Die vergangenen Jahre
Die Schlacht von Alynthias bildete das größte Ereignis aller Zeiten, als die mutigsten Männer und Frauen unter der Führung des größten Kriegers aller Zeiten sich einer Gefahr entgegenstellten, die ihrer Welt den Untergang offenbarte, und nur dem Eingreifen der göttlichen Gestalt des Narath war es zu verdanken, dass der Sieg davongetragen wurde.
Nach dem Verkünden seiner Weisheit stieg das überirdische Wesen erneut in den Himmel auf, und die Zurückgebliebenen dienten seinem Erbe durch die Aufgabe des eigenen Willens und huldigten seiner Erhabenheit.
Sechshundert Jahre vergingen, bevor ein geleisteter Schwur, dessen Inhalt den Schutz der Welt vor den Einflüssen des alten Feindes verlangte, von einem der Anwesenden der großen Schlacht eingefordert wurde. Durch das belebende Gebet der Gelehrten Andaris und der Magie des Narath wurde der größte Krieger aller Zeiten, Kardan, sowie seine ihm treu ergebenen Mitstreiter von einer verewigenden Magie beseelt, die ihnen ein Leben ermöglichte, dass nur durch das Einwirken zerstörerischer Mächte beendet werden konnte. Da diese Mächte stets abgewendet wurden, überdauerten ihre Existenzen die Jahrhunderte.
Der Schwur führte die über das Land verstreuten Krieger und Kriegerinnen erneut zusammen, und die unwegsamen Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellten, wurden unter Aufbietung ihrer vereinten Kräfte beseitigt.
In Alaghi, einer freien Stadt im südlichen Grenzbereich zwischen dem Königreich Lór und der Wüste Zyred, trafen die Kräfte der dämonischen Tr´Cktar unter der Führung ihrer Königin K´Sheesa auf die sich dem Schutz des Landes verschworene Gruppe, und der schwarze Heerführer, Avalah, einer der Invasoren des hinter dem westlichen Meeres gelegenen Landes Corsin, führte erneut die Armee der Untoten, die ihm aufgrund seiner nekromantischen Fähigkeiten ergeben war, gegen die Verteidiger des Reiches, wie er es bereits vor sechshundert Jahren getan hatte, und nur dem Einsatz ihres mächtigen Magiers Harvon gelang es den Ergebenen des Königreichs, sich den Feinden aus der Sphäre des Gas'hotka ein weiteres Mal erfolgreich zu widersetzen.
Doch der schwarze Heerführer war erzürnt, und er wandte sich auf sich selbst gestellt gegen Kardan und seine treuen Gefolgsleute.
Durch die immensen Kräfte und einer List ihres Magiers gelang es der Gruppe, den schwarzen Heerführer zu überwältigen, und er wurde in einem ewigen Gefängnis festgesetzt, da sie erkannten, dass er ebenso wie sie unsterblich war. Die dämonische Königin wurde dem magischen Rat des Königs übergeben, und ihre Strafe war die Verbannung der Seele und die Zerstörung ihres Körpers.
Der Weg war frei, ein unbeschwertes Leben zu führen, und die einander treu ergebene Truppe verstreute sich in alle Winde, während sich Kardan mit seiner großen Liebe Nayla niederließ und eine Familie gründete, woraufhin er dem Kampf entsagte und seine Waffen niederlegte.
Nur wenige Jahre später, vier an der Zahl, erreichte ihn die Nachricht der Rückkehr der Bewohner der dämonischen Sphäre, und er verließ seine Familie, um seinen Jahrhunderte alten Gefährten Harvon zu unterstützen, den geheimnisvollen Ereignissen auf den Grund zu gehen, die der Befreiung der gebannten Seele vorauseilten.
Sie erkannten, dass die Königin der Dämonen zurückgekehrt war, und ihr Zorn war grenzenlos. Von ihrem im östlichen Meer aufgetauchten Sitz auf einer lebensfeindlichen Insel, führte sie einen vernichtenden Schlag gegen das Königreich Lór und nutzte die Kräfte eines Ar´Choks, eines grausamen, bedingungslos ergebenen Dämonenkriegers, um alle aufzuspüren, die für ihr vergangenes Scheitern verantwortlich waren, und zu vernichten.
Der magische Lebensbund, der Grund für die Unsterblichkeit der Getreuen, zerbrach mit dem Tod des ersten Opfers, und trotzdem sie sich nun ihrer Vergänglichkeit bewusst wurden, wichen sie nicht vor den Tr´Cktar zurück.
Dem Nachtling Valen, einem mehrere Jahrhunderte alten Krieger, der seine Kräfte aus den finsteren Stunden der Nacht bezog, war es zu verdanken, dass er, nachdem er Freundschaft mit einem Kardan treu ergebenen Mann schloss, sich für den Schutz der Familie des größten Kriegers aller Zeiten verantwortlich fühlte, und nur seiner Hingabe war es zu verdanken, dass dessen einziges Kind, Kayleen, den Angriff der Dämonen und ihren treu ergebenen Dienern überlebte.
Als der Nachtling erkannte, dass es dem Kind nie vergönnt sein würde, in der von Dämonen verseuchten Welt zu überleben, nahm er sich des Mädchens an und brachte es weit nach Süden, um in einem abgelegenen Dorf aufzuwachsen.
Währenddessen war der größte Krieger aller Zeiten davon beseelt, dass seine Familie den Angriffen der dämonischen Kräfte zum Opfer gefallen war, und er vereinigte seine Stärke mit denen dem Himmel ergebenen Dienern, den Kylben, deren Kultur sich seit Jahrtausenden den invasorischen Mächten der dämonischen Tr´Cktar widersetzte.
Sie führten einen erbarmungslosen Schlag gegen den Menschen verachtenden Feind, doch es war ihnen nicht vergönnt, den Sieg davonzutragen.
Der Hort der Kylben, eine gewaltige, fliegende Stadt, wurde von den dunklen Drachen, einer den Dämonen ergebenen Spezies, angegriffen und in einer vernichtenden Welle zerstört, deren Untergang in einem Absturz Kylbans, der Stadt der himmlischen, von den Menschen als Götter verehrten Wesen, gipfelte.
Dem größten Krieger aller Zeiten und seinen neuen, himmlischen Verbündeten blieb nichts anderes übrig, als sich vor den dämonischen Horden zu verbergen.
Sie fanden Zuflucht im mystischen Nebelwald, deren Bewohner sie ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit aufnahmen.
Die Heerscharen der dämonischen Tr´Cktar fielen über das Land her, und sie eroberten die den grausamen Mächten ihrer Krieger weit unterlegenen Landstriche binnen weniger Tage.
Stetig festigten sie ihre Herrschaft, und es vergingen zwölf lange Jahre voller Leid und Unterdrückung, ehe die Menschheit sich mit der Unterstützung ihrer Verbündeten dem Terror der Dämonen widersetzte...
...und als sich die Armeen der Völker Lórs unter dem Banner des größten Kriegers aller Zeiten und der Götter des Himmels vereinten, um sich Seite an Seite der Finsternis entgegen zu stellen, war es letztendlich das Gute im Bösen, das mit seinem Opfer die Entscheidung brachte...
aus den Chroniken von Lór,
Buch der Salia, S. 2611 ff
-1-
Fandros lag auf der Wehrmauer und wagte nicht, tief einzuatmen.
Zu groß war die Angst, von einer der patrouillierenden Wachen entdeckt zu werden. Es hatte ihn allen Mut und viel Kraft gekostet, auf die Mauer zu gelangen, hatte er doch immer innehalten müssen, um beim Aufstieg nicht entdeckt zu werden. Sein ganzes Gewicht nur mit den Fingern zu halten, die in kleinen Spalten steckten oder an winzigen Vorsprüngen hingen, war kräftezehrend, schmerzhaft und die Angst sein ständiger Begleiter.
Er musste auf der anderen Seite wieder herunter kommen, den blutigen Fluss durchschwimmen und das verdammte Gefängnis hinter sich lassen. Seit der Eroberung durch die Ausgeburten der Hölle herrschten Terror und Elend in Lór. Wenn sie ihn während seiner Flucht aufgriffen, würden sie ihn öffentlich zu Tode foltern, als Mahnung für die anderen Sklaven und zur persönlichen Unterhaltung der hochrangigen Dämonen, die es liebten, die grausamen Hinrichtungen und das Abschlachten der Menschen in der Arena zu verfolgen.
Fandros spähte vorsichtig nach links, um den Wachturm im Auge zu haben. Niemand schaute in seine Richtung, soweit er es erkennen konnte. Er blickte nach rechts. Auch dort war niemand zu sehen. Selbst am Himmel war keine der feuerspeienden Kreaturen auszumachen. Jetzt war seine Chance. Er musste sie nutzen!
Fandros schwang sich über die Mauer und hielt sich an den vorspringenden Steinen fest, seine Beine baumelten über einen finsteren Abgrund, eine bodenlose Leere erstreckte sich in der Nacht unter ihm. Wenn ihn seine Kräfte verließen, war es mit ihm vorbei, er würde auf dem Boden zerschellen und als Futter der streunenden Tiere enden. Schnell verdrängte er diese Gedanken, sie lenkten ihn von seinem vorrangigen Ziel ab: der Flucht! Er musste fort.
Er suchte nach günstigen Vorsprüngen und Rissen. In die meisten von ihnen konnte er seine Finger bis zum dritten Glied vertiefen. Das bot ihm ausreichend Halt.
Sein größtes Problem war jedoch, dass er nicht sehen konnte, wenn jemand von der Wachstation zu ihm aufsah. Auch wenn nach Sonnenuntergang der Fährverkehr verboten war, blieben die Fährschiffer doch auf ihren Booten. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf sein Glück zu verlassen.
Sein linker Fuß fand auf einem aus der Mauer ragenden Stein Halt, doch er nutzte diesen festen Stand nur für wenige Augenblicke. Er war einfach noch nicht tief genug hinabgestiegen, um zu verschnaufen.
Spalten, Risse, Vertiefungen und vereinzelt herausragende Steine nutzend, bahnte er sich seinen Weg die schier endlose Mauer hinunter. Es gelang ihm, acht Mannslängen zu bewältigen, bis er schließlich ausruhen musste. Schweiß lief ihm in Strömen den Körper hinab, und er konnte es nicht riskieren, abzurutschen. Er musste verschnaufen, Kraft sammeln, auch wenn es ihm zuwider war und ihn seiner wertvollen Zeit beraubte.
Die schwach leuchtende Mondsichel bot kaum Licht, und noch immer war er von der Hoffnung erfüllt, es ungesehen bis nach unten zu schaffen. Wie ein Blinder mühte er sich die Mauer herunter. Er musste es nur nach unten schaffen, und eine seiner Fluchthürden war überwunden. Er setzte sich wieder in Bewegung und wäre um ein Haar gestürzt, als er den Halt verlor. Er schrammte die Wand hinunter, mühsam einen Schrei unterdrückend. Seine Fingerkuppen bluteten, die Hosen waren an den Knien zerfetzt, der Leinenstoff blutgetränkt. Unter Aufbietung aller Kräfte hielt sich Fandros mit schmerzenden Fingern an einem Vorsprung fest. Lange würde er sich nicht halten können, sein eigenes Blut wandte sich gegen ihn, machte den Stein feucht und schlüpfrig. Er atmete gepresst, zwang sich, jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, wollte die Knochen sprengen und sich ausdehnen. In seinen Schläfen pochte das Blut, die Augen quollen bei jedem Pulsschlag weiter aus ihren Höhlen heraus.
Wie tief war er gerutscht? Vorsichtig drehte er den Kopf, um über seine Schulter nach unten zu schauen. Im schwachen Mondlicht konnte er einen Grund ausmachen, den rettenden Boden, die erlösende Fläche für seine schmerzenden Finger, seiner Arme, seiner Beine, seines Körpers. Vielleicht acht, höchstens zehn Mannslängen. Zu tief, um sich fallen zu lassen und auf eine sichere Landung zu hoffen.
Fandros hing sein ganzes Gewicht an seinen rechten Arm und tastete mit dem linken nach weiteren Haltepunkten. Er fand eine kleine Vertiefung, ausreichend für seine Fingerkuppen. Kleine Steine verursachten einen brutalen Schmerz, der bis in seinen Kopf schoss, als diese sich in sein rohes Fleisch bohrten. Wimmernd biss er die Zähne zusammen und kletterte weiter. Eine Ewigkeit verging, bis er sich erneut eine Pause gönnte.
Höchstens zwei Mannslängen. Er konnte es schaffen.
Fandros ließ sich fallen.
Das knackende Geräusch des brechenden Knöchels hallte laut durch Luft. Ein Universum an Sternen explodierte vor seinen Augen und das in seinen Ohren rauschende Blut machte ihn taub. Er grub sein Gesicht in die trockene Erde und erstickte den gequälten Schrei in Sand und Dreck. Tränen füllten seine Augen, während sein Bein in Flammen stand.
Es war vorbei, alles umsonst. Die Mühe, das lange Abwarten, das Ausharren. Die erduldeten Quälereien der Aufseher, die Verachtung der hochrangigen Dämonen, dass durch Folter und Schläge erlittene Leid. Seine Flucht endete am Fuße der Mauer, unter unsagbaren Schmerzen sterbend, dem Feind hilflos ausgeliefert.
Langsam richtete sich Fandros auf, tastete mit blutigen Fingerstümpfen nach seinem Knöchel. Fast hätte er doch noch geschrieen, wollte sich dem Versagen hingeben. Der Schmerz pulsierte durch seinen Körper und ließ seinen Schädel bei jedem Herzschlag anschwellen. Wie sollte er mit einem gebrochenen Knöchel seinen Häschern und ihren blutwitternden Ausgeburten der Hölle entkommen?
Doch er wollte trotz seiner starken Schmerzen nicht aufgeben.
Fandros entledigte sich seines schwarzen Hemdes und wickelte es trotz der starken Schmerzen und unter hohem Zeitaufwand straff um seinen Knöchel, um diesen so gut wie möglich zu stützen. Er hatte Mühe, nicht zu schreien.
Schließlich lag er flach auf dem Rücken und starrte zum dunklen Himmel hinauf. Keine Sterne waren zu sehen, dicke, schwarze Wolken zogen vorbei und verdeckten immer wieder die schwach schimmernde Mondsichel.
Wie viel Zeit vergangen war, vermochte er nicht zu sagen, jedoch wurde ihm tödlich bewusst, dass er nicht noch mehr verlieren durfte. Bis zum roten Fluss hatte er noch ein gutes Stück Weg vor sich. Für diese Strecke brauchte er vielleicht eine Stunde. Der Tag brach frühestens in drei Stunden an. Wenn er die Durchquerung des Flusses noch mit einrechnete, würde es sehr knapp werden. Schließlich war dieser immerhin mehr als dreißig Mannslängen breit. Wenn er das alles überlebte, standen seine Chancen zwar immer noch schlecht, aber er starb lieber bei dem Versuch, ein freies Leben zu erlangen, als in den finsteren Verliesen der Foltermeister zugrunde zu gehen.
Er kroch los.
Er schaffte es schneller als vorausgeplant, verzichtete er doch immer öfter darauf, auf Wachen und Fährschiffer zu achten.
Das träge dahinfließende Blut, in das er seine Hände als erstes tauchte, tat seinen Wunden gut, aber es kostete ihn unglaublich viel Überwindung, weiter einzutauchen, geschweige denn, darin zu schwimmen.
Er sah zur Fährstation hinüber. Wenn es ihm gelang, ein Floss oder wenigstens ein passendes Brett zu stehlen, wären seine Chancen, das andere Ufer zu erreichen, wesentlich höher. Allerdings stieg auch die Gefahr, auf dem blutigen Flusslauf entdeckt zu werden.
Die Schmerzen in seinem Knöchel ließen ein wenig nach, und er fasste den Entschluss, seinen Ekel beiseite zu schieben und zu schwimmen.
Behutsam tauchte er in das klebrige Nass ein, und seine Glieder dankten es ihm stärker als erwartet. Die Feuchtigkeit hatte eine trügerische, betäubende Wirkung, aber er würde es wagen. Mit kräftigen Zügen, aber so leise wie möglich, schwamm er los, machte sich daran, den Fluss aus Blut in Richtung Osten zu überqueren.
Mit jedem Zug brachte er mehr Weg zwischen sich und dem Lager, sein Körper mobilisierte verborgene Kraftreserven.
Nachdem er fast die Hälfte des Flusses durchquert hatte, fühlte er sich immer noch gut. Und als würde eine schützende Hand über ihn wachen, erreichte Fandros das andere Ufer eine gute Stunde vor Sonnenaufgang. Er wirkte selbst wie ein Dämon, als er blutgetränkt das Land auf der anderen Seite betrat.
Fandros humpelte auf einem Bein voran, das andere wurde ständig von zuckenden Schmerzen gepeinigt. Noch immer war er nicht Willens, aufzugeben. Er musste weiter, immer weiter, nur fort. So viel Raum wie möglich zwischen sich und seine Peiniger bringen.
Das Hemd stützte seinen Knöchel besser als erwartet. Er war froh, so schnell voran zu kommen.
Am Horizont erhob sich das grüne Dach eines gewaltigen Waldes. Wenn er es dorthin schaffte, konnte er endlich ausruhen und sogar frei von Angst schlafen. Dort war er sicher.
Er war nicht mehr weit. Das große Symbol des Widerstands. Im Nebelwald war man vor den Schergen der Tr´Cktar sicher. Ihnen war es nicht möglich, den Wald zu betreten. Dort lebten die Rebellen. Dort gab es Sicherheit.
Fandros biss die Zähne zusammen und humpelte voran, so schnell es sein geschundener Leib erlaubte.
-2-
Sanft schmiegte Aynasia sich an seinen Rücken, während er im leichten Trab durch den Wald dahinschwebte. Die Luft roch süß und schwer, feucht vom Nebel, der die Sicht auf wenige Meter einschränkte. Gamok bewegte sich mit der Leichtigkeit und Sicherheit eines Zentauren, der sich in seinem Wald, seinem Territorium, auskannte. Er hielt ihre Beine mit seinen starken Händen, gab ihr einen festen Halt auf seinem kräftigen Rücken. Sie fühlte sein Fell an den Innenseiten ihrer Schenkel. Spürte die Hitze seines muskulösen Körpers. Das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit durchströmte den ihren. Ihr Gesicht lag vergraben in seiner gewaltigen Mähne, der Duft seines Haares strömte mit jedem Atemzug in ihre Lungen.
Die Kylbin hatte ihre Flügel angelegt und vertraute sich ganz dem Zentauren an. Endlich hatte sie Frieden gefunden. Nach all den quälenden Jahren in der Obhut ihrer Gastgeber war sie schließlich in einer vielversprechenden Zukunft gelandet, die sie das ganze Grauen außerhalb der grünen Mauern vergessen ließ.
»Geht es dir gut?«, wollte Gamok mit seiner tiefen, angenehm vibrierenden Stimme wissen. »Du bist so still.«
»Ich genieße nur die gemeinsame Zeit«, seufzte sie und ließ ihre Hände über seinen Rücken gleiten. Gamok surrte zufrieden und trug seine Reiterin weiter durch den schimmernden Wald.
»Ich kenne da eine wunderschöne Lichtung«, sagte der Zentaur. »Sie ist über und über mit goldenen Wildblumen bewachsen, das Gras ist von einem tiefen, satten Grün, und die gewaltigen Baumkronen werfen tanzende Schatten auf den Boden.«
»Das klingt wundervoll«, sagte Aynasia und richtete sich auf. »Bring mich bitte dorthin.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl«, lachte Gamok und beschleunigte seinen Trab. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und presste sich fest an ihn, um nicht den Halt zu verlieren.
Zwölf Jahre waren nun seit dem alles verändernden Absturz ihrer Stadt Kylban vergangen, doch erst in den letzten Monaten hatte sich bei Aynasia ein Gefühl der Verbundenheit mit der Welt der Niederen – der Menschen – eingestellt. Was wiederum an Gamok lag, denn seit sie ihre Zeit mit dem Zentauren verbrachte, sah sie den gewaltigen, mystischen Wald mit ganz anderen Augen. Nun wirkte er nicht mehr wie eine dunkle, nebelverhangene und vor Gefahren strotzende Bedrohung, sondern als ein von Leben und zahlreichen Wundern erfüllter Ort, dessen Schönheit vom kleinsten Grashalm bis zu den mehreren hundert Metern umfassenden Baumkronen reichte.
Gamok rief einige Worte in seiner Sprache und nach einem Sprung über einen schräg liegenden Baumstamm durchbrachen sie die diffuse Nebelwand. Das unvermittelt durch die Baumwipfel strömende Licht blendete Aynasia und sie schloss leise stöhnend ihre Augen.
Sie richtete sich auf und ließ ihren Blick schweifen. Tief atmete sie die frische Luft ein, glitt mit ihren Fingern durch seine wallende Mähne.
»Es ist wunderschön«, seufzte sie.
»Es freut mich, dass es dir gefällt«, sagte Gamok und legte lächelnd den Kopf in den Nacken. Aynasia küsste ihn auf die Stirn und das Sonnenlicht zauberte einen goldenen Funken in ihre Augen.
Die Lichtung war riesig. Nie zuvor hatte sie etwas derart schönes gesehen. Die aufgehende Sonne funkelte durch die Bäume und verwandelte den Waldboden in einen goldbraunen Teppich. Die Tropfen des Morgentaus glitzerten wie Diamanten in einem Meer aus Gras und reflektierten das Licht in schillernden Farben. Violette, rote und goldgelbe Blüten tausender Blumen, in denen ein summendes Treiben herrschte, wiegten ihre vibrierenden Köpfe im sanften Wind und ließen sich von den Schatten der Baumwipfel streicheln.
»Oh, Gamok, es ist wundervoll«, lachte sie und sprang von seinem Rücken. Lachend lief sie durch das knöchelhohe Gras und drehte sich mit ausgestreckten Armen im Kreis. Sie breitete ihre strahlenweißen Flügel aus und hunderte Federn vibrierten im sanften Wind. Ein strahlendes Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie mit schnellen Schlägen in die Höhe schoss und weite Kreise über dem Zentauren zog. Gamok sah ihr lachend hinterher, ließ sein tiefes Brüllen erklingen und stellte sich auf die Hinterbeine.
Aynasia landete und sank auf die Knie. Sie ließ ihre Finger durch das Gras gleiten, riss die feuchten, glitzernden Halme heraus und tauchte ihr Gesicht hinein. Tief atmete sie den Duft des Waldes ein. Sie sah zu Gamok auf. Langsam streckte sie eine Hand nach ihm aus. Ihre Augen funkelten im goldenen Schein der Sonne.
Lächelnd sank er neben ihr nieder und sie ergaben sich der Schönheit des Waldes.
*
Gemächlich schritt Gamok am Rand der Lichtung entlang. Mehr als eine Stunde hatte es gebraucht, sie zu überqueren. Aynasia lag auf ihm, schmiegte ihren Körper auf seinen herbsüß duftenden Rücken und döste vor sich hin. Ihre Flügel wippten im Takt seiner Schritte.
Dann, ganz plötzlich, verstummten die Vögel.
Gamok blieb stehen und lauschte. Etwas stimmte nicht. Die Tiere des Waldes waren in ein starres Schweigen verfallen.
Tr´Cktar waren in der Nähe.
Er schaute zum Waldrand hinüber. Nur wenige hundert Meter trennten ihn davon. Lauerten die Bestien wieder auf der anderen Seite? Sie konnten den Wald nicht betreten, die magischen Sperren würden sie zerfetzen, und dennoch wagten sie sich immer wieder so nahe heran und wirkten allein durch ihre Anwesenheit bedrohlich und verstörend.
»Was ist denn los?«, wollte Aynasia wissen und richtete sich schlaftrunken auf.
Gamok legte einen Finger an seine Lippen und ging langsam auf den Rand des Waldes zu. Er musste wenigstens nachsehen, auch wenn keine unmittelbare Gefahr drohte. Der Stammesälteste war über jede Information erfreut, die er mit den Menschen und Kylben teilen konnte. In seiner großen Weitsicht hatte er den Flüchtlingen vor Jahren Zuflucht im Nebelwald gewährt und so ein immerwährendes Bündnis geschmiedet. In Gamoks Adern floss das Blut eines Kabras, eines Kriegers des Waldes. Er war verpflichtet, jegliche Gefahr für den Wald zu erkennen und abzuwehren.
Er erreichte den Waldesrand und ließ seine scharfen Augen hinaus in das verheerte Land schweifen. Er spürte Aynasias Hände in seiner Mähne.
Dann erblickte er den Menschen, der schwerfällig vor einer Meute Blutjäger flüchtete.
»Du musst ihm helfen«, hauchte die Kylbin auf seinem Rücken.
Brüllend griff Gamok nach seinem gebogenen Schwert und preschte los.
-3-
Fandros stürzte und seine Hoffnung erlosch.
Seit Sonnenaufgang waren sie hinter ihm her. Die Blutjäger hatten seine Spur aufgenommen und sich unerbittlich an seine Fersen geheftet. Seine Chancen, den grausamen Raubtieren zu entkommen, tendierten gen Null. Sie kannten kein Erbarmen mit ihrer Beute und würden ihn in Stücke reißen.
Er hörte die Pferde, deren donnernde Hufe das Zischen und Hecheln der mehrbeinigen Dämonen überdeckte. Die Häscher, Menschen in den Diensten der Tr´Cktar, diese verfluchten Verräter und Überläufer ohne Ehre und Gewissen, trieben die Bestien gehässig lachend an.
Der Wald war direkt vor ihm. Nur noch wenige Meter mehr, und er hätte die Tortur seiner Flucht überlebt. Nun endete es so kurz vor dem Ziel. Er hatte nicht mehr die Kraft, auf die Beine zu kommen. Sein gebrochener Knöchel jagte zuckende Schmerzimpulse durch seinen ganzen Körper. Er spürte die kühlenden Tränen auf seinen erhitzten Wangen.
Ohrenbetäubendes Gebrüll riss ihn aus seiner Starre. Fandros hob den Kopf und erblickte einen atemberaubend schönen Engel, der sich von einem schwertschwingenden Pferd abstieß und in den Himmel aufstieg.
Dann zuckten Blitze aus den Händen der lichterfüllten Gestalt über ihn hinweg und die Schreie seiner Verfolger waren wie Musik in seinen Ohren.
*
In einer fließenden Bewegung stellte Aynasia sich auf Gamoks Rücken und sprang in die Höhe. Mit mächtigen Flügelschlägen stieg sie in die Luft und griff als Zugehörige der Magischen, eine der drei Kasten der kylbischen Kultur, auf die ihr innewohnenden Kräfte zu. Sie belegte die Reiter mit dem Zwang der Starre und ließ zuckende Blitze aus ihren Händen folgen.
Gamok preschte auf die Blutjäger zu. Er sprang über den Anführer der Meute hinweg und trieb sein Schwert durch den Hals der nachfolgenden Bestie. Das Blut der dämonischen Kreatur benetzte das Gras und überzog es mit einem dunkelroten Schleier. Mit einem metallischen Kreischen stürzte das Monster zu Boden und stieß keuchend seinen letzten, nach Moder und Aas stinkenden Atemzug aus.
Die beiden vorderen Häscher wurden durch die Wucht des Aufpralls der zuckenden Lichtlanzen aus dem Sattel gerissen und landeten brennend auf dem wogenden Gras. Ihre schmerzerfüllten Schreie hallten über die Ebene. Aynasia beachtete die leidenden Verräter nicht weiter und griff aus einer geflogenen Drehung erneut an. Die verblieben Häscher stoppten ihre Pferde und sprangen mit gezogenen Schwertern ab. Hektisch blickten sie zwischen der Kylbin und dem Zentauren hin und her. Gamok preschte durch die beiden Männer hindurch und stieß sie brutal zu Boden. Er fuhr herum, wich einem der angreifenden Blutjäger aus und packte einen weiteren an dessen schwarzglänzender Mähne. Blitze zuckten über ihn hinweg und zerrissen die auf ihn zustürmenden Häscher. Er preschte auf den Waldrand zu, riss den dämonischen Hund in die Höhe und schleuderte ihn in den Wald hinein. Kreischend zerplatzte der Blutjäger in Abermillionen kleiner Teile und verstreute sich im sanften Wind.
Aynasia landete neben dem verletzten Mann und beugte sich beruhigend über ihn. Behutsam sprach sie auf Fandros ein, der ihr mit tränenerstickter Stimme für seine Rettung dankte.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie sanft und strich ihm über die Wange. »Wir bringen dich in Sicherheit.«
Gamok beugte sich über sie und hob Fandros auf seinen Rücken. Aynasia ging neben ihnen und hielt Fandros Hand. Die toten Häscher und zerfetzten Blutjäger ließen sie achtlos zurück.
*
Das Dorf der Zentauren lag inmitten einer Ansammlung gewaltiger Bäume, deren Blätterdach das Gelände kuppelartig umgab. Die geräumigen Holzhütten waren mit grünbraunen Blättern gedeckt und an der Art der Behausung erkannte man den Stand, dem der Bewohner angehörte. Die Hütten der Krieger waren mit metallischen, dolchartigen Gebilden verziert, während die der Handwerker dem jeweiligen Beruf zuzuordnen waren. Vor der Hütte der Schmiede standen Ambosse und eine Esse, vor denen der Bogenbauer eine Feuerstelle zum formen und biegen der widerstandsfähigen Hölzer und ein aufgeschichteter Stapel der Äste einer bestimmten Baumsorte, deren Gehölz sie von den Geistern des Waldes zugewiesen bekamen, um daraus die erforderlichen Waffen zu fertigen. Die Wohngebäude der Jäger des Dorfes waren an der Rauchkammer für das Fleisch und den Gestellen, die mit den trocknenden Fellen bespannt waren, zu erkennen, während die Hütten der Schamanen, der Heiler und Priester der Gemeinschaft, an den mit zahlreichen Knochen behangenen Unterkünften erkennbar waren.
Gamok schritt zielgerichtet auf die Hütte des Stammesoberen zu, dessen Behausung die der anderen um mehr als das Doppelte überragte. Die anwesenden Zentauren, vornehmlich Schamanen und Schmiede, richteten ihre Augen auf die Ankömmlinge und nickten dem Krieger und der Kylbin zur Begrüßung freundlich zu. Sie bedachten den Menschen mit fragenden Blicken, ließen sich aber nicht dazu hinreißen, Gamok näher dazu zu befragen. Als Kabras stand er im Rang höher als die Handwerker und Heiler.
Sie hielten vor der Hütte des Stammesoberen und Gamok hob den verletzten Fandros vorsichtig von seinem Rücken. Aynasia bot ihm eine stützende Schulter und wartete mit ihm vor dem hölzernen Gebäude, während Gamok im Inneren verschwand.
»Hier bist du sicher«, sagte Aynasia und lächelte Fandros zu. »Sie können den Wald nicht betreten.«
»Ich danke euch beiden«, presste Fandros hervor. Die Schmerzen in seinem gebrochenen Knöchel waren deutlich in seinem Gesicht zu lesen. »Ihr habt mein Leben gerettet.«
Aynasia lächelte und blickte auf die Hütte des Stammesoberen. Sie konnte gedämpfte Laute vernehmen, verzichtete jedoch auf die Stärkung ihrer Sinne, um das Gespräch im Inneren besser verstehen zu können. Die Zentauren waren ihr gegenüber lange skeptisch gewesen, da die einzige Magie, die sie kannten, sich auf die Heilkünste der Schamanen beschränkte. Und selbst diese waren mehr auf die Kenntnisse um die heilenden Kräfte der Pflanzen und Kräuter zurückzuführen. Dennoch hatten sie ein Gespür dafür, wenn Magie in ihrer Nähe gewirkt wurde, und die Kylbin wollte das mühsam erlangte Vertrauen nicht gefährden. Außerdem vertraute sie Gamok. Seit er sie offiziell als seine Gefährtin vorgestellt hatte, betrachteten die übrigen Zentauren sie mit anderen Augen. Sie war die Vertraute eines Kabras, und ihr wurde der gleiche Respekt entgegengebracht, wie der Krieger des Waldes ihn erfuhr. Sie war nicht mehr nur eine der geflügelten Zweibeiner, die vom Himmel gefallen waren und im Nebelwald Schutz gesucht hatten. Nun war sie ein ernstzunehmendes Mitglied des Stammes.
Gamok trat aus der Hütte des Obersten und deutete auf einen der Schamanen.
»Buldrok wünscht, dass der Mensch zuerst versorgt wird, bevor wir ihn zum Lager der Zweibeiner bringen. Das unterstützt das gegenseitige Vertrauen, sagt er.«
»Nach zwölf Jahren sollte dieses Vertrauen eigentlich gefestigt sein«, meinte Aynasia und führte den Verletzten zur nahestehenden Hütte des Schamanen.
»Ich kann dir die Gedankengänge des Oberen nicht verdeutlichen«, meinte Gamok und trottete neben ihr her. »Wenn er es so will, hat es zu geschehen.«
»Ich kritisiere nicht die Wünsche deines Oberen«, rechtfertigte sich Aynasia. »Eine derartige Anmaßung steht mir nicht zu.«
»So habe ich es nicht gemeint«, sagte Gamok und sah sie entschuldigend an.
»Mach dir keine Gedanken«, lächelte Aynasia. »Ich weiß genau, was du sagen wolltest. Als deine Gefährtin untersteht es mir ebenso, den Wünschen des Oberen gerecht zu werden.«
Sie erreichten die Hütte des Schamanen und Gamok hob grüßend die Hand.
»Eiberok, ich benötige dein Wissen und deine Künste. Der Oberste wünscht, dass diesem Menschen geholfen wird, bevor wir ihn ins Lager der Zweibeiner bringen. Würdest du uns helfen?«
Der schwarzbraune Zentaur, dessen Mähne bereits von den ersten, grauen Strähnen durchzogen war, erwiderte Gamoks Gruß und deutete auf seine Hütte.
»Ich grüße dich, Kabras. Natürlich helfe ich dir. Ich fühle mich geehrt, dass du mit deinem Anliegen zu mir kommst. Wie schlimm sind seine Verletzungen?«
»Er hat einen gebrochenen Knöchel und sein Allgemeinzustand ist zwar nicht bedrohlich, jedoch bedenklich. Er ist aus dem Sklavenlager der Tr´Cktar geflohen.«
Fandros Blick wechselte zwischen Gamok und den Schamanen hin und her und nickte zur Bestätigung.
Eiberok hob anerkennend den Kopf und klopfte sich mit der Faust auf die breite Brust. »Dann verfügt er über einen starken Willen und ein kräftiges Herz. Nicht vielen gelingt es, diese Tortur zu überleben. Schnell, bring ihn herein.«
Sie betraten die Hütte des Schamanen. Aynasia stützte Fandros und geleitete ihn zu der schräg aufragenden Liegefläche, die auf die Bedürfnisse kranker und verletzter Zentauren ausgerichtet war. Fandros lehnte sich mit zusammengebissenen Zähnen dagegen und warf Aynasia ein dankbares Lächeln zu. Sie drückte ihn an der Schulter, wandte sich zu Gamok und streckte sich zu ihm herauf.
»Ich werde draußen warten.«
»Gut. Wir werden dann nachkommen. Wenn du möchtest, kannst du in meine Hütte gehen.«
»Ich finde mich schon zurecht, danke dir.«
Aynasia verließ die Hütte des Schamanen. Eiberok sah ihr einen Moment nach, verzichtete aber darauf, etwas zu sagen, weil spürte, wie Gamoks Augen auf ihm ruhten. Er näherte sich Fandros und ließ seine Augen über den Menschen schweifen.
»Wie lange wird es dauern?«, wollte Gamok wissen.
»Seine Knochen sind dünner als unsere«, lachte der Schamane. »Das wird schnell heilen. Gib mir insgesamt eine Stunde, dann wird er sich fühlen, als wäre er gerade dem Schoß seiner Mutter entschlüpft.«
Eiberok ging zu seinem Kräuterregal hinüber und machte sich an dir Arbeit.
-4-
Fandros schritt zwischen Gamok und Aynasia durch den schimmernden Wald und versuchte, seine Gedanken in Worte zu fassen. Wie sollte er ihnen danken? Sie hatten sein Leben gerettet. Mit einem einfachen Danke wäre es aus seiner Sicht nicht getan. Aber was konnte er sonst tun? Er hatte nichts, was er ihnen anbieten konnte. Außerdem wusste er nicht, ob er den Zentauren in seiner Ehre kränken würde, wenn er ihm eine materielle Vergütung anbot. Oder ob er ihn erzürnte, wenn er es nicht tat. Er war der erste Zentaur, dem er in seinem ganzen Leben begegnete. Sie lebten für sich, zurückgezogen im Nebelwald. Bisher waren nur ihre Geschichten und Legenden an seine Ohren gedrungen. Jemals einen der Pferdemenschen zu treffen, hätte er sich niemals zu träumen gewagt. Sie hatten ihren Wald noch nie verlassen. Und jetzt wusste er auch, warum. Hier waren sie sicher. Hier konnte man sie nicht angreifen. Hier kannten sie sich aus. Dies war ihre Welt.
Sein Blick wanderte zu Aynasia. Er hatte Geschichten über die vom Himmel gestürzten »Götter« gehört, aber nie zuvor hatte er eines der geflügelten Lebewesen zu Gesicht bekommen. Wenn alle aus ihrem Volk so schön waren, konnte er verstehen, warum die wenigen Menschen, mit denen er im Lager gesprochen hatte, sie als göttlich bezeichneten. Einige von ihnen hatten sogar behauptet, den Absturz der himmlischen Stadt beobachtet zu haben, als die feuerspeienden Luftbestien und die geflügelten Götter, allen voran Narath, der Einzige, über Lór gekämpft hatten. Seitdem waren eine Menge Falten in seinem Gesicht erschienen. Zwölf lange Jahre war es her, seitdem die Tr´Cktar die Königstadt Lór überrannt, die Bevölkerung weitgehend vernichtet und den König getötet hatten. Nun saß diese perverse, mordlüsterne Hexe auf dem Thron und entsandte ihre Schergen in alle Teile der Welt, um entweder ihr Gefolge zu vergrößern oder Tod und Elend zu säen.
Als die dämonischen Schergen die Königsstadt überrannt hatten, war der Jahrzehnte dauernde Streit, das Konkurrenzdenken zwischen den Söldnerorganisationen wie ein wassergetränktes Feuer erloschen und hatte den Weg zu einer Vereinigung geebnet, die aufgrund ihrer Größe davon ausgegangen war, der Bedrohung Einhalt gebieten zu können. Sie hatten sich geirrt. Nun, zwölf Jahre später, waren die Menschen in Lager gepfercht oder dienten den Tr´Cktar. Einzig die Länder im Süden und im äußersten Norden, so waren die Gerüchte, lebten noch unbehelligt von den dämonischen Horden. Fandros wusste nicht, ob er sie beneiden oder für ihre Untätigkeit hassen sollte.
»Was beschäftigt dich?«, wollte Gamok wissen, dem Fandros zweifelnde Blicke aufgefallen waren.
Fandros wusste, dass er den Zentaur nicht belügen konnte. Er nahm all seinen Mut zusammen und blickte ihm in die Augen.
»Ich weiß nicht, wie ich mich dir und deinem Volk erkenntlich zeigen kann. Ebenso wie deinem«, fügte er hinzu und sah Aynasia entschuldigend an.
»Du sollest dir darüber keine Gedanken machen«, sagte Aynasia und schenkte dem ehemaligen Söldner ein Lächeln. »Wir sind alle auf der gleichen Seite, und nur unser Zusammenhalt kann uns stärker machen. Wir wollen keinen Dank von dir. Es scheint in deinem Volk verbreitet zu sein, sich stets für die freiwilligen Gesten eines anderen bedanken zu wollen. Wir sind im Widerstand gegen die teuflischen Dämonen vereint. Wenn du dich unbedingt für deine Rettung bedanken willst, dann widme deine ganze Kraft der Bekämpfung dieser scheußlichen Kreaturen.«
Gamok schnaubte und stimmte den Worten seiner Gefährtin durch ein bekräftigendes Kopfnicken zu.
»Darauf könnt ihr euch verlassen«, sagte Fandros.
»Dann ist das Dank genug«, meinte Gamok und klopfte dem Mann auf die Schulter. »Wir sind bald am Ziel. Es ist nicht mehr weit.«
*
Als sie die unsichtbare Grenze zum Gebiet der Rebellen überschritten, spürte Fandros, wie ihn ein wohliges Gefühl der Wärme durchströmte.
»Ich kündige uns an«, sagte Aynasia und schwang sich in die Luft.
»Ich kann es noch immer kaum glauben«, flüsterte Fandros abwesend, als er der Kylbin nachschaute.
»Du wirst dich sehr schnell daran gewöhnen. Was glaubst du, wie wir geschaut haben, als plötzlich die Menschen und Kylben Zuflucht in unserem Wald suchten? Jahrtausende haben wir nur unter Unseresgleichen gelebt, und nun bilden wir eine Allianz mit einem der ältesten Völker überhaupt.«
»Es sind Götter«, meinte Fandros, und Gamok lachte auf.
»Nein, das sind sie nicht. Sie sind einfach nur sehr alt und eine Rasse, die lieber unter sich bleibt. Oder besser gesagt, gerne unter sich geblieben ist. Narath, derjenige, der sich den Menschen offenbarte, hat ein Umdenken innerhalb der kylbischen Kultur bewirkt, und nun teilen sie ihre unglaublichen, magischen Fähigkeiten und Kräfte mit uns anderen Völkern.« Gamok schnaubte. »Aber das kann Aynasia dir alles viel besser erklären. Oder einer der Menschen. Vielleicht sogar Narath selbst.«
»Narath ist hier im Nebelwald?« Fandros Augen weiteten sich vor Ehrfurcht. Nie hätte er geglaubt, die jahrhundertelang als Gott verehrte Person anzutreffen.
»Aber ja. Er ist einer der Anführer der Rebellen. Die Männer und Frauen sehen zu ihm und seinen geflügelten Kriegern auf. Sie nennen sich die Vierzig. Eine wirklich schlagkräftige Truppe, in jeglicher Hinsicht.« Gamok lächelte, als er sich an vergangene Scharmützel mit den Tr´Cktar erinnerte.
»Er ist einer der Anführer«, wiederholte Fandros. »Also gibt es mehrere?«
»Er teilt sich den Posten mit einem Menschen. Einen ehemaligen Krieger und General eines Ritterordens. Er hat früher schon mehrfach gegen die Tr´Cktar gekämpft und ist der beste Mann für den Posten. Hat eine Menge Scheiße hinter sich. Aber er ist ein harter Knochen, das kann ich dir sagen.«
»Wie ist sein Name?«, wollte Fandros wissen.
»Du wirst ihn gleich kennenlernen. Er heißt Kardan.«
-5-
Die magischen Lichtkugeln der Kylben erhellten die Hütte bis in den letzten Winkel. Diese Lichtquellen übertrafen die Feuerschalen und Fackeln um ein Vielfaches. Kardan grübelte über den Landkarten und Listen, die beinahe täglich erneuert und verändert werden mussten, weil immer neue Informationen über freie Dörfer, Widerständler oder Eroberungen durch die Tr´Cktar bekannt wurden. Die Zahl der kampfbereiten Männer und Frauen wuchs stetig, jeder Mensch, der den Fängen der Tr´Cktar entkommen war, brannte darauf, sich angemessen für die erlittenen Qualen zu rächen.
Nachdenklich strich er sich durch den von grauen Strähnen durchzogenen Bart und tippte mit dem Federkiel auf das vor ihm liegende Pergament. Es war eine Auflistung verfügbarer Waffenbestände, die dank der hervorragenden Schmiedearbeiten der verbündeten Zentauren stetig anwuchsen. Mittlerweile verfügten sie über einen nicht zu verachtenden Bestand an Bögen und perfekt ausbalancierten Pfeilen, um jeden Mann mit einer Haupt- und einer Ersatzwaffe auszurüsten. Ihre Nahrungsvorräte hingegen bereiteten ihm mehr Sorgen. Er hatte mehr als Eintausend Männer und Frauen zu versorgen. Was nützten ihm die besten Waffen, wenn die Soldaten Hunger litten?
Kardan legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er wusste, dass er übertrieb. Die Leute litten keinen Hunger. Es gab genug zu essen. Die Zentauren versorgten sie mit ausreichend Früchten und Pflanzen, von denen er trotz seines langen Lebens nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten. Sie sättigten hervorragend und hielten die Männer und Frauen bei Kräften. Was konnte er mehr verlangen? Hinzu kam das Wissen der Kylben. Sie versorgten die Menschen mit einem äußerst sättigenden Backwerk, dass sie seit Jahrtausenden verzehrten. Also worüber machte er sich überhaupt Sorgen?
Kardan seufzte und erhob sich von seinem Stuhl. Er reckte die müden Glieder und verspürte ein leichtes Ziehen im unteren Rücken. Das Alter forderte seinen Tribut, stellte er wehmütig fest. Zwölf Jahre war es nun her, seit der magische Bund gebrochen war und ihm seine Sterblichkeit zurückgegeben hatte. Nicht einmal Narath vermochte es, ihn zu erneuern. Wenn er ehrlich war, legte Kardan auch keinen großen Wert darauf. Er hatte alles verloren, dass in seinem Leben von Wert gewesen war. Seine Frau. Seine Tochter. Seine Freunde. Nur Arethea war ihm geblieben, und sie war bereits vor mehr als vier Jahren aufgebrochen, um sich einer sinnlosen Aufgabe zu verschreiben. Ihr letzter Brief hatte ihn vor einem Jahr erreicht. Er war nicht einmal sicher, dass sie noch lebte.
Ein Klopfen an seiner Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
Kardan räusperte sich und öffnete. Vor ihm stand Aynasia und begrüßte ihn mit einem warmen Lächeln.
»Aynasia, welche bezaubernder Anblick«, meinte Kardan höflich.
»Zuviel der Ehre«, lachte die Kylbin und winkte ab. »Aber du siehst heute gut aus.«
Kardan wedelte mit der Hand. »Sag das lieber nicht so laut. Es verlangt mich nicht danach, von Gamok in den Boden gestampft zu werden. Wie kann ich dir behilflich sein?« Er deutete ins Innere und Aynasia ging dankbar nickend am ihm vorbei.
Kardan schloss die Tür und bot ihr einen Platz an. Sie setzte sich ihm gegenüber an einen kleinen, hoffnungslos überladenen Tisch und ihre Federn raschelten, als sie über den Boden streiften.
»Wir haben am Waldrand einen Menschen gerettet. Er wurde von Häschern und Blutjägern verfolgt.«
»Also gibt es von beidem wieder ein paar weniger. Das sind doch gute Nachrichten.« Kardan deutete auf eine Karaffe Wasser, aber sie lehnte kopfschüttelnd ab.
»Er ist aus dem Lager geflohen. Bisher hat er nicht viel erzählt, aber du weißt ja, wie es dort aussieht.«
»Ja, viele der anderen, die sich uns angeschlossen haben, haben hier und dort mal etwas erzählt. Wie geht es ihm jetzt?«
»Er ist gut versorgt. Wir waren bei Eiberok, einem der Schamanen aus Gamoks Stamm. Du erinnerst dich an ihn?«
Kardan nickte. Bisher waren sie sich lediglich einmal begegnet, aber der Heilkundige war ihm im Gedächtnis geblieben. Seine Künste gingen weit über die eines einfachen Heilers hinaus.
»Er hatte etliche Blessuren und einen gebrochenen Knöchel. Damit zu fliehen ist schon eine beachtliche Leistung. Er sagt, er wäre früher Söldner gewesen.«
»Ja, das härtet ab«, sagte Kardan nachdenklich. »Wie ist sein Name?«
»Fandros. Gamok ist mit ihm auf dem Weg hierher. Er möchte sich den Rebellen anschließen.«
Kardans Blick bohrte sich in das winzige Stück Tischplatte, das zwischen den Pergamentstapeln, Kisten und Geschirr herauslugte. »Ich kannte früher jemanden mit diesem Namen. Aber das ist sehr lange her.«
»Vielleicht ist er es ja«, lächelte Aynasia.
Das Geräusch von Hufen drang zu ihnen herein. Einen Augenblick später hämmerte es an Kardans Tür.
»He, bist du da mit meiner Gefährtin drin?«, dröhnte Gamoks Stimme durch das Holz.
»Jetzt haben wir den Ärger«, grinste Kardan, ging zur Tür und öffnete. »Gamok, guter Freund. Niemals würde ich Hand an sie legen. Ich bin doch nicht lebensmüde.«
Der Zentaur grinste breit und scharrte mit den Hinterläufen. »Das weiß ich doch, Mann. Ich wollte dir nur einen Schrecken einjagen. Das hier ist Fandros. Aynasia hat dir bestimmt schon alles erzählt.«
»Ja, das hat sie. Kommt herein. Pass mit deinem Kopf auf, Großer.«
Fandros streckte die Hand aus und Kardan ergriff sie. Er musterte ihn gründlich und sah ihm tief in die Augen.
»Du bist es wirklich«, sagte Kardan nach einem kurzen Moment der Erkenntnis.
»Kardan, das nenne ich nun aber eine Fügung des Schicksals. Wie lange ist es her?«
»Sechzehn Jahre. Alaghi.«
»Ja. Alaghi.« Fandros wurde von einem kurzen Schauer erfasst und schüttelte schnell den Kopf. »Das war eine heftige Schlacht. Ich habe damals meine Haare eingebüßt.« Fandros strich sich über den kahlen Kopf. Eine gut verheilte Brandnarbe zierte die dunkle Kopfhaut.
Kardan schloss die Tür und deutete auf einen weiteren Stuhl. »Du musst leider stehen, Großer«, meinte er zu Gamok, der nur ein abfälliges Schnauben von sich gab. Aynasia strich ihm über die Flanken und er sah liebevoll auf sie hinunter.
Kardan setzte sich und sah abwechselnd auf seine Besucher, bis sein Blick auf Fandros haften blieb.
»Aynasia hat mir bereits einiges erzählt«, sagte er und deutete auf die Karaffe Wasser. Fandros nickte und schenkte sich selbst einen Becher ein. »Jemanden wie dich nehmen wir gerne in unseren Reihen auf. Um ehrlich zu sein, nehmen wir jeden auf, der eine Waffe halten kann und in dem genug Hass auf die Tr´Cktar brennt.« Er dachte einen Moment über seine Worte nach. »Wir nehmen also jeden auf«, lachte er schließlich. »Doch du hast die nötige Erfahrung, um die Männer zu wahrer Größe zu führen. Du musst gar nicht abwinken. Du bist ein guter Anführer gewesen. Also, wenn du dazu bereit bist, vertraue ich dir eine Handvoll guter Männer an. Schleife ein paar Ecken und Kanten ab und befehlige sie als Kommandant. Wir gehen sehr oft hinaus und helfen Dörflern beim Widerstand oder bringen sie in den Wald, wo sie sicher vor den Übergriffen sind. Wir greifen die Tr´Cktar an, wo immer sich uns eine Gelegenheit bietet. Ein fähiger Anführer ist dafür immer gerne gesehen.«
Fandros sah Kardan mit einer Mischung aus Stolz und Respekt an. Dieser Mann kannte ihn überhaupt nicht, sie waren sich vor vielen Jahren auf einem Schlachtfeld begegnet und nun gab er ihm einen so wichtigen Posten. Männer in die Schlacht führen, das konnte er. Das hatte er in vielen Einsätzen während seiner Zeit bei den Schattenklingen bewiesen. Nur zu gerne wollte er sein Wissen, seine Taktiken und Manöver lernwilligen Soldaten beibringen, um der verhassten Brut aus den niederen Höllen eine Lektion zu erteilen und es ihnen so schwer wie möglich zu machen, das Land weiter zu unterjochen.
Fandros stand langsam auf und streckte seine Hand über den Tisch. Tief blickte er Kardan in die Augen. Der General erhob sich ebenfalls und ergriff die dargereichte Hand.
»Ich schwöre, dass ich die Rebellen mit allem, was ich habe, unterstützen werde. Ich fühle mich geehrt, dass du mir einen derart wichtigen Posten anbietest. Die kämpfenden Männer brauchen Vertrauen und Respekt, sowohl zu sich selbst als auch ihrem kommandierenden Vorgesetzten. Ich werde die Männer zu einer schlagkräftigen, furchtlosen Einheit formen.« Fandros starrte Kardan unverwandt an.
»Willkommen«, sagte dieser lediglich und nickte dem Söldner zu. »Ich hege keinerlei Zweifel an deinen Absichten. Eines Tages werden wir siegreich sein, und das Land wird wieder uns gehören.«
»So sei es«, schnaubte Gamok und wandte sich zur Tür. »Komm mit mir, Fandros. Ich bringe dich zu deiner Gruppe.«
Fandros erhob sich und nickte erst Kardan, dann Aynasia dankend zu. Er folgte dem Zentaur nach draußen.
»Ein interessanter Mann«, sagte Aynasia. »So voller Tatendrang und Kampfeswille.«
»Die Tr´Cktar haben seine Welt erobert, ihn eingekerkert und misshandelt. Was hält einen Mann sonst am Leben?«
Aynasia sah ihn an. Ihr Blick wurde weich und ein mitfühlendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ich weiß, was du verloren hast. Aber diese dämonischen Kreaturen haben auch meine Welt zerstört. Mein Leben war ruhig und friedlich, unsere größte Sorge war, dass wir entdeckt werden könnten, als Beferath begann, seine eigenen Ziele zu verfolgen. Nun wissen wir, und ich meine damit alle Kylben, dass die Niederen, verzeih, die Menschen eine höchst anständige und wertvolle Rasse sind, deren Werte sich von unseren kaum unterscheiden.«
»Es sind nicht alle so«, meinte Kardan.
»Aber die Guten schon. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die Zusammenarbeit auf beiden Seiten Früchte trägt. Ich habe lange gebraucht, mich einzufügen, das gebe ich zu, aber nun gebe ich meine gesamte Kraft, um euch zu unterstützen. Wenn es zum alles entscheidenden Kampf kommt, werde ich an deiner Seite stehen.«
»Und Gamok wird auf der anderen sein.«
»Aber natürlich. Er wird mich nicht alleine gehen lassen.«
»Dann können wir ja nur gewinnen.« Kardan erhob sich und Aynasia tat es ihm gleich. Sie schüttelte kurz ihre Flügel und ging durch die geöffnete Tür ins Freie.
»Bis später«, sagte sie und erhob sich in die Luft.
Kardan sah ihr einen Augenblick nach, dann ging er zurück ins Innere und widmete sich seinen Listen und Plänen.
-6-
Im Sand lang ein toter Mann.
Seine Kleidung war an mehreren Stellen zerrissen, die Haut von der gnadenlosen Sonne hässlich verbrannt, teilweise war das Fleisch sogar schwarz verfärbt und hatte sich zusammengezogen.
Erst auf dem zweiten Blick erkannte Lyn, der er noch lebte und schwach und schleppend atmete. Vorsichtig ging sie näher heran. Der feine Sand gab unteren ihren Schritten nach und füllte jeden noch so kleinen Zwischenraum in ihren Schuhen. Langsam ging sie neben ihm in die Hocke, aber immer noch weit genug entfernt, um bei der kleinsten Bewegung sofort reagieren zu können.
»Ich behalte ihn im Auge«, sagte Crell leise hinter ihr.
»Ja, gut«, flüsterte sie.
Das Gesicht des Mannes erinnerte an braunes Leder, war rissig und zerfurcht. Seine Lippen waren aufgeplatzt und kleine Hautstückchen hingen herab. Er war eindeutig schon älter, aber unter der erbarmungslosen Sonne der Wüste Zyred alterte man auch wesentlich schneller. Die Hitze dörrte einen aus. Seinem Zustand nach zu urteilen lag er schon eine ganze Weile hier.
Lyn sank auf die Knie und spürte den heißen Sand auf ihrer nackten Haut. Sie zog langsam einen kleinen, gebogenen Dolch aus ihrem Gürtel und beugte sich mit ausgestrecktem Arm vor, um dem Mann sanft anzustoßen.
Feine Sandkörper schmirgelten unablässig die feine Hautschicht ihrer Beine ab.
»Hallo?« Sie klopfte mit der flachen Seite der Waffe gegen die Schulter des Mannes. Dieser gab einen unverständlichen Laut von sich.
Lyn blickte über die Schulter und sah zu Crell, der seinen Bogen im Anschlag hielt. Binnen eines Augenblicks konnte er ihn spannen und den bereitgehaltenen Pfeil abschießen, sollte der Mann sie angreifen. Schließlich konnte es auch eine Falle sein. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, in der Wüste auf Häscher zu treffen, äußerst gering war, lag es doch im Bereich des Möglichen. Immerhin tauchten die abstoßenden Kreaturen der dämonischen Brut auch immer wieder auf. Crell nickte ihr zu.
Lyn näherte sich dem Mann wieder ein Stück und konnte ihn nun schon berühren. Sie legte vorsichtig die Hand auf seine sonnenverbrannte Schulter und glaubte, ein leichtes Zucken zu spüren. Der Mann glühte förmlich.
»Hiil-fee, bittee«, krächzte er plötzlich.
Bereits bei der ersten Silbe hatte Crell den Bogen gespannt und zielte auf den Kopf des Mannes, der sich quälend langsam vom heißen Sand löste.
»Bitte, helft mir«, sagte er mit belegter Stimme. Lyn gab Crell ein Zeichen, dass er sich entspannen solle und steckte den Dolch wieder ein. Sie zog einen Wasserschlauch hervor, den sie wie einen Gürtel um die Hüften trug, und reichte ihn vorsichtig dem Mann.
»Du musst langsam trinken. Sonst kommt dir alles wieder hoch.«
Mit zitternden Händen nahm er ihn entgegen und drehte sich unter lauten Stöhnen und zuckenden Gliedmaßen auf die Seite, um einen ersten, vorsichtigen Schluck zu nehmen. Das Wasser vermengte sich in seinem Mund mit dem getrockneten Speichel, und er schluckte die dickflüssige Masse vorsichtig runter. Er wagte nicht, den Mund zu spülen. Wasser war zu kostbar, um es in den sandigen Boden zu speien.
Lyn richtete sich langsam auf, um den Mann nicht unnötig zu erschrecken und wandte sich Crell zu.
»Also?«, wollte der hochgewachsene Zyrede wissen.
»Wir können ihn nicht hierlassen«, sagte sie und fuhr sich nachdenklich über das sonnengebräunte Kinn.
»Willst du ihn etwa mit ins Dorf nehmen?«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«
Crell zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob dem Ältesten das gefällt. Oder deinem Vater.«
»Lass meinen Vater da raus«, erwiderte Lyn und ihre Augen funkelten bedrohlich. »Ich bin sechzehn Jahre alt. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Und ich habe bereits mehr als einmal bewiesen, dass ich die Richtigen treffen kann.«
Crell hob abwehrend die Hände. »He, du musst dich vor mir nicht rechtfertigen. Ich wüsste keinen besseren Jagdgefährten, mit dem ich lieber unterwegs wäre. Wenn du es für richtig hältst, bin ich natürlich auf deiner Seite.«
»Du bist süß, wenn du mir nach dem Mund redest«, grinste sie und drehte sich wieder zu dem Verletzten. Crell wollte noch etwas erwidern, doch er schluckte die Worte hinunter. Stattdessen atmete er tief durch und schob seinen Pfeil zurück in den Köcher, den er an der Hüfte trug.
»Geht es wieder? Kannst du aufstehen?« Lyn wollte ihm helfen, doch sie wusste nicht, wo sie den Mann berühren sollte, ohne ihm Schmerzen zuzufügen.
»Mein Dorf ... wurde überfallen. Häscher. Sie ... sind alle tot.« Er trank einen weiteren Schluck und hustete, als die warme Flüssigkeit seine Kehle hinunterlief.
Lyn wechselte einen schnellen Blick mit Crell, der ihn drängend erwiderte.
»Komm, du musst aufstehen. Wir bringen dich in unser Dorf. Dort kannst du ausruhen und unsere Heilerin wird deine Wunden versorgen.« Sie reichte ihm die Hand, die er mit schlaffen Händen packte und sich mühsam auf die Beine quälte.
»Sie waren hinter mir her«, keuchte der Mann und sah Lyn eindringlich an. »Ich weiß nicht, wie ich ihnen entkommen bin, aber sie können nicht weit entfernt sein. Wir müssen deine Leute warnen!«
*
Mit dem Mann, der sich ihnen als Valmires vorgestellt hatte, zwischen sich kehrten Lyn und Crell in ihr Dorf zurück. Sie hatte ihr schützendes Kopftuch über Valmires gelegt und wusste, dass sie am nächsten Morgen den Sonnenbrand in ihrem Nacken verfluchen würde.
Sie winkte den beiden Männern zu, als diese ihre Posten vor dem Dorf verließen und zu ihnen gelaufen kamen.
»Lyn!«, rief einer von ihnen. »Wen habt ihr da?«
»Hallo, Halmill. Das ist Valmires. Wir haben ihn in der Wüste gefunden. Er ist schwer verletzt. Häscher haben sein Dorf überfallen. Ich muss ihn zu Nicall bringen.« Sie lächelte. Ob es an ihrem jungendlichen Charme lag oder der Wachposten Gefühle für sie hegte, konnte sie nicht sagen, aber er kam sofort an ihre Seite und nahm ihr den Verletzten ab. Crell ließ seinen Blick kurz zwischen den beiden hin und her gleiten, schnaufte lauter als gewollt und stapfte davon.
»Was hat er denn?«, wollte Halmill wissen. Lyn zuckte mit den Schultern.
»Ich habe keine Ahnung. Hilfst du mir bitte?« Sie blickte den stattlichen Mann bittend an.
»Geh nur voran. Ich bringe dir den Mann zu Nicall.«
Lyn lächelte und rieb sich die schmerzenden Schultern. Sie spürte den Sand in jeder Falte ihres Körpers, er kratzte zwischen ihrer Kleidung und scheuerte ihre Haut wund. Sie musste dringend die Kleidung wechseln.
»Kannst du das bitte alleine machen? Ich komme sofort nach. Ich muss nur kurz nach Hause.«
»Na sicher, Kleine. Soll Bavill dich begleiten?« Er deutete mit dem Kopf auf den anderen Wachposten.
»Nein, ich beeile mich. Wir treffen uns bei Nicall.«
»In Ordnung, Kleine.« Halmill stützte Valmires und ging mit ihm in Richtung Dorfkern. Bavill nickte ihr kurz zu und bezog wieder seinen Posten.
Lyn lief am Rand des Dorfes entlang und steuerte ihre Hütte an. Es war einfacher, außen herum zu laufen, als sich den Weg durch das Innere des Dorfes zu bahnen. Zügig erreichte sie das kleine Haus, das sie zusammen mit ihrem Vater bewohnte und schlüpfte ins Innere. Der kühlende Schatten abgedunkelter Räume nahm sie in Empfang. Lyn seufzte und begann, sich aus ihrer Kleidung zu schälen.
Der feine Sand rieselte aus der Kleidung auf den Boden und kratzte an ihrer Haut. Auch wenn sie es gewohnt war, empfand sie es dennoch immer wieder als unangenehm. Sie ging zu der bereitstehenden Wasserschüssel, tauchte ein Tuch hinein und wusch sie die feinen Körner ab. Die kühlende Wirkung des Wassers entrang ihr ein genüssliches Seufzen.
Ihr Blick fiel auf die geschwungenen Tätowierungen an ihren Oberarmen und Außenseiten ihrer Oberschenkel. Die Zeichen der Jäger des Dorfes. Ein Jahr war es nun her, seit sie mit fünfzehn endlich alt genug war, um sich in dem zu beweisen, was sie Dank des täglichen Trainings mit ihrem Vater am besten beherrschte. Sie hatte viele der älteren Jäger mit ihrer Treffsicherheit und Beherrschung der Klingen in den Schatten gestellt und sich als Beste bei den Prüfungen bewiesen. Mit erhobenem Kopf und ohne einen Schmerzenslaut hatte sie sich die Tätowierungen stechen lassen und trug sie seitdem voller Stolz. Dass sie einige Nächte nicht hatte schlafen können und bei der kleinsten Berührung am liebsten geschrien hätte, wusste niemand. Nicht einmal Crell. Nur vor ihrem Vater hatte sie es nicht verbergen können, und er war mit einer selbst zugefügten Wunde zu Nicall gegangen, um einen ihrer kühlenden Umschläge zu bekommen.
Lyn betrachtete ihr Gesicht in der Wasseroberfläche. Sie selbst empfand sich nicht als schön, stach jedoch aus der Menge heraus, da sie eine hellere Hautfarbe als alle anderen hatte. Ihre langen, glatten Haare fielen ebenfalls aus dem Erscheinungsbild eines typischen Zyreden, Doch irgendetwas musste ja an ihr dran sein, so wie Crell sie manchmal ansah.
Sie war jung, aber nicht blöd.
Als sie sich gesäubert und frische Kleidung angezogen hatte, wobei sie mit einer kurzen Hose und einem ärmellosen Hemd sorgsam darauf achtete, dass ihre Tätowierungen zu sehen waren, fiel ihr Blick auf das gefaltete Pergament auf dem Tisch in der Mitte des Raumes. Sie entfaltete es und las dir kurze Nachricht.
Lyn,
ich begleite eine kleine Gruppe nach Westen, um Nahrungsvorräte zu besorgen. Bitte benimm dich.
Bin bald zurück.
V.
»Als ob ich jemals Ärger mache«, schnaufte sie und warf die Notiz beiseite. Sie legte den Gurt mit ihren Dolch und dem Kurzschwert wieder an und machte sich auf, die Heilerin des Dorfes aufzusuchen.
*
Nicalls Hütte lag im inneren Ring des Dorfes, sofern man ihn als solchen bezeichnen konnte. Die Dörfer der Wüste waren nicht nach den gleichen Maßstäben wie die in den nördlichen Gebieten aufgeteilt, obwohl diese Anordnung seit dem Absturz der Stadt des einst als Gottheit verehrten Kylben Narath mehr als hinfällig war. Doch die Leute hielten gerne an Altem und Bekanntem fest, denn Konstanz verlieh Vertrauen und Mut.
Lyn hielt diese Philosophie für mehr als schwachsinnig.
Sechs Hütten bildeten den inneren Kreis, die anderen waren mehr oder weniger willkürlich kreisförmig um diese erbaut worden. Nicalls Haus war das einzige, aus dem zu jeder Tages- und Nachtzeit Rauch aus dem kleinen Schornstein aufstieg. Außerdem war es mit einem Schild mit der Aufschrift Heiler versehen, was angesichts der wenigen, kaum zu benennenden Durchreisenden mehr als unnötig war.
Sie grüßte einige der anderen Bewohner auf ihrem Weg, die ihr freundlich zulächelten und klopfte an Nicalls Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten trat sie ein.
»Hallo, Nicall. Wie geht es Valmires?«, fragte sie direkt und gesellte sich neben die stellenweise ergraute Frau, die sich an ihrem von Töpfen, Tiegeln und Fläschchen überfüllten Tisch aufhielt und einige selbstgezogene Kräuter in einem Mörser zerstieß.
»Lyn, es ist immer eine Freude, dich zu sehen«, antwortete sie und lächelte. Sie deutete mit dem Kopf hinter sich. »Er schläft.«
Lyn erblickte den verletzten Mann. Er lag nackt auf der Behandlungsliege und sie wandte sich schnell wieder ab. Sie errötete und wich Nicalls Blick aus. Der Umstand seiner Wunden verschreckte sie nicht so sehr wie ihn so nackt da liegen zu sehen.
»Na, Mädel, du hast doch wohl schon einen nackten Mann gesehen, oder?«
»Ja, natürlich«, antwortete sie eine Spur zu schnell und sah aus dem geöffneten Fenster. Warme Luft strömte herein und verstärkte das unangenehme Brennen auf ihrer Haut.
»Ist Halmill nicht hier? Er sagte, er würde mich hier treffen.«
»Er musste zurück zu seiner Wache. Du weißt ja, wie pflichtbewusst er ist.«
»Das ist allerdings wahr.« Sie kratzte sich verlegen am Kinn.
»Was willst du denn von Valmires? Oder bist du wegen einer Verletzung hier?«
»Mir geht es gut. Nur ein kleiner Sonnenbrand, aber sonst ist alles in Ordnung. Ich wollte ihn noch einmal über die Häscher befragen, bevor ich zum Ältesten gehe.«
Nicall hielt in ihrer Arbeit inne und sah Lyn fragend an.
»Was willst du vom Ältesten?«
Lyn deutete auf den schlafenden Mann. »Die Häscher haben ihn verfolgt. Er sagte, sie wären nicht weit von hier. Wenn das Dorf in Gefahr ist, sollte der Älteste es erfahren, damit wir angemessen darauf reagieren können.«
»Du glaubst, der Älteste wird dich einfach so empfangen?«
»Allerdings«, meinte Lyn trotzig. »Er wird wohl kaum vergessen haben, was mein Vater und ich alles für dieses Dorf geleistet haben. Ich will die Bewohner beschützen.«
»Ganz ruhig«, meinte Nicall und hob beruhigend die Hände. »Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen. Mir fehlt wohl einfach der Mut, einfach zum Ältesten zu gehen und etwas zu fordern. Ich könnte auch neue Pflanzerde, Kräuter und mehr Wasser gebrauchen, aber ich komme noch ganz gut über die Runden und schiebe es halt vor mir her. Du hingegen gehst immer sofort den direkten Weg. Eigentlich bewundere ich dich dafür.«
Lyn errötete. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht so angehen.«
»Vergiss es einfach. Lass uns lieber mal nach unserem Patienten schauen.« Nicall nahm die zerstoßenen Kräuter und mischte sie mit einem kleinen Schluck Wasser zu einer tiefgrünen Flüssigkeit, in der feine Blätterreste schwammen.
Behutsam legte Nicall dem Mann eine Hand auf die Schulter. Dieser schreckte auf und warf hektische Blicke umher. Seine Augen blieben auf Lyn haften.
»Du bist hier in Sicherheit«, lächelte sie ihn beruhigend an.
»Nein«, hauchte er verzweifelt und schlug die Hände vors Gesicht. »Sie werden kommen! Sie finden dieses Dorf und werden alle, die sich nicht unterwerfen, töten!«
-7-
Crell erreichte Nicalls Hütte und schrak zurück, als die Tür heftig aufgerissen wurde und Lyn ihm entgegen stürzte.
»He, was ist los?«, wollte er wissen, als er ihr grimmiges Gesicht erblickte.
»Ich muss zum Ältesten«, blaffte sie ihn an. »Komm mit, wenn du willst. Ich erzähle es dir unterwegs.«
Crell bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten. Er ertappte sich dabei, wie seine Augen einen Moment zu lange auf ihren Beintätowierungen verharrten und sah schnell auf, wodurch ihm ihr wippender Haarschopf auffiel. Er beschleunigte seine Schritte und sah sie von der Seite her an, doch bevor er etwas sagen konnte, war er von den kleinen funkelnden Schweißperlen an ihrem Hals so fasziniert, dass er kein Wort über die Lippen brachte.
»Valmires ist vollkommen verängstigt. Er sagt, die Häscher würden kommen. Ich muss den Ältesten warnen. Er muss einige Leute zum Schutz des Dorfes abstellen«, sagte sie ohne ihn anzusehen.
»Ja, verstehe«, meinte Crell und schaute nach vorne. Obwohl er zwei Jähre älter als sie war, hatte sie ihm so viel voraus. Sie erkannte Gefahren schneller, reagierte mit angemessener Härte und zögerte nie. Er hingegen war froh, die Jägerprüfung einigermaßen unbeschadet überstanden zu haben. In ihrer Nähe fühlte er sich sicher, auf der anderen Seite aber auch unbeholfen und klein. Lange Zeit hatte er sich bemüht, sie nur als Freundin und Jagdgefährtin wahrzunehmen, aber es war unübersehbar, dass sie zu einer attraktiven Frau heranreifte. Dennoch würde er sich hüten, irgendetwas in dieser Richtung zu versuchen. Ihr Vater würde ihn umbringen. Wenn sie es nicht vorher tat.
»Dann bist du auf meiner Seite?«
»Bei allem und jederzeit, das weißt du doch«, sagte er und wich ihrem fragenden Blick aus.
»Dann bin ich beruhigt«, erwiderte Lyn und gab ihm einen freundlichen Klaps auf den Arm.
Sie erreichten den Dorfplatz und gingen zielstrebig auf die Hütte des Ältesten zu. Crell spürte, wie sich sein Magen verkrampfte und ein Kloß im Hals ihn daran hinderte, tief einzuatmen.
Lyn richtete ihren Waffengürtel, reckte den Kopf in die Höhe und blickte den vor der Tür sitzenden Posten direkt in die Augen.
»Vanall, ich möchte zum Ältesten. Es ist wichtig.«
Der Mann sah sie lächelnd an. »Lyn, es ist immer eine Freude, dich zu sehen. Hübsch bist du geworden.« Er zwinkerte Crell herausfordernd zu.
Lyn ignorierte seine Worte und sah ihn unverwandt an. »Häscher sind auf dem Weg hierher. Der Älteste muss es erfahren.«
»Wieso glaubst du, dass er noch nicht Bescheid weiß?«, forderte Vanall sie heraus und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Weil ich nicht sehe, wie er die Leute für den Kampf mobilisiert«, gab sie trotzig zurück.
Vanall kratzte sich abwesend im Nacken und ließ seine Augen ungeniert über ihren Körper gleiten. »Hast du nichts Besseres zu tun, als hier Unruhe zu stiften? Deinem Freund fällt sicher etwas ein.« Er grinste anzüglich.
»Dir scheint nicht viel am Dorf zu liegen«, sagte Lyn leise und überging seine freche Bemerkung einfach. Vanalls Gesicht erstarrte zu einer eisigen Maske. Langsam erhob er sich von seinem Stuhl und baute sich zu voller Größe auf.
»Dafür sollte ich dir eine reinhauen«, knurrte er sie an.
»Versuchs doch mal«, zischte sie und hörte, wie die Knöchel in Crells geballter Faust knackten. Er würde ihr beistehen, ganz gleich, was geschah.
Die Tür öffnete sich und ein von der Sonne gegerbter, alter Mann trat heraus. Seine Augen wanderten über die drei Anwesenden und verharrten auf Lyn, die seinen Blick starr erwiderte.
»Vanall, setz dich wieder. Und ihr Zwei, kommt herein«, sagte er und wurde vom Schatten im Inneren verschluckt.
Crell ging voran und hielt einen vorsichtigen Abstand zu Vanall, während Lyn ihn unsanft mit der Schulter zur Seite stieß. Der Wachposten nutzte die Gelegenheit, um ihr in den Ausschnitt zu spähen und einen respektlosen Klaps auf den Hintern zu verpassen. Mit geballten Fäusten ging sie weiter, zwang sich zur Beherrschung und betrat die Hütte des Ältesten.
»Setzt euch dort hin«, sagte der Älteste ruhig und deutete auf einige Stühle, zwischen denen ein flacher Tisch mit einer Schale getrockneter Früchte stand. Er selbst nahm auf seinem gepolsterten, mit gelbgrauen Stoff überzogenen Sessel Platz, der in einer schattigen Ecke stand. Kurz ließ Lyn ihren Blick durch den Raum gleiten. Es war das erste Mal, dass sie das Heim des Ältesten betrat. Es unterschied sich lediglich in der räumlichen Größe von ihrer eigenen Behausung. Allerdings besaß er einige Regale mit gebundenen Schriftstücken, die ein Vermögen wert sein mussten, und ein Gemälde einer grünen, sonnenüberfluteten Blumenlandschaft über dem säuberlich gemachten Bett.
Der Älteste sah Lyn mit strengem Blick an.
»Danke, das du uns empfängst«, begann Lyn, doch der Älteste hob mahnend eine Hand.
»Du bist frech und dein Verhalten ist ungebührlich. Nur aus Respekt vor deinem Vater verzichte ich darauf, dich für dein Auftreten zu maßregeln.«
Oder aus Angst, dachte Crell. Ich könnte es dir nicht einmal verübeln, Ältester.
»Vergib mir«, sagte sie und blickte beschämt zu Boden. »Es ist die Sorge um das Dorf, die mich allen Anstand vergessen lässt.«
»Rede nicht so geschwollen. Es reicht schon, euch anzusehen, dass du und dein Vater aus den nördlichen Landen kommen. Da muss man es nicht auch noch hören.« Er musterte Lyn sehr genau. »Wärst du nicht eine so hervorragende Jägerin und Kämpferin, würde ich dir die Zeichen von der Haut schaben lassen. Und dir auch.« Er deutete mit dem Finger auf Crell. »Warum unterstützt du sie bei ihrer aufbrausenden Art? Weshalb versuchst du nicht, sie zurückzuhalten und zur Räson zu bringen? Statt in Ruhe und einer förmlichen Bitte vorzusprechen, missachtet ihr die Regeln und Gesetze, fangt Streit mit Vanall an und bringt mich in eine missliche Lage. Wenn sich das herumspricht, denken die Leute, dass ich derartige Sachen durchgehen lasse, und dann dauert es nicht lange, bis mich jeder auf diese ungebührliche und respektlose Weise herausfordert.«
Crell setzte zu einer Antwort an, doch dann blickte er ebenfalls geniert zu Boden. Was sollte er denn antworten? Dass er selbst Angst vor ihr hatte? Wie sollte er jemanden aufhalten, der ihm in so vielen Belangen weit überlegen war? Dass sie einen Vater hatte, der ihn mit nur einem einfachen Blick erstarren ließ? Dass sie trotz des rauen Wüstenklimas so angenehme duftete?
Langsam rutschte Lyn vom Stuhl und sank auf die Knie. Den Kopf noch immer gesenkt, streckte sie bittend die Arme aus.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte sie leise. »Bitte höre dir an, was ich zu sagen habe. Es ist äußerst wichtig.«
Der Älteste seufzte. »Ach, Kind. Steh auf. Dein stetiger Wechsel von Rebellion und Unterwürfigkeit ist erschreckend. Entscheide dich endlich für eine Seite. Andererseits weiß ein Mann ein gutes Feuer auch zu schätzen«, lachte er und schenkte drei Becher Wasser ein. Er reichte zwei seinen Gästen und nahm selbst einen tiefen Schluck. »Nun, was willst du mir sagen?«
»Ich danke dir, Ältester.« Lyn räusperte sich. »Wir waren auf der Jagd und haben in der Wüste einen Mann gefunden. Sein Name ist Valmires. Er sagt, sein Dorf wäre von Häschern der Tr´Cktar überfallen worden und sie hätten jeden getötet, der sich geweigert hat, sich ihnen anzuschließen. Er selbst konnte schwer verletzt entkommen. Zur Zeit versorgt ihn Nicall.«
Der Älteste nickte. »Das ist mir alles schon zu Ohren gekommen. Und weiter?«
Lyn leckte sich nervös über die Lippen. »Ich frage mich, ob wir nicht die kampfstarken Leute zusammenrufen sollten, um uns gegen einen möglichen Angriff zu verteidigen. Valmires sagt, die Häscher könnten auf den Weg hierher sein.«
»Warum glaubst du, dass ich das noch nicht in die Wege geleitet habe? Hältst du mich vielleicht für unfähig?«
Crell sog scharf die Luft ein. Sage jetzt bitte nichts Falsches, flehte er in Gedanken.
Lyn senkte schnell wieder den Blick. »Niemals kämen mir derartige Gedanken«, sagte sie. »Einzig die Sorge um das Dorf lässt mich handeln. Mein Übereifer hat mir ...«
»Genug«, sagte der Älteste und ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. Er sah zu Crell. »Du hast dich gerade schon in der Grube gesehen, was?« Er lachte trocken. »Ich habe bereits Befehle gegeben, Lyn. Männer und Frauen sind gewarnt. Entgegen deiner aufbrausenden Art halten sie sich jedoch mit ihren Gefühlen zurück. Wenn du deine Augen durch das Dorf schweifen lässt, siehst du, dass sie alle bewaffnet sind. Dass Waffen an strategisch günstigen Positionen liegen, um sofort aufgegriffen werden zu können. Während wir hier reden, haben Halmill und seine Leute bereits die Tore gesichert. Sie stehen immer noch weit auf, aber nur ein einziger Druck auf den vorbereiteten Schalter und sie fallen krachend zu. Diese Mechanik haben wir übrigens auch deinem Vater zu verdanken.« Der Älteste stand auf und stellte sich vor Lyn. Er nahm sie an den Schultern und stellte sie auf die Beine. »Deine Sorge um das Dorf ehrt dich, Kind. Obwohl du hier nicht geboren bist, liegt es dir so sehr am Herzen, dass du es sogar in Kauf nimmst, mich zu erzürnen. Aber sei versichert, es ist alles unter Kontrolle.«
Lyn kaute an ihrer Unterlippe und hielt mühsam die beschämenden Tränen zurück.
»Geht jetzt nach Hause«, sagte der Älteste. »Ruht euch aus, lest, spielt, oder was immer ihr sonst macht. Aber seht zu, dass ihr eure Köpfe frei bekommt. Tragt nicht die Last des Dorfes auf euren jungen Schultern. Lasst lieber mich sie tragen.«
Der Älteste führte sie nach draußen und bedachte Vanall mit einem mahnenden Blick, als dieser zu einer spöttischen Bemerkung ansetzte.
Crell und Lyn gingen mit gesenktem Kopf die von flirrender Luft erfüllten Dorfstraße hinunter. Sie schauten weder zu den Seiten noch spähten sie nach den erwähnten Vorkehrungen zum Schutz des Dorfes.
Lyn spürte das Brennen in ihren Augenwinkeln. Sie hatte sich zutiefst blamiert, das Ansehen des Ältesten beschmutzt und Crell in Gefahr gebracht. Es musste einen Weg geben, um das alles wieder in Ordnung zu bringen.
-8-
»Du bist ja völlig verrückt!«
Crell stand in der Mitte des Hauses und starrte Lyn entgeistert an.
»Ich sage ja nicht, dass nur wir beide gehen sollen.« Lyn erhob sich von ihrem Bett und legte ihm sanft die Hände auf die Schultern. »Wir können jemanden fragen, ob er uns begleiten will. Mir geht es nur darum, die Gefahr rechtzeitig abzuwenden und unsere Namen von diesem Makel der Respektlosigkeit zu befreien.«
»Und du bist der Meinung, dass ein brutaler Tod durch die Hände der Häscher das bewerkstelligen wird? Denn genau das wird passieren, wenn wir uns ihnen entgegenstellen. Sie werden uns einfach überrennen und in kleine Stücke hacken. Mich zumindest. Was sie mit dir anstellen, will ich mir nicht einmal vorstellen.« Er blickte ihr ernst in die Augen.
»Das wird nicht passieren. Wir werden sie besiegen und das Dorf schützen. Ich lasse meinem Vater einen Brief da. Er wird nachkommen und uns unterstützen. Wenn sich uns sonst niemand anschließen will, ihn haben wir zumindest immer auf unserer Seite.«
»Niemand aus dem Dorf wird uns begleiten, das weißt du genau.« Er nahm ihre Hände von seinen Schultern und ging hinüber zum geöffneten Fenster. Er atmete tief durch und schloss die Augen. Das Geräusch des sanften Wüstenwinds drang an seine Ohren. »Ich vertraue auf deine Fähigkeiten, Lyn. Aber ich bin nicht sicher, ob sie ausreichen werden. Wenn ich ehrlich bin, bezweifle ich es sogar. Weder wissen wir, mit wie vielen Häschern wir es zu tun haben, noch wie sie bewaffnet sind oder welche Art von Ungeheuern sie noch mit sich führen. Es ist einfach zu gefährlich.« Crell hörte ihre Schritte und spürte ihren Atem auf seinem Arm. Ein prickelnder Schauer durchlief ihn.
»Ich werde das Dorf beschützen. Ich bitte dich, mich zu begleiten. Wen habe ich denn sonst? Du bist mein einziger, echter Freund. Ich vertraue dir ebenso wie ich meinem Vater vertraue. Bitte, begleite mich.«
Crell drehte sich langsam herum und sah tief in Lyns grüne Augen. Eine Augenfarbe, wie sie bei den Zyreden niemals vorgekommen war. So fremd und wunderschön. Ein Blick und er schmolz dahin. Seufzend stieß er die Luft aus.
»Also, wie lautet dein Plan?«
*
Als die Dämmerung heraufzog und die Hitze des Tages verdrängte, schlichen Lyn und Crell zwischen den Hütten hindurch und passierten das Haupttor, ohne von Halmill oder einem seiner Männer aufgehalten zu werden. Die Leute dachten ohnehin, dass sich etwas zwischen ihnen abspielte, also würde sie die Wachen in dem Glauben lassen und ihnen sagen, dass sie mit Crell alleine sein wollte und Angst davor habe, von ihrem Vater erwischt zu werden. Dass würde jeder sofort verstehen und die beiden ziehen lassen. Aber sie mussten erst gar nicht auf diese erfundene Geschichte zurückgreifen.
Lyn hatte alles genau geplant. Crell war von ihrem Vorhaben nicht begeistert, aber er konnte sie nicht allein gehen lassen. Denn genau das hätte sie getan. Dafür kannte er sie nur zu gut.
Sie hatten ihre Bögen umgeschnallt, die gefüllten Köcher mit einem gefalteten Tuch ausgelegt, dass die Pfeile keine verdächtigen, klappernden Geräusche verursachten, und ihre am Gürtel befestigen Waffen hielten sie eng an den Körper gepresst. Als sie die erste Düne hinter sich gelassen hatten, verfielen sie in einen leichten Trab und sogen die immer kühler werdende Luft in ihre Lungen.
Nicall hatte Lyn noch einmal zu Valmires gelassen und er hatte ihr berichtet, in welcher Richtung sein Dorf lag. Sie hatte alle für sie wichtigen Informationen aus ihm herausgeholt und Nicall um Stillschweigen gebeten.
Als die ersten Sterne am Himmel erstrahlten, zogen die beiden Jäger ihre Umhänge aus den mitgeführten Rucksäcken, um sich vor der heran kriechenden Kälte zu schützen. Als sie drei Stunden später auf ein flackerndes Feuer aufmerksam wurden, bildete ihr Atem bereits kleine Nebelschwaden vor ihren Gesichtern.
Flach auf dem Bauch liegend schoben sie sich die Düne hinauf und spähten auf ein von Lagerfeuern erhelltes Lager hinunter. Sie schaute in Crells angespanntes Gesicht.
»Ich habe meinem Vater einen Zettel hinterlassen«, flüsterte sie. »Er wird uns umgehend folgen, wenn er ihn liest.«
»Dann bin ich ja beruhigt«, presste Crell zwischen den Zähnen hervor.
»Was hast du denn?«
Crell erwiderte ihren Blick. Wie konnte jemand nur solche funkelnden Augen haben? »Nichts. Ich bin beruhigt, dass wir auf deinen Vater zählen.«
»Aber?«
»Was willst du denn hören? Dein Vater macht mir Angst. Ich fühle mich in seiner Nähe nicht wohl. Er gibt mir das Gefühl, nicht ... ausreichend zu sein.«
Lyn sah ihn fragend an. »Ausreichend? Ich verstehe nicht, was du ... oh.« Trotz der Dunkelheit konnte er sehen, wie sie errötete.
»Falsches Thema, falsche Zeit.« Crell schluckte. »Die Augen deines Vaters sind mir einfach unheimlich.«
Lyn starrte hinunter ins Lager. Sie zählte ein gutes Dutzend Pferde und acht bewaffnete Männer, die um das große Feuer saßen. Also waren noch mindestens vier weitere Häscher in dem kastenförmigen Zelt. Oder auf Patrouille, flammte es in ihrem Kopf auf. Sorgfältig sondierte sie die Umgebung.
»Was ist denn mit seinen Augen?«, fragte Lyn, um das Gespräch im Gang zu halten. Auch wenn sie in dieser gefährlichen Lage ihre gesamte Konzentration brauchte, war ihr doch wichtig, was in ihrem besten Freund vor sich ging.
»Sie sind so ... kalt. Und sie ...«
»Ja?«
Crell sah sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: André Höhle
Bildmaterialien: Elena Sandfort / André Höhle
Tag der Veröffentlichung: 19.01.2013
ISBN: 978-3-7309-0804-4
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Elena.
So wie du bist.