Cover


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Dick sitzt mit aufgerollten Ärmeln an seinem Schreibtisch. Er hat die Ärmel seines Hemdes nicht hochgekrempelt, weil es so warm in seinem Büro ist, sondern weil er so viel Arbeit hat. Es hat sich einiges angesammelt, weil er mit einem privaten Problem beschäftigt gewesen war – falsche Zeitform: er hat immer noch ein privates Problem, aber er hofft, daß er dennoch etwas Arbeit nachholen kann.
Der Summer auf seinem Schreibtisch meldet ihm, daß ihn seine Sekretärin sprechen will. Sara ist nicht seine persönliche Sekretärin (auch wenn er manchmal dieses Gefühl hat), sie ist die Vorzimmerdame und für ihn und noch vier seiner Kollegen zuständig. Hätte er eine eigene Sekretärin, hätte er auch ein größeres Büro, einen eigenen Parkplatz und wesentlich mehr Geld.
Dick drückt auf den kleinen weißen Knopf, der Summer verstummt und die Verbindung mit dem Vorzimmer ist hergestellt.
"Mr. Scotts, ein Anruf für sie." Tönt die Stimme der Sekretärin (oder Vorzimmerdame) blechern aus dem kleinen Gerät. Jedes Mal, wenn er so mit Sara kommuniziert, überkommt ihn der Impuls, das Knöpfchen zu drücken und sich beim Sprechen weit vor zu beugen. Das hat er schließlich oft in zahllosen Filmen gesehen. Doch dieses Gerät ist anders. Dick hat es seiner Frau gegenüber einmal als "Spielverderber" bezeichnet, und genau das ist es auch. Er braucht den kleinen weißen Knopf nur zu Beginn des Gespräches und zum Schluß zu drücken und es ist so empfindlich, daß er beim sprechen auch am Fenster stehen könnte (wenn er denn eines in seinem Büro hätte).
"Danke, Sara. Stellen sie ihn bitte durch." Endlich kann er sich nun doch vorbeugen, denn das Telefon wird jeden Moment klingeln. Und es klingelt.
Dick steckt seinen Arm aus um den Hörer von der Gabel zu nehmen, als sich irgendwo in seinem Inneren eine Stimme drängend zu Wort meldet: Nimm nicht ab! Das ist natürlich Blödsinn, doch die Stimme beharrt darauf, gehört zu werden: Nimm das Telefon nicht ab! Es kann nichts Gutes dabei heraus kommen, glaub mir!
Aber Dick glaubt seiner inneren Stimme nicht und nimmt das Telefonat entgegen.
"Dick Scotts, Architekturbüro Hammer & Cline. Mit wem spreche ich?" so meldet er sich immer, wenn er im Büro angerufen wird. Ein oder zwei Mal ist ihm das auch schon Zuhause passiert aber das ist nicht so schlimm.
"Ja, guten Tag, ..." Solche Anrufer findet er immer amüsant. Vor allem, weil er noch nie in Erfahrung bringen konnte, weshalb sie zu Beginn des Gespräches "ja" sagen. Er hat keine Frage gestellt, die so beantwortet werden könnte. Es sei denn, der Anrufer würde "Ja" heißen, aber diesen Fall hat er bisher noch nicht erlebt.
"... mein Name ist Mrs. Dickens, ..."
"Wow! Wie der Schriftsteller?" möchte er sagen, tut es aber nicht. Die Frau redet ja auch ohne Pause weiter:
"... ich bin die Gruppenleiterin ihrer Tochter."
Jetzt weiß Dick mit Sicherheit, daß etwas nicht in Ordnung ist. Seine Tochter ist 4 Jahre alt und verbringt die Stunden in denen er arbeiten muß (er bezeichnet die Zeit absichtlich immer als Stunden – Tage, könnte er wahrscheinlich nicht mit seinem Gewissen vereinbaren), in einer Kindertagesstätte. Dick hat noch nie einen Anruf von dort bekommen. Solche Anrufe bedeuten immer das gleiche, ebenso wie Anrufe, die einen mitten in der Nacht erreichen – vorzugsweise gegen 2 Uhr: nie etwas Gutes, immer etwas Schlechtes. Gut, daß er sitzt, denn er spürt, wie seine Knie weich werden. Er weiß noch nicht, was passiert ist und doch durchlebt er jetzt schon einen kleinen, klitzekleinen Anflug von Feigheit (den er sich aber später nie wieder eingestehen wird. Es dauert auch wirklich nicht lang): noch bevor Mrs. Dickens weiter spricht, möchte er den Hörer auf die Gabel werfen und den Kopf, wie ein Strauß in den Sand stecken. Einfach verschwinden, keine Verantwortung tragen, nichts wissen. Da das Hasenfuß-Gefühl aber genauso schnell vergeht, wie es gekommen ist, wappnet er sich für das Unvermeidliche. Vielleicht ist Nell ja auch nur von der Schaukel gefallen und hat sich den Fuß verstaucht. Vielleicht hat sie sich dabei aber auch das Genick gebrochen... Diese Gedanken schießen ihm in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf, so daß die Gruppenleiterin am anderen Ende der Leitung keine Verzögerung in Dicks Reaktion bemerkt, als dieser antwortet:
"Was kann ich für sie tun?" Ihren Namen kann er nicht wiederholen, auch wenn dies eigentlich nicht seine Art ist. Er hätte sonst vielleicht "Mrs. Charles Dickens" zu ihr gesagt, denn unter der Oberfläche seines angespannten Bewußtseins brodelt hysterische Komik. Dick glaubt einfach nicht, daß Nell sich den Fuß beim schaukeln verstaucht hat, er vermutet, daß der Anruf etwas mit seiner Frau zu tun haben könnte. Wie richtig er damit liegt, wird er in den nächsten Sekunden erfahren.
"Ja, wissen Sie, Mr. Scotts, ..." Wieder dieses "ja", aber diesmal amüsiert es ihn nicht.
"..., vielleicht ist es ja auch nur übertriebene Vorsicht, schließlich ist sie Nells Mutter ..."
Die Erzieherin macht eine Pause und scheint ihn stumm aufzufordern, die Initiative zu ergreifen. Ein hoher Klingelton, der direkt vom Stammhirn zu kommen scheint, schrillt in seinen Ohren. Dick hat schon oft in Büchern gelesen, daß bei jemandem die Alarmglocken schrillen und er fragt sich, ob dieser nervende Ton damit gemeint sein könnte. Aber dieses Klingeln stört seine Konzentration, und das darf er nicht zulassen. Er muß (muß, muß, MUSS) wissen, was Jane getan hat.
"Können Sie mir bitte sagen, was vorgefallen ist?" Dick ist erstaunt, wie ruhig und gefaßt seine Stimme klingt. Mrs. Dickens scheint seine Reaktion jedenfalls zu beruhigen denn sie fährt gelassener fort:
"Ich habe mich nur gefragt, wahrscheinlich ist es gar nicht so wichtig, ob es richtig ist, daß Ihre Frau die kleine Nell so früh abgeholt hat. Denn wissen Sie, Mr. Scotts, so etwas sollte eigentlich mit uns abgesprochen werden." Und warum rufst Du Mistkuh dann erst an, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist? möchte er sie anschreien. Aber ist es denn wirklich ihre Schuld? Ihn, ihn selber trifft wohl die größte Schuld an dieser Situation. Er hätte damit rechnen und im Hort Bescheid sagen müssen. Doch er hatte nicht damit gerechnet. Damit nicht. Er weiß nicht, was er dieser Gruppenleiterin, Mrs. (Charles) Dickens sagen soll. Soll er ihr etwa sagen: Hey, das ist schon in Ordnung, meine Tochter ist nur gerade von ihrer durchgeknallten Mutter entführt worden; aber das ist Okay. Statt dessen sagt er
"Danke.", und legt auf. Einen Augenblick bleibt er noch an seinem Schreibtisch sitzen, unfähig das verrückte vibrieren seiner Muskeln (man könnte auch sagen, er zittert wie Espenlaub) unter Kontrolle zu bringen. Seine Gedanken überschlagen sich wie ein Clown im Zirkus, der Purzelbäume schlägt. Was soll, was kann er tun? Die Polizei rufen? Da war er gestern erst, um Anzeige gegen seine Frau zu erstatten – und mußte unverrichteter Dinge wieder gehen. Er muß selber Aktiv werden! Als Dick sich ruckartig von seinem Stuhl erhebt, stößt er mit dem linken Oberschenkel an einen kleinen Stapel technischer Zeichnungen für einen Gartenpavillon, so daß die einzelnen Blätter mit einem leisen Flüstern zu Boden sinken. Mit schnellen Schritten (nur nicht rennen, sagt er sich immer wieder, nur nicht rennen, sonst gerätst Du in Panik und verlierst noch das letzte bißchen Deines Verstandes. Nur nicht rennen!) verläßt er sein Büro, eilt an der Vorzimmerdame vorbei ohne eine Erklärung für sein seltsames Verhalten abzugeben und läuft auf die Aufzüge zu. Hektisch drückt er die zwei Knöpfe gleichzeitig und wartet. Von einem Bein auf das andere tretend wartet er ungeduldig, so lange er kann; doch als nach fast 8 Sekunden noch immer keiner der beiden Fahrstühle sein Kommen signalisiert, macht er auf dem Absatz kehrt und stürmt zur Treppe. Er hechtet die Stufen – zwei, drei auf einmal nehmend – halsbrecherisch hinunter. Es sind sieben Stockwerke und es grenzt an ein Wunder, daß er dabei kein einziges Mal stürzt. Hammer & Cline ist nicht die einzige Firma in diesem großen, sechzehnstöckigen Bürogebäude und neben dem Haus erstreckt sich ein riesiger Parkplatz. Das Gebäude hat auch eine zweistöckige Tiefgarage, aber Dick hat es schon immer widerstrebt, sein Auto dort abzustellen. Da unten ist es ihm zu dunkel und still. Nun steht er in der strahlenden Vormittagssonne und kann sich nicht erinnern, wo er 3 ½ Stunden zuvor sein Auto abgestellt hat. Den Autoschlüssel in der Hand, dreht er sich verzweifelt im Kreis.
"Reiß Dich zusammen, verdammt noch mal!", er merkt nicht, daß er laut spricht.
"Es kann doch nicht so schwer sein. Konzenrtier´ Dich!" Er schaut Richtung Westen, zu den 3 Bäumen die am Rande des Parkplatzes auf verlassenem Posten stehen. Richtig! Heute hatte er das Glück, einen Platz im Schatten der letzten überlebenden Kastanien zu ergattern. Er rennt zu seinem Auto, fummelt wertvolle Sekunden am Schloß herum, bis er merkt, daß er versucht, den verschlossenen Wagen abzuschließen und steigt schließlich ein. Er sitzt im Auto und weiß nicht, was er tun soll. Er weiß nur, daß er zu seiner Tochter muß. Seiner kleinen Tochter, die nichts dafür kann, daß seine Frau nicht mehr alle Tassen im Schrank hat; einen Sprung in der Schüssel hat; nicht mehr ganz dicht ist; den Zug nach Nimmernimmerland bestiegen hat.
Wut steigt in ihm hoch – nein, sie explodiert förmlich. Wut auf die Gruppenleiterin, die Jane mit Nell einfach hat gehen lassen. Wut auf sich selber, weil er es nicht hat kommen sehen. Aber die meiste Wut hat er auf Jane, die seine Tochter für ihre kranken Zwecke mißbraucht. Weil er keinen Anhaltspunkt hat, wo sich die beiden aufhalten könnten, beschließt er, einfach durch die Gegend zu fahren und die Augen offen zu halten. Er verläßt den Parkplatz Richtung Norden. In dieser Richtung liegt ihr Haus und etwa 4 Kilometer weiter, der Kindergarten. Mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit drängelt er sich durch den - glücklicherweise nicht so dichten - Hausfrauenverkehr. Gerade überholt er einen sandfarbenen Jeep, und obwohl er weiß, daß der Wagen seiner Frau dunkler ist, schaut er trotzdem in das Auto. Es ist eine Frau mit Kind. Aber nicht seine Frau mit seinem Kind. Er rast weiter.
"Immer die Augen offen halten." Diesmal merkt er, daß er Selbstgespräche führt, aber in der Abgeschiedenheit seines Autos, findet er das nicht so schlimm.
"Immer schön die Augen offen halten. Irgendwo müssen sie ja sein. Wie weit kann man in der kurzen Zeit kommen?" Doch dann fällt ihm ein, daß die Frau am Telefon nur gesagt hat, daß Nell "so früh" abgeholt wurde, nicht wann. Und er hat sie nicht gefragt.
"Scheiße, Scheiße, Scheiße!" brüllt er sich selber an und schlägt bei jedem Wort auf das Lenkrad. Er ist jetzt in der Boston Street. In diesem Teil der Stadt sind alle Straßen nach irgendwelchen Städten und Bundesstaaten benannt. Hier zweigt links die Virginia Road ab und rechts geht es in die Florida Street. Ohne es recht zu merken setzt er den Blinker und biegt rechts ab. Die Washington Street verläuft parallel zur Boston und zweigt von der Florida Street ab. Ihr Haus steht in der Washington Street. Ganz nebenbei kommt ihm der Gedanke, Jane könnte mit Nell noch einmal in ihr Haus gefahren sein. Nicht um den Lieblingsteddy seiner Tochter zu holen, den hat Jane schon, aber vielleicht um ein paar Sachen zu packen. Er biegt in die Hauptstadtstraße - wie er sie gerne nennt - ein und sieht den Jeep seiner Frau am anderen Ende auf die Houston Road steuern. Mit einem Satz schießt der alternde Volvo vorwärts, als Dick das Gaspedal mit grimmiger Freude fast bis auf den Unterboden tritt.
"Jetzt hab ich Dich, und so schnell wirst Du mich auch nicht wieder los, Du Miststück!" Die Straßen sind nur mäßig mit Verkehr belebt, und doch ist es Dick nicht möglich, zu dem Wagen seiner Frau aufzuschließen. Aber er macht sich deshalb keine großen Sorgen. Seine einzige Aufgabe besteht im Augenblick darin, den Jeep nicht aus den Augen zu verlieren. Sie fahren jetzt wieder auf der Boston Street. Wenn sie auf dieser Straße weiter fahren, werden sie über kurz oder lang auf die Bundesstraße kommen. 25 Kilometer weiter kommt dann die Autobahn, aber Dick glaubt, daß er seine Frau schon auf der Bundesstraße erwischt. Falls nicht, muß er sich einem neuen Problem stellen, aber er schiebt den Gedanken an die Autobahn erst mal beiseite und konzentriert sich auf den Stadtverkehr.
Vorn an der Ecke Boston und Texas Street, vor dem kleinen französischen Bistro entdeckt er einen Streifenwagen. Seit gestern hat er nicht mehr so viel Vertrauen wie früher in die Polizei, aber es ist dennoch ein Hoffnungsschimmer die Entführung seiner Tochter jetzt und hier zu beenden. 50 Meter vor dem geparkten Streifenwagen schaltet er die Warnblinkanlage ein und drückt wie ein Irrer auf die Lichthupe. Jetzt ist er noch etwa 20 Meter von dem Bistro und dem Streifenwagen entfernt. Er erkennt deutlich einen Kopf auf der Beifahrerseite und jetzt kann er sogar sehen, daß der andere Polizist in dem Bistro an der Kasse steht. Da keiner der Beamten in seine Richtung sieht, legt er eine Hand auf die Hupe und drückt. Im Innern des Wagens kann er gedämpft den Klang seiner gellenden Hupe hören; doch keiner der Polizisten hält es für nötig, nachzusehen, was da los ist, welcher Verrückte hupend durch die Stadt fährt. Soviel zur Polizei, Deinem Freund und Helfer. Dick kann es nicht riskieren, anzuhalten und die Polizisten um Hilfe zu bitten. Vermutlich würden sie ihn erst einmal festhalten und genau Nachfragen, was vorgefallen ist. Indessen könnte Jane zu viele Kilometer zwischen sich und ihn bringen.
Sein Ärger über die taub-blinden Polizisten verflüchtigt sich schnell wieder. Dick ist jetzt sogar ganz froh, daß sie doch nicht auf ihn Aufmerksam geworden sind (er weiß nicht, was die Kadetten auf der Polizeiakademie lernen, aber die Prüfung in konsequenter Nichtbeachtung der Bürger die sie bezahlen, haben sie mit Auszeichnung bestanden). Wenn er seine Frau erst erwischt hat, will er ihr sehr, sehr deutlich klar machen, daß es nicht ratsam ist, sich mit Dick Scotts anzulegen. Vor allem nicht, wenn es um seine Tochter geht. Und wenn es dabei keine Zeugen gibt, um so besser. Dick fällt auf, daß Jane ihn anscheinend noch nicht bemerkt hat. Weder biegt sie abrupt ab, noch fährt sie mit überhöhter Geschwindigkeit oder verhält sich anderweitig auffällig. Sie rechnet wohl nicht damit, daß er ihr schon auf den Fersen ist.
"Du fühlst Dich wohl sehr sicher?" nachdem er die Frage laut ausgesprochen hat, merkt er, daß es genau das ist, was er möchte. Sie soll sich sicher fühlen. Sie soll sich an die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung halten. Wenn sie ihn jetzt schon bemerkt, kann es leicht zu einem Unfall kommen. Seine Frau ist ihm egal, aber seine Tochter sitzt auch in diesem Auto und er will kein unnötiges Risiko eingehen. Sie passieren in einem Abstand von etwa 25 Sekunden das durchgestrichene Ortsschild von Porta Beach. 2 Autos liegen noch zwischen ihm und dem Jeep. Er wird ungeduldig. Bis zur Autobahn sind es noch etwa 24 Kilometer. Der rechte Blinker des Jeeps leuchtet auf.
"Was zum Teufel soll das?", er ist ehrlich erstaunt.
"Wo willst Du hin?" Noch bevor er die Frage ganz gestellt hat, weiß er es. Jane hat vor 4 oder 5 Jahren ein kleines Haus - Bruchbude wäre die korrektere Bezeichnung für das "Anwesen" - am Lake Fishborn von ihrer Tante geerbt. Sie waren nur einmal da, um es sich anzusehen und gleich wieder abgefahren. Die Renovierung des Häuschens hätte sie in den Ruin treiben können. Auch er signalisiert seine Absicht, rechts auf die Landstraße abzubiegen. Keiner der beiden anderen Wagen setzt den Blinker. Dick fährt jetzt 500 Meter hinter seiner Frau. Im Gegensatz zur Bundesstraße liegt die Landstraße verträumt, einsam und mit leichtem Hitzeflimmern in der Landschaft. Es ist kein anderes Auto zu sehen, weder auf ihrer, noch auf der gegenüber liegenden Fahrspur. Er gibt Gas. Sie hat ihn bemerkt. Er erkennt es an ihren hektischen Kopfbewegungen. Auch sie gibt Gas. Beiläufig registriert Dick, daß die Tachonadel gerade auf 140 zittert. Er weiß, er hat den Überraschungsmoment auf seiner Seite; sie hat ihn zwar gesehen und ist auch gleich schneller geworden, aber er hat schon eine höhere Geschwindigkeit als sie. Jetzt ist sein rechter Kotflügel schon neben ihrem linken Hinterrad. Der Jeep hat seine besten Tage auch schon fast vergessen. Er hat zwar mehr PS unter der Haube als der Volvo und im Gelände würde sie ihm mit ihrem Wagen einfach stehen lassen; aber hier auf der Straße zeigt es sich, daß sein Auto die höhere Endgeschwindigkeit erreicht. Er spürt mehr, als er es hört, das satte Schnurren der 8 Zylinder die ihn unerbittlich und unaufhaltsam an dem vergleichsweise kleinen Jeep vorbei ziehen. Er gerät für einen Moment aus der Fassung; er hat seine Tochter gesehen. Sie sind durch zwei Scheiben Sicherheitsglas voneinander getrennt und rasen mit fast 160 km/h über die Landstraße – und doch meint Dick, seine Tochter zu hören. Er sieht, wie sich ihre Lippen bewegen und hört dabei ihre Stimme:
"Bitte, Daddy, hilf mir! Hilf mir, Daddy!!" Er hat auch ihre verweinten Augen und die rote Nase gesehen. Er haßt seine Frau mehr denn je und zwingt dem Volvo noch ein paar km/h mehr ab. Er hat seine weinende Tochter hinter sich gelassen und ist nun auf der Höhe seiner Frau. Auch sie bewegt die Lippen, sagt etwas zu ihm. Aber entweder bewegt sie den Mund nicht so eindeutig wie Nell, oder (und das ist wahrscheinlicher) er will gar nicht wissen, was sie ihm zu sagen hat. Er richtet den Blick wieder auf die Straße. In ca. 500 Metern Entfernung sieht er eine Rechtskurve. Vorher muß er an dem Jeep vorbei sein. Plötzlich bekommt er einen Schlag von rechts. Nicht er selber, der Wagen. Metall reißt über Metall. Er hört das Kreischen in seinen Ohren; und er spürt es im Innersten seiner Knochen, Sehnen und Muskeln. Das Geräusch macht ihn fast Wahnsinnig und es will nicht aufhören. Er hat es geschafft, sein Auto nach dem Schlag in der Spur zu halten, doch der Druck wird immer stärker. Er will einen flüchtigen Blick zu seiner Frau werfen, aber der Blick bleibt nicht flüchtig. Er ist von dem Haß in ihren Augen für einen Moment gebannt. Er kann den Blick nicht von diesen himmelblauen Augen wenden, die ihn einmal voller Liebe angestrahlt haben und ihn jetzt aufspießen wie einen exotischen Käfer auf eine Stecknadel. Die Farbe würde er jetzt auch eher mit "stahlblau" bezeichnen. Wahrnehmung ist eben selektiv.
Zeit. Die Zeit hat sich in etwas verwandelt, das sich kontinuierlich in die Länge zieht und ihn dabei anspringt wie ein durchgedrehter Rhesus-Affe, der in seinem Wahn immer wieder gegen die Stäbe seines Käfigs springt. Die Zeit arbeitet rasend schnell gegen ihn und will doch nicht vergehen. Die Rechtskurve, die vor ein paar Augenblicken noch so weit entfernt war, befindet sich schon direkt vor ihm. Aber das grausame Kreischen des Metalls stellt seine Trommelfelle und Nerven seit einer wahren Ewigkeit auf die Probe. Er scheint es schon seit Jahren, vielleicht sogar seit seiner Kindheit zu hören. Er erkennt, daß er nur 2 Möglichkeiten hat: entweder steigt er mit aller Kraft auf die Bremse und setzt sich wieder hinter den Jeep (sofern sich die Wagen nicht ineinander verkeilt haben, dann landen sie vermutlich alle in dem Graben neben der Straße), oder er gibt Vollgas. Sollten sich die beiden Autos tatsächlich verkeilt haben, wäre Gas geben auch nicht die ideale Lösung. Seitdem Jane ihn (vor Jahren? Sekunden?) gerammt hat, konnte er nur reagieren. Jetzt will er agieren. Er hat sich entschlossen, lieber alles auf eine Karte zu setzen; er tritt mit ganzer Kraft auf das Gaspedal. Zuerst passiert - nichts. Hat sich das Blech des Jeeps untrennbar mit dem Metall des Volvo verbunden? Dann verändert sich die Geräuschkulisse um ihn herum. Das hohe metallische Kreischen wird zu einem tiefen Reißen. Aus dem Augenwinkel bemerkt er eine ungewohnte Bewegung. Er wirft einen kurzen Blick zur Beifahrertür. Sie bewegt sich, als hätte ein unsichtbarer Fahrgast den verspäteten Einfall, doch noch mitfahren zu wollen. Dick hat jetzt Schwierigkeiten, den schweren Wagen in der Spur zu halten. Die Schnauze des Volvo wird nach rechts gezogen, währen das Heck nach links ausbrechen will. Schweiß tritt ihm auf die Stirn. Es kostet ihn enorme Anstrengung dem Druck nicht nachzugeben. Plötzlich hört er erneut einen lauten Knall. Gleichzeitig läßt der Widerstand mit einem Schlag nach. Der Volvo schießt ungebremst auf die rechte Seite der Straße. Dahinter liegt auch ein Graben. In dem wird er gleich landen, wenn er nichts unternimmt. Zum zweiten Mal an diesem Tag erlebt er einen kurzen Anflug von Panik. Er kann sich nicht erinnern, was er tun muß, um das Auto zum Stehen zu bringen! Doch Dick fährt schon seit Jahrzehnten regelmäßig mit dem Auto und sein Unterbewußtsein arbeitet schneller und effizienter als sein Bewußtsein. Er nimmt den Fuß endlich vom Gas und tritt auf die Kupplung, während er gleichzeitig das Bremspedal durchdrückt. Eine Vollbremsung wie aus dem Lehrbuch, schießt es ihm durch den Kopf. Doch nur bis zu dem Augenblick, in dem ihm der Jeep in das Heck knallt. Dies ist der bei weitem lauteste Knall, den er heute gehört hat, untermalt vom unmelodischen Klirren berstenden Glases. Unkontrollierbar gerät der Volvo ins Schleudern. Dick verliert den Überblick. Er fühlt sich wie in der verrücktesten "Raupe" der Welt, in der die Wagen nicht nur im Kreis fahren, sondern sich auch gleichzeitig um die eigene Achse drehen. Dann steht er. Der V8-Benziner ist irgendwann während dieser wilden Drehorgie ausgegangen und jetzt sitzt er hier in der Stille. Er sitzt in seinem demolierten Wagen, betrachtet seine zitternden Hände auf dem Lenkrad und weiß nicht, was er als nächstes tun soll. Was wird jetzt von ihm erwartet? Erwartet überhaupt jemand etwas von ihm? Wenn ja, wer?
"Ich selber!" sagt er, doch er kann es nicht hören. Er befürchtet, seine Trommelfelle könnten durch den Lärm ernsthaft geschädigt sein. Vielleicht ist er von nun an taub. Nein, er kann das Ticken des abkühlenden Motors hören. Er räuspert sich und versucht es noch mal:
"Ich selber." Gut, das hat er gehört. Was er nicht hört, ist der Jeep. Ist sie ihm entkommen? Unter Schmerzen (er vermutet, daß er ein Schleudertrauma haben könnte) hebt er den Kopf und sieht sich vorsichtig um. Etwa 50 Meter vor ihm liegt eine abgerissene Tür. So also hat sich der Volvo vom Jeep gelöst. Sein Wagen hat noch alle Türen, der Volvo hat das Duell gewonnen. Er entdeckt den Wagen seiner Frau halb im Graben auf der anderen Straßenseite. Umständlich fummelt er an seinem Sicherheitsgurt, bis er ihn endlich öffnen kann. Er glaubt nicht, daß verunglückte Autos so schnell (und oft) in Flammen aufgehen, wie das Fernsehen einem weiß machen will, aber er ist trotzdem beunruhigt. Er ist auch nicht Abergläubisch, aber die 13 kann er deswegen noch lange nicht ausstehen. Erleichtert stellt er fest, daß ihm außer gehörigen Kopf- und Nackenschmerzen nichts fehlt, alles läßt sich problemlos bewegen. Er macht sich auf den Weg zu seiner Tochter. Da das Heck des Jeeps in den Graben gerutscht ist, kommt er zuerst zu seiner Frau. Die Fahrertür fehlt und er kann Jane aufrecht hinter dem Lenkrad sitzen sehen. Aber das nimmt er nur am Rande wahr. Nell ist wichtiger. Sie kann er nicht sehen. Das hintere Fenster wurde durch den Unfall in undurchsichtiges Milchglas verwandelt. Er kann nur einen zusammengesunkenen Schemen erkennen.
"Sie ist TOT!" schreit es in seinem schmerzenden Kopf.
"Du hast sie UMGEBRACHT!" Er reißt die Tür zu heftig auf, so daß sie ihm trotz der eingebauten Pneumatik gegen das Bein knallt, doch das registriert er nur beiläufig. Er sieht nur seine kleine Tochter, die reglos und mit gefesselten Händen und Füßen in ihrem Gurt hängt. Sie ist tot.



Schweißgebadet und mit einem unartikulierten Schrei auf den Lippen, wacht er auf. Hat er geschrien? Er weiß es nicht. Er hat Angst. Zitternd lacht er kurz auf. Deshalb nennt man Alpträume wohl auch Angstträume. Er glaubt, daß seine Tochter noch lebt, aber er ist sich nicht sicher. Er strampelt die zerwühlte Decke endgültig ans Fußende, steht auf und schleicht in das Kinderzimmer. Nell liegt in ihrem Bett und träumt ihre eigenen Träume. Er hofft, daß ihre besser sind, als seine. Er geht wieder ins Bett.


- 2 -



"Daddy, wann kommst Du mich wieder abholen?", fragte die kleine Nell. Dick, der eigentlich schon genug mit dem Verkehr am Mittwochnachmittag zu tun hatte, stöhnte innerlich. Seine Tochter Nell, die mit ihren knapp 5 Jahren sicher das süßeste Mädchen von ganz Porta Beach war, war leider auch eines der ängstlichsten Mädchen dieser Kleinstadt; wenn nicht sogar dieses Bundesstaates, wenn man es recht bedachte. Dick war schon froh, daß er sie überhaupt hatte überreden können, zu dem Geburtstag ihrer Freundin Janice Millner zu gehen. Nell hatte Angst von ihrem Vater getrennt zu werden. Sie hatte Angst vor ihrer Mutter. Und wenn man ihrer beider Geschichte kannte, war es leicht verständlich, daß die kleine Nell nachts nur mit ihrer Daisy-Lampe schlafen konnte, daß sie laute Geräusche nicht vertragen konnte (erst letzte Woche hatte sie einen Weinkrampf bekommen, weil das Fenster von Dicks Schlafzimmer bei einem plötzlichen Windstoß zugeschlagen war. Dick brauchte über eine halbe Stunde um das Kind wieder zu beruhigen), daß sie beide in therapeutischer Behandlung waren und daß sie vor allem Angst hatte, ihren Dad nicht mehr wieder zu sehen, wieder entführt zu werden.
Dick ließ einen silbernen Porsche vorbei, fädelte sich mit etwas Glück gleich wieder auf der Spur Richtung Parkroad ein und verfluchte im stillen die Städteplaner, die hier eine sechsspurige Hölle hingesetzt hatten. Aus dem Augenwinkel sah er Nells blasses Gesicht über dem türkisfarbenen Hosenanzug auf sich gerichtet.
"Ich werde wie versprochen um sechs da sein."
"Und wie spät ist es jetzt?", fragte Nell. Auch wenn seine Mutter nicht viel davon hielt, weil Kinder die Uhr gefälligst anständig zu lernen hatten, hatte Dick es so eingerichtet, daß es im ganzen Haus und auch im Auto (gegen einen beträchtlichen Aufpreis) nur Digitaluhren gab. Nell wußte genau, daß es kurz vor zwei war.
"Das ist ihre Art, Ungewißheit und leichte Angst zu zeigen," hatte der Therapeut erklärt.
"sie versucht, Ihre Aufmerksamkeit voll auf ihre Person zu lenken und Ihnen damit etwas zu sagen" Was sie im Einzelnen damit sagen wollte, war Situationsbedingt; hier war die Sache klar: vier Stunden ohne Dad, ist das nicht ein bißchen viel? Dick versuchte, seine Tochter zu beruhigen.
"Nelli-Schatz, es ist jetzt kurz vor zwei. Bis sechs Uhr ist es also nicht mehr so lange." Von rechts scherte abrupt ein feuerroter Pontiac aus und zwang Dick, sich wieder auf die Straße zu konzentrieren. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Auch an Ihm war die Sache mit Jane, Nells Mutter, nicht spurlos vorüber gegangen. In Situationen wie dieser, tauchten wieder die Bilder vor ihm auf, wie Jane ihn mit ihrem Jeep von der Straße hatte drängen wollen. Wieder sah er ihr grausames Lächeln und das böse Funkeln in den Augen als sie zu ihm hinüber blickte. Metall kreischte auf Metall. Nell weinte hinten im Wagen ihrer Mutter und rief ihrem Daddy etwas zu, das er bis heute glaubte hören zu können, obwohl er es nur von ihren Lippen abgelesen hatte:
"Hilf mir, Daddy!"
Dick schaffte es pünktlich, seine Tochter (halbwegs beruhigt) bei den Millners abzugeben. Ein unglaublich ruhiger Nachmittag lag vor ihm. Daß er Mittwochs den halben Tag frei haben wollte, hatte er gleich beim Einstellungsgespräch klar gemacht. Er war ein alleinerziehender Vater seitdem Jane in der staatlichen Nervenheilanstalt war, und das würde sich auch in nächster Zeit nicht ändern. Seine zukünftige Ex-Frau hatte vom Richter einen Beschluß über 8 – 12 Jahre bekommen. Selbst wenn sie sich gut führte und alle Ärzte von ihrer geistigen Gesundheit überzeugen könnte, wäre sie frühestens in 7 Jahren wieder draußen. Und da Dick die Scheidung bereits vor 6 Monaten eingereicht hatte, spielte es auch eigentlich keine Rolle, wann Jane wieder auf freien Fuß gesetzt werden würde; Dick hatte jetzt schon das (vorläufige) alleinige Sorgerecht für ihrer beider Tochter und er wollte das Beste aus ihrer Zweisamkeit machen. In dem Kinderhort, in dem er Nell untergebracht hatte, gab es Mittwochs keine Nachmittagsbetreuung und Dick war froh, daß er diese zusätzlichen Stunden mit seiner Tochter verbringen konnte. Ein Babysitter wäre für ihn auch gar nicht in Frage gekommen.
Heute war alles anders. Vor ihm lag ein halber Tag ohne alles. Ohne Tochter, ohne Arbeit, ohne Verpflichtung. Herrlich. Obwohl Dick sich noch nicht klar war, was er mit diesen göttlichen 4 Stunden machen sollte. Ein Baseball-Spiel auf Video ansehen, endlich mal wieder ein Buch lesen, nach fast 2 Jahren mal wieder an seinem Modellauto basteln oder sogar ein kleines Schläfchen halten? Als er aus dem Auto stieg und auf ihr kleines Haus zu ging, hatte er sich entschlossen, sich ein Spiel anzusehen und dabei ein Buch zu lesen. Schlafen konnte er schließlich Nachts und das Modellauto, ein BMW 850i konnte auch noch als Oldtimer gebaut werden. Dick schloß die Tür auf und blieb stehen. Etwas war falsch. Er war sich nicht ganz sicher, aber hier gab es etwas, was ihn beunruhigte. War es, weil sich seine Tochter nicht an ihm vorbei drängelte um als erste beim Fernseher zu sein? War es die ungewohnte Stille im Haus? Dick war sich nicht sicher, aber er schien etwas zu spüren, das er nicht spüren sollte, nicht umgekehrt. Doch vor der Tür konnte er hier schließlich nicht ewig stehen, also ging er ins Haus.
Gewohnheitsmäßig schloß er die Tür hinter sich ab und legte die Kette vor. Türen stets verschlossen zu halten, hatte sich als ratsam erwiesen, nachdem Dick seiner Frau mitgeteilt hatte, daß er es für besser hielt, wenn sie von nun an getrennte Wege gingen. Jane, die sich zu dem Zeitpunkt schon in einem Sanatorium aufgehalten hatte (nachdem sie sich ein Brotmesser in den Unterleib gerammt hatte um ihren Mann zu überzeugen, daß sie wirklich keine Kinder mehr wollte), war förmlich an die Decke gegangen. Erst hatte sie ihm ins Gesicht gespuckt und dann alles Mögliche gekreischt – von schnellem Mord per Kopfschuß über ersäufen, wie einen räudigen Straßenköter bis zu "Ich werde Dir Deine verfickten Eier abbeißen und Dich ausbluten lassen"! Dann waren 3 kräftige Pfleger gekommen und hatten sie wieder auf ihr Zimmer gebracht. Damals hatte Jane sich einen Plan zurecht gelegt, wie sie sich an ihrem Mann rächen könnte und hatte diesen Plan auch Meisterhaft durchgezogen. Zuerst mußte sie den Ärzten glaubhaft machen, daß ihre Reaktion auf die Trennung von Mann und Kind ein Ausrutscher war. Sie gab sich niedergeschlagen um sich dann erstaunlich schnell aber stetig und nicht Mißtrauen erweckend von dem Schlag zu erholen. Sie erklärte ihrem Arzt, Dr. McGrey, daß ihr nun eine Last von den Schultern genommen sei. Ihr Mann sei immer so fordernd und dominant gewesen, daß sie dadurch und nur dadurch in eine labile psychische Situation gekommen sei. Nun, da ihr Mann ihr mitgeteilt habe, daß er sie verlasse, fühle sie sich gleich befreiter und fähig, es wieder mit dem "normalen" Leben außerhalb des Sanatoriums zu versuchen. Jane spielte ihre Rolle so überzeugend, daß sie drei Wochen später entlassen wurde. Was dann folgte, war schon ein Vorgeschmack auf kommende Schrecken. Mao, der alte Kater der Familie, lag eines Morgens mit gebrochenem Genick auf der Motorhaube von Dicks Wagen, am gleichen Abend rollte eben dieser Wagen wie von Geisterhand die Auffahrt hinunter. Glücklicherweise war die Auffahrt nicht sehr steil, so daß das Auto nicht genug Schwung bekam um allzu großen Schaden anzurichten. 2 Tage später wurde in das Haus eingebrochen, Nells Lieblingsteddy gestohlen, die Küche verwüstet und das alte Ehebett kurz und klein geschlagen. Dick ging gleich zur Polizei um Anzeige gegen seine Frau zu erstatten, wurde jedoch enttäuscht. Da er keine Beweise, noch nicht einmal konkrete Anhaltspunkte dafür hatte, daß diese Taten von seiner Frau begangen worden waren, konnte Dick nur eine Anzeige gegen Unbekannt erstatten. Am nächsten Tag klingelte um 11:23 Uhr sein Telefon im Büro und er hatte von der Entführung seiner Tochter erfahren.
Nun stand er in seiner kleinen, sauberen Küche mit den schwarz-weißen Bodenfliesen und den hängenden Weingläsern über der Spüle und brühte sich einen Tee auf. Er fühlte sich noch immer unbehaglich ohne eine rationelle Erklärung dafür zu haben. Bis auf das fast kochende Wasser im Teekessel war es still im Haus. Dick meinte, die Stille fast greifen zu können – sie fühlte sich kalt an, wie dichter Nebel der von der Küste über das Land zieht und sie roch nach "Kashmir", dem Parfüm seiner Frau. Das war natürlich nicht möglich. Jane war seit mindestens 7 Monaten nicht mehr in diesem Haus gewesen. Dick vermutete, daß er diesen, mit negativen Erinnerungen behafteten Geruch, heute in der Nase hatte weil ihn die ungewohnte Stille unsicher und nervös machte. Er ging zu dem kleinen Eßtisch an dem er immer mit seiner Tochter Frühstückte und schaltete das Radio ein. Nur um etwas anderes als dieses Nichts zu hören.
".... nicht gefährlich, sagen die zuständigen Behörden." Nachrichten. Dick zuckte im Geiste mit den Schultern. Trotzdem besser als nichts. Er stellte sich wieder vor seine Teetasse und wartete auf das Wasser.
"Der Sprecher der staatlichen Nervenheilanstalt in Porta Springs; Roger Talbot, teilte den Reportern ausdrücklich mit, daß es sich bei der Patientin Jane S. nicht um eine Schwerverbrecherin handle. Die Frau sei sehr ruhig und werde sich vermutlich in den nächsten Stunden selber stellen. Daytona: bei den diesjährigen ..."
Dick schaltete das Radio aus. Nervenheilanstalt. Jane S. Jane Scotts? Seine Jane? Falls ja, warum hatte man ihn nicht benachrichtigt? Klar, er war ja nicht zu Hause gewesen und den Anrufbeantworter mochte er seit einiger Zeit nicht mehr benutzen – genauer gesagt, seit Jane die Scheidungspapiere zugestellt worden waren. Von der Treppe, die er von seiner Position aus nicht sehen konnte, kam ein Geräusch. Leise. Ein verhaltener Schritt? War Jane schon im Haus? Hatte er deshalb ihr Parfüm gerochen?

Nell war erst 20 Minuten auf der Geburtstagsparty ihrer Freundin Janice, als sie unruhig wurde. Ihre Gedanken waren wie Wolken, die gut sichtbar am Himmel vorüber zogen aber weder greifbar noch zu stoppen waren. Wäre sie älter gewesen, hätte sie vielleicht das Gefühl drohender Gefahr in Worte fassen können, aber sie war nur ein kleines fünfjähriges Mädchen dessen Angst ihr die Sprache verschlug. Und von Minute zu Minute wurde es schlimmer.

Dick stand in der Küche noch immer vor der Tasse mit dampfendem Tee. Ein feiner Schweißfilm kühlte seine Stirn unangenehm. Eine leise Bewegung der Luft wehte neuen Duft von "Kashmir" in seine Nase. Kleine Spinnen aus Eis krochen über seinen Rücken und hinterließen eine Gänsehaut am ganzen Körper.

Nell fing unvermittelt an zu weinen. Sandra Millner, die Mutter des Geburtstagskindes, war ratlos. Es war wohl doch keine so gute Idee gewesen, dieses verstörte Kind zu der Party einzuladen. Trisha, ihre Freundin und Mutter eines Jungen, der ebenfalls in Nells Gruppe war, hatte sich auch dagegen ausgesprochen, aber diese Kleine war so ein niedliches Mädchen mit dem blonden Lockenkopf und den großen, blauen Augen. Außerdem hatte Janice ihre Mutter förmlich angefleht und es war nun einmal ihr Geburtstag, da konnte sie einladen, wen sie wollte (wenn sie die Zahl ihrer kleinen Gäste in einem vernünftigen Rahmen hielt). Und nun das. Nicht, daß das Mädchen laut geschluchzt hätte – nein, sie saß still in der hintersten Ecke des Gartens und weinte vor sich hin. Dieser Anblick war für Sandra schlimmer, als wenn sich die Kleine schreiend und um sich tretend auf den Boden geworfen hätte. So vermittelte sie den Eindruck absoluter, hoffnungsloser Niedergeschlagenheit, den man einem fünfjährigen Mädchen nicht zugetraut hätte. Noch hatten die anderen Kinder die weinende Nell nicht bemerkt. Sie spielten gerade Blinde Kuh und ihr fröhliches Lachen war vermutlich in der ganzen Straße zu hören. Sandra ging über den Rasen auf das Mädchen zu und hockte sich vor ihm hin.
"Was hast Du denn, Schatz?" Nell sah sie mit ihren großen, blauen Augen an und eine weitere Träne kullerte über ihre bleichen Wangen. Sie zog die Nase hoch und flüsterte:
"Ich muß zu meinem Daddy!"
"Ja aber warum denn, mein Herzchen? Du bist doch gerade erst gekommen." Sie strich dem Mädchen eine Locke aus der Stirn. Eine weitere Träne nahm ihre Bahn. Sandra bemerkte, daß das Kind jetzt am ganzen Körper zitterte. Sie versuchte, Nell in den Arm zu nehmen. Doch das Kind wich noch weiter in die Ecke des Gartens zurück.
"Bitte"; schluchzte das Mädchen,
"ich muß zu meinem Daddy!!" Weitere Tränen tropften auf den adretten kleinen Hosenanzug. Sandra hatte zwar Mitleid mit dem kleinen Ding und sie hatte sie auch recht gern, doch sie wollte nicht riskieren, daß der Geburtstag ihrer Tochter durch ein Kind, das offensichtlich noch nicht reif für Geburtstagspartys ihrer Freundinnen war, gestört wurde. Sie nahm Nell bei der Hand und ging mit ihr am Haus vorbei und zum Auto. Bei jedem anderen Kind hätte sie zuerst bei den Eltern angerufen um Bescheid zu sagen, aber in diesem Fall wollte sie nicht riskieren, daß Dick Scotts sie überredete, seine Tochter auf der Party zu lassen. Der arme Mann war bestimmt froh, dieses schwierige Kind einmal nicht im Haus zu haben. Doch Sandra wollte sie eben auch nicht.

Im Haus war es so still, daß Dick ihren Atem von der Küchentür her hören konnte. Die Muskeln in seinen Rücken vibrierten wie die Stahlträger einer Brücke bei einem Orkan. Sein Magen schien seinen angestammten Platz verlassen zu wollen, um sich in seinem Unterleib zu verkriechen.
"Hallo Dick!" Die vertraute Stimme an einem vertrauten Ort (schon etwas näher, obwohl er keinen Schritt gehört hatte), und doch so falsch wie eine Hornisse in einem Wespennest. Beide sind Insekten aber sie gehören doch nicht zusammen. Dick wollte sich einfach umdrehen und locker
"Hi, was machst Du denn hier?" sagen, doch die Verbindung zwischen Körper und Gehirn schien gestört zu sein. Wo die elektrischen und chemischen Impulse normalerweise mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit durch die Nervenbahnen geschossen werden, mußten sie sich nun Zentimeter um Zentimeter wie durch Ahornsirup voran kämpfen. Selbst das Atmen wurde für ihn zu einem Ringen um jeden Kubikzentimeter Luft. Nach einer Ewigkeit hatte er es geschafft, sich umzudrehen. Und da stand sie. In ihrer rechten Hand hielt sie locker das kleine Beil, das er früher (in besseren, ruhigeren Zeiten) immer zum Campen mitgenommen hatte. Sein letzter Ausflug in die Wildnis lag mindestens 2 Jahre zurück, doch in der fahlen Nachmittagssonne die durch die Fenster der Küche blinzelte, konnte er die Schneide des Beils mörderisch glänzen sehen.

Stunden, Ewigkeiten hatte sie auf ihren Mann gewartet. Den Mann, der sie einmal so sehr geliebt hatte, daß er für sie seine Höhenangst überwunden hatte um ihr in einer kleinen Piper einen Heiratsantrag zu machen. Damals hatte er ihr buchstäblich die Welt zu Füßen gelegt. Damals, bevor alles anders geworden war. Bevor er anders geworden war. Die letzten Stunden hier im Haus hatte sie mit viel Nachdenken verbracht (was war ihr auch anderes übrig geblieben, es war ja niemand da gewesen) und Jane war zu dem Schluß gekommen, daß es für sie keine andere Möglichkeit gab, als diesen Mistkerl umzubringen.
Dann werden auch die Ärzte endlich sehen, was er mir angetan hat. Und dann werden sie mich auch in Ruhe lassen. Dann müssen sie mich in Ruhe lassen! Nun war es endlich so weit. Dick "der Lügner des Jahres" Scotts war zu ihr gekommen. In ihr Haus. Und er war so mit sich selbst beschäftigt, daß er sie nicht einmal gehört hatte! Das war echt zum totlachen. Aber wahrscheinlich heckte er gerade wieder eine Gemeinheit aus; so wie damals, als er sie gezwungen hatte, sich ein Messer in den Bauch zu stoßen, damit sie langsam und qualvoll verbluten sollte. Aber sie hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wie, wußte sie nicht mehr so genau – aber schließlich lebe ich noch, das ist ja wohl Beweis genug, dachte sie grimmig. Als sie dann im Krankenhaus gelegen hatte, hatte Dick sein intrigantes Netz so kunstvoll um die Ärzte gesponnen, daß sie selber, die mißhandelte Ehefrau, für Krank erklärt wurde. Wusste der Himmel, was Dick den Schwachköpfen im Krankenhaus erzählt hatte: sie gingen ihm auf den Leim.
Aber damit ist jetzt Schluß, ich werde der Welt schon Beweisen, wer hier verrückt ist! Doch vorerst mußte sie ihn in dem Glauben lassen, alles sei in bester Ordnung. Er durfte noch nicht wissen, daß sein letztes Stündlein geschlagen hatte (daß sie gut sichtbar ein scharfes Beil in der Hand hielt, hatte sie vergessen).
"Hallo Dick!"

Das menschliche Gehirn ist manchmal zu seltsamen Reaktionen fähig. Dick, ein Mann, der noch nie im Leben etwas bewußt getötet hatte, das größer als eine Wald-und-Wiesen-Spinne gewesen war (und das auch nur auf Wunsch seiner Frau oder seiner Tochter), erfaßte und analysierte die Situation mit der kalten Berechnung eines altgedienten Soldaten, dessen Leben nicht zum ersten Mal in Gefahr ist. Er war tatsächlich froh, daß Jane ein Beil in der Hand hatte! Erstens wußte er dadurch sofort, mit welcher Absicht seine Frau ins Haus eingedrungen war und konnte sich darauf vorbereiten. Zweitens war aber noch wichtiger, daß er eine Chance hatte. Hätte sie den Revolver im Wohnzimmer in der Schublade des Couchtisches entdeckt, wäre er vermutlich schon tot gewesen, bevor er sich umgedreht hatte. Er machte den Mund auf um etwas zu erwidern, doch seine Stimme versagte ihren Dienst. Sie wußte wohl noch nichts von seiner neuen Kaltblütigkeit. Er versuchte es erneut und brachte ein krächzendes
"Hallo", zustande.
In der Nähe wurde eine Autotür zugeschlagen.
Sekunden verstrichen, in denen sich die Eheleute wie zwei Roboter, deren Batterien leer sind, gegenüber standen. Beide schienen auf eine Reaktion des Anderen zu warten; Jane, um anzugreifen, Dick, um sich zu verteidigen – oder auch anzugreifen?

Nell hatte einen eigenen Schlüssel und sie wußte, daß ihr Dad peinlich darauf achtete, daß die Türen immer verschlossen waren. Sie wußte auch von der Angewohnheit ihres Vaters, den Schlüssel in der Vordertür stecken zu lassen. Also lief sie gleich zur Hintertür, die in die Küche führte. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, daß ihr Dad nicht öffnen würde, wenn sie jetzt klingelte. Sie hatte mehr Angst denn je.

Wie in Trance hob Jane langsam das Beil.

Dicks Hände krampften sich rückwärts um die Kante der Arbeitsplatte.
Ein Schlüssel wurde in die Tür gesteckt und herum gedreht. Dick, der Dank seiner neuen Kaltblütigkeit schneller denken konnte als je zuvor, erstarrte. Nell war außer ihm die einzige, die einen Schlüssel zu den Türen dieses Hauses hatte. Panik drängte seine neue Kaltblütigkeit in den Hintergrund. Er mußte etwas unternehmen. Jetzt. Sofort!
"Nell, lauf! Lauf weg!" schrie er, so laut er konnte (eine Woche sollte es dauern, bis er seine Stimme wieder hatte). Doch die Tür öffnete sich.

Währenddessen hatte Jane das Beil schon in Position über ihrem Kopf gebracht. Sie wollte zuschlagen. Diesen Bastard vernichten, ihn zerstückeln – und dann in kleinen Portionen an seine Mutter schicken. Dieser Drachen hatte sie nie akzeptiert. Nie und nie-nicht. Das wäre doch eine gerechte Strafe für dieses selbstvergessene Weib. Hinter sich hörte sie einen Schlüssel, der im Schloß gedreht wurde. Sie registrierte es, achtete aber nicht darauf. Sie mußte das Schwein vor ihr im Auge behalten. Doch dann schrie er, was seine Lungen hergaben. Zuerst verstand sie ihn nicht, weil der plötzliche Lärm ein Schock für ihre Ohren war, doch dann wußte sie es. Mit einem Mal wußte sie alles. Sie hatten sich gegen sie verbündet.
"Schnell drauf! Drauf auf sie!" Das schrie er. Doch ihre Mutter hatte sicher keine dummen Kinder in die Welt gesetzt. Jane wußte gleich, wie der Hase lief. Schneller als Roger Rabbit in seiner besten Zeit, wirbelte sie herum – und sah sich ihrer Schwiegermutter gegenüber. Die ist aber geschrumpft, dachte sie mit einem leisen Anflug von Verwunderung (doch darum würde sie sich später kümmern, oder auch nicht), und schwang das Beil seitlich, um dem Drachen den Garaus zu machen.

Gerade als sie den Schlüssel im Schloß drehte, hörte sie die Stimme ihres Vaters: "Nell, lauf! Lauf weg!" Wenn sie sonst auch ein recht braves Kind war, dieses Mal konnte sie ihrem Daddy nicht gehorchen. Es ging einfach nicht. Es war, als hätte ein unsichtbarer großer, kräftiger Erwachsener (oder ein Riese, wie der böse Blaubart) ihre Hand in seine Riesenfaust genommen und würde sie nicht mehr los lassen. Sie hatte die Tür schon einen Spalt breit geöffnet, als ihr Vater seine Warnung zu Ende gerufen (geschrien) hatte. Sie hatte keine andere Wahl, als die Tür vollends aufzustoßen. Sie wollte eigentlich nicht, sie wußte, daß etwas Schreckliches hinter der Tür lauerte – aber sie mußte zu ihrem Daddy!
Und wenn ich dafür an einem MONSTER oder sogar dem SCHWARZEN MANN (Peter aus der anderen Gruppe hatte ihr davon erzählt) vorbei muß, dann muß es eben so sein, dachte das fünfjährige Mädchen tapfer und hob nach einer letzten Sekunde des Zögerns den Blick.

Für Dick veränderte sich der Lauf der Zeit. Die Schreckensszene vor ihm spulte sich in quälender Zeitlupe ab, so daß er jedes grausame Detail erkennen und für immer in seinem Erinnerungschip im Gehirn speichern konnte. Doch es war ihm nicht möglich, in das Geschehen einzugreifen. Sein Körper schien zu Stein erstarrt und wie ein alter Findling eine dauerhafte Symbiose mit den hübschen schwarz-weißen Fliesen der Küche eingegangen zu sein. Ein seltsamer Gedanke (ob die Kellerasseln schon da sind?) schoß ihm durch den Kopf und er sah vor seinem geistigen Auge das Bild eines friedlich dahin plätschernden Baches an dessen farnbewachsenem Ufer ein tonnenschwerer Findling steht, die Wetterseite ist mit Moos überzogen und er strahlt überirdische Ruhe aus.
Vor seinen physischen Augen spielte sich derweil eine andere Szene ab. Vor ihm stand Jane, doch nun wandte sie ihm den Rücken zu. Sie hielt das kleine (und doch so tödliche) Beil mit beiden Händen seitwärts über der rechten Schulter, bereit ihrem Gegenüber den Kopf vom Hals zu trennen. An seiner Frau vorbei, konnte er seine Tochter sehen. Da stand sie, die kleine Kinderhand noch auf der Klinke der geöffneten Hintertür. Entsetzen verzerrte das sonst so hübsche Gesicht. Ihr Kopf schien nur noch aus weit aufgerissenen Augen zu bestehen. Die blonden Locken hingen schlaff auf ihre Schultern, als hätten sie den Mut verloren, sich - wie sonst üblich - lustig zu kringeln. Der Sekundenzeiger an der Küchenuhr (die Nell erst vor 3 Wochen auf einem Flohmarkt zugunsten ihres Kindergartens entdeckt hatte) beschrieb seine Runden mit einem Geräusch, das eher an Kieselsteine die in einen Brunnen geworfen werden erinnerte, als an das leise Tic-tac das ihm jeden Abend das Abschalten vom Tage erleichterte. Dick stand noch immer rückwärts mit den Händen an der Arbeitsplatte, zu keiner Bewegung fähig.

Nell sah sich derweil ihrem schlimmsten Alptraum gegenüber. Schlimmer als jedes Monster oder alle schwarzen Männer der Welt – ihrer Mutter. Eine Flut von Bildern tauchte vor ihr auf, Bilder aus glücklichen Tagen (nicht sehr viele) und schlimme Bilder (viel zu viele). Hätte Nell ihre Mutter nur als schreckliche, böse Frau kennengelernt, wäre es ihr vermutlich leichter gefallen, mit den Erinnerungen an die Taten dieser Frau fertig zu werden – doch Nell konnte sich auch an die Liebe und Zuneigung erinnern, die ihre Mutter einmal ausgestrahlt hatte. In die Arme der Mutter zu laufen war einfach wie nach Hause kommen gewesen. Jetzt war da nur noch Haß. Ekel. Sogar Mordlust. Nell konnte die Empfindungen ihrer Mutter spüren wie leichten Nieselregen. Man merkt gar nicht richtig, daß es regnet, bis man bis auf die Knochen naß ist.
Aber warum? Diese Frage stellte sie sich seit so langer Zeit. Was hatte sie getan, das Mami so böse auf sie werden ließ? War es, weil sie damals, als kleines Kind (jetzt war sie ja schon groß) nach einem Alptraum ins Bett gemacht hatte? Oder weil sie einmal beim Spielen so gegen den Tisch gestoßen war, daß die Vase umgefallen und kaputt gegangen war? Was, was hatte sie getan? Wichtiger noch, wie konnte sie es wieder gut machen? So daß Mami endlich nicht mehr böse auf sie war? Da sie keine Blümchen oder wenigstens ein gemaltes Bild hatte, versuchte sie es mit dem einzigen Geschenk, das ihr wertvoll genug erschien. Sie trug seit 5 Tagen einen wunderschönen, glitzernden Stein mit sich herum, überzeugt, daß in dem starren Gebilde echtes Gold verborgen war. Sie ließ die Türklinke, die sie bis dahin festgehalten hatte, los und griff in ihre Tasche.

Dick, ein bis dahin bekennender Atheist, hatte an diesem Tag eine Erleuchtung. Bis zu dieser Stunde hatte er an solche Dinge wie Zufall, Glück oder Pech geglaubt. Zwei junge Leute hatten mit ihrem Auto einen Unfall – einer Tod, einer lebt ... na dann hat der eine eben Glück gehabt und der andere Pech! Nach zig Jahren einen alten Schulfreund getroffen? Was für ein Zufall! Und dann auch noch einen irren Job bei ihm bekommen? Was für ein glücklicher Zufall! Das war bis dahin seine Welt. Eine Welt, die er nicht erklären, mit der er aber leben konnte. Doch die folgenden Ereignisse machten ihm klar, daß es einen Gott geben muß. Weder Zufall noch Glück hätten die Geschehnisse derart lenken können. Dazu war eine echte Macht nötig. Und die war hier eindeutig am Werk. Daran bestand für Dick weder an diesem Nachmittag, noch sonst jemals in seinem weiteren Leben, ein Zweifel.
Seit dem Eintreffen seiner Tochter war noch keine halbe Minute vergangen, als dieser schreckliche Nachmittag sein grausiges Finale entfaltete. Dick stand noch immer an der Arbeitsplatte (und vermutete, er würde bis zu seinem Tod dort festgewachsen sein), unfähig in das Geschehen einzugreifen. Doch wie sich herausstellte, war das auch nicht nötig. Jane hatte Anfangs das Gewicht des kleinen Beils falsch berechnet, so daß ihre Arme etwas zu viel Schwung bekamen und das Beil zu weit über ihre rechte Schulter trugen. Der Aluminiumgriff, der am oberen Ende in einer harmlosen Wölbung endete, stieß gegen ihr linkes Schulterblatt. Sie brauchte einige Sekunden um das Werkzeug wieder in Position zu bringen. Sekunden, die ihrer Tochter das Leben retteten.
Ich werde Dich lehren, Dich nicht in mein Leben einzumischen!, dachte sie, als sie mit der aufgestauten Wut einer verletzten, um ein schönes Leben betrogenen Frau, das Beil niedersausen ließ.

Der glatte, kantenlose Stein verharkte sich kurz in ihrer Tasche, hüpfte ihr aus den Fingern und landete auf dem Boden. Nell bückte sich.

Jane sah, daß ihre Schwiegermutter dem Schlag auszuweichen versuchte, doch sie konnte nicht mehr reagieren. Hatte sie beim ausholen schon zu viel Kraft eingesetzt, hatte sie diesen Schlag noch kräftiger ausgeführt – in der Erwartung, auf ein Hindernis zu treffen. Doch es gab keines. Die Klinge sauste wenige Zentimeter über dem Rücken ihrer Gegnerin hinweg.

Dick sah, wie Nell in die Tasche griff und sich gleich danach bückte. Gerade noch rechtzeitig, um nicht von dem Beil getroffen zu werden. Doch er glaubte nicht, daß seine Tochter dem Schlag bewußt ausgewichen war. Vermutlich gehörten schnelle Reaktionen genauso zu kleinen Kindern wie Kühlschränke zu Eskimos. Und dann erfüllte das Beil seine Aufgabe; die Aufgabe, für die Jane es auch vorgesehen hatte: es tötete. Doch weder Nell noch Dick wurden durch die Klinge niedergestreckt. Das Beil traf Jane selber. Dadurch, daß sie von vornherein zuviel Kraft in den Hieb gelegt hatte und das Beil auch auf kein Hindernis traf, trug es der Schwung zu Jane zurück. Hatte sie sich vorher mit der abgerundeten Seite des Griffes selber am Rücken getroffen, bohrte sich nun die scharfe Klinge dieses kleinen und unscheinbaren, aber dennoch tödlichen Campingwerkzeugs in ihren Rücken. Jane war schon Tod, bevor sie auf den Boden gesunken war.


- 3 -



Jane wurde in aller Stille auf dem Südfriedhof von Porta Beach beigesetzt. Dick, Nell und der Pfarrer waren die einzigen, die ihr das letzte Geleit gaben. Von Roger Talbot, als offiziellem Sprecher der Nervenheilanstalt von Porta Springs, kam ein Entschuldigungsschreiben. Nach bisheriger Lage und Beurteilung des Krankheitsbildes sei es nicht vorauszusehen gewesen, daß die Patientin Jane S. so gewalttätig reagieren würde, ... bla bla bla, und es tue ihnen leid.
Nach 6 Monaten intensiver psychologischer Betreuung und weiteren 18 Monaten lockerer Therapie wurden Nells Alpträume so selten, daß sie und ihr Vater damit leben konnten. Sie würde nie ein Klassenclown werden, doch einer fröhlichen Zukunft stand endlich nichts mehr im Wege. Außer der Vergangenheit.

© 2004 Heike Riedel

Nachtrag



Stephen King, Das Leben und das Schreiben, Seite 188 ff:

Wohl jeder kennt die Grundzüge der folgenden Geschichte; mit leichten Änderungen taucht sie ungefähr jede Woche auf der Seite mit den Polizeinachrichten in Ihrer Tageszeitung auf: Eine Frau, nennen wir sie Jane, heiratet einen fröhlichen, gescheiten Mann, der vor sexueller Anziehungskraft nur so vibriert. Er soll Dick heißen. Leider besitzt Dick auch eine dunkle Seite; er ist reizbar, herrschsüchtig und vielleicht sogar paranoid (das finden Sie heraus wenn er redet und handelt). Jane bemüht sich nach Kräften, über Dicks Fehler hinwegzusehen und glücklich mit ihm zu sein (warum sie sich so anstrengt, werden Sie auch herausfinden müssen; bei ihrem Auftritt wird sie es Ihnen verraten). Die beiden bekommen ein Kind und eine Weile läuft alles besser. Als das Mädchen dann ungefähr drei Jahre ist, beginnen Beschimpfungen und Eifersuchtstiraden von neuem. Zuerst ist die Gewalt nur verbal, dann auch körperlich. Dick ist überzeugt, dass Jane mit jemandem schläft, vielleicht jemand von der Arbeit. Ist es ein bestimmter Mann? Keine Ahnung, ist mir auch egal. Vielleicht verrät Ihnen Dick am Ende, wen er in Verdacht hat. Wenn ja, wissen wir Bescheid, oder? Irgendwann hält es die arme Jane nicht mehr aus. Sie läßt sich von dem Mistkerl scheiden und bekommt das Sorgerecht für die Tochter, Klein Nell. Dick beginnt sie zu verfolgen. Jane reagiert mit einem Unterlassungsurteil, diesem Dokument, das so nützlich ist wie ein Windschutz bei einem Hurrikan. Viele mißhandelte Frauen können ein Lied davon singen. Schließlich wird der Mann nach einem brutalen Zwischenfall, den Sie hübsch anschaulich schildern (vielleicht schlägt er sie öffentlich zusammen), festgenommen und wandert ins Gefängnis. Das alles ist die Vorgeschichte. Wie Sie die einarbeiten und wieviel Sie davon einflechten, ist Ihre Sache. Jedenfalls ist das nicht die Situation, von der ich sprach. Die kommt jetzt. Nicht lange nachdem Dick im städtischen Gefängnis eingesperrt wurde, holt Jane Klein nell von der Kindertagesstätte ab und bringt sie zu einer Geburtstagsfeier bei einer Freundin. Dann fährt Jane nach Hause. Sie freut sich auf zwei oder drei seltene Stunden Ruhe und Frieden. Vielleicht lege ich mich ein wenig hin, denkt sie. Obwohl sie eine junge, arbeitende Frau ist, fährt sie zu einem Haus - das verlangt die Situation. Wie sie an das Haus kommt und warum sie den Nachmittag frei hat, wird die Geschichte verraten, und es wird sorgfältig geplant wirken, wenn sie sich gute Gründe überlegen (vielleicht gehört das Haus ihren Eltern, vielleicht passt sie auf das Haus auf, vielleicht etwas ganz anderes). Als sie die Tür aufschließt, bekommt sie ein ungutes Gefühl, ohne dass sie den Grund dafür benennen kann. Sie redet sich ein, es seien nur die Nerven, eine Überreaktion nach fünf Jahren Hölle mit Mr. Nice Guy. Was sollte es auch sein? Dick sitzt schlielich hinter Schloss und Riegel. Bevor sie sich hinlegt, will sich Jane noch eine Tasse Kräutertee machen und die Nachrichten sehen. (Können wir den Kessel mit kochendem Wasser auf dem Ofen später noch verwenden? Wer weiß?) Die erste Meldung ist ein Schock für sie: Am Morgen sind drei Männer aus dem Gefängnis entflohen, ein Wächter wurde dabei getötet. Zwei der Männer wurden kurz darauf wieder gefasst, der dritte ist jedoch weiterhin flüchtig. Die Namen der Gefangenen werden nicht genannt (wenigstens nicht in diesen Nachrichten), doh Jane, die in ihrem leeren Haus sitzt (was Sie inzwischen plausibel erklärt haben), weiß ohne jeden Zweifel, dass einer von ihnen Dick ist. Sie weiß es, weil sie inzwischen das unbehagliche Gefühl erklären kann, das sie beim Betreten des Hauses verspürte: der schwache unaufdringliche Geruch von Vitalis-Haarwasser. Dicks Haarwasser. Jane sitzt im Sessel, die Muskeln gelähmt vor Furcht, unfähig aufzustehen. Und als sie Dicks Schritte die Treppe herunterkommen hört, denkt sie: Nur Dick würde sein Haarwasser selbst im Gefängnis benutzen. Sie muß jetzt aufstehen, muß fortlaufen, aber sie kann sich nicht bewegen ... Keine schlechte Story, was? Finde ich schon, aber sie ist nicht unbedingt etwas Besonderes. Wie ich bereits am Anfang sagte, GESCHIEDENER EHEMANN SCHLÄGT (oder ERMORDET) EXFRAU steht jede Woche in der Zeitung - traurig, aber wahr. Ich möchte jetzt von Ihnen, dass Sie das Geschlecht der beiden Hauptfiguren vertauschen, bevor Sie die Situation ausarbeiten. Machen Sie die Exfrau zur Verfolgerin (vielleicht flieht sie nicht aus dem Knast, sondern aus einer Nervenheilanstalt) und den Mann zum Opfer. Erzählen Sie, ohne sich vorher etwas zurechtzulegen - lassen Sie die Situation und die unerwartete Umkehrung auf sich wirken! Ich bin überzeugt, dass Sie das spielend schaffen ... aber nur, wenn Ihre Figuren glaubwürdig sprechen und handeln. Glaubwürdigkeit beim Erzählen kann viele stilistische Fehler ausbügeln, wie man bei hölzernen Prosa-Autoren wie Theodore Dreiser und Ayn Rand sehen kann, aber Lügen sind der große, nicht wiedergutzumachende Fehler. Lügner führen ein feines Leben, keine Frage, aber nur, wenn es um das Leben im allgemeinen geht, nie unten im Dschungel der Textgestaltung, wo man immer nur ein verfluchtes Wort zur Zeit vor dem Zielfernrohr hat. Wenn Sie unaufrichtig über das berichten, was Sie wissen und fühlen, fällt alles in sich zusammen. Wenn Sie mit Ihrer kleinen Übung fertig sind, schreiben Sie mir auf www.stephenking.com und erzählen Sie mir, wie es geklappt hat. Ich kann nicht versprechen, jedem zu antworten, aber ich verspreche, Ihre Abenteuer mit großem Interesse zu lesen. Ich bin neugierig, was für einen Findling Sie ausgraben und wieviel Sie von ihm intakt aus dem Erdreich bergen können.

Impressum

Texte: Heike Riedel
Bildmaterialien: BookRix
Lektorat: ich
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für mein großes Vorbild - auch wenn er es nie erfahren wird.

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