Es war einmal ein kleiner Farn. Er hatte wundervolle grüne Blätter, die sich ständig ein bißchen kräuselten, weil sie immer vom Wind und den Insekten gekitzelt wurden.
Der Farn war eigentlich auch nicht sehr klein, aber der Wald in dem er wuchs, wurde von großen, mächtigen Kiefern beherrscht, die ihre Zweige über den ganzen Himmel zu strecken schienen.
Der Farn war traurig, weil er gegen die großen, mächtigen Kiefern so klein wirkte und weil er sein ganzes Leben unten am Boden verbracht hatte. Eines Tages fragte der Farn seinen besten Freund, die Wühlmaus Flinkefix um Rat: "Bitte Flinkefix, kannst Du mir nicht helfen? Ich möchte den Himmel auch einmal so sehen, wie die großen Kiefern. Ich möchte auch die Wolken aufziehen sehen, bevor der Regen fällt. Was soll ich tun?" Und Flinkefix, der nie um eine Antwort verlegen war, meinte: "Nimm doch Deine Wurzeln in die Hand und klettere hinauf, auf eine der Kiefern!" sprachs und verschwand im nahen Unterholz. Der Farn wußte, daß er den Rat von Flinkefix nicht befolgen konnte, schließlich hatte er keine Hände. Er konnte ja noch nicht einmal seine Wurzeln, die ihn so fest im Boden hielten, ausgraben!
Als nächstes sprach er Nostradamias, den alten weisen Kautz auf sein Problem an, als dieser sich zu einem Schwätzchen bei dem Farn niederließ. "Bitte Nostradamias, hilf mir. Du bist doch alt und weise", – "Nana", unterbrach ihn der Kautz mit krächzender Stimme. "das Wort 'alt' möchte ich aber nicht gehört haben!" – "Entschuldige", sagte der Farn kleinlaut. "ich wollte damit ja auch nur sagen, daß Du in Deinem langen, langen Leben schon viel gesehen, gehört und gelernt hast." Geschmeichelt spreizte der Kautz seine grau-braunen Federn: "Da magst Du Recht haben. Was möchtest Du wissen, mein Sohn?" – "Sag mir, Nostradamias, wie werde ich so groß, wie die mächtigen Kiefern?" Der Farn schaute den Kautz hoffnungsvoll an, während dieser sich nachdenklich hinter dem Ohr kratzte. "Hmm", brummte er dann. "Es gibt da wohl eine Möglichkeit, ich weiß nur nicht, ob Du dafür genug Kraft und Willen hast!" – "An Willen wird es nicht fehlen", sagte der Farn eifrig. "und Kraft habe ich wohl auch. Sieh nur, Nostradamias, wie kräftig grün meine Blätter sind!!" – "Gut, mein Sohn, dann werde ich Dich in das Geheimnis der großen, mächtigen Kiefern einweihen." Schnell schaute der Kautz nach oben, um sicher zu gehen, daß die Kiefern auch nicht lauschten. Dann flüsterte er: "Ich habe das Geheimnis den Kiefern nämlich einmal entlocken können, als diese ganz berauscht vom Wind waren. Wenn der Wind aus Nord-West kommt und durch ihre Zweige, Äste und Nadeln braust, dann – und das wissen nur die weisesten der Käutze, so wie ich – dann werden die Kiefern gesprächig."
Nach dieser Offenbarung machte der Kautz eine bedeutsame Pause. Dem Farn, dessen Blätter sich vor Neugier noch stärker als sonst gekräuselt hatten, war aber nicht nach einer Pause. Er wollte das große Geheimnis nun endlich erfahren. So drängte er denn auch den alten Kautz: "Red´ schon, Nostradamias. Erzähl mir, wie ich groß und mächtig werde!" Der Kautz blickte ärgerlich auf den Farn: "Du magst zwar Kraft und einen starken Willen haben, aber Geduld hast Du nicht." Nostradamias hatte aber doch Mitleid mit dem vor Errregung zitternden Farn. "Gut, ich will es Dir verraten", nach einem zweiten, schnellen Blick zu den Ästen hoch über den beiden, verriet er das große Geheimnis: "Du brauchst viel Kraft um Deine Arme, mit den vielen gekräuselten Blättern daran, jeden Tag, den ganzen Tag, steif von Dir zu strecken. Nur so kannst Du so mächtig wie die Kiefern werden. Dann brauchst Du nur noch den Willen, Deinen Stamm dick und fest werden zu lassen, damit er Dich bis in die Baumkronen tragen kann."
Der kleine Farn war fest entschlossen den Rat, den Nostradamias ihm gegeben hatte, ganz genau zu befolgen. Und weil es ihm nicht schnell genug gehen konnte, versuchte er beides gleichzeitig: er streckte seine Farnwedel steif in alle Richtungen und konzentrierte sich ganz fest darauf einen dicken, festen Stamm zu bekommen. Bis er dann merkte, daß er seine Wedel gar nicht in die Luft gestreckt hatte. Er versuchte es nochmal, streckte alle Arme weit, weit weg und konzentrierte sich auf seinen Stamm. Doch Ungeduld zahlt sich nicht aus, das mußte auch der Farn einsehen. Er konnte sich nicht auf seinen Stamm konzentrieren und gleichzeitig auf seine Arme. Denn er hatte ja nicht nur 2, so wie wir Menschen, nein der Farn hatte mindestens 20! Also ließ er den Gedanken an seinen Stamm erst einmal beiseite und konzentrierte sich ganz auf das heben seiner Farnwedel. Aber auch das war nicht so einfach, wie er sich gedacht hatte. Der Farn hob seine Arme mit aller Kraft einen nach dem anderen, doch er war noch nicht beim letzten angekommen, als er schon spürte, wie ihn seine Kräfte verließen. Dabei sollte er seine Arme doch jeden Tag, den ganzen Tag in die Höhe strecken! Er versuchte es wieder und wieder und wieder. Tag für Tag für Tag. Woche für Woche, aber es wollte einfach nicht klappen. Dabei wurde der kleine Farn immer schwächer, weil er seine ganze Kraft auf das Heben seiner Arme konzentrierte.
Flinkefix, die Wühlmaus, konnte es bald nicht mehr mit ansehen, wie sich sein bester Freund, der Farn quälte. Eines Tages war er mit seiner Geduld am Ende. "Hör auf!" rief er. "Merkst Du denn nicht, daß Dich diese Quälerei kaputt macht? Sieh nur Deine Blätter an, sie sind ja schon ganz braun an den Spitzen!" Mit kleinen Kullertränen in seinen Mäuseaugen griff Flinkefix nach einem der braunen Blätter. "Dabei warst Du doch immer so stolz, weil Deine die grünsten Blätter im ganzen Umkreis waren!" schluchzte er. Hätte der Farn weinen können, hätte er es sicher getan. Er war so sehr damit beschäftigt gewesen, seine Arme zu heben, daß er nicht gemerkt hatte, wie schlecht es ihm inzwischen ging. Erst sein bester Freund mußte ihn darauf Aufmerksam machen. "Ach Flinkefix", sagte der Farn traurig. "es hat keinen Sinn. Ich werde nie groß und mächtig, und ich werde auch nie etwas anderes sehen als die Stämme der Kiefern und ihre abgefallenen Nadeln." Nach diesen Worten ließ er traurig seine müden, kraftlosen Arme hängen. Der Farn hatte die Hoffnung aufgegeben. Tagelang konnte der arme Farn kein Wasser trinken, weil seine Wurzeln vor Traurigkeit ganz verstopft waren. So wurde der Farn immer kraftloser und seine Blätter immer brauner. Flinkefix hatte die Hoffnung schon aufgegeben, seinen Freund jemals wieder glücklich, heiter und grün zu sehen. Ja, er glaubte sogar, sein Freund würde vor Kummer ganz eingehen. Bis eines Tages der Junge kam.
Der Junge hieß Jochen und war 9 Jahre alt. Jochen ging wegen einer Hausaufgabe in den Wald. Alle Kinder seiner Klasse hatten den Auftrag bekommen, Blätter und Blumen zu sammeln, die in der Nähe ihres Hauses wachsen. Und da Jochen vor 4 Wochen mit seinen Eltern in das Forsthaus gezogen war, ging er in den Wald. Sein Vater war Forstaufseher und hatte hier eine neue Arbeit bekommen. Seit dem Umzug war Jochen viel alleine – sein Vater mußte das neue Revier kennenlernen und seine Mutter hatte viel im neuen Haus zu tun. Aber das Alleinsein machte Jochen nicht viel aus, er war ein aufgeweckter Junge, der immer ein neues Abenteuer fand, das ihn beschäftigte. Und gerade im Wald kann ein Junge viele Abenteuer erleben!
Der Farn versuchte ganz still zu sein und unauffällig zu wirken. Er kannte den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen noch nicht. Er wußte nur, daß da ein Mensch auf ihn zukam. Der einzige Mensch, den der Farn bisher gesehen hatte, war der alte Förster gewesen und der hatte manchmal abgestorbene Pflanzen aus dem Boden gerupft. Der Farn war noch nicht abgestorben aber er sah auch nicht mehr sehr gut aus. Und so versuchte sich der Farn ganz klein zu machen, damit ihn der Mensch nicht bemerken würde. Der kleine Mensch kam trotzdem auf ihn zu und da spürte der kleine Farn, daß dieser Mensch anders war als der alte Förster. Er roch anders, bewegte sich anders und seine Augen leuchteten die ganze Zeit. Als der Junge den fast verdorrten Farn entdeckte, wurde er ganz traurig. Er kniete sich neben den Farn. "Du warst bestimmt mal schön kräftig und grün. Ich möchte wissen, was mit Dir passiert ist." Der Junge hatte schon oft mit Pflanzen gesprochen, aber nur, wenn niemand dabei war. Er hätte sich fürchterlich geschämt, besonders wenn ihm ein Erwachsener dabei zugehört hätte. Dem Farn war es allerdings noch nie passiert, daß ihn ein Mensch angesprochen hatte. Er kannte ja auch nur den alten Förster, der nie auf die Idee gekommen wäre, mit Pflanzen zu reden. Der Farn war unentschlossen was er tun sollte. Aber er nahm sich fest vor, nicht mit dem Jungen zu reden. Doch da sagte der Junge: "Wenn ich wüßte, wie ich Dir helfen kann, würde ich es tun. Schade, daß Du nicht reden kannst." – "Kann ich wohl!" sagte der Farn. Erschrocken sprang der Junge zurück und landete auf seinem Hintern. "Hast Du wirklich gerade mit mir gesprochen?" fragte der Junge erstaunt. "Klar", sagte der Farn, für den es ganz normal war, zu reden. "Kanns Du mir wirklich helfen?" fragte der Farn vorsichtig. Leise begann sich wieder Hoffnung bei ihm zu regen. Wenn ihm jemand helfen konnte, dann doch bestimmt ein Mensch. "Ich werde es versuchen", sagte der Junge. "kannst Du mir denn sagen, warum es Dir so schlecht geht? Eigentlich ist das doch ein guter Platz, an dem Du wächst." – "Ja, früher ging es mir auch gut", sagte der Farn und dann erzählte er dem Jungen, seine Geschichte und daß er seine ganze Kraft bei dem Versuch, wie eine Kiefer zu werden, verbraucht hatte. Der Junge, der ja der Sohn eines Försters war, hatte schon eine Idee, wie er dem Farn helfen könnte. Vorher wollte er aber noch etwas wissen: "Sag´ mal, wie heißt Du eigentlich?" – "Farn", sagte der Farn. "Hast Du denn keinen richtigen Namen?" fragte der Junge. "Wiso", sagte der Farn erstaunt. "Farn ist doch ein richtiger Name!" Der Junge schüttelte den Kopf. "Nein", sagte er dann. "das ist ja, als würde ich Mensch heißen. Ich bin zwar ein Mensch, heiße aber Jochen. Ein Name ist doch dazu da, daß man sich von anderen unterscheidet, wenn aber Dein Name Farn ist, unterscheidest Du Dich damit ja nicht von anderen Farnen. Das geht nicht, Du brauchst einen Namen!" Der Farn dachte angestrengt nach. "Ach", sagte er dann. "ich weiß keinen Namen, ich kenne ja nur diesen Wald. Wenn Du mir wirklich helfen willst, dann fang doch damit an, daß Du einen Namen für mich suchst!" – "Gut", sagte Jochen. "ich gehe jetzt nach Hause um etwas Werkzeug zu holen und wenn ich wieder komme, habe ich vielleicht auch einen Namen für Dich dabei." Nach diesen Worten lief der Junge wie der Wind nach Hause. Seine Hausaufgabe hatte er ganz vergessen.
Als Jochen mit einer Schaufel und einem kleinen Sack wieder kam, lachte er über das ganze Gesicht. Schon von Weitem rief er dem Farn zu: "Ich habe einen Namen für Dich!" Der Farn mußte sich aber noch etwas gedulden, denn Jochen war den ganzen Weg von Zuhause aus gerannt, weil er wissen wollte, wie der Farn seinen neuen Namen finden würde – und jetzt war der Junge total aus der Puste, so daß er nicht sprechen konnte. So ließ er sich erst einmal auf den weichen Waldboden fallen und versuchte zu Atem zu kommen. Der Farn wartete unterdessen so geduldig er nur konnte. Drängen hätte nichts genützt, er sah ja, wie der Junge nach Luft schnappte. Jochen hatte sich aber schnell wieder gefangen. "Weißt Du", sagte er zu dem Farn. "bei Deinem Namen dachte ich daran, daß Du groß und stark sein möchtest", – "Stark bin ich", unterbrach ihn der Farn. "jetzt möchte ich noch groß werden!" – "Auf jeden Fall", fuhr Jochen fort. "fiel mir dabei nur ein Name ein..." Jochen machte eine Pause um die Spannung noch zu erhöhen. Hätte der Farn Füße gehabt, wäre er sicher vor Aufregung umhergetippelt. Jochen spürte, daß er die Spannung genug gesteigert hatte und rief: "Herkules!" Und weil der Farn nichts dazu sagte, fragte Jochen ihn: "Na sag` schon, wie findest Du ihn?" – "Wer oder was ist denn ein Herkules?" fragte der Farn vorsichtig. "Ach", sagte Jochen und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. "daran habe ich ja gar nicht gedacht. Wie solltest Du denn wissen, wer Herkules war!" Jochen setzte sich gemütlich neben den Farn auf den Boden und fing an zu erzählen: "Da gab es mal vor ein paar Jundert Jahren – glaube ich – ein Volk, das nannte sich Griechen; ist ja klar, die lebten ja auch in Griechenland. Also, Griechen gibt es auch heute noch, aber damals da waren die ganz anders drauf. Die Griechen damals glaubten, daß für jedes Glück oder Unglück, das ihnen passierte, ein Gott verantwortlich war. Nicht der Gott, den wir kennen, sondern viele verschiedene. Die Götter sahen meistens wie Menschen aus, waren aber unsterblich und ließen sich auch nie mit den Menschen ein – mit einer Ausnahme: Zeus, der Göttervater – also der höchste aller Götter – hatte mal eine Menschenfrau zur Frau. Die brachte dann einen Sohn zur Welt, Herkules." Jochen sah den Farn bedeutungsvoll an. "Herkules war halb Mensch, halb Gott. Er sah gut aus, war gerecht, richtig mutig und unheimlich stark." – "Mutig und stark", wiederholte der Farn leise. "Herkules, mutig und stark", sagte er wieder, dann rief er: "Ja, Herkules, das soll mein Name sein!" – "Hallo Herkules", sagte Jochen und dann lachten die beiden so laut, daß es bis in die Spitzen der Kiefern zu hören war.
Flinkefix` Ohren zuckten bei dem Ungewohnten Geräusch und eine kleine Freudenträne kullerte über seine Nasenspitze. Die Wühlmaus hatte seinen Freund und den fremden Jungen die ganze Zeit aus dem Unterholz heraus beobachtet. Er hatte jedes Wort verstanden, das gesprochen worden war. "Hallo Herkules", flüsterte er. "ich freue mich, daß Du wieder lachen kannst. Jetzt werde bitte auch wieder ganz gesund." Einen Moment saß er noch da und schaute zu Herkules und Jochen, dann verschwand er noch tiefer im Wald.
Nachdem die beiden aufgehört hatten zu lachen, sagte Jochen: "So Herkules, jetzt will ich Dir erklären, was ich mit Dir vor habe." Er deutete auf die Schaufel und sagte: "Damit will ich Dich ausgraben." Der Farn zuckte sichtlich zusammen. "Ganz vorsichtig, natürlich", sagte Jochen schnell. "damit Deine Wurzeln auch heile bleiben." – "Und dann?" fragte der Farn, der weder beruhigt noch überzeugt war. Jochen antwortete: "Dann stecke ich Deine Wurzeln mit Erde in diesen Sack. Dann kann ich Dich mit nach Hause nehmen und Dich viel besser gesund pflegen." Herkules aber war noch nicht überzeugt. "Ich habe aber Angst, daß es weh tut", sagte er kleinlaut zu Jochen. Der Junge konnte sich das gut vorstellen. Er wußte noch, wieviel Angst er vor seinem ersten Zahnarztbesuch gehabt hatte. Danach hatte er dann über sich selber gelacht, es hatte nämlich gar nicht weh getan. So versuchte er auch jetzt den Farn zu beruhigen. "Ich verspreche Dir, daß ich so vorsichtig wie möglich sein werde. Außerdem, vielleicht tut es ja auch nicht sehr weh, wenn ich an Dine Wurzeln komme – Haareschneiden tut ja auch nicht weh!" Aber Herkules war noch nicht überzeugt. Deshalb fragte Jochen: "Oder hast Du eine bessere Idee?" – "Nein", sagte der Farn und gab sich einen Ruck. "Na gut, dann fang mal an."
Und Jochen gab sich wirklich viel Mühe und war sehr vorsichtig. Er durchtrennte nicht eine der Wurzeln von Herkules. Als er mit dem Ausgraben fertig war, steckte er die Wurzeln vorsichtig in den mitgebrachten Sack und band ihn zu. "Na, wie habe ich das gemacht?" fragte er den Farn. "es hat nicht weh getan, oder?" – "Nein", antwortete Herkules erleichtert. "und ich bin wirklich sehr froh darüber." Dann nahm der Junge den Farn, trug ihn nach Hause und stellte ihn in seinem Zimmer auf den Tisch.
"Und wie geht es jetzt weiter?" fragte Herkules. "Zuerst werde ich Dir Wasser geben", erklärte Jochen. "dann befreie ich Dich von den toten, braunen Blättern, weil die Kraft und Wasser verbrauchen, das ihnen nichts mehr nützt – sie können ja nicht mehr wachsen oder wieder grün werden – und dann werde ich noch meinen Papa fragen, womit ich Dich düngen kann." – "Düngen?" fragte der Farn. Der Junge klärte ihn auf: "Das macht man, damit die Pflanze mehr Nahrung bekommt. Das ist wie eine Vitaminspritze für Menschen." – "Wie eine Spritze?" fragte der Farn erschrocken. "Wird es weh tun?" – "Nein", lachte Jochen. "das war doch nur ein Vergleich! Düngen tut nicht weh." Der Farn hatte zwar noch nicht alles verstanden, fragte aber nicht weiter. Jochen würde schon wissen, was gut für ihn war.
Und während der Junge bei seinem Vater war, um nach dem Dünger zu fragen, beglückwünschte sich der Farn, daß er auf einen so netten und schlauen Menschen getroffen war. Jochen würde ihn wieder gesund machen, da war Herkules sich sicher.
Als Jochen wieder in das Zimmer kam, hatte er eine Gießkanne, eine Schere und einen kleinen Plastiksack dabei. Er stellte alles zu dem Farn auf den Tisch und wandte sich dann an Herkules: "Ich habe meinen Papa gefragt, und er sagt, ich soll zuerst den Dünger nehmen, weil der mit Wasser aufgelöst wird." Dann öffnete er den Sack in den Herkules` Wurzeln eingepackt waren und streute eine Handvoll weißer Kugeln, die er aus dem Plastiksack nahm, in die Erde bevor er dem Farn Wasser gab, dann band er den Sack wieder zu. "So, das hätten wir", sagte Jochen. "und jetzt werde ich Dich von Deinen toten Blättern befreien. Aber keine Sorge", fügte er schnell hinzu, da er die Angst von Herkules kannte. "es tut nicht weh. Die Blätter sind ja schon tot."
Aber Herkules hatte keine Angst mehr. Seit Jochen ihm die Kugeln gegeben hatte, fühlte sich der Farn richtig wohl. Er konnte spüren, wie sich seine Wurzeln öffneten und das mit Dünger vermischte Wasser dankbar annahmen. Jochen hat mir einen richtigen Namen gegeben, dachte der Farn, mich ausgegraben ohne mir weh zu tun und mir das beste Wasser meines Lebens gegeben. Nein, ich habe keine Angst, ich vertaue meinem neuen Freund.
Und so beschäftigte sich Jochen fast 1 Stunde damit, die braunen Blätter zu entfernen. Als der Junge fertig war, war Herkules nur noch halb so groß aber glücklich. "Das hast Du toll gemacht, Danke!" sagte er zu Jochen. "Ich wußte nicht, daß es mich so erleichtern würde, die alten Blätter los zu sein."
Am nächten Tag mußte Jochen wieder in die Schule. Zum Glück hatte er schon ein paar Blätter gesammelt, als er auf Herkules gstoßen war, so daß er sich keine Sorgen wegen der Hausaufgabe machen brauchte. Den Farn ließ er zu Hause – obwohl Herkules ihn gebeten hatte, mitgenommen zu werden. Jochen fand aber, daß das keine so gute Idee wäre. Er hatte den Farn gestern erst aus dem Wald geholt und "behandelt". Herkules brauchte jetzt erst einmal Ruhe, damit er wieder zu Kräften kommen konnte.
So ging es auch die ganze nächste Woche. Herkules bat Jochen immer wieder, der Junge möge ihn doch mitnehmen, aber Jochen blieb fest. Und er hatte Recht damit, der Farn wurde von Tag zu Tag kräftiger – aber auch ungeduldiger! Jochen kam zu dem Schluß, daß er seinen neuen Freund nicht länger einsperren konnte, da traf es sich gut, daß morgen der letzte Schultag war. Ihnen beiden winkten 6 Wochen Freiheit – die Sommerferien!
Herkules war so aufgeregt, daß er gar nicht schlafen konnte. Jochen würde ihm ab Morgen die Welt zeigen! Was könnte es schöneres geben? Er, der kleine Farn würde den Duft der weiten Welt riechen, sich die Sonne auf die Blätter brennen lassen, sehen, wie die Wolken am Horizont verschwinden. Alle seine Wünsche und Träume würden in Erfüllung gehen. Herkules war bei dieser Vorstellung der glücklichste Farn der Welt. Doch dann sollte sein erster Tag als "freier" Farn ganz anders verlaufen, als Herkules es sich gedacht hatte.
Es war ein typischer Sommerferien-Anfang ohne Sommer. Die Temperaturen lagen gerade mal bei 21°C und die Sonne versteckte sich hinter dicken Wolken. Hier und da schaffte sie es, einen kurzen Strahl zur Erde zu schicken aber das machte die Sache nicht besser, eher schlimmer, denn wenn der Farn von einem der kurzen, warmen Strahlen getroffen wurde und die Sonne gleich wieder verschwand, vermisste er sie nur noch mehr. Jochen mußte noch Frühstücken und hatte seinen neuen Freund so lange auf die Terasse gestellt, damit er schon mal die frische Luft schnuppern konnte. Und so stand der Farn nun auf der Terasse und sehnte sich nach der Sonne die erfolglos gegen die grauern Wolken kämpfte.
Das, dachte Herkules, ist also die Sonne. Solange ich im Wald unter den großen Kiefern stand konnte ich sie nicht sehen, weil die Bäume sich ständig die Hände reichten. Nun stehe ich hier, weit, weit entfernt von den Zweigen der Kiefern, so daß sie mir nicht mehr die Sicht nehmen können und nun ist der ganze, weite Himmel mit Wolken bedeckt, so daß ich Frau Sonne wieder nicht guten Tag sagen kann. Ich armer Farn.
Nach dem Frühstück stellte Jochen den Farn in seinen Fahrradkorb und machte sich mit ihm auf den Weg in die Stadt.
Als der Farn abends wieder an seinem Platz auf der Fensterbank in Jochens Zimmer stand, war er so verwirrt, daß sich ihm alles drehte. Herkules war davon ausgegangen, daß die Welt, die er von seinem Platz im Wald ja nicht sehen konnte, weil ihm die großen Kiefern die Sicht versperrten, daß diese Welt wunderschön sein würde. Überall würden Farne und andere Pflanzen wachsen, die Luft wäre so rein wie in seinem Wald und die Stille so greifbar und wohltuend wie eine Decke. Denn so war es in seinem Wald. Aber nicht in der Stadt, in die der Junge jeden Tag fuhr.
Wie kann er das nur aushalten, dachte der Farn entsetzt. Mir war es an diesem einen Tag schon zu viel! Ich will da nicht mehr hin, aber wie soll ich das nur Jochen beibringen? Er hat sich doch so darauf gefreut, mir seine Welt zu zeigen.
Der kleine Farn war schrecklich traurig, weil er seinen Freund nicht enttäuschen wollte aber er war sich sicher: noch einen Tag in dieser gräßlichen Stadt und er würde vor entsetzten verdorren. Und zwar auf der Stelle! Wie sollte er das Jochen beibringen, der doch seine Stadt zu lieben schien. Der Farn fühlte sich furchtbar allein. Allein mit seinen Sorgen und Nöten.
"Wenn doch nur Flinkefix hier wäre", sagte der Farn leise. Er war sich sicher, daß ihn niemand hörte, er hatte nur ganz leise geflüstert und der Junge lag schon seit Stunden schlafend im Bett. Das Fenster, an dem Herkules stand war einen Spalt breit geöffnet und der Farn atmete sehnsüchtig die saubere, grüne Luft des Waldes. Ein paar Grillen zirpten sich gegenseitig ihre Schlaflider vor, aber auf den Farn hatte es keine Wirkung. Er war so mit seinem Problem beschäftigt, daß er gar nicht auf den Gedanken kam, zu schlafen. "Ach Flinkefix", flüsterte der Farn, "wenn Du nur hier sein könntest, Du hättest sicher einen Rat für mich." – "Und ich dachte schon, Du hättest Deine alten Freunde ganz vergessen", piepste die kleine Maus und kletterte auf die Fensterbank. Herkules war außer sich vor Freude. Seine Blätter zitterten und bebten. "Flinkefix, mein Freund!", flüsterte der Farn so laut, daß sogar die Grillen erschrocken aufhörten zu zirpen. "Was machst Du denn hier?" Die Maus grinste über das ganze Gesicht. "Ich denke", piepste er, "als erstes solltest Du mal aufhören, so zu schreien. Es ist mitten in der Nacht!" Der Farn senkte seine Stimme wieder zu einem leisen Flüstern: "Ja gut, aber wie kommst Du hier her? Und was willst Du hier, so nahe bei den Menschen?" Flinkefix lachte mit seiner piepsigen Stimme. Dann tat er entrüstet und sagte vorwurfsvoll: "Erst wünscht Du mich her und dann fragst Du, was ich hier will. Das nenne ich wahre Freundschaft." Der Farn war so glücklich seinen Freund zu sehen, daß er gar nicht mehr wußte, was er sagen sollte. Also schwieg er lieber.
Flinkefix hatte solche Probleme nicht, er wußte genau, was er sagen wollte, nämlich daß der Farn dem Jungen die Wahrheit zu sagen hatte. "Warum machst Du Dir hier nächtelang Gedanken, wie der Junge reagieren könnte? Dadurch wird es auch nicht besser!", belehrte er den Farn. "Was soll der Junge denn schlimmes tun? Glaubst Du, er reißt Dir alle Blätter aus? Dann hätte er Dich nicht aus dem Wald geholt und gesund gepflegt! Denk mal darüber nach!" Flinkefix setzte sich auf seine Hinterbeine, verschränkte seine kleinen Mäusepfoten vor der Brust und sah den Farn erwartungsvoll an.
Herkules dachte nach. Und wie das bei Farnen so ist, dauerte es fast 10 Minuten, bis er zu dem Schluß kam, daß sein Freund Flinkefix Recht haben könnte. Wäre Jochen nicht gekommen, wäre es dem Farn sehr, sehr schlecht ergangen. Wahrscheinlich wäre er sogar gestorben. Allerdings brachte diese Einsicht dem Farn auch ein schlechtes Gewissen ein. Erst ließ er sich von dem Jungen retten um ihn dann vor den Kopf zu stoßen indem er so schnell wie möglich zurück in den Wald wollte? Der Farn konnte die Geschichte drehen und wenden, wie er wollte, er kam zu keinem befriedigenden Ergebnis. Flinkefix schien die Nöte des Farns zu spüren und versprach ihm, am nächsten Vormittag zu kommen und mit dem kleinen Menschen zu reden. "Wenn ihn ein sprechender Farn nicht umgehauen hat, wird ihn eine quasselnde Maus auch nicht überraschen!" piepste Flinkefix und verschwand. Denn auch kleine Mäuse müssen irgendwann mal schafen.
Als Jochen am nächsten Morgen aufgestanden war, wirkte er bedrückt. Noch nicht einmal das Frühstück wollte ihm so recht schmecken. Dadurch ging es dem Farn natürlich auch nicht besser. Herkules wußte zwar nicht, was los war, aber da er `eh schon ein schlechtes Gewissen hatte, weil er wieder in den Wald wollte, wurde seine Not noch größer. Was war nur mit Jochen los? Herkules traute sich auch nicht, den Jungen zu fragen – Farne sind keine sehr mutigen Pflanzen. Und so stieg die Spannung in Jochens Zimmer immer mehr, bis der Farn schließlich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen und er sich ein Herz fasste und ganz vorsichtig fragte: "Ist was?" Nachdem er sich nun quasi getraut hatte, Jochen nach der Ursache für seine gedrückte Stimmung zu fragen, war Herkules über sich selber erstaunt. Soviel Mut hätte er sich nie zugetraut! Jochen dagegen schien nur auf diese Frage gewartet zu haben. Er setzte sich zu dem Farn auf die Fensterbank und sagte: "Weißt Du Herkules, die Sache ist so: mein Papa hat gesagt, daß Du jetzt wieder so gesund bist, daß ich Dich nun wieder in den Wald bringen kann. Mein Papa sagt, daß es besser für Dich wäre. Aber ich weiß doch auch, daß Du etwas von der Welt sehen wolltest und nun weiß ich nicht, was ich tun soll." Herkules glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Das war ja genau das, was er wollte: zurück in den Wald! Und Jochen war einverstanden! Damit waren alle Probleme gelöst.
Und ich dummes Grünzeug habe mir die ganze Nacht den Kopf zerbrochen, wie ich wieder nach Hause komme, ohne meinen Freund zu sehr zu verletzen, dachte der Farn, oh wie dumm ich war!
Flinkefix, der schon unter dem Fenster Stellung bezogen hatte um wie versprochen mit dem Jungen zu reden, machte sich jetzt wieder auf den Rückweg in den Wald. Der Junge ist ein richtig intelligentes Kerlchen, dachte er bei sich, er wußte, wie er es anstellen mußte, damit unser kleiner Farn kein schlechtes Gewissen bekommt.
Flinkefix war wirklich eine kluge Wühlmaus. Er hatte etwas erkannt, worauf der Farn nie gekommen wäre: Jochen hatte in der Nacht das Gespräch der beiden Waldbewohner mit angehört. Das war auch unvermeidlich gewesen, Herkules hatte so laut "geflüstert" als Flinkefix auftauchte, daß der Junge vor Schreck fast aus dem Bett gefallen wäre. Und so wußte Jochen, daß der Farn gerne nach Hause wollte, sich aber nicht traute, Jochen zu bitten, ihn wieder zurück in den Wald zu bringen. Der Junge war nur deshalb den Morgen über nachdenklich gewesen, weil er sich überlegt hatte, was er dem Farn sagen sollte, warum er besser wieder in den Wald sollte; so daß der Farn kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte. Und er hatte es geschafft.
Am gleichen Tag, noch vor dem Mittagessen, nahm Jochen den Farn und brachte ihn zu seinem alten Platz. Nachdem er die Wurzel wieder ganz fest eingegraben hatte, setzte er sich neben seinen grünen Freund. Zusammen schauten sie auf das Stückchen Himmel, das man zwischen den Ästen der großen Kiefern erkennen konnte. "Ich hoffe, Du bist glücklich", sagte Jochen. "Oh ja, und wie", antwortete der Farn und das stimmte auch. Erst wenn man einmal weg war, erkennt man, wie schön es doch Zuhause ist. Das geht nicht nur Menschen so, auch Pflanzen und Tieren.
Jochen kam den Farn weiterhin besuchen und lernte dabei auch Flinkefix und sogar Nostradamias kennen. Und jedesmal hatten sie viel Spaß miteinander. Herkules war auch kein kleiner Farn mehr, er wurde groß und größer, so daß sich sogar Rehkitze unter seinen Farnwedeln verstecken konnten. Er wurde nie so groß, wie die großen, mächtigen Kiefern, aber das störte ihn nicht mehr. Für einen Farn war er sehr groß. Manchmal muß man sich eben mit dem zufrieden geben, was man hat und was man erreichen kann. Flinkefix und Jochen, seine beiden besten Freunde, hatten ihm gezeigt, daß ein Farn auch am Boden groß und mächtig sein kann und Herkules war damit zufrieden.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch Heute.
© 2002 Heike Riedel
Texte: Heike Riedel (Hilgers)
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2008
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Für Anne, meine beste und ehrlichste Testleserin.