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Sie jagen mich. Immer noch. Die ganze Zeit schon, seitdem ich hier angekommen bin, seitdem ich diesen Wald betreten habe, seitdem ich sie aus ihrer Ruhe geweckt und wieder ins Leben gerufen habe. Ich hätte eher darüber nachdenken sollen, hätte auf ihn hören sollen, als er mich warnte. Seine Worte schießen mir durch den Kopf, während ich bergauf renne und versuche, dabei möglichst wenig Geräusche zu verursachen. Als ob das etwas helfen würde. Der absolute Mangel an Leben hier macht mich beinahe verrückt. Nur Bäume, die kahl wie Knochen pechschwarz abgehoben vom Schnee dicht beieinander stehen, die knorrigen Wurzeln tief in den Berg gegraben hinein bis zu Geheimnissen, von denen wir hier nicht mal zu träumen wagen würden. Nicht ein Vogel erhebt seine Stimme, kein Tier hat hier eine Höhle, kein Mensch wird je erfahren, was mit den beiden Kindern passiert ist, die sich als einzige aus dem Lager wagten in diese grausame Welt. Nun, ich kann euch verraten, was geschehen wird – spätestens, wenn die Dunkelheit sich wieder über diesen Wald senkt, werde ich genauso leblos sein wie alles andere. Wie er. Der, der für mich gestorben ist und nun weit hinter mir liegt, der bald genau wie ich aus den Köpfen der Menschen vertrieben sein wird, verdrängt und vergessen, weil sie nicht wahrhaben wollen, welchen Fehler sie begingen. Mein Herz rast und pumpt gnadenlos weiter Angst durch mich, die mich nicht lähmt, sondern nur noch schneller rennen lässt. Ich spüre die Wunden beinahe nicht mehr; sie sind betäubt von der Kälte, die mit eisigen Fingern über meine Haut streift und mich zum Bleiben bewegen will, doch ich darf nicht stehen bleiben, nicht einmal, um kurz Luft zu holen, sonst bin ich verloren. Er blieb stehen. Der Preis war sein Blut. Ich sehe es immer noch vor mir, seinen anklagenden Blick, als ich weiterlief und ihn diesen Wesen überließ. Es ist meine Schuld und ich weiß es. Ich war diejenige, die den Gedanken reizvoll fand, sich alleine nach draußen zu schleichen, morgens, während alle noch schliefen. Das hat zwar geklappt, auch wenn er nur widerwillig mitgekommen ist, und auch die Überquerung des meterhohen Zauns war noch relativ leicht, aber ... ich hätte auf ihn hören sollen. Schon von außen wirkt dieser Wald so bedrohlich wie wenig, kein Geräusch dringt aus ihm, als läge er unter einer Glasglocke. Wir waren diejenigen, die sie mit Steinen zertrümmert haben. Jetzt weiß ich, dass all die Geschichten wahr sind, die wir als Kinder erzählt bekommen. „Es ist alles wahr“, wiederhole ich in Gedanken wieder und wieder, bis mir die Tränen in die Augen schießen und mein Sichtfeld verschleiern. Ich komme mir vor wie in einem Alptraum, doch diesmal werde ich nicht schreiend wieder aufwachen und von meiner Mutter getröstet werden, diesmal werde ich weiterschlafen. Für immer. „Wieso läufst du noch?“, beginnt eine hinterlistige Stimme in mir zu fragen. „Wieso bleibst du nicht stehen ... es hat ohnehin keinen Zweck mehr. Gib auf, genieße deine letzten Sekunden anstatt sie mit Rennen zu verschwende. Gib auf. Du weißt es.“ Am liebsten würde ich laut schreien, dass ich nicht aufgeben werde, dass ich es allen beweisen werde, aber ich darf nicht. Durch den Tränenschleier erkenne ich nicht mehr richtig, wohin ich laufe, doch das ist egal. Ich muss einfach nur in Bewegung bleiben, nicht stehen bleiben, bis ich irgendwo einen Ausweg finde. Immer noch steigt mein Weg an – wobei man es eigentlich nicht Weg nennen kann. Der Boden sieht ein wenig so aus, als wären hier früher, vor langer Zeit, viele Menschen entlang gelaufen, doch jetzt ist das einzige Überbleibsel eine leicht ausgetretene Vertiefung, in der nicht so viel Laub liegt wie an anderen Stellen. Über mir dringt kaum Licht durch die Bäume, ich weiß nicht, wie spät es ist. Vielleicht renne ich so schon Stunden, Tage, Jahre. Hier ist alles möglich. Ich könnte sogar jetzt gerade in der Zeit zurücklaufen, immer weiter, bis ich diesen Tag verhindern kann. Ich blinzele, bis ich durch die Winterluft wieder klar sehen kann. Hier scheint immer Abend zu sein, immer Zwielicht. Normaleweise mag ich das, die einen legen sich zur Ruhe und eine völlig andere Welt erwacht – diesmal wäre es mir aber bedeutend lieber, wenn alles, was hier vielleicht noch lebt, oder besser gesagt existiert, da bleibt, wo es ist. „Selbst in so einer Situation bleibt dir dein Sarkasmus erhalten? Noch ein Beweis mehr, dass du weißt, dass es aussichtslos ist.“ Ich will diese Stimme nicht mehr hören, doch ich muss. Sie ist das einzige Geräusch hier; mein Atem und meine Schritte sind für mich lautlos geworden. Allein mein Blut höre ich noch in meinen Ohren rauschen, aber vielleicht auch das nicht mehr lange. Ich zucke zurück und muss meine Augen zusammenkneifen, als das Halbdunkel plötzlich durch gleißendes Licht ersetzt wird. Kurz laufe ich noch weiter, dann verhakt sich mein Fuß und ich falle. Fast meine ich, die Stimme in mir lachen zu hören, doch es ist mir egal. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich darf nicht mehr. Regungslos bleibe ich liegen und lasse meine Lider geschlossen. Selbst wenn es meine letzte Entscheidung ist, ich will meinem Tod nicht ins Gesicht sehen und es bis zuletzt leugnen. Vielleicht sterbe ich nicht wirklich, wenn ich denke, ich lebe noch. Ich atme flach weiter, auch wenn ich mir jetzt keine Mühe mehr geben muss, leise zu sein, doch sonst höre ich nichts. Es ist so still wie es eben auch war. „Wo bleiben sie? Oder sind sie schon da? Bin ich vielleicht schon lange gar nicht mehr am Leben, bin am Anfang schon mit ihm zusammen gestorben?“, denke ich, innerlich leer, doch diese Vorstellung hat irgendwie etwas tröstliches. Vorsichtig öffne ich meine Augen, die sofort mit Licht überflutet werden. Die Sicherheit, dass ich tot bin, wird sofort wieder in unerreichbare Ferne gerückt, denn ich liege immer noch am selben Platz wie eben auf dem gefrorenen Waldboden, jedoch ist das dichte Laubdach über mir durch den Himmel ersetzt worden. Über ihn treiben dichte, dunkelgraue Wolken wie Stofffetzen und lassen nur hier und da die Sonne durch, doch trotzdem ist das Licht unerträglich grell. Ich weiß selber nicht wieso, doch ich rappele mich wieder auf. Wenn man lange genug rennt, ist das ruhig bleiben schwieriger. Angestrengt versuche ich, in dem düsteren Bereich, aus dem ich gekommen bin, etwas zu erkennen, doch es geht nicht. Mittlerweile beinahe teilnahmslos drehe ich mich um – und erstarre. Ich stehe am Rand einer Lichtung die vielleicht 20, 30 Meter breit und beinahe kreisrund ist. Keine Pflanze steht hier, nicht mal ein kleiner Busch oder Gräser. Nur Grabsteine in allen Formen, doch sie sind ausnahmslos weiß, gebleicht wie Knochen. Genau in der Mitte steht ein großes Baumskelett, das pechschwarz ist. Nicht, weil es sich von der restlichen Helligkeit abhebt – sein Holz sieht aus wie verbrannt. Seine Äste sind weit in den Himmel gereckt; gerade und nur am Ende gekrümmt wie Finger, die anklagend nach oben zeigen, als wolle er höheren Mächten die Schuld geben. Dieser Ort strahlt eine dunkle Präsenz aus, die mich gleichzeitig auf eine seltsame Art anzieht. Ich kann nicht anders, ich muss einfach weitergehen. Vorsichtig setze ich meine Füße auf den Boden auf – Stein, wie ich jetzt bemerke. In ihn sind Runen und Zeichen geritzt, von denen ich die meisten nicht kenne, bis auf eines. Ich weiß, wofür es steht. Schnee. Es gibt mehr als genug Geschichten über Winterdämonen und Frostgeister im Lager. „Es ist alles wahr“, hallt es in meinem Kopf nach. Das etwa auch? Ich ignoriere die aufsteigende Sorge und mache noch einen Schritt nach vorne, dabei streift meine Hand eines der Grabmale. Unwillkürlich beuge ich mich hinunter, doch weder vorne noch hinten ist irgendetwas eingraviert. Plötzlich spüre ich kalte Finger auf meinem Nacken, ein Atem, der keiner zur sein scheint und doch realer ist als das unablässige Blasen des schneidend kalten Winds. Nur knapp kann ich einen Aufschrei unterdrücken, während ich herumfahre. Vor mir steht etwas. Es ist schwarz ... nein, es ist dunkel, einfach nur dunkel. So intensiv, wie ich es noch nie gesehen habe. Es hat die ungefähre Form eines Menschen und trägt einen weiten Mantel, dessen Kapuze es sich tief ins Gesicht gezogen hat. Es ist ... wahr. Meine Kehle fühlt sich wie ausgedörrt an und ich kann nicht einmal meinen Mund öffnen. Übelkeit macht sich in mir breit; es fühlt sich an, als würde ich innerlich explodieren und mein Herz versagen, doch die Furcht hindert mich daran, irgendwas zu machen und so stehe ich nur da und starre die Gestalt mit vor Schreck geweiteten Augen an.
„Geh nicht in den Winterwald,
Die Rückkehr ist dir ungewiss.
Geh nicht in den Winterwald,
Denn der Schnee birgt deinen Tod“, zitiert sie mit verzerrter Stimme die erste Strophe eines alten Kinderlieds. Unwillkürlich starre ich nach oben. Aus den Wolken fallen kleine, weiße Schneeflocken, ebenso weiß wie die Grabsteine. Als ich wieder nach unten blicke, ist der ganze Boden von ihnen bedeckt und die Gestalt ist verschwunden. Jetzt kann ich sie hören, lechzend nach Blut, noch entfernt, aber immer näher kommend. Die entfesselten Geister dieses Waldes, vielleicht sein Gedächtnis, das nach Rache sinnt. Das Schneetreiben ist nun immer dichter, steigert sich von Sekunde zu Sekunde, bis die einzelnen Kristalle unglaublich groß sind. Langsam sinke ich zu Boden, mitten in das Weiß hinein, welches unerwartet warm ist. Ich lege mich hin und strecke mich zwischen den Gräbern aus. Die Angst verschwindet langsam und ich schaue zu, wie die kleinen Eisflocken kontinuierlich auf den Boden schweben. Sie sehen so unschuldig aus, so rein.
Ich schließe meine Augen. Sie kommen.
Trotz des heißen Atems an meiner Kehle schaue ich nicht hin.
Schaue nicht hin, wie sie den Schnee rot färben, die Unschuld der Flocken fortwaschen und sie in etwas Grausames verwandeln.
Ich schaue meinem Tod nicht ins Gesicht.
„Die Schneeflocken ... sie sind so wunderschön ...“

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Tag der Veröffentlichung: 15.11.2011

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