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Heldentod - Die Chroniken von Lór Band 2





...und es war über alle Maße erschütternd, als das wahre Wesen der Gottheit offenbart und dem Volk damit zwar der Glaube, aber letztendlich nicht die Hoffnung genommen wurde...


aus den Chroniken von Lór,
Buch des Balliares, S. 1521




Kapitel 1




Die Spelunke war verraucht und voller Menschen. Dichtes Gedränge machte es unmöglich, sich frei zu bewegen. Ständig stieß man mit jemandem zusammen und erntete dafür wütende Blicke. Die Tische waren voll besetzt, die Theke hinter den dicht gedrängt stehenden Gästen kaum zu erkennen, und ein Geräuschpegel fernab eines verständlichen Wortes dröhnte in den Ohren jedes Besuchers.
Torai saß in einer Nische und betrachtete den ihr gegenüber sitzenden Mann sehr aufmerksam. Er war in eine dunkle Kutte gehüllt und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Seine Hände waren in den Aufschlägen vergraben. Der untere Teil seines Gesichts war durch einen wilden Bart verdeckt, während die Augen im Schatten seiner Kopfbedeckung lagen. Bisher hatte keiner von ihnen ein Wort gesagt. Jeder wartete darauf, dass der andere das Gespräch begann. Schließlich brach Torai das Schweigen.
»Nun, guter Mann, was habt Ihr für mich?« Ihre Worte gingen im Lärm der Taverne unter, dennoch hatte er sie gut verstanden. Eine Hand kam zum Vorschein, in der er ein kleines Säckchen aus Leder hielt. Es war mit einer dunklen Kordel verschlossen und kaum größer als ein Pfirsich. Die junge Frau streckte die Hand aus, doch er zögerte und hielt seine Hand zurück. Ihre Augen trafen sich. Torai lächelte.
»Nur Mut, immerhin wird es sich für Euch lohnen«, meinte sie. Ihre andere Hand verschwand unter ihrem Mantel und kam ebenfalls mit einem kleinen Säckchen zum Vorschein. Dieses lag schwer in ihrer Hand, und die darin befindlichen Münzen schlugen klirrend aneinander. Trotz des Lärms nahm ihr Gegenüber das Geräusch wahr und streckte langsam beide Hände nach vorne. In der Mitte des Tisches trafen sie sich und tauschten die begehrten Behältnisse aus.
Prüfend wog er das Säckchen, befand den Inhalt schließlich für angemessen und lächelte. Es hatte etwas Unheimliches, als er eine Reihe schlechter Zähne entblößte und auf ihre Reaktion wartete.
Ihr Beutel war wesentlich leichter und sie erfühlte das metallische Innere.
Die Ringe. Vier magische Ringe, die ihr die bevorstehende Arbeit enorm erleichtern würden. Torais Lächeln wurde breiter, erlosch aber sofort wieder. Der Mann fixierte sie immer noch. Was ging in seinem Kopf vor?
»Was ist mit den Formeln?«, fragte Torai und lehnte sich vor, um seine Antwort durch den Lärm besser verstehen zu können.
»Die habe ich natürlich auch«, erklang zum ersten Mal die dunkle, brüchig klingende Stimme des Mannes. »Aber über deren Preis haben wir noch nicht verhandelt«, fügte er grinsend hinzu. Wieder entblößte er zwei Reihen schlechter Zähne.
»Ich verstehe«, sagte Torai bitter. Das hätte sie sich denken können. Die Menschen waren einfach schlecht. Sie versuchte, eine ehrbare Diebin zu sein und Typen wie dieser Kasir machten das Geschäft unnötig schwer. Und dem Ruf der zwielichtigen Gesellschaft schadete ein solches Verhalten außerdem. Eigentlich hätte sie es sich denken können, dass er ihr nicht einfach beide Teile ihres Geschäfts überlassen würde, ohne noch einmal um den Preis zu feilschen. Trotzdem ärgerte es sie.
Sie warf einen Blick zum Wirt und bestellte über Augenkontakt einen weiteren Krug Bier. Einen ersten hatte sie geleert, während sie auf ihren Geschäftspartner gewartet hatte. Der Mann hinter der Theke bestätigte die Bestellung mit einem Handzeichen und eine Schankmaid brachte es unter Einsatz ihrer Ellbogen durch die grölende Menge an den Tisch. Torai bedankte sich mit einem Kopfnicken, während der Mann die Bedienung ignorierte. Seine Augen ruhten fest auf der jungen Diebin.
»Also«, begann sie nach einem Schluck ihres Gebräus, »wie lautet der Preis für die Formeln?«
Kasir sah sie lange an, ohne etwas zu sagen. Sie wich seinem Blick nicht aus, erwiderte das unhöfliche Starren selbstbewusst. Er musterte ihren hellgrünen Augen, ihr wallendes, schwarzes Haar, die geschwungene Partie ihrer Wangen, ihren schlanken Hals. Ihre schmalen Lippen, das sanfte auf und ab ihrer Nasenflügel, während sie die staubige Luft der Kaschemme atmete.
»Ihr seid doch ein kluges und hübsches Mädchen«, sagte er schließlich. »Da fällt Euch sicherlich etwas ein, das für beide Seiten Spaß verheißt.« Grinsend lehnte er sich zurück und sah ihn ihre sich verengenden Augen.
»Eher springe ich über diesen Tisch und reiße Euch den Hals auf«, entfuhr es ihr leise.
»Aber das würde Euch keinen Vorteil bringen«, erwiderte Kasir ruhig. »Ich habe die Formeln nicht bei mir.«
»Ihr lügt!«
»Dann überzeugt Euch selbst.«
Torai atmete schneller, Zorn stieg in ihr auf. Dieses hinterhältige Schwein. Sie hätte es sich denken können. Schnell ging sie alle Möglichkeiten im Kopf durch. Gab es jemand anderen, der ihr die Formeln besorgen konnte?
Trotz all ihrer Kontakte fiel ihr niemand ein.
Wie schnell würde sie verschwinden können, wenn Kasir tot auf den Tisch fiel?
Ziemlich schnell. Sie war flink und die Taverne total überfüllt. Bevor jemand ernsthaft reagierte, würde jeder den Toten für einen betrunkenen Gast halten, der seinen Rausch ausschlief.
Doch sie würde sämtliche Kontakte in der Stadt verlieren, da man ihn auf sie zurückführen konnte. Niemand würde mehr Geschäfte mit ihr machen wollen, wenn sie als unzuverlässig und gefährlich galt.
Sie könnte in einer neuen Stadt wieder ganz von vorne anfangen, doch dafür hatte sie zu hart an ihrem jetzigen Ruf gearbeitet. Also kam diese Möglichkeit nicht in Frage. Sie war eine ausgezeichnete Diebin, arbeitete mit Vorsicht, tötete nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, brach in die gewünschten Objekte ein und verschwand stets unbemerkt. Der bevorstehende Auftrag war sehr heikel, brachte aber auch die zehnfache Menge an Gold für sie ein. Sie brauchte diese magischen Ringe, sie waren wichtig. Ohne diese spezielle Ausrüstung brauchte sie es überhaupt nicht erst versuchen.
Torai griff nach dem Bier und trank einen weiteren Schluck. Kasir beobachtete sie mit einer selbstgefälligen Genugtuung.
»Seht, meine Liebe, Ihr seid jung. Auch Ihr habt sicher Bedürfnisse«, grinste er breit und widerlich. »Warum also nicht das Angenehme mit dem Beruf verbinden?« Er griff nach ihrer anderen Hand, die immer noch auf dem Tisch ruhte.
»Weil ich so nicht arbeite«, erwiderte sie schroff. »Klare Angaben, klare Ziele, feste Preise, das ist meine Welt. Wenn es Euch so sehr drückt, warum geht Ihr nicht einen Stock höher, die Damen dort helfen Euch sicher gern.«
»Aber diese Damen haben nicht Euer Feuer, meine Liebe. Ihr wisst genau, welche Faszination Ihr auf die Männer ausübt. Ihr macht mir nichts vor.«
Durch den Schankraum drang lautes Gegröle und Geschrei zu ihnen herüber. Einer der Männer hatte den Abend für sich und sein Bewusstsein vorzeitig beendet. Seine lachenden Kumpane trugen ihn nach draußen. Sofort schloss sich die kurzzeitige Lücke vor der Theke wieder und lautstark wurde die Zecherei fortgesetzt. Torai zog ihre Hand zurück und warf Kasir einen giftigen Blick zu.
»Nun gut, ich dachte, Ihr wärt zugänglicher. Die Ringe sind bezahlt, habt Eure Freude damit. Ansonsten wünsche ich Euch viel Glück bei Eurem bevorstehenden Auftrag.« Kasir erhob sich, als Torais Hand vorschnellte und ihn am Handgelenk festhielt. Voller Hass sah sie zu ihm auf.
»Ich werde Euch nicht küssen«, sagte sie hart.
»Das verlange ich auch gar nicht«, grinste Kasir.


*




Zwei Tage später verspürte Torai immer noch das Bedürfnis, sich in unregelmäßigen Abständen den Mund auszuspülen. Die Schmerzen in Kiefer und Hüfte waren verschwunden, aber die Erinnerungen blieben. Wenn die Zeit für ihre Rache, würde der Mistkerl ihr das auf sehr schmerzvolle Weise büßen. Jetzt hatte sie einen Auftrag zu erledigen, der ihr den Ruhestand bringen würde.
Es hatte einfach geklungen, daher war ihr zuerst nicht klar gewesen, warum der Auftraggeber die mühsame Suche nach ihr auf sich genommen hatte. Schließlich warb sie nicht mit Aushängen in den Tavernen und bot jedem Dahergelaufenen ihre Dienste an. Nur über Mittelsmänner kam man an sie heran, und auch nur dann, wenn einer dieser Leute die Kette nicht unterbrach, weil er den Auftrag für zu schwierig oder gar für eine Falle hielt. Schon oft hatte sie sich die Frage gestellt, wie viele Angebote ihr auf diese Weise entgangen waren. Aber immerhin war dieser durch alle Instanzen gegangen und bei ihr angekommen. Nur das zählte.
Einen Einbruch zu begehen, um ein Schmuckstück oder wichtige Unterlagen zu stehlen, einer - oder einem - Geliebten eine Nachricht zukommen zu lassen, war für sie ein leichtes Unterfangen. Sie war geschickt, gewandt, stark, intelligent und mutig. Ein Einbruch in ein Gebäude, das unter Bewachung stand, war auch kein Problem. Aber dieses Ziel war eine Herausforderung.
Der Turm der Relikte. Eine, sofern man den Worten der Straße glaubte, uneinnehmbare Festung im Herzen von Lór. Hier waren die Gegenstände unter Verschluss, die in der freien Welt nichts mehr zu suchen hatten. Sie musste nun lediglich in das Gebäude eindringen, ein bestimmtes Relikt finden und ein fürstliches Honorar einstreichen. Klang immer noch einfach. Doch es hatte bereits etlicher Vorbereitungen bedurft.
Torai beobachtete nun schon seit Sonnenuntergang den Rhythmus der Wachen. Sie huschte von Schatten zu Schatten, hinter Mauern, in Nischen, unter Vorsprünge und Treppen. Sie konnte den Turm nicht direkt angehen, sondern musste sich über mehrere der umliegenden Gebäude ihren Weg bahnen. Selbst diese Häuser standen bereits unter Bewachung, da alles in diesem Turm von immensem Wert war. Oder gefährlich.
Ihr Blick fiel auf die Ringe an ihren Fingern. Zwei trug sie links, zwei rechts, jeweils auf Mittel- und Ringfinger. Hoffentlich waren sie es wert, dass sie sich dermaßen dafür erniedrigt hatte. Immerhin hatte Kasir ihr anschließend die Formeln übergeben, und sie hatte sofort damit begonnen, sie auswendig zu lernen. Jetzt mussten sich die vier Schmuckstücke beweisen. Bei ihren bisherigen Aufträgen hatte sie fast vollständig auf magische Hilfsmittel verzichten können, aber für diesen Auftrag waren sie nötig, sogar unvermeidlich. Schon allein für die Sicherungsvorkehrungen ihrer Beute, von denen sie leider weniger wusste als ihr lieb war. Leider war es ihr nicht vergönnt gewesen, das Gelände im Vorfeld zu inspizieren. Dagegen war ihr Einbruch in einen der Schauräume der königlichen Bank vor einem Jahr ein Kinderspiel gewesen. Diesen hatte sie während einer ganz normalen Führung in Augenschein nehmen können, während sie nun vor Ort ihr Bestes geben musste.
Von ihrer Position aus hatte sie einen guten Blick. Der Turm der Relikte ragte in den dunklen Himmel hinauf, umgeben von anderen Gebäuden, kleineren Türmen und jeder Menge Wachpersonal. Dichte Wolken am Himmel verdeckten größtenteils das Licht der Sterne, die mondlose Nacht war wieder einmal ihr Verbündeter. Sie lehnte lauschend hinter einer brusthohen Steinmauer. Vorsichtig lugte sie herüber. Eine Wache ging nur wenige Schritte entfernt an ihrem Versteck vorbei. Versunken in seine eigenen Gedanken nahm er sie zum Glück nicht wahr.
Sie glitt langsam zurück, atmete tief durch und lauschte.
Die Schritte entfernten sich immer weiter. Jetzt oder nie.
Torai schwang sich über die Mauer, hetzte geduckt von Schatten zu Schatten und verschwand hinter einem steinernen Brunnen. Das schwere Stampfen der Stiefel wurde durch leise knirschenden Kies ersetzt, der ihr nun ebenso zuverlässig die Position der Wache verriet.
Sie zog die Kletterhilfen aus der kleinen Tasche an ihrer Hüfte und legte sie an. Gebogene Krallen zierten ihre Handflächen. Sie lief weiter zur Mauer des Wehrturms, spähte nach oben und begann den Aufstieg.
Katzengleich erreichte sie das erste Fenster. Vorsichtig lugte sie hinein, entdeckte jedoch niemanden. Sie ruhte kurz ihre Arme aus und machte sich daran, weiter nach oben zu steigen. Ihre Krallen bohrten sich in das Gestein, ihre Zehen fanden sicheren Halt in den Spalten zwischen den unverputzten Steinen. Ihre dunkle, eng anliegende Kleidung machte sie beinahe unsichtbar. Als Torai das zweite Fenster erreichte, machte sie erneut eine Pause. Sie schob ihren Oberkörper halb hinein und verharrte regungslos auf ihrem Bauch liegend, um die Kraft in ihren Armen zu schonen. Sie lauschte aufmerksam nach Geräuschen im Inneren des Turms.
Nichts.
Die Zeit war ihr Feind. Den Luxus der Pausen musste sie auf ein Minimum reduzieren, wenn sie vor Sonnenaufgang verschwunden sein wollte.
Sie erreichte den Umlauf der oberen Plattform und zog sich leise daran hoch. Eine Wache stand am gegenüber liegenden Ende und lehnte gelangweilt auf der Brüstung. Ein Bogen samt Pfeile lag neben einer Schüssel, in der ein kleines Feuer brannte. Torai wollte ihm nicht die Gelegenheit geben, ein Warnsignal abzufeuern. Mit einem schnellen Satz hechtete sie über die Brüstung, war mit zwei schnellen Schritten bei ihm und stieß den in einer Vorrichtung an ihrem Unterarm befestigten Dolch unterhalb des Schädelansatzes in seinen Nacken. Sie fing den Körper auf und ließ ihn langsam zu Boden gleiten. Auch wenn sie es bedauerte, war dies einer der nötigen Momente, jemanden zu töten.
Ihr nächstes Ziel war das nahestehende Gebäude. Vorsichtig lugte sie über die Umrandung. Es war keine Bewegung im Hof zu erkennen. Sie nahm ein Seil aus der Tasche, dessen Anfang um eine Kralle ähnlich ihrer Steighilfen geschlungen war. Torai griff sich einen Pfeil, befestigte Kralle samt Seil daran und nahm den Bogen der Wache. Sorgfältig zielte sie auf den First des Gebäudes und schoss. Kopflastig flog der Pfeil davon und erreichte sein Ziel beim ersten Versuch. Die Kralle verhakte sich unterhalb der Schindeln im Holz. Mehrfach zog sie am Seil um den festen Sitz zu prüfen, dann spannte sie es so straff wie möglich.
Ihre Kletterhilfen verschwanden wieder in der Tasche. Sie sah zum mondlosen Nachthimmel hinauf. Die Wolkendecke verbarg noch immer das karge Licht der Sterne. Sie hockte sich auf die Brüstung, griff das Seil und ließ sich langsam daran hinab. Es hielt ihr Gewicht. Sie schwang die Füße hoch, verhakte sie um das Seil und machte sich mit kleinen Zügen auf den Weg hinüber.
Vorsichtig, Zug um Zug kam sie voran. Kopfüber hängend behielt sie, den Blick abwechselnd nach vorne und unten gerichtet, die Umgebung im Auge. Keine der Wachen nahm sie wahr, es ertönten keine Alarmrufe. Sie erreichte das Gebäude, löste ihre gekreuzten Füße vom Seil und zog sich mit einem kräftigen Schwung nach oben.
Hockend atmete sie tief durch und ließ ihre Augen über das Dach schweifen. Es war niemand zu sehen. Geduckt schlich sie am Rand entlang zum anderen Ende, sorgsam darauf achtend, dass die auf anderen umliegenden Dächern postierten Wachen sie nicht erblickten.
Auf der anderen Seite angekommen spähte Torai hinunter auf die Straße und schätzte die Entfernung zum nächsten Gebäude. Ein durchaus zu bewältigender Sprung. Dafür brauchte sie jedoch Anlauf. Ein Risiko, das sie eingehen musste. Auf dem nächsten Dach war eine Tür, durch die sie hinunter auf die Straße konnte, um dort in einem weiteren Haus wieder zu verschwinden, hinauf aufs Dach gelangen und von dort bereits den Turm erreichen konnte.
Trotz ihrer Eile nahm sie sich dich Zeit, die Straßen und Dächer zu beobachten, um sich die Routen der Wachen einzuprägen. Schnell hatte sie sich die Abläufe gemerkt und war bereit. Es hatte keinen Sinn, es länger als nötig hinauszuzögern.
Sie ging den Weg zum anderen Ende des Daches, legte ihre Kletterhilfen wieder an um sich, falls es nötig wurde, festkrallen zu können. Torai atmete tief durch und rannte los.
Die Tür auf dem anderen Dach flog auf und ein Wachmann trat gähnend in die kühle Nachtluft. Torai erschrak, konnte jedoch nicht mehr anhalten und sich verbergen. Sie stieß sich kraftvoll an der Dachkante ab. Als die Wache ihre Augen öffnete war Torai auf halbem Weg in der Luft, einen weiteren verdutzten Moment brauchte der Mann, um die Situation zu erkennen und einzuschätzen. Er öffnete seinen Mund zu einem Schrei, als Torai hart landete, nach vorne hechtete, sich abrollte und ihre hervorschnellende Armklinge bis zum Heft in seinen Unterleib stieß. Der Treffer raubte dem Mann den Atem. Torai sprang auf und fuhr mit einer gleitenden Bewegung ihres gezogenen Stiefelmessers durch seine Kehle. Gurgelnd und mit brechendem Blick stürzte der Mann zu Boden und verteilte sein Blut auf Torais Kleidung.
»So ein Mist«, fluchte sie leise und reinigte sich grob an der Uniform des Toten.
Sie spähte in die offene Tür, angespannt nach Alarmrufen der anderen Wachen horchend. Doch er schien allein gewesen zu sein.
Sie zog die Leiche in den Schatten hinter der Tür und schlich behutsam die Treppen hinunter.
Niemand kam ihr entgegen, keine Geräusche drangen zu ihr herauf. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an das schummrige Licht, das die auf halber Strecke in der Wand verankerten Fackeln verbreiteten.
Sie vergewisserte sich, dass niemand auf der Straße war und verschwand mit zwei schnellen Schritten im nächsten Haus. Der Turm war nahe. Sie war fast am Ziel.
Torai erreichte über einen Aufgang das Dach, legte die Strecke zum Rand geduckt zurück und sah zu ihrem eigentlichen Ziel hinauf.
Der Turm der Relikte. Direkt vor ihr. Dreißig Mannslängen hoch, ein imposantes Bauwerk, vollkommen aus Stein errichtet und ohne Fenster oder Einlässe im unteren Bereich. Die einzigen Öffnungen waren direkt unter dem Dach.
Sie musste vom Dach des Gebäudes gegen die Wand des Turmes springen und blitzschnell einen guten und sicheren Halt finden. Dieses Vorgehen hatte sie in den vergangenen Tagen an mehreren Wänden geübt. Sie würde es schaffen, die Haken ihrer Kletterhilfen mit ausreichend Kraft in den Stein schlagen. Viel mehr Sorge machte ihr, dass sie in ihrer dunklen Kleidung wie eine Fliege an einer weißen Wand auffallen würde. Es war unauffälliger, den Aufstieg nackt zu wagen. Was sie später noch benötigte, würde sie in ihrer Tasche verstauen und sich diese vor den Bauch hängen. Außerdem musste sie sich sehr langsam bewegen, damit sie unruhig umher gleitenden Augen nicht sofort auffiel. Dieses Vorgehen erforderte eine immense Kraft.
Torai schälte sich aus ihrer Kleidung. Da sie diese nicht mitnehmen konnte, verbarg sie die Teile im Schatten am Rand des Daches. Die kühle Luft umspielte ihren Körper. Ihre Haare konnten zum Problem werden, aber das musste sie riskieren.
Sie legte ihre Kletterhilfen wieder an und machte sich bereit. Sie hatte nur diesen einen Versuch. Ihr Herz schlug schnell. Sie atmete tief durch und rannte los. Ihre nackten Füße klatschten auf dem Boden. Sie erreichte den Rand und sprang.
Torai ließ während des kurzen Fluges die Arme kreisen und legte alle Kraft hinein. Mit einem knirschenden Knacken schlugen ihre Krallen in den Stein.
Und hielten.
Alle Muskeln bis zum Äußersten angespannt, hing sie nackt an der Wand und zwang sich gleichmäßig zu atmen.
Langsam begann sie den mühsamen Aufstieg. Nach wenigen Zügen brannten ihre Muskeln, die Arme waren bis zum zerreißen belastet. Sie atmete schwer, Schweiß rann an ihr herunter. Immerhin konnte sie barfuß besser klettern, ihre Zehen fanden immer wieder kleine Spalten im Mauerwerk, die ihr ausreichend Halt gaben.
Torai vermied es eisern, nach unten zu sehen. Fuge für Fuge arbeitete sie sich herauf, blendete den Schmerz aus und ignorierte die kalten Steine, die gegen ihre Brüste und Beine drückten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie ihr Ziel. Als sie die Arme durch ein Fenster ins Innere des Turmes strecken konnte, bäumte sich alles in ihr auf und sie glitt wie eine Schlange ins Innere. Ausgelaugt und mit Schmerzen, die sie nie zuvor so intensiv wahrgenommen hatte, lag sie im Dunkeln auf nasskaltem Steinboden und sog schmerzhaft die Luft ein. Tränen rannen aus ihren Augenwinkeln, ihre Brust schien zu bersten. Der glühende Schmerz wurde zu einem stumpfen Pochen, und schließlich spürte sie ihre wie leblose Schlangen aus den Schultern baumelnden Arme nicht mehr.
Sie musste sich ausruhen.
Konnte nicht.
Zeit war ihr Feind.
Quälend langsam gelang es ihr, die Kletterhilfen abzustreifen, sich in eine sitzende Position zu drücken und eine kleine Flasche aus ihrer Tasche zu holen. Nach zwei erfolglosen Versuchen gelang es ihr, sie aufzuschrauben und den hellgrünen Inhalt in einem Zug auszutrinken.
Die Wirkung setzte augenblicklich ein. Wohlige Wärme ging von ihrem Magen aus, strahlte in ihre Beine, Arme und ließ ihre Kopfhaut prickeln. Der Schmerz verschwand. Ihre Augen passten sich der Dunkelheit an und nahmen den Raum deutlicher wahr. Sie erkannte eine im Schatten verborgene Tür.
Torai kam auf die Füße, lächelte Angesichts des wohligen Gefühls im Inneren und ging zur Tür.
Sie legte den Kopf an das schwere Holz und lauschte. Es war nichts zu hören. Keine Schritte, keine Stimmen. Sie hoffte, dass es hier oben keine Wachen gab. Wer sollte auch bis hierher vordringen? Wenn sie Glück hatte, rechnete niemand mit einer solchen Dreistigkeit.
Torai sah sich in dem Raum um. Er war vollkommen leer, ein unbenutzter Raum. Sie fragte sich, wofür dieser Raum irgendwann genutzt werden würde, doch sie schob den Gedanken fort und widmete sich wieder der Tür. Sie hatte keinen Griff, nur eine kleine Öffnung für einen Schlüssel oder ähnliche Öffnungshilfe. Sie versuchte den kleinen Finger hinein zu schieben, doch es gelang ihr nicht. Die Diebin fluchte leise. Es gab nichts in diesem Raum, das sie nutzen oder mit dem sie improvisieren konnte. Ein kleiner Dolch war ihr geblieben, doch die Klinge war immer noch zu groß. Mehr gab ihre Tasche nicht her.
Sie sah auf ihre Hände. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Sie legte die linke Hand flach auf die Tür, platzierte sie über der kleinen Öffnung.
»Tan wallen aht stey


Ein pulsierendes Gefühl durchströmte ihre Hand. Sie drückte fester gegen die Tür und sah, wie ihre Hand im Holz verschwand. Wie sauber abgehackt sah sie nur noch ihr Handgelenk, doch das Gefühl in den Fingern war unverändert. Sie dreht die Hand und spürte einen Widerstand an den Fingern. Ein Griff. Sie bekam ihn mit den Fingerkuppen zu fassen und drückte ihn nach unten. Es klickte, und die Tür sprang einen kleinen Spalt in den Raum hinein auf.
Torai zog die Hand zurück. Nun fühlte sie sich kälter an. Fasziniert schüttelte sie die Hand langsam im Kreis, wiederholte die Formel und löste diese damit auf.
Leise zog sie die Tür auf. Sie blickte in einen steingepflasterten Gang, von blauen Fackeln in regelmäßigen Abständen erhellt. Das magische Feuer wurde von ihren Augen reflektiert.
Sie schlich angespannt durch den Gang. Es war kühl, aber ihr Körper glühte innerlich. Der Gang wies in gleichen Abständen Türen auf. Sie würde jede überprüfen müssen.
War das ein Geräusch?
Sie blieb angespannt stehen, hielt die Luft an und lauschte. Nein, sie hatte sich wohl geirrt.
Torai nahm sich die erste Tür vor.
Sie war unverschlossen. Langsam ließ sie diese nach innen schwingen. Ein dunkler Raum, der schwach durch die Fackeln in ihrem Rücken erhellt wurde. Torai erkannte jede Menge Bücher. Alle Wände waren mit Regalen zugestellt und bis zum bersten mit Schriftstücken gefüllt. Dieser Raum war für sie uninteressant. Sie ging weiter.
Die nächste Tür. Ebenfalls unverschlossen. Ein grünliches Licht strahlte ihr entgegen, das von verschiedenen Behältern unterschiedlicher Größen ausging. Im Inneren der Gefäße lagen Steine von identischer Form und Größe. Das Licht der Behälter flackerte kurz auf, leuchtete dann wieder gleichmäßig weiter. Nach kurzer Zeit erkannte Torai einen Rhythmus im Wechsel der Intensität.
Eine magische Sperre, um das Innere zu schützen. Sie war am Ziel. Ein siegessicheres Grinsen huschte über Torais Gesicht. Ihre Augen huschten über die Behälter. Sie waren wirklich beschriftet. Woher auch immer ihr Auftraggeber das gewusst hatte, sie dankte ihm dafür. Sie trat an ihr Ziel heran und hielt ihre rechte Hand vor den Behälter. Erneut flackerte dieser auf.
»Astram onhia sertem K´aaway


Das grüne Licht flimmerte konstant und Torai schob ihre Hand langsam zur Seite. Das magische Feld wanderte mit und gab den gläsernen Behälter frei. Die leuchtende Kuppel schwebte in der Luft, begann zu flimmern und erlosch. Sie wiederholte die Formel und deaktivierte den komplizierten Zauber, mit dem sich magische Felder verschieben ließen. Diesen an einen Ring zu binden erforderte enorme Kenntnisse und Geschick. Wer auch immer die Ringe entworfen hatte, verdiente ihren Respekt.
Behutsam hob sie den Glaszylinder an und stellte ihn auf den Boden. Sie nahm den roten glitzernden, von weißen abstrakten Mustern durchzogenen Stein an sich. Er fühlte sich warm an und pulsierte wie ein schlagendes Herz.
Torai ließ ihn in ihrer Tasche verschwinden und verließ den Raum, ohne weitere Blicke zu riskieren. Dafür war sie zu professionell.
Sie folgte dem gewundenen Gang und erreichte die Treppe, die sie nach unten bringen würde. Noch immer waren keine Wachen auszumachen. War überhaupt jemand in diesem Turm?
Nach endlosen Stufen erreichte Torai die runde Halle des Eingangsbereichs. Sie war über und über mit Symbolen und Ornamenten verziert, die abwechselnd in die Steine gemeißelt und aufgemalt waren. Von der Decke hing ein Leuchter mit blauen Fackeln herunter. Der Ausgang war direkt vor ihr, nur wenige Schritte von der Treppe entfernt. Dann bemerkte sie, dass sich die gleichen Zeichen der Wände auch auf dem Boden befanden. Unschlüssig stand sie da. Waren es Schutzzauber? Und wenn, wogegen? Das nichts und niemand hereinkam? Oder hinaus?
Ein kalter Schauer lief ihren nackten Rücken hinunter und ließ ihre Haut prickeln. Sie verspürte ein dumpfes Pochen an ihrem Hinterkopf, wo der Schädel auf der Wirbelsäule aufsetzte.
Ein Geräusch zu ihrer Linken. Pfeifender Wind, doch sie verspürte keinen Luftzug. Es wurde kälter. Ließ die Wirksamkeit des Trankes nach oder trug sie schon zu lange keine Kleidung?
Wieder das Geräusch, diesmal rechts von ihr. Oder war es über ihr? Nein, direkt vor ihr. Benommenheit nahm von ihr Besitz. Sie fühlte sich schummrig.
Sie hob die linke Hand. Es fiel ihr unglaublich schwer, als müsste sie einen Sack Getreide in die Höhe hieven.
»Tastem hal ontares ney


Der Ring an ihrem Mittelfinger flammte weiß auf, binnen eines Augenblicks war ihr Körper von einem schimmernden, weißen Licht umgeben, das eng auf ihrer Haut zu tanzen schien.
Die Benommenheit verschwand so schnell wie sie gekommen war. Sie hörte keine Geräusche mehr. Verspürte kein beängstigendes Gefühl mehr in ihrem Inneren.
Sie trat von der Treppe auf den Boden.
Nichts geschah.
Siegessicher lächelnd lief sie auf die Tür zu. Sie war unverschlossen.
Torai verschwand mit ihrer Beute in der Nacht.


*




Der Raum strahlte Gemütlichkeit aus und wurde von mehreren Feuerschalen und Öllampen erhellt. Er war mit schweren, dämpfenden Teppichen ausgelegt, lederbezogene Stühle umrahmten einem geschnitzten, massiven Tisch mit geschwungenen Beinen, Bücherregalen und Landschaftsbildern wechselten sich an den hell getünchten Wänden ab. Regen klopfte an das geschlossene Doppelfenster und bildete neben den knisternden Feuern und zischenden Lampen eine heimelige Geräuschkulisse.
Torai saß ihrem Auftraggeber gegenüber. Nach einem mehrstündigen Ritt Richtung Norden trafen sie endlich in dieser gut erhaltenen Burg aufeinander. Zum ersten Mal blickte sie in das markante Gesicht des hochgewachsenen Mannes, der in edles Leder und Pelze gekleidet war. Lächelnd erwiderte er ihren Blick.
»Ich bin erfreut, dass wir uns endlich gegenüber sitzen. Ich habe mich schon gefragt, ob die mir zugetragene Schönheit überhaupt zutrifft.«
»Und?« Torai zeigte ihr wärmstes Lächeln.
»Die Berichte werden der Wahrheit nicht gerecht.« Er gab einer im Schatten stehenden Person einen Wink und diese brachte umgehend zwei gläserne Kelche mit tiefrotem Wein. Ihrem Auftraggeber mangelte es jedenfalls nicht an Gold, denn allein diese beiden Kelche waren ein Vermögen wert.
»Auf unseren erfolgreichen Geschäftsabschluss«, sagte der Mann und prostete Torai zu.
»Wollt Ihr mir nicht Euren Namen nennen?« Sie hob ihren Kelch.
»Oh, wie unhöflich von mir. Mein Name ist Gan-Jin, sehr erfreut.«
»Ihr seht überhaupt nicht aus wie ein Askaner«, stellte Torai lächelnd fest.
»Das bin ich auch nicht.«
Sie tranken, ließen ihre Augen über den Kelchrand hinweg nicht vom Gegenüber.
Gan-Jin setzte sein Trinkgefäß ab und sah Torai ernst an. »Ich würde dann gerne zum Abschluss kommen. Verzeiht mir meine Ungeduld, aber ich habe bereits so lange auf diesen Moment gewartet.«
»Ich verstehe das sehr gut«, lächelte sie und nahm ihre Tasche zur Hand. Vorsichtig legte sie diese auf den Tisch.
Gan-Jin winkte erneut der Person im Schatten zu und diese trug eine massive, mittelgroße Kiste herbei. Er stellte sie neben Gan-Jins Kelch auf den Tisch.
»Der versprochene Lohn«, sagte er und öffnete die Kiste.
Torai verschlug es den Atem. Sie versuchte, ihre Erregung angesichts der randvoll mit Goldstücken gefüllten Kiste zu verbergen, aber sie konnte sich ein leises Zischen durch die Zähne nicht verkneifen.
»Eintausend Goldstücke«, lächelte Gan-Jin, aber es wirkte zu verkrampft, um ehrlich zu sein.
Torai öffnete die Tasche und legte den sorgsam in ein Tuch eingeschlagenen Stein in die Mitte des Tisches. Sie schlug es auf und legte ihn frei. Der weiß gesprenkelte, rote Stein ließ Gan-Jins Augen freudig aufleuchten. Er schob die Kiste mit einem festen Stoß zu Torai hinüber, die sie mit den Händen stoppte. Sie war sehr schwer, und einen Moment war Torai von der Kraft ihres Gegenübers beeindruckt, dann grub sie ihre Hände in die klimpernden Münzen.
Gan-Jin nahm den Stein in die Hände und drückte ihn beinahe liebevoll an seine Stirn.
»Te´As Mok´tr Ankhas, meine Liebe«, sagte er leise.
Torai stutzte, hielt inne und sah Gan-Jin fragend an. Er erwiderte ihren Blick. Er wirkte zufrieden. Glücklich. Aber auch ... traurig?
Sie hörte die Person hinter sich zu spät, und ein harter Schlag auf ihren Schädel schickte sie in die Dunkelheit.


Kapitel 2




Die Sonne versank hinter den Bergen nahe Lendyr, einem gemütlichen Dorf unweit der Grenze nach Uhtan, der großen Sumpfregion. Das letzte Licht des Tages zauberte schattenhafte Abbilder der Bäume als Muster auf die Felder und wild gewachsenen Wiesen, formten unwirkliche Bilder für die Augen der spielenden Kinder, in deren Fantasie sie starke Kämpfer, wissbegierige Entdecker und mächtige Zauberer waren. In dem einen oder anderen mochte wahrhaftig die Kraft der Magie schlummern, doch waren sie noch zu jung um sich der erleuchtenden Prüfung hinzugeben. Diese wurde nur auf Wunsch eingeleitet, und die wenigen, die wirklich den Funken der Magie in der sich trugen, kamen stark und selbstbewusst aus dieser Prüfung heraus. Die anderen schämten sich meist für ihre forsches Vorgehen und dafür, dass sie die wertvolle Zeit der auserwählten Akademie wie auch die der eigenen Familien verschwendet hatten. In Westham wurden die Künste Andaris gelehrt, eine starke Magie, dich sich auf das Heilen von Wunden verstand. Am Rande der Dilvest Landen lag die Stadt Veshen, dort war die Akademie der Künste Onags beheimatet. Onag lehrte die Magie des Kampfes und der Zerstörung, und die Aufnahmerituale waren noch schwerer als bei den Andari. Neben der geistigen Stärke war hier auch die körperliche Verfassung entscheidend, da viele der Zauber an der eigenen Kraft zehrten.
»Wir müssen langsam los«, sagte Nada, der mit seinem selbst gezimmerten Holzschwert auf die untergehende Sonne zeigte. »Mutter mag es nicht, wenn wir in der Dunkelheit noch draußen sind.«
»Hast wohl Angst das der Fresser dich holt!«, lachte Ingir und zeigte Nada seine zu Krallen geformten Hände.
»Ich tippe eher darauf dass er Angst vor Mami hat, die ihn dann wieder unwürdige Hausarbeiten erledigen lässt«, warf Frond ein.
»Ha ha, wer musste denn ganz allein den Schweinetrog säubern, weil er den Kuchen bei Granja geklaut hat«, lachte Nada.
»Ich hab den nicht geklaut, nur mal probiert. Stand ja auch draußen.«
»Zum abkühlen, Frond, nicht, um deinen Magen zu füllen.«
»Ach, lass mich doch in Ruhe.«
»Uh, buhu«, stimmte Ingir ein.
Frond gab ihm lachend einen Schubs und die kleine Gruppe machte sich auf den Weg zurück ins Dorf. Sie teilten die Luft mit ihren Schwertern, traten kleine Steine beiseite und stießen sich spielerisch in die Rippen. Die besten Freunde Lendyrs kamen heim, ein weiteres Abenteuer war überstanden.
Die Häuser kamen schon in Sicht, als Frond Ingir einen neuerlichen Klaps gab. Er deutete mit dem Holzschwert auf eine dunkel gekleidete Gestalt, die leise pfeifend vor ihnen die Straße entlang ging.
»Valen«, flüsterte Frond verschwörerisch.
»Und? Valen ist ein netter Kerl«, erwiderte Ingir.
»Weiß ich doch, der ist echt der Beste hier im Ort, abgesehen von meinem Vater.«
»Und meinem«, warf Nada ein.
»Meiner ist ohnehin der Beste«, meinte Ingir so ernst wie möglich.
»Kann ja sein, aber trotzdem steht deine Mama auf Valen«, grinste Nada.
»Deine doch auch«, lachte Frond.
»Verstehe ich sowieso nicht«, sagte Ingir und zuckte die Schultern. »Meine Schwester schwärmt auch von ihm. Manchmal nervt die total.«
»Keine Ahnung was die alle haben. He, Valen, warte mal.«
Der Mann blieb stehen und drehte sich zu den Jungen herum.
»Oh, hallo zusammen«, sagte er mit angenehm tiefer Stimme. »Was treibt euch hier herum?«
»Wir waren unterwegs, Abenteuer erleben«, meinte Ingir. Frond ließ seine Augen kreisen. Er sah zu Nada.
»Jetzt denkt er wir sind Babys«, stöhnte er.
»Warum sollte ich? Abenteuer gibt es überall«, grinste Valen und ging langsam weiter, als die Drei zu ihm aufgeschlossen hatten. »Man muss nur die Augen offen halten.«
»Hast du viele Abenteuer erlebt, bevor du hierher kamst?« Nada sah ihn neugierig an.
»Hier und da mal eines, aber nichts, was für euch interessant wäre.«
»Also Frauengeschichten«, grinste Ingir.
Valen lachte. »Das ist immer ein Abenteuer. Aber ihr seid noch ein wenig jung dafür, genießt lieber eure Zeit. Die Frauen kommen früh genug.«
»Ingirs Schwester steht auch auf dich«, lachte Frond und duckte sich noch rechtzeitig vor einem Schlag seines Freundes.
»Wer ist denn deine Schwester?«, wandte er sich an den errötenden Jungen.
»Larsa, sie arbeitet in Malteks Laden, sie packt das Fleisch immer so schön ein«, antwortete Nada für ihn.
»Ah, Larsa«, meinte Valen und lächelte. »Sie ist wirklich hübsch.«
»Was habt ihr nur alle mit der«, meinte Ingir und zuckte die Achseln. »Ich finde sie ganz schön nervig.«
»Irgendwann wirst du es verstehen«, meinte Valen und sah ihn an. »Nicht im Bezug auf deine Schwester, aber es kommt die Zeit, da wirst du einige der anderen Mädchen im Dorf mit neuen Augen sehen.«
Sie schritten einige Zeit schweigend dahin und passierten die ersten Häuser.
»Gehst du in die Taverne?«, wollte Nada wissen.
»Ja, ich muss mein Geld verdienen«, erwiderte Valen und grinste. »Ihr habt noch genug Zeit, auch in dieser Hinsicht.«
»Na, auch wir müssen arbeiten, frag mal Frond, der darf Schweinetröge putzen.« Nada lachte und wich einem Hieb aus.
»Der Kuchen stand draußen«, wiederholte sich Frond und schlug nach seinem Freund.
»Trotzdem«, lachte Ingir und sah zu Valen. Dieser beobachtet die drei Jungs und grinste.
»Ihr solltet es wirklich genießen. Die Zeit geht schneller vorbei als ihr euch umsehen könnt.«
»Wie ist die Arbeit in einer Taverne so? Mein Vater nimmt mich leider nicht mit, und Bandek lässt mich nicht alleine rein.« Frond sah ihn mit großen Augen an.
»Du verpasst nichts. Die Zeit, in der du Gefallen daran finden wirst, kommt früh genug.« Er legte dem Jungen den Arm auf die Schulter. »Es ist die meiste Zeit langweilig, es passiert nichts, was einen Jungen in deinem Alter gefallen könnte.«
»Dann ist ja gut«, erwiderte Frond und zuckte die Schultern.
Sie schlenderten die Hauptstraße entlang und grüßten einige der Einwohner, die sich auf den abendlichen Weg in die Taverne machten, und Carsil, der gerade seinen Laden abschloss. Er besaß einen Laden für Gemischtwaren aller Art in Lendyr, seine Preise waren gut und er verfügte über ein für örtliche Verhältnisse großes Angebot an Waren.
»Guten Abend, Valen. Gut, dass ich dich treffe«, lächelte Carsil und nickte dann den Kindern zu. »Jungs.«
Die drei Jungen stellten sich aufrecht hin und begrüßten den Händler respektvoll.
Valen reichte dem älteren Mann die Hand. »Carsil, ich freue mich auch immer, dich zu sehen. Was liegt dir auf dem Herzen?«
Der Händler schien nach den passenden Worten zu suchen. Seine Augen wanderten von Valen zu den Kindern, die mit ihren Holzschwertern kleine Linien in den Boden zogen. Sie wirkten gelangweilt, und Valen knuffte Nada sanft an die Schulter.
»Geht doch schon nach Hause, die Sonne ist schon fast untergegangen. Oder gab es noch etwas wichtiges, dass ihr mit mir besprechen wolltet?«
»Eigentlich nicht«, antwortet Ingir für seinen Freund. »Wir wollten nur nicht unhöflich sein.«
Valen lachte. »Das seid ihr doch nie, Jungs. Also haut ab, und grüßt schön zuhause.«
»Von mir auch die besten Grüße, ihr Racker«, rief Carsil den Jungen nach, als sie aufbrachen. Sein Blick kehrte zu Valen zurück. Valen sah ihn fragend an.
»Svante erzählte mir, du hast ihm in der letzten Woche dabei geholfen, seine Mühle auszubessern, und wie glücklich und zufrieden er mit deiner Hilfe war«, sagte Carsil.
»Das habe ich gern gemacht«, meinte Valen und erkannte bereits das Anliegen des Händlers. »Aber wie kann ich dir helfen?«
»Nun, mein holdes Weib hat mir nahegelegt, es würde dem Geschäft förderlich sein, die Äußerlichkeiten mal wieder auf Vordermann zu bringen. Und da sie sich ungern mit Kleinigkeiten aufhält, ist ihr in den Sinn gekommen, dass ihr eine neue Mauer entlang der Grundstücksgrenze sehr gefallen würde. Mein Sohn Carlin ist..., nun, sagen wir, er ist nicht der Stärkste. Ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann und sich darauf versteht, richtig anzupacken.«
Valen lachte. »Scheinbar hat Svante mit seinen Geschichten über meine Kraft übertrieben, aber ich will dir gerne zur Hand gehen. Wann soll ich denn bei dir reinschauen?«
»Anfang der nächsten Woche wäre es mir angenehm, je nachdem. Ich muss noch ein Fuhrwerk besorgen. Vor der Stadt sind einige wirklich schöne Felsvorkommen, an denen wir sicherlich eine Menge guter Stücke finden werden. Ich sage dir rechtzeitig Bescheid. Dafür werde ich dich selbstverständlich gut entlohnen.« Carsil lächelte.
»Du weißt, wo du mich findest. Nach Sonnenuntergang bin ich jeden Abend in Bandeks Taverne. Komm doch ruhig mal wieder vorbei.«
Carsil rieb sich nachdenklich über das Kinn. »Du hast recht, ich war schon länger nicht mehr dort. In letzter Zeit genieße ich trotz aller Diskussionen schöne ruhige Abende mit der Frau.«
»Solche Zeiten sind äußerst wertvoll«, nickte Valen ihm ernst zu. »Die solltest du auf jeden Fall beibehalten.« Er rieb sich die Hände. »Also dann, ich mache mich auf den Weg. Sag mir Bescheid, sobald du mich brauchst.«
»Vielen Dank, Valen«, sagte Carsil und wirkte erleichtert, als sei ihm eine schwere Last von den Schultern genommen worden.
Sie gaben sich die Hände und Valen machte sich auf den Weg zu seinem bevorzugten Arbeitsplatz.


*




Bandek war voller Stolz auf seine Taverne. Ihr Name hatte sich über die Grenzen Lendyrs hinaus herumgesprochen, denn Reisende konnten bei ihm ein Zimmer für die Nacht mieten oder gar für einige Tage bleiben. Er verfügte über acht separate Zimmer und einen Gemeinschaftsraum, so konnte er jeden Geldbeutel bedienen und musste keinen Gast abweisen. Nach einem Streit nutzte auch so mancher Ehemann diesen Service nur zu gern, um nicht im Stall schlafen zu müssen. Bandek beschäftigte drei Schankmägde und zwei zusätzliche Mädchen eigens dafür, die Zimmer in Ordnung zu halten. Bis auf eine Ausnahme stammten sie alle aus Lendyr. Seine Frau war für die Zubereitung der Speisen verantwortlich und hielt sich die meiste Zeit in der Küche der Taverne auf. Hinter dem Tresen standen entweder Bandek selbst oder sein einziger männlicher Angestellter.
Bandek war froh, das Valen bei ihm arbeitete. Er war eine nicht mehr zu ersetzende Kraft. Sein zuvorkommender Umgang mit den durchreisenden Gästen und vor allem sein Schlag bei den Frauen brachten dem Wirt gutes Gold in die Kasse. Trotzdem sie oft und gerne mit Valen kokettierten, waren die Männer weder auf ihre Frauen noch auf Valen ernsthaft böse. Er hatte eine Art an sich, die es einem fast unmöglich machte, ihn nicht zu mögen.
Seine Augen glitten durch den riesigen Schankraum. Er war trotz der frühen Abendstunde – die Sonne war gerade erst versunken – schon gut besucht. Viele der Gesichter kannte er beinahe schon sein ganzes Leben, war mit den meisten sogar aufgewachsen. Viele gönnten sich einen letzten Schluck – oder auch mal zwei – nach der schweren Feldarbeit. Im Moment hielten sich keine Besucher oder Durchreisende in Lendyr auf. Dieser Umstand trübte zwar ein wenig seine Einnahmen, dennoch waren bereits ausreichend Gäste anwesend, um auch den heutigen Abend zu einem ertragreichen Abend zu machen.
Die schwere Holztür schwang auf und ein Mann trat in die von Dutzenden Feuerschalen und Öllampen erhellte Taverne ein.
»Valen, guten Abend«, rief Bandek und nickte seinem Angestellten zu.
Valen winkte ihm zu. »Bandek, guten Abend. Ich wurde leider aufgehalten.«
»Und dennoch bist du pünktlich. Wie immer.«
»Wenn du das sagst«, lächelte Valen und trat hinter den Tresen. Sie reichten sich kurz die Hände, obwohl sie mittlerweile über das übliche Maß an gegenseitigem Respekt hinaus waren, dann nahm Valen seine Schürze unter dem Tresen hervor und legte sie mit geübten Fingern an.
»Ich glaube ja, es wird ein ruhiger Abend werden«, meinte Bandek und wischte mit seinem Lappen über die Theke.
»Das kann man nie wissen«, erwiderte Valen und zuckte mit den Schultern. »Aber sei dir gewiss, ich bin auf jede mögliche Situation eingestellt.«
»Hallo, Valen«, erklang die helle Stimme von Jansa, einer der Schankmägde. Valen dreht sich herum, um die Begrüßung zu erwidern, als die zwei anderen Frauen ebenfalls auf ihn aufmerksam wurden.
»Oh, Valen, sei gegrüßt«, rief Gerdis.
»Valen, guten Abend«, lachte Nersa.
»Meine Damen«, sagte er und neigte leicht den Kopf. »Einen wunderschönen guten Abend.«
Die Frauen kicherten hinter vorgehaltener Hand und gaben sich vergeblich Mühe, das rote Aufblühen ihrer Wangen zu verbergen.
»Wie machst du das nur?«, grinste Bandek und gab Valen einen Klaps auf die Schulter. »Kaum bist du da, werden mir die Mädels scharf.«
»Mein lieber Herr«, sagte Jansa, die sich mit vorgestreckten Armen auf dem Tresen abstützte. »Sieh ihn dir doch nur an, dann verstehst du, warum wir uns so freuen, wenn wir ihn sehen.« Sie zwinkerte Valen zu und brachte einem Gast seine Bestellung.
Valen, dem das ganze Gebaren der Damen augenscheinlich unangenehm war, entschuldigte sich mit einem Schulterzucken bei Bandek und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Schankraum.
»Ich bin mal kurz hinten bei Jeeli. Du kommst hier zurecht, oder?« Bandek bedachte Valen mit einem breiten Grinsen.
»Natürlich, mach dir mal keine Sorgen«, lachte Valen und sah Bandek kurz nach, als dieser nach hinten zu seiner Frau verschwand.
Er bemerkte wie Nersa, eine der überaus attraktiven Schankmägde, ihn mit Blicken musterte und drehte sich zu ihr herum.
»Na, meine Schöne, wie geht es dir heute?«, fragte er und lächelte sie an.
»Es geht mir gut«, erwiderte sie fröhlich und himmelte ihn ungeniert an. »Ich brauche zwei große Kelche für die Jungs in der Ecke«, fügte sie hinzu und deutete mit dem Kopf hinter sich.
»Die mache ich dir sofort fertig.« Valen holte die gewünschten Gefäße hervor und füllte sie mit Branntwein aus einem der unter der Theke gelagerten Fässer. Die ganze Zeit spürte er Nersas forschenden Blick auf sich ruhen. Er lächelte vor sich hin und genoss die Aufmerksamkeit. Es zu leugnen und zu behaupten, es sei ihm unangenehm, wäre schlichtweg gelogen.
»He, Valen«, erklang Gerdis Stimme und ließ ihn aufblicken. »Ich brauche auch zwei Kelche. Wenn du so lieb wärst?« Sie blinzelte ihm zu.
»Aber natürlich, meine Hübsche«, erwiderte er und schenkte der jungen Frau sein wärmstes Lächeln. »Nur einen Moment Geduld.«
»Ja, die können ruhig etwas warten. Lass dir nur Zeit«, erwiderte sie und lehnte sich an die Theke, um ihm ebenfalls bei der Arbeit zuzusehen.
Valen war sich seiner Wirkung auf Frauen durchaus bewusst und wusste diese auch zu nutzen. Seine muskulöse Erscheinung, seine schlanken Hüften, sein schwarzes, kurz geschnittenes Haar war ein Blickfang für die Damen. Am meisten lag es wohl an seinen tiefen, unergründlichen grünen Augen. Dieser Farbton war bei einem Mann selten, in Lendyr und Umgebung gab es niemanden mit ähnlichen Augen. Sein hoher Wuchs rundete die Erscheinung eines perfekten, geheimnisvollen und gleichzeitig überaus liebenswerten Mannes ab.
Hinzu kam diese einzigartige, rassenspezifische Besonderheit, die er trotz aller Bemühungen nicht kontrollieren konnte.
Er lächelte Gerdis zu und konnte förmlich sehen, wie sie unter seiner Aufmerksamkeit dahin schmolz. Seine Augen wanderten zu Nersa, der er die ersten beiden Kelche mit Branntwein reichte.
»Hier, Hübsche«, sagte er und zwinkerte ihr zu.
Sie lächelte mit einem Hauch zu roter Wangen und machte sich mit den Gefäßen auf den Weg zu ihren Kunden.
Valen machte sich daran, zwei weitere Kelche zu füllen.
»Deine beiden kommen sofort«, meinte er und zwinkerte Gerdis zu.
Sie seufzte mit hochgezogenen Mundwinkeln und stützte ihren Kopf in die Hände, wobei sie ihn nicht aus den Augen ließ.
Wieder öffnete sich die Tür, und weitere Gäste trafen ein. Jeden Abend trafen sich die Leute aus dem Dorf in Bandeks Taverne, um sich auszutauschen, wichtige Ereignisse des Tages zu besprechen oder um einfach eine gute Zeit zu haben. Hier wurden sie wertgeschätzt, sie waren gern gesehen und wurden zuvorkommend behandelt. Natürlich war jedem Gast bewußt, dass es hauptsächlich ihre zurückgelassenen Münzen waren, die sie so begehrenswert machten, aber da gab es diesen kleinen, feinen Unterschied, der es ihnen ermöglichte, darüber hinwegzusehen.
Dieser Unterschied war Valen.
Er war es, der Bandeks Taverne außergewöhnlich machte. Die Leute wussten nicht zu sagen, was genau es war, aber seit Valen in Lendyr lebte – mittlerweile fast fünf Jahre – war es mit Bandeks Taverne bergauf gegangen. Die Gäste waren glücklich und zufrieden, wurden zuvorkommend bedient, die Mägde waren bester Laune, Durchreisende konnten in anderen Städten und Dörfern nur Gutes berichten und brachten stetig Neugierige und andere Reisende herbei.
Bandek war nicht dafür bekannt, großzügig zu sein, geschweige denn den Gästen ein Getränk auszugeben, aber bereits zweimal hatte er aus freien Stück Valens Verdienst erhöht. Er war es ihm einfach wert und wollte ihn auf jeden Fall halten, auch wenn Valen nie angedeutet hatte, ihn verlassen und einer anderen Arbeit nachgehen zu wollen.
Valen winkte den neu eingetroffenen Gästen kurz zu, was diese mit einem Lächeln erwiderten. Er stellte die beiden neuen Kelche neben Gerdis Arme auf die Theke.
»Da sind sie schon«, meinte er und nickte ihr aufmunternd zu.
Gerdis seufzte, nahm die beiden Gefäße und brachte diese mit schwingenden Hüften zu den wartenden Gästen. Valen riss seinen Blick von ihrem verlängerten Rücken und wandte sich dem Gast zu, der sich soeben an die Theke gesetzt hatte.
»Meister Cenes, wie geht es dir heute?«, fragte er und schenkte dem Mann mittleren Alters ein Lächeln.
»Es geht mir gut, Valen«, erwiderte dieser verlegen. »Du sollst mich nicht immer Meister nennen.«
»Aber fertigst du nicht meisterhafte Kleidungsstücke?« Er strich mit der Hand über sein maßgefertigtes Hemd. »Sei nicht immer so bescheiden, alle hier im Dorf wissen deine Arbeit zu würdigen.«
»Du verstehst es, das Selbstwertgefühl eines alten Mannes aufzubauen, mein Junge«, lachte Cenes.
»Nicht nur das von alten Männern«, zwinkerte Valen ihm zu. Der Schneider brach in lautes Gelächter aus.
»Ach, noch einmal in deinem Alter sein, das waren wirklich schöne Zeiten.«
»So alt bist du nun auch noch nicht.«
»Ich werde Vierundfünfzig, mein Junge.«
«Na sage ich doch, so alt ist das nicht.«
»Glaube ihm ruhig«, erklang Nersas Stimme hinter Cenes und stellte sich neben ihn an die Theke. »Er lügt nie.« Sie lächelte.
»Nun gut, dann stimme ich euch beiden zu und sage, dass ich noch nicht so alt bin. Darauf brauche ich aber jetzt ein schönes Glas Wein.«
»Ich werde dir sogar ein sauberes geben«, witzelte Valen und machte sich daran, das Gewünschte einzuschenken.
»Machst du mir danach noch einmal zwei Kelche?«, lächelte Nersa ihn an.
»Aber natürlich, Schöne.«
»Du bist ein Schatz.«
»Du bringst mich erst zum funkeln.«
»Lass das, ich werde noch ganz rot«, erwiderte sie und wedelte leicht mit den Händen vor ihrem Gesicht.
»Was aus meiner Sicht eine wunderschöne Farbe ist. Oder, Cenes?«
Der Schneider nippte an seinem Wein und stimmte durch ein Kopfnicken zu.
»He, was turtelt ihr hier herum?«, wollte Jansa wissen, die gerade an die Theke zurückgekehrt war. Sie ließ ihren Blick zwischen Nersa, Valen und Cenes wandern, um dann auf Valen zu verweilen. Sie bedachte ihn mit einem erwartungsvollen Blick.
»Wir turteln nicht, sondern gehen gewissenhaft unserer Arbeit nach«, meinte Valen, wobei Cenes sich fast an seinem Wein verschluckte, als er verhalten kicherte.
Sie wechselte einen Blick mit Nersa, die nur mit den Schultern zuckte und die zwischenzeitlich gefüllten Kelche entgegennahm. Sie zwinkerte Valen noch einmal zu und machte sich auf den Weg zu den Gästen. Jansa schürzte gespielt beleidigt die Lippen, seufzte und lehnte sich mit dem Rücken an die Theke, um den Schankraum im Auge zu behalten. Valen zwinkerte Cenes freundschaftlich zu und widmete sich wieder seiner Arbeit.


*




Je später es wurde, desto besser wurde die Stimmung. Wie jeden Abend, an dem Valen seinen Dienst hinter der Theke verrichtete. Bandek war wieder zurück aus der Küche und half dabei, die Bestellungen der drei Frauen zu erfüllen, damit deren trinkfreudigen Gäste nicht zu lange auf dem Trockenen saßen.
Bandek bewunderte Valen für seine Ausdauer. Ihm stand bereits nach kurzer Zeit der Schweiß auf der Stirn, während sein Mitarbeiter schon den ganzen Abend die Wünsche der Gäste erfüllte und nicht das kleinste Anzeichen körperlicher Erschöpfung aufwies. Sein Lächeln war immer noch frisch und strahlend, er bewegte sich geschwind und behände und hatte immer einen passenden Kommentar parat, wenn eine der Frauen ihm schöne Augen machte oder einer der Männer lautstark durch den Schankraum nach der Bedienung rief.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, wandte sich Valen an Bandek und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Ich werde mal für einige Minuten nach draußen gehen«, sagte er. »Die Leute sind alle versorgt. Ich bin gleich zurück.«
«Ja, gönne dir ruhig eine Pause«, meinte Bandek. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er sie ihm nicht selbst vorgeschlagen hatte. Valen nickte, löste den Knoten seiner Schürze und legte sie an den vorgesehenen Platz unter der Theke. Er zwinkerte einer der Schankmägde zu und ging durch eine kleine Tür in der hinteren Küche nach draußen. Von Jeeli war nichts zu sehen.
Valen atmete tief durch und richtete seinen Blick in den Sternenhimmel. Nach der mittlerweile doch recht stickigen Luft in der Taverne genoss er die kühle Luft auf seiner Haut und den sanften Hauch in seinem Gesicht. Er lauschte den Geräuschen der Nacht, dem sanften Rascheln der Blätter im Wind. In der Ferne schrie eine Katze, vermutlich in eine heftige Auseinandersetzung mit einem Artgenossen verwickelt.
Vom Osten her näherte sich schnelles Hufgetrappel. Ein Reisender zu dieser späten Stunde?
Langsam umrundete Valen das Gebäude, um die Hauptstraße des Dorfes einzusehen und einen Blick auf den späten Besucher zu werfen. Er kniff die Augen zusammen und sofort stellte sich die gesamte Umgebung scharf, wurde in ein silbriges Licht getaucht, jeder Umriss deutlich hervorgehoben. Ein Mann auf einem Pferd kam die Straße herauf, er wirkte müde und abgehetzt. In der Dunkelheit in einem von düsteren Geschichten und Legenden umrankten Landstrich zu reisen, war mitunter eine nervenzerrende Angelegenheit.
Valen trat aus dem Schatten vor Bandeks Taverne, um sich dem Reisenden zu zeigen.
Das Tier erschrak bei seinem unerwarteten Anblick und stellte sich wiehernd auf. Der Mann hatte Mühe, es zu beruhigen.
»Ho, alles gut, ho!, rief er und rieb den Hals des Pferdes. Er blickte erschöpft, aber auch verlegen zu Valen hinunter.
»Guten Abend, Ihr habt mich erschreckt. Einen Moment glaubte ich, vor mir steht ein Ungetüm mit leuchtenden Augen.« Er kicherte nervös.
»Bestimmt nur eine Reflektion des Mondes«, erwiderte Valen und lächelte. »Wie kann ich Euch behilflich sein, guter Herr?«
»Ihr seid sehr freundlich«, meinte der Fremde, der in einen weit geschnittenen Reisemantel gehüllt war. »Ich brauche ein Quartier für die Nacht, und diese Taverne wurde mir unterwegs empfohlen.«
»Dann nur herein«, meinte Valen und lachte. »Wir haben noch Zimmer frei.«
»Oh, seid Ihr Bandek, der Besitzer?« Das Gesicht des Mannes erhellte sich.
»Nein«, lachte Valen und wedelte abwehrend mit den Händen. »Mein Name ist Valen, ich arbeite für Bandek. Im Moment gönne ich mir eine kleine Pause.«
Lächelnd stieg der Mann vom Pferd und klopfte sich den Staub vom Mantel. »Ich bin Gebben«, sagte er und reichte Valen die Hand. Dieser ergriff sie, dann nahm er die Zügel des Pferdes an sich. »Geht schon hinein«, sagte. Ich werde mich um das Pferd kümmern. Ich bringe es im Stall unter und trage Eure Sachen dann herein.«
»Vielen Dank. Auf die Förmlichkeiten können wir aber verzichten.« Gebben nickte ihm lächelnd zu und betrat Bandeks Taverne. Ein kurzer Lärmpegel schwang nach draußen, Licht und Schatten tanzten auf den Holzdielen vor der Tür. Genauso schnell wie der Lärm erklungen war, verstummte er auch wieder. Durch massives Holz gedämpft drangen kaum noch Geräusche nach draußen. Valen hatte vor einem Jahr dabei geholfen, die Außenwände der Taverne zu verstärken, um diesen Effekt zu erzielen.
Er führte das Pferd in den angrenzenden Stall, nahm das Gepäck und den Sattel samt Decke vom Rücken des Tieres und führte es in eine der vier mit Stroh ausgelegten Boxen. Er rieb das Tier mit einer bereit liegenden Decke ab und fuhr anschließend einige Male mit einem Striegel über das seidige Fell.
»Na, wir haben ganz schön geschwitzt, was?«, sagte Valen und lächelte das Pferd an. Wie zu erwarten kam keine Reaktion des Tieres, und nach einigen weiteren Zügen verließ er die Box, schulterte das aus einer einfachen Tasche und einer Decke bestehende Gepäck des späten Gastes und machte sich auf, um in den Schankraum zurückzukehren. Bandek vermisste ihn sicher schon.
Er betrat das Gebäude auf den gleichen Weg, wie er es verlassen hatte und kehrte an seinen Platz hinter der Theke zurück, stellte Gebbens Gepäck an der Seite ab und band sich seine Schürze um. Bandek nickte ihm kurz zur Begrüßung zu und deutete kaum merklich mit dem Kopf auf Gebben, der an der Theke stand und in ein Gespräch mit dem Besitzer der Taverne vertieft war. Valen nickte dem Gast kurz zu und deutete damit an, dass sein Pferd versorgt und das Gepäck sicher verstaut war.
»Da bist du ja wieder«, rief Gerdis und lächelte Valen freudig an.
»Aber natürlich, Hübsche. Ich würde dich doch nie verlassen, ohne mich zu verabschieden.«
»Du weißt einfach, was sich gehört«, kicherte sie. »Ich brauche eine Karaffe Wein. Carsil und seine Frau sind gerade hereingekommen.«
Valen lächelte und ließ seine Augen suchend durch den Schankraum gleiten. Er entdeckte den Händler schnell, doch dieser war in ein Gespräch mit seiner attraktiven Frau vertieft und nahm ihn nicht wahr.
»Wein, kommt sofort«, sagte er und schenkte Gerdis sein strahlendes Lächeln. Sie schmolz dahin und lehnte sich an die Theke.
»Valen, du hast unseren neuen Gast bereits kennen gelernt«, sagte Bandek neben ihm, und Valen drehte sich zu ihm herum.
»Ja, ich traf ihn draußen. Was kann ich für dich tun?«
»Ich weiß, es ist nicht deine Aufgabe, aber könntest du sein Gepäck nach oben bringen?« Bandek sah Valen entschuldigend an.
»Das muss er doch nicht, ich kann es selbst mit hinaufnehmen«, warf Gebben ein, der noch immer an der Theke stand.
»Aber natürlich mache ich das«, sagte Valen und lächelte Gebben zu. »Ein Gast trägt sein Gepäck nur heraus, nicht hinein.«
»Auch ein interessanter Ansatz«, lachte Gebben.
»Welches Zimmer?«, wollte Valen von Bandek wissen.
»Zimmer Nummer Drei«, antwortete er. »Danke, hast was gut«, fügte er leise hinzu.
Valen nickte, nahm das Gepäck an sich und kam hinter der Theke hervor.
»Was ist mit dem Wein?«, erklang Gerdis entsetzte Stimme neben ihm.
»Tut mir leid, Liebes, den wird dir Bandek geben müssen.«
Ein Blick zurück auf ihr schmollendes Gesicht ließ ihn schmunzeln, als er die hölzerne, ebenfalls von ihm verstärkte Treppe an Rande des Schankraumes hinaufging und das dritte Zimmer an der rechten Seite ansteuerte.
Die Tür war nicht verschlossen. Er trat ein und stellte das Gepäck direkt neben der Tür ab, darauf bedacht, dass Gebben nicht darüber stolpern würde. Er durchschritt zielstrebig den finsteren Raum, steuerte auf den Tisch an der gegenüberliegenden Seite unter dem Fester zu und entzündete die darauf befindliche Öllampe. Dann zog er die Vorhänge auf und öffnete ein Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Er schlug die Decke auf dem Bett zurück. Neben dem kleinen Beistelltisch, einem Schrank für Kleidung und dem Tisch samt zwei Stühlen rundete das Bett das vorhandene Mobiliar ab. Unter dem Bett standen zwei Nachttöpfe, je nachdem, welches Bedürfnis man in der Nacht verspürte. Es war nicht luxuriös, aber für einige Nächte durchaus angenehm. Er schaute sich noch einmal um, nickte zufrieden und verließ das Zimmer.
An der Theke waren Gebben, Bandek, Gerdis und der alte Nevgen, dessen Hof etwas außerhalb lag, in ein angeregtes Gespräch vertieft. Als er sich zu ihnen gesellte, funkelte Gerdis ihn aufgeregt an.
»Valen, wie ist deine Meinung?«
»Zu welchem Thema?« Er wechselte einen schnellen Blick mit allen Anwesen und konnte sich das Hauptaugenmerk ihrer Unterhaltung bereits denken.
»Wir sprechen über den Fresser. Gebben hier will ihn unterwegs gehört haben.« Bandek nickte seinem Gast zu.
»Ich habe ihn gehört. Es war ein unglaublich hohes, schrilles Kreischen, dass mir trotz der Entfernung in den Ohren schmerzte. Darum war ich auch so nervös, als ich hier ankam.« Er sah zu Valen, der ihm verständnisvoll zulächelte.
»Nevgen, magst du uns nicht noch einmal die Legende des Fressers erzählen? Ich finde diese Geschichte so gruselig, sie bereitet mir immer Gänsehaut.« Gerdis sah den alten Mann erwartungsvoll an.
»Kümmere dich lieber um die Gäste«, meinte Bandek und sah sich im Schankraum um. Leider waren alle Gäste versorgt und niemand winkte ungeduldig nach einer Schankmagd. Gerdis grinste ihn an. Sie wusste um seine Abneigung derartiger Geschichten, und der Fresser bereitete ihm wirklich Unbehagen. Zu viel war in vergangenen Zeiten geschehen, um es nur als eine Legende abzutun.
»Ich erzähle sie liebend gern noch einmal«, meinte Nevgen und lächelte. »Sicher wollt Ihr sie auch hören«, sagte er zu Gebben.
»Aber natürlich«, erwiderte dieser und nippte an seinem Weinkelch.
»Nun«, begann der alte Mann, »es heißt, er ist ein Überbleibsel der vielen namenlosen Schrecken, die vor Jahrhunderten Uhtan heimsuchten und nach harten Kämpfen von pflichtbewussten Rittern vernichtet wurden. In mondlosen Nächten streift er durch die Lande und sucht nach Futter. Er jagt die freilebenden Tiere, aber er sucht auch die Ställe auf den Höfen in der Umgebung seines Unterschlupfes auf. Desöfteren wurden die zerfetzten Leiber bedauernswerter Pferde und Kühe gefunden.« Seien Stimme wurde leiser. »Doch es gibt auch Berichte darüber, dass er sich ahnungslose Reisende, die zu später Stunde unterwegs sind, geholt hat.«
Nevgen trank einen Schluck und sah Gebben ernst an. »Da habt Ihr wirklich Glück gehabt«, sagte er.
Gebben nickte und trank einen größeren Schluck Wein.
»Aber am Himmel steht der Mond«, warf Bandek ein. »Es heißt, dass der Fresser nur in mondlosen Nächten jagt. Also kann der Schrei, den du gehört hast, nicht vom Fresser stammen.« Er sah Gebben herausfordernd an.
»Ich weiß, was ich gehört habe«, meinte dieser und zuckte mit den Schultern.
»Erzähl bitte weiter«, bat Gerdis den alten Mann. Valen ließ zu, dass sie sich an seinen Arm schmiegte. Er stand immer noch vor der Theke, anstatt seinen Platz dahinter einzunehmen.
»Es heißt«, fuhr Nevgen verschwörerisch fort, »sein markerschütterndes Kreischen wird von den Bergen zurückgeworfen und gleichzeitig verstärkt. Es dringt in alle Winkel und Ecken der Region um Furcht unter seiner Beute zu säen, damit sie vor Angst erstarrt und er leichtes Spiel mit ihr hat, wenn er diese mit seinen schnellen Angriffen zerfetzt, um sich am warmen Fleisch zu laben.«
»Hörst du«, wandte sich Gerdis grinsend an Bandek, »er vernahm ein schmerzhaftes Kreischen. So wie es immer berichtet wird.«
»Ach, sei still«, erwiderte der Wirt ungehalten.
»Wie dem auch sei«, meinte Nevgen, »niemand weiß, wie er aussieht, denn es gibt niemanden, der eine Begegnung mit dem Fresser überlebt hat, um davon zu berichten. Stets werden nur die grauenvoll zerstückelten und zerfetzten Überreste seiner Opfer gefunden. Ob es sich um ein jahrhundertealtes Wesen oder um mehrere Generationen handelt, vermag niemand zu sagen. Es hat jedoch auch ein Gutes«, endete der alte Mann

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: André Höhle
Bildmaterialien: Elena Sandfort/André Höhle
Tag der Veröffentlichung: 18.09.2012
ISBN: 978-3-95500-149-0

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Andrea. Du weißt, warum.

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