlegte, sich meistens auf einen seiner Lieblingsplätze setzte, das war bei ihm zu Hause der alte Stuhl im Vorhaus und bei uns ein alter Baumstamm vor dem Holzstoß, seine Packung LM herausholte und eine Halbe aufmachte. Dann setzte ich mich meist dazu, durfte von der Halbe einen Schluck nehmen und er erzählte. Erzählte, wie er jung war. Von der Kriegsgefangenschaft in Russland, von der Flucht aus Ungarn, er war Donauschwabe, und wie er sich das kleine Gütl erarbeitet hatte, das er heute besaß. Wenn wir bei uns waren, kam eben auch öfter der Brbr vorbei und setzte sich bei einer gelben Limo mit dazu und wir schwatzten, bis zum Abendessen. Aber ich verplaudere mich schon wieder. All das passt dennoch recht gut, weil an diesen Samstagen wurde auch über den Brbr gesprochen. Es war nach dem Krieg. Trümmerzeit. Auch bei uns in Schweinsdorf. Nach einem folgenschweren Bombenangriff war unsere Stadt zum Großteil zerstört. Nicht einmal drei Wochen wäre der Krieg noch gegangen. In dieser Zeit kam der Brbr zur Welt. Es war jedoch keine normale Geburt. Da die Nabelschnur sich um den Hals des Säuglings schlang, wurde die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn unterbrochen. Körperlich blieb nichts zurück, jedoch die geistigen Eigenschaften waren von diesem Tag an eingeschränkt. Über seine Kindheit kann ich nicht viel sagen, da wusste weder mein Opa noch meine andere Verwandtschaft etwas. Sie muss jedoch behütet gewesen sein, wie mir einige Bekannte später berichteten. Brbrs Begeisterung zu Zweirädern war aber in der ganzen Stadt bekannt. Sein Spitzname dürfte so auch in dieser Zeit entstanden sein, denn ob motorisiert oder nicht, sein typisches Begleitgeräusch bei seinen Fahrten ist bis heute legendär. So erzählte mir mein Opa einmal, dass, als mein ältester Onkel Ende der 50er im Kindergarten war, der Brbr schon mit einem alten Waffenradl unterwegs war. Natürlich hatte er damals noch nicht seine Sonder- Deluxe- Expeditionsausstattung, jedoch sollen auch an diesem Radl gewisse bauliche und optische Veränderungen vorgenommen worden sein. An Details erinnert sich heute leider niemand mehr. Für den Brbr war es aber sein ganzer Stolz. Aus dieser Zeit ist mir dann doch einmal eine Geschichte nahegebracht worden. Es war wie gesagt Ende der 50er und mein Onkel war gerade mit seinen Kumpels vom Kindergarten auf dem Weg nach Hause. Da hörten sie von weitem ein Knattern. Es wurde lauter und mit der sinkenden Entfernung war das charakteristische „Brrrrrmmmmmm…….Brmmmmmmm….“ ebenfalls bald vernehmbar. Mit Vollgas war er unterwegs auf den damals nur geschotterten Straßen des Kalvarienbergviertels. Da es länger nicht geregnet hatte, soll die Staubwolke gigantisch gewesen sein und da er mitten auf der Straße fuhr, glich der Anblick dem Loneranger aus dem damaligen dürftigen Fernsehprogramm. Beim heutigen Verkehrsaufkommen im Viertel undenkbar, damals aber möglich. Ärgerlich jedoch für einen weiteren Verkehrsteilnehmer, dem Spenglermeister Biggerl. Die Frontpartie seines Goliath war im Staub erst spät auszumachen, jedoch war sein sonorer Bass bereits aus der Ferne zu vernehmen. „Fohr aufd Seitn du Kampl… Hundsbua depperter… mia pressierts… a so an Affn wia di sollt ma af Afrika schicka…“ dazwischn hörte man ein unbeeindrucktes „Brrrmmmmm…. Brmmmmm….“ „Zwierl bleda… Herrgottsakrament, wann schickas dich endli in a Drehscheibn zum auswuchtn…“ wildes Geschimpfe, wobei der Oberkörper halb aus dem Seitenfenster lehnte, die Fast gestikulierte und der hochrote Kopf langsam durch einen Schleier aus Straßenstaub bezuckert wurde. Eine aggressive und aufgeladene Situation… und darin doch ein Ruhepunkt. Besser gesagt ein beruhigendes Moment: Das mechanisch langsame „Klick….Klack….Klick…Klack…“ der antiken Scheibenwischeranlage. Jedoch der Brbr lies sich nicht beeindrucken, war in seiner Welt und erst kurz vor der Kindergartengruppe wurde die Situation durch ein halsbrecherisches Bremsmanöver, welches er direkt vor den Kindern, und dazu auch noch ziemlich professionell, absolvierte, entschärft. „Jetzt kriagst glei a Fotzn, dassd vierzehn Dog im Kreis gehst…“, schimpfte der Torso aus der Tür des Goliath. Aber dem Biggerl pressierte es wirklich, weshalb die Drohung nicht in die Tat umgesetzt wurde. Wutentbrannt überholte der Biggerl die Gruppe und gab Vollgas. Da stand er nun, der Sieger. Sieger im heutigen Kalvarienbergderby. Jedoch beeindruckte der Sieg den Brbr nicht. Er hatte es ja nicht einmal darauf angelegt. Der eigentlich Grund für seinen für einen Waffenradlfahrer als rasant einzustufenden Ritt war ein anderer. Ein neues Spielzeug. Ein Juwel. Die Kindergartengröpfe staunten. Auf der Nase des Brbr war eine echte Fliegerbrille. So eine, die sie alle aus dem Kino kannten. Eine, die die Flieger beim Segelflugtag auf dem Sportflughafen trugen. „Ui“, bewunderten die Zwergerl den Brbr, „wo hastn die her?“ Schweigen. In solchen Situationen, in denen der Brbr vor Stolz trotz seines hohen Wuchses noch einmal um zehn Zentimeter zu wachsen schien, lies er erst einmal den Neid wirken wie ein langsames Medikament. Langsam zog er die Brille von seinen Augen und schob sie wie ein Profiflieger auf seine Stirn. Erst als seine Hände, was den Kleinen wie Stunden vorkam, wieder am Lenker seines Radls waren setzte er an. „V…V…Vo..hom….Voltan.“ Die Kröpfe waren jetzt erst recht beeindruckt. Vom Professor Voltan. Fritz Voltan. Im Krieg war dieser Jagdpilot bei der Luftwaffe und hatte mehrere dieser Brillen bei sich zu Hause. Er wohnte direkt neben der damaligen Oberrealschule, dem heutigen Gymnasium, und war einer der gescheitesten Lehrer im ganzen Umkreis. Sprachen, Mathematik, Philosophie oder die Biologie, er wusste über alles etwas. Damals eine Institution. Später eine schillernde Persönlichkeit. Durch seinen Eifer im Lernen schnappte er Mitte der 70er einfach über, der Lehrauftrag wurde ihm entzogen und ab diesem Zeitpunkt war er nur noch bekannt als der rasende Reporter. Im Vergleich der Situationen fast eine Ironie. Denn in den 90ern sah man den Voltan, wie ihn dann alle nur noch nannten, meist mit folgenden Attributen durch die Stadt radeln: Fahrrad anno 50, langer Ledermantel und … eine Pilotenbrille. Doch trotz seines Wissens und seiner in den 50ern hohen sozialen Stellung, immer ein netter, liebenswürdiger Herr. Und besonders den Brbr mochte er. Auch später noch, als er nicht mehr der Herr Professor war, sondern nur noch der Voltan, sorge er sich um den Brbr, nahm ihn mit auf kleinere Ausflüge, besuchte ihn ab und zu und besorgte ihm von Zeit zu Zeit wieder ein Spezialausrüstungsteil. Inzwischen hatte der Brbr den Drahtesel gewendet. „Mo…mooch…mooochst midfohrn?“Die Frage war an meinen Onkel gerichtet. „Geh Siggi…lassn doch zuafahrn den Deppn“, „Hau ab du Bledl!“, kam es von den Kröpfen. Ja, auch die Stimmung bei Kindern kann schnell kippen und von Begeisterung zu Abneigung umschlagen. Der Brbr ignorierte dies stets. Wie verletzend diese Aussagen in seinem Innern jedoch waren, kann bis heute keiner mehr sagen. Er vergoss nie eine Träne, auch damals nicht. Mein Onkel blieb jedoch stehen. Überlegte kurz. Und dann sagte der Kropf: „Ja bin i denn bled. Liaber schlecht gfoahrn als guat ganga.“ Setzte sich auf den Gepäckträger und verschwand mit simuliertem Motorradsound in einer Wolke aus Staub.
Jetzt verzögert sich die Heimfahrt vom Brbr wieder etwas. Denn für den besagten Heimweg dreht er gerne die eine oder andere Zusatzrunde. So macht es uns hoffentlich jetzt nichts aus, wenn der Brbr einen kurzen Abstecher über unseren schönen Stadtpark macht. Dieser liegt malerisch auf einer Insel mitten in der Raab. Gesäumt von zwei Flussarmen von Weiden und Erlen umkränzt war dieser für uns Kinder immer das Highlight in den Sommermonaten. Anfang der 90er war hier nämlich der modernste städtische Spielplatz. Ein grandioses Kletterhaus mit zwei Rutschen, daneben ein verwildertes Bühnengebäude und viele Versteckmöglichkeiten, ein Traum für jeden „Wüldler“. Aber auch die kulinarische Versorgung mit Eis, Süßwaren und Limo oder Spezi war damals sichergestellt. Denn jahrelang wurde in besagtem Stadtpark ein Kiosk betrieben, der nicht nur uns Kinder die erwähnten Leckereien zur Verfügung stellte, nein, auch die Erwachsenen konnten auf den bereitgestellten Bierbänken verweilen und ihren Durst mit passenden Getränken stillen. Der Hit war es dann, wenn einmal im Monat auf der kleinen, nicht verwilderten Bühne, meistens freitags eine örtliche Musikgruppe auftrat. Man musste dann bereits sehr früh in den Stadtpark wandern, sonst waren alle Plätze weg. Alles traf sich in diesen Stunden und es herrschte Einigkeit. Der Professor und der Hilfsarbeiter prosteten sich zu, Kinder spielten ohne Klassenunterschiede und Freundschaften unterschiedlichster Couleur wurden geschlossen. Jetzt nach knapp 25 Jahren schaut die Geschichte anders aus. Die Stadtparkabende sind schon lange passee, der Kiosk mittlerweile abgebrannt der Ort entvölkert. Als der Brbr nun über die enge Holzbrücke, eine der beiden Verbindungen zur Insel, welche zudem nur für Fußgänger freigegeben ist, mit Schwung hinüberradelt, springen erst einmal 5 ältere Herren zur Seite. Drohend mit dem damals noch üblichen Gehstock, heute wäre dies mit den vierrädrigen Ersatzgehhilfen nicht mehr möglich, und eine Lawine an Unflätigkeiten dem Brbr hinterherbrüllend, setzen sie sich jedoch bald wieder in Bewegung und haben nun wiederum eine Lebensepisode mündlich zu verbreiten, welche Gesprächsstoff für mindestens einen Arzt-, einen Frisör-, einen Markt- und zwei Wirtshausbesuche liefert. Federführend bei der ganzen Angelegenheit ist auch noch der Wöllner Gust. Seinerzeit Frührentner und Vorreiter in allem was der Fußgängersport hergab. Der hatte nämlich nicht etwa einen aus Massivholz gefertigten edlen „Haglstecka“, sondern einen der modernsten Trekkingstöcke der damaligen Zeit. Böse Zungen behaupten, dass der Gust bereits in den Neunzigern das Nordic- Walking in unsere Stadt brachte, obwohl der allgemeine Trend erst im neuen Jahrtausend zu greifen begann. Als Vorsitzender des örtlichen Wandersportvereins war diese Bestockung natürlich Ehrensache. So verbreitete sich diese Art von Stöcken dann auch ziemlich schnell im Verein, sodass bei den ausgedehnten Touren unser örtlicher Wanderverein mit seiner Stockentenmannschaft oft ein herausragendes Bild im nahen Fichtelgebirge oder dem Bayerischen Wald bot. Ich hatte das Glück über unsere damaligen Mieter selbst oft an den Veranstaltungen des Vereins teilzunehmen und im Rückblick kann ich mit einem Schmunzeln gut und gerne behaupten, dass die Vereinstruppe eine Art Trendsetter war. Völlig untrendig eher altbacken, waren nun jedoch die Beschimpfungen gegen de Brbr: „Volldepp! Kennst dich wieder ned aus, wost hinsollst?! Lern erst amal a anständige Orientierung, wennst scho koa Ahnung von da Welt hast!“ Starke Worte vom Wanderführer. Schließlich kennt er sich in der Welt aus und weiß, wie wichtig ein Sich- Auskennen ist. Denn die Routine in seinen Wanderveranstaltungen gab ihm recht. Ausgerüstet mit kurzen Kniebundhosen, den obligatorischen roten Wadelstrümpfen, schweren Lederstiefeln und den nadel- und abzeichenbespickten Wanderhüten, welche bei Regen wegen der vielen Einstiche im Filz kaum Schutz boten und, nach meiner Meinung, bei Gewitter eine absolute Gefahr für den Träger darstellten, machte sich die einen Reisebus füllende Truppe meist einmal im Monat auf zum „Bergkraxeln“. Der Anblick war meist göttlich. Bereits während der Busfahrt wurde dann die angestrebte Tour erläutert, die analogen Schrittzähler wurden eingenordet, die Brotzeit kontrolliert und schon wurden wir Kinder von den Älteren gehänselt. „Ihr schaffts de Tour ja eh ned.“ „Wennts umkehrn wollts, sagtses fei.“ „I trag di fei ned.“ Nach der Ankunft gings dann auch los. Wie im Bus bereits angerissen, sollte die Tour wieder einmal 20 Kilometer lang sein. Und auf gings. Bergauf, den Markierungen hinterher, über Fels und Stein und…. Als erstes machte immer der Kalther Theo schlapp. Im Bus noch die größte Goschn und dann…. Ja dann machten sie seine beiden Bypass- Operationen bemerkbar und er drehte lieber wieder um… ins nächste Wirtshaus. Ähnlich schnaubend und wie ein Schürhakl glühend war der Peterl Gaschi. Mit seinen fast 70 Jahren glaubte er es den Jungen nachmachen zu können. Staubte grundsätzlich voran und war dann auch bald nicht mehr gesehen. Bis zur ersten Brotzeit war dann auch immer das Zeitlimit gut eingehalten, die Stimmung auch noch hervorragend und jeder war noch gut beieinander. Zu kippen drohte das Ganze erst nach der zweiten Brotzeit und das jedes Mal. Nämlich dann, als man feststellte, dass sich der Gust als großer Häuptling und Bergführer, heute würde man neudeutsch „Guide“ sagen, wieder verrannt hatte. Orientierung war nämlich überhaupt seine Achillesferse. Auch Touren die er bereits 20 Mal gegangen war, auch welche, die direkt in unserem Stadtbereich fielen, waren mit einem „Verrennerumweg“ von mindestens 5 Kilometern verflucht. Und obwohl kundige Wanderer in der Gruppe waren, ihrem Häuptling folgten sie dann doch jedes Mal, weil der Gust keine Widerworte zuließ. Meistens endeten diese Veranstaltungen mit einem handfesten Streit und mit absoluter Funkstille bei der Heimfahrt. Bis dann doch wieder alle bei der Folgeveranstaltung im selben Outfit parat standen. Der Gust war auch meinem Opa gut bekannt. Aber ihr Verhältnis war eher gespalten. Denn unterm Jahr ließ sich der Gust selten blicken, sogar auf der Straße war er immer gegenüber meinem Opa kurz angebunden. Erst ab Mitte August, wenn langsam die Frühnebel übers Land zogen, da kam er dann regelmäßig auf den Hof. Der Grund ist schnell erklärt. Er wollte mit Opa Schwammerlsuchen gehen, da dieser oft gute Plätze kannte. Jetzt wird jeder Schwammerlspezialist natürlich sagen, dass gute Plätze doch nie an Außenstehende verraten werden dürften und mein Opa somit doch eigentlich ein Traditionsbrecher war. Aber ich lasse ihn mit folgendem Kommentar selbst sprechen: „Mitm Gust kann ma scho zum Schwammerlbrockn geh. Den drahst dreimal im Kreis, dann kennt er sich eh nimmer aus.“ Das Zerwürfnis kam dann alljährlich, anfangs schleichend am Ende mit Oho, doch. Meist nach vierzehn Tagen war der Gust wieder verschwunden und stinksauer. Schuld war er aber selber. Der er „ging“ nicht Schwammerlbrocke, sondern er „rannte“. Das bedeutete, während mein Opa in Ruhe alles absuchte und auch dementsprechend Beute machte, sauste der Gust durch das Unterholz und übersah dabei die schönsten Schwammerl, weshalb auch seine Beute eher gering ausfiel. Dass das Zerwürfnis unmittelbar bevorstand, merkte mein Opa dann meist daran, dass der Gust sich, statt vorher täglich, nur noch für zwei Samstagvormittage einstellte. Gestritten wurde dabei zwar nie so richtig, es reichte aber dann für ein gegenseitiges Ärgernis. Dass es dem Gust stank, war nämlich für meinen Opa am Anfang sehr amüsant. Wenn jedoch der Gust nur noch Samstags kam, braute sich bei meinem Opa auch etwas zusammen. Das lag dann daran, dass er genau wusste, dass der Gust nach ihrer morgendlichen Schwammerltour nicht etwa gleich nach Hause fuhr. Nein. Es war ja vormittags Gemüsemarkt. Und zu dieser Jahreszeit war eben auch ein Schwammerlhändler anwesend. Der Gust füllte also seine leeren Bestände durch auf dem Markt erworbene Qualitätsschwammerl dermaßen auf, dass er auch zu Hause und in seinem Bekanntenkreis als der Schwammerlheld galt. Und jedes Mal ärgerte es meinen Opa, dass dieser Schwindel nicht aufflog. Der Gipfel war aber dann jedes Mal erreicht, wenn sich der Gust für die Herbstausgabe des Wandervereinsheftes ablichten ließ und eine einen ganze Seite über das herbstliche Schwammerlsuchen in der Natur veröffentlichte. Dann kochte mein Opa wie ein Dampfkessel.
Nun wendete sich der Gust auf der Brücke seinem Spezi dem Kalther Theo zu und beide verschwinden Richtung Innenstadt, schimpfend und sodernd, wobei die beiden Mühlräder, welche als Relikt aus alten Zeiten vor der Insel vor sich hinplätschern, ihr Geschimpfe langsam verschluckt. Der Brbr hat mittlerweile die kleine Haarnadelkurve zur Rollstuhlfahrerauffahrt am Brückenende gemeistert und steuert Richtung Kiosk. Vor den Bierzeltgarnituren haut er eine Vollbremsung her. Er hat jemanden entdeckt. Den Fliegerl. Den kennt er aus der Arbeit, denn beide arbeiten im selben Betrieb unserer Behindertenwerkstätten. Der Fliegerl sitzt gemütlich auf einer der Bierbänke und blinzelt in die Sonne. Dabei verzieht er leicht seinen eher breit ausgewachsenen Mund, indem er die linke Seite der Oberlippe leicht anhebet, wodurch der linke Eckzahn sichtbar wird. Den rechten Mundwinkel hält er dabei geschlossen und verzieht ihn leicht nach unten. Er ist wie üblich gekleidet, also mit seinem Sommer-, Winter-, Alljahreszeitendress. Ein meist mit Senkrechtstreifen versehenes Hemd, in einem dunklen Blau gehalten. Drüber pappen zwei Hosenträgergurte aus hellbraunem Baumwollgewebe das Hemd an den Körper. Dadurch wir wieder sichtbar, dass der Fliegerl ein Unterhemd, vermutlich aus Feinripp, unter deinem Hemd trägt. Weiterhin schnürt der Hosenträger, nein, man kann schon fast sagen umkränzt der Hosenträger dem Fliegerl seine Wampe und endet in seiner typischen Cordhose. Interessant ist jedoch auch die Hosenträgereinstellung beim Fliegerl. So wechselt diese vom Winter auf den Sommer wie folgt. Im Winter bevorzugt der Fliegerl eher eine lockere Einstellung, wobei dann die Wampe über den Hosenbund herausschwappt und bei jeder Bückbewegung sein Unterhosenansatz zum Vorschein kommt. Den Vorteil den er im Winter daraus zieht, ist jedoch, dass die Hose seine Knöchel vor Kälte schützt und der Recht unter seinem dicken Wintermantel eh nicht sichtbar ist. Im Sommer zurrt er dann den Hosenträger sauber fest, sodass er jedes Elbhochwasser mit trockenem Hosensaum überstehen könnte. Doch durch diese Stellung sorgt er für eine gute Belüftung der unteren Wadengegend, was ihm das Tragen einer kurzen Hose erspart. Ab und zu entlockt nicht nur diese Hosenstellung beim Betrachter ein Schmunzeln, denn wenn der Fliegerl wieder einmal in Eile war, um vor seinem älteren Bruder aus dem Haus zu flüchten, fällt die Farbwahl der Socken eher leger aus, wobei man dann durchaus auch einmal ein Mischpärchen aus einer roten und einer gelben oder einer grünen und einer braunen Socke antreffen kann. Doch kehren wir zu seinem Gesichtsausdruck zurück. Dieser verlieh dem Fliegerl nämlich auch seinen Spitznamen. Der versierte Leser wird nun sofort vermuten, dass der Fliegerl wohl mit einem Paar übergroßer abstehender Ohren ausgestattet sein dürfte. Naja ganz gefehlt ist das nicht. Abstehend waren seine Ohren zwar schon, aber eben nicht übergroß. Eher klein bis normal und schulbubenhaft. Der Hauptgrund für seinen Namen war dies nun nicht allein sondern die Kombination aus Gestik, Mimik und des Gesamthabitus formte seinen Spitznamen. Meist war er zusätzlich zum besagten Outfit mit einem breiten Grinsen, einem unrasierten Drei- Tage- Bart, einem eher lichten brauen Haar und einer ins rot gehenden Gesichtsfarbe unterwegs, wobei er im Gang zeitweilig seine Arme anwinkelte, sodass beide Hände auf Schulterhöhe schwebten, was er zusätzlich durch einen Luftsprung unterstrich. Da nun dies für den Betrachter den Anschein eines verzweifelten Abhebeversuchs von der Erde gleichkam, hatte er bald seinen Namen weg.
Der Brbr und der Fliegerl kamen nun ins Gespräch, was ich nun nicht wiedergeben möchte, da es ein Fachgespräch über das neue Rad war, welches ich aber bereits ausgiebig beschrieben habe und deshalb dies der Phantasie des Leser überlasse, wie wohl dieses Gespräch verlaufen sein dürfte. Und wie beide gerade im schönsten Gespräch sind kommt wieder eine Lichtgestalt am die Ecke. Der Fottner Ronni. Zuerst betrachtet er die Szenerie aus einiger Entfernung, nähert sich dann aber schnell. Der Fottner ist eher ein Zeitgenosse, den man charakterlich nur schwer einschätzen kann. Direkt arbeitsscheu ist er nicht. In allen Wirtshäusern der Stadt ist er als eine Art Hausl geduldet, hilft beim Ausschank, schleppt die Bierkisten in die Getränkekeller und kümmert sich um andere Kleinigkeiten die ihm die Wirte zutrauen. Ein geregelter Alltag allemal. Denn alle zwei Tage taucht er in einer anderen Wirtschaft auf und bietet seine Arbeitskraft an, welche ihm dann auch entlohnt wird. Eine weitere Regelmäßigkeit ist dem Fottner sein Rausch. Bereits Mittags versorgt er sich mit dem ein oder anderen Rüscherl und der für ich typischen Halbe dunklen Bieres. Da er in Schweinsdorf viel umherkommt, sind ihm der Brbr und der Fliegerl auch gut bekannt. „Griaß enk God meine Herrn. Habs ein herrlichs Wetta mitbracht.“ „Mnjoo…hehe“, antwortet der Fliegerl, wobei er wie immer das „O“ lang verzerrt und die „Es“ seines Kicherns mit einem Staccato unterstreicht. „Gell Fliegerl du musst heut fei noch arbeiten, gell.“ Jetzt kommt der Fottner auf den Punkt. Dieses Arbeiten das er anspricht ist nämlich eine Spezialität, die sich die Leute mit dem Fliegerl gönnen. Eine Art Samstagsabendcomedy der gehobenen und gebildeten unserer Stadt, oder besser: die von sich glauben es zu sein. Ein Außenstehender würde dies als Diskriminierung ansehen und in Empörung ausbrechen. Für die Bewohner unserer Stadt war ein Abend wie ich ihn nun beschreibe jedoch völlig normal. Auch für den Fliegerl. Eine seltsame Symbiose aus Respekt, Lächerlichkeit, Behindertenintegration, Spott, aber auch Warmherzigkeit herrschte an diesen Abenden. Die Arbeit des Fliegerl bestand nämlich darin, sich in seinem Lieblingslokal dem Weidener Hof als Sänger zur Schau zu stellen. Dies lief wie folgt ab. Gegen 9.00Uhr abends kam der Fliegerl meist ins Wirtshaus. Sein Getränk, eine Halbe, wurde ihm dann auch schnell gebracht. Zuerst saß er meistens einsam am Ecktisch am Eingang. Gegen halb 10, wenn die ersten Gäste ihr Quantum bereits angefüllt hatten, sprang dann einer derselben meist auf und rief durch den Raum: „Fliegerl, mogst uns niad oans singa?“ Der Fliegerl verzog dann meist etwas schüchtern sein Gesicht, bis er dann schließlich antwortete: „Mnjoo…hehe, wos mechatsn hearn?“ Dann kam es aus allen Kehlen: „Schwarzbraun ist die Haselnuss.“ Übrigens nur eines von Fliegerls Repertoire. Dann stellte er sich mit einem kruzen Flügelschlag in die Mitte des Lokals und begann zu singen. Dabei machte er sich jedoch nicht zum Affen, sondern war der Star in seiner Manege. Aus Augenzeugenberichten war zu entnehmen, dass der Gesang zwar oft in seiner Qualität schwankte, jedoch war der Fliegerl unwahrscheinlich textsicher. Aber jetzt kam das Kuriose. Nach meist zwei Liedern hielt der Fliegerl seine allsamstägliche Ansprache: „Ween i weidasinga soll…mnjoo hehe…miasts fei an Huat umgeh lassn…mnjoo hehe.“ Und wie von Geisterhand schwebte plötzlich ein Hut über die Tische und wirklich jeder, auch die größten Frotzler und Spötter, gaben ihren Obolus. Meist konnte sich der Fliegerl dann nach seinen ersten fünf Liedern bereits seine Currywurst mit Pommes gönnen und blieb allein durch diese Gage den Abend zechfrei. Nach der zweiten Runde seiner Gesangsvorstellung wurde er dann an einen der Tisch gebeten und dann wurde dem Fliegerl noch das eine oder andere Getränk auf Kosten seiner Zuhörer kredenzt. Mein Vater, der diesen Veranstaltungen öfter beiwohnte, sagte einmal, dass der Fliegerl nie einen Geldbeutel mit dabei hatte und doch mit einem (Hosen-)sack voll Geld und einem Räuscherl nach Hause ging. Der Fliegerl lebt heute noch, ist aber in die Jahre gekommen. Mittlerweile wohnt er in einem Heim fürs betreute Wohnen, da seine Angehörigen alle verstorben sind und er keinen Betreuer mehr hat. Leider sieht man ihn nur noch selten. Nur einmal in der Woche hat er Ausgang. Dann geht er meist in seine alte n Wirkungsstätten und schimpft: „Mnjoo…lassns mi nimma naus….wor früher schener….derf ned amal mehr a Bier trinka….und singa lassns mi a ned….mnjoo...sechane Deppn.“
Gerade tritt er wieder in seine Pedale und radelt die kleine Rampe aus dem Stadtpark hinauf zur Hauptstraße. Die Hauptstraße, welche schon im Mittelalter als ein Abschnitt der Hauptverbindung Prag- Nürnberg galt, ist die eigentliche Ader unserer Stadt. Sie verläuft, von Osten kommend, quer über unseren Marktplatz und verbindet das östliche Ufer der Raab mit dem Stadtwesten. Und eben genau in der Mitte zwischen den Ufern liegen zwei Inseln, und eben auf einer wurde dann auch der Stadtpark angelegt. Die zweite darauffolgende Insel beherbergte früher eine Brauerei sowie ein Mühlhaus. Heute sind nur noch das dazugehörige Wirtshaus, sowie ein Bestatter und ein buddhistisches Betzentrum, ja wir sind multikulturell in unserer Stadt, übrig geblieben. An der Straßenkante hält er inne und denkt nach. Hier, genau auf dieser Brücke hatte er seine bisher größten Erfolge feiern können, welche ihn jeweils in die Zeitung aufs Titelblatt des Lokalteils brachten. Beginnen wir erst mit dem jüngeren Ereignis. Als unsere Stadt Ende der 80er Jahre die 1000 Jahre voll hatte, beschlossen unsere Stadtväter und –mütter ein Eventjahr abzuhalten. Vom Frühjahr bis spät in den Herbst wurde fast wöchentlich gefeiert und am Ende krönte man das Jubeljahr mit einer Sylvester Party auf dem Marktplatz. Diese unsere Feierlichkeiten finden demnach fast alle recht zentral auf dem Marktplatz statt. Bis auf unsere Dult. Dafür ist in der Innenstadt kein Platz, weswegen die Fieranten immer auf die Stangerlwiese im Ortsteil Plombendorf jenseits der Naabbrücken ausweichen müssen. Der Einmarsch zu diesen Dulten war dann bis zu diesem Datum immer eher trist. Es traf sich meist die Freiwillige Feuerwehr sowie eine der zwei Blaskapellen an der Feuerwache, folgten im Gleichschritt dem Pferdegespann der jeweils zuständigen Brauerei bis zum Festplatz und gönnten sich danach die ein oder andere Freimass. Das war der eher triste Auftakt zur Dult, im Gegensatz zum restlichen Treiben, war dies jedoch der einzige Mangel. Starbands, lokale Blasmusik und sogar ein Boxkampf waren dann die Highlights des Festes. Im Gegensatz zu heute. Zum Zeitpunkt der Jubeljahrdult sollte sich nämlich alles ändern. Die Stadt beschloss den Festzug zum Fest aufzustocken und lud alle Vereine ein daran teilzunehmen. Es war ein Wahnsinn. Fast die gesamte Kleinstadt war auf den Füßen. Selbst mein Opa war stolz seinen alten Eicher- Bulldog als Aushängeschild des Obst- und Gartenbauvereins „Grünes Laub Schweinsdorf“ ausfahren zu dürfen. Und diese Tradition blieb bis heute. Und auch die Tradition an alle Vereine Freimassen für ihre Mitglieder zu verteilen behielt man bei. Leider hat sich die Festzeltpolitik des Wirts seit Jahren verschlechtert. Denn der Rouchl Franz schaut seit Jahren nur auf seinen Geldbeutel, weswegen der Starabend, der Boxkampf und andere Attraktionen einfach vom Tisch gewischt wurden.
Jedenfalls als der erste große Festumzug startete, war die Welt noch in Ordnung. Es war ein lauer Frühsommertag. Der Samstag nach Pfingsten. Der Himmel war typisch weiß- blau. Vom nahen Dultplatz hörte man bereits die Fahrgeschäfte. Der Duft von frischen Bratwürsten, Steckerlfisch und gebrannten Mandeln vereinigte sich in einer lauen Prise. Langsam füllte sich der Sammelplatz der Vereine vor dem Feuerwehrgebäude. Immer mehr Vereinsfahnen, bunt gemischte uniformöse Outfits, vom Dartclub bis hin zur Schachmannschaft, alles war vorhanden. Um Punkt 14.00Uhr sollte das Spektakel starten. Und da. Aus der Menge ragte auch eine uns bekannte Gestalt auf. Der Brbr. Heute in seiner schneidigsten Uniformkombination. Einem Feuerwehrler ähnelnd. Dunkelblaue Hose, hellblaues Hemd und ein Käpi mit der Aufschrift: Feierwehr. Dies war zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ganz passend, brachte ihn bei seinen vermeintlichen Kollegen, vor allem den Kollegen der Dorffeuerwehren, ein gehöriges Pfund Respekt ein. Mit der Linken in die Hüfte gestemmt und mit der Rechten in der Luft fachierend, erklärte er gerade einem, wohl Auswärtigen, den vermeintlichen Verlauf des Festzugs, nicht ohne immer wieder auf seine Taucheruhr zu sehen, welche ihm den baldigen Start ankündigte. Es waren nun noch fünf Minuten bis zum Abmarsch. Diesmal war aber noch einige Zeit zuvor die Aufstellung geändert worden. In diesem Jahr sollte aus Gründen der Festlichkeit die Festkapelle vor dem Pferdegespann des routinierten Brauereibesitzers aufmarschieren. Die Leitung der Festkapelle war zudem erst vor wenigen Wochen dem neuen Dirigenten, dem Heimerl Max, übergeben worden. Dass der Max kein Hiesiger war, war auch nur den Insidern bekannt. Und wie das Schicksal eben so spielt, war gerade dies alles die beste Konstellation, für die Gaudi des Jahrhunderts, bzw. des Jahrtausends, passend zur Feier versteht sich. Denn pünktlich zum Abmarsch, stellte sich der Brbr vor die Marschkapelle. Ein Hiesiger hätte ihn ja erkannt, aber eben der Max nicht. „Musikzug, Marsch!“, war das Kommando vom Max. Es erklang der Marsch „Fesche Jugend“ und auf gings. So setzte sich der gesamte Festzug in Bewegung und eben auch der Brbr. Militärisch nicht ganz korrekt den Gleichschritt einhaltend, aber mit zackigem Armpendeln und ernster Miene hielt er einen fast korrekten Abstand von 5 Metern zur hinter ihm marschierenden Musikkapelle. Von Zeit zu Zeit hob er seine Linke zum Gruße, wobei er dem Gruß der englischen Herrscherin in nichts nachstand. Für die Schaulustigen, welche den Weg säumten schon von Haus auf ein Anblick, welcher dem ein oder anderen einen Lacher entlockte. Und gerade als die Kapelle zum Trio ihres Marsches, mit dem hervorragenden Bass- Solo, kam, machte der gesamte Festzug einen unplanmäßigen Schwenk. Denn der Max glaubte immer noch einen Offiziellen vor sich zu haben und folgte dem vor sich hin marschierenden und nun Schwenkkommandos erteilenden Brbr. Das Geschrei des Brauereikutschers, welches eher rustikal Klang, wobei immer wieder die Worte „ja spinnt denn der Depp“ beinahe einen monotonen Sing- Sang ergaben, sowie die Rufe der am Wegrand stehenden Polizeistreife, welche den Fehler ebenso zu korrigieren versuchte, konnte der arme Max nicht verstehen. Auch der verzweifelte Versuch des bereits etwas angeschwippsten Fottner, welcher den Brbr von der Straße ziehen wollte, schlug fehl, da die durch seinen Rüscherl- Frühstückskonsum beeinflusste Koordination seiner Bewegungsabläufe und die Nähe des Brbr zur Musikkapelle, den Fottner beinahe in den standhaften Tubisten der Kapelle krachen ließ. Der Hotte, also der Tubist, verzog dabei keine Miene, machte nur einen kleinen Linksschwenk, der Fottner, gestützt durch eine unbekannte Hand an seinem Hemdkragen, machte einen Satz nach hinten, und der Festzug konnte nicht mehr aufgehalten werden.
Misslich an der Lage war nun, dass der Zug nicht über den Marktplatz und die Innenstadt auf die besagte Hauptstraße geführt wurde, sondern Richtung Uferstraße einbog. Man muss wissen, dass die Uferstraße parallel zur Raab verläuft und erst an oben beschriebener Raabbrücke rechtwinklig auf die Hauptstraße trifft. Zum einen hatte sich nun aber am Marktplatz die gesamte Stadtprominenz eingefunden, um praktisch vom Festzug abgeholt zu werden und wartete nun auf den vermeintlich auf der Hauptstraße heranziehenden Festzug. Zum anderen hatten sich an der Einmündung Uferstraße- Hauptstraße bereits eine große Menschenmenge versammelt, welche nun ja die Uferstraße blockierten und die Hauptstraße umsäumten, da man hier ja den Festzug erwartete. Das erste große Hallo gab es dann, als die ersten Zuschauer merkten, dass der Festzug sich unaufhaltsam mit fliehenden Fahnen und Marschmusik in ihrem Rücken näherte. So staubten die Passanten teilweise hastig und mit großen Oho auseinander, wobei sie den Kommandos des Brbr sauber Folge leisteten. „Wwwegg….afff d‘ Sssseitn! Dddda Zzzuch mmuss ddurch!“, lautete der Befehl. Das irritierte Volk konnte dem nur unverständliches Geschrei entgegensetzen, wobei die Blaskapelle das Durcheinander mit den Klängen des Erzherzog- Albrecht- Marsch untermalte. Als nun unser damaliger Bürgermeister vom Marktplatz aus den Aufruhr an der Raabbrücke bemerkte und sah, dass der Zug ca. 300 Meter an der Prominenz vorbeizumarschieren drohte, nahm er mit den Worten „Manner, da untn sans“, seine Beine in die Hand und überschlug sich beinahe mit seiner Wampen, um den Zug noch einzuholen. 300 Meter sind für eine auf eine eher unsportliche Veranstaltung eingestellte, noch dazu im vollen Ornat stehende Stadtratsabordnung nicht gerade schnell zu bewältigen, weshalb sich dann unsere Honoratioren irgendwo in der Mitte des Zuges einreihen mussten. Da die Menschenmassen der Zuschauer wegen der Nähe zur Dult zunahmen, schwoll nun auch die stolze Brust des Brbr. Beim Umblättern zum dritten Marsch wurde dann auch dem Heimerl Max, welcher von seinen im Hintergrund frotzelnden, aber über den Vorfall schweigenden Musikern bis dahin nicht aufgeklärt wurde, endgültig klar, dass er dem Falschen gefolgt war, was ihm ein sauberes ziegelrot ins Gesicht warf. Aber der Erfolg des Brbr war noch nicht komplett. Um den feierlichen Festzug auch für die Nachwelt zu dokumentieren, wurde von der Stadtverwaltung extra ein Fotografenteam, sowie die örtliche Presse und eben auch der lokalen Fernsehstation genau zu der Stelle bestellt, wo nun der Brbr mit seinem Radl sinniert, also auf der ersten Insel in der Raab. Fatal nur, dass gerade dies die einzige Stelle im gesamten Bereich der Festzugroute war, wo das Panorama für die Fotos von unserer Prominenz auch wirksam verwendet werden konnte, da man im Hintergrund die historische Silhouette der Altstadt mit aufs Bild brachte. Und jetzt war die Gaudi perfekt, denn als einziger Fotostar, welcher wirklich gut in Szene gesetzt werden konnte, kam der Brbr mit der ihm folgenden Blaskapelle daher. Kein Bürgermeister mit der glänzend polierten Bürgermeisterkette, kein Festwirt mit der festlichen Schürze und auch kein Stadtrat in der extra für das Fest angeschafften Einheitstracht. Ausschließlich der Brbr mit seiner Uniform und dem Kappl mit der Aufschrift „Feierwehr“ war zu sehen. Die verdutzten Reporter schauten sich ratlos an, es blieben ihnen ja nur wenige Augenblicke, um die Szene in Bild und Ton festzuhalten. Als dann der Voltan das Eis brach, sich in Position brachte und einfach mit seiner Spiegelreflex zu knipsen begann. Seinem Beispiel folgend schlossen sich dann auch die anderen Presseleute an. Dem Brbr entlockte dies nun ein zufriedenes Lächeln, aber eben nur dies, seine Haltung blieb weiter militärisch stramm. Und so ging der Brbr in die Geschichte der Stadt ein. Dabei konnte ihn wegen dieses Coups auch keiner beleidigt sein. Im Gegenteil, als der Festzug dann auf dem Dultplatz angekommen war und unser Bürgermeister den obligatorischen Fassanstich vornahm, holte er sich den Brbr dazu, legte die Hand des Brbr mit auf den Schlegl und beide zapften gemeinsam das erste Fass Festbier an. Zu erwähnen ist nun noch folgendes. Der Voltan schrieb auch die Artikel zu seinen Fotos auch selbst. Wobei zum Auftakt zu dieser Dult folgender Satz unvergessen bleibt: „… und ohne die Führungsstärke unseres Mitbürgers R. hätte der Festzug nie zum Dultplatz gefunden.“
Diese ersten vier Kapitel werden demnächst fortgesetzt.
Texte: Michael Polauf
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meinen Freund und ehemaligen Nachbarn. R. Du bleibst unvergessen.