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Aus den Chroniken von Lór






...das größte Ereignis der Weltgeschichte war zweifellos die Schlacht von Alynthias, als mutige Männer und Frauen, unter der Führung des größten Kriegers seiner Zeit, das Böse davon abhielten, die Welt zu verschlingen und in ewige Dunkelheit zu stürzen...


aus den Chroniken von Lór, S. 1844 ff




Kapitel 1




Der Sturm peitschte mit unbändiger Kraft über die Wullsteppe hinweg, zerrte an den flatternden Zelten der Männer und Frauen, die erfolglos versuchten, ein wenig erfrischenden Schlaf zu finden. Er schleuderte den schmirgelnden Sand in die Gesichter der beiden bedauernswerten Wachposten, die dazu auserkoren waren, die kleine Gruppe reisender Kaufleute vor bösen Überraschungen zu schützen. Die heftigen Böen brachen die kleinen und alten Äste der nahe stehenden Bäume. Scharf blies der Wind Sand und feines Gestein in die Nüstern der Pferde, die unruhig trampelten. Er demonstrierte die ihm von der Natur gegebene Macht mit aller Härte und ohne Gnade.
In Momenten wie diesen wünschte sich Damath, er hätte nie das schützende Heim in den sicheren Bergen rund um den Kyrill aufgegeben, um mit seinen Freunden nach Ehre und Ruhm zu suchen. Dann könnte er es sich in einem weichen Bett gemütlich machen, in einem von den Händen seines Vaters erbauten Hauses aus Stein und Holz, wäre geschützt vor den unbändigen Launen der Natur, und würde tagein, tagaus die Schweine und Schafe hüten, mit denen sein alter Herr die Familie so viele gute Jahre lang ernährt hatte.
Allerdings wäre er nie zu dem Mann herangereift, der er jetzt war, und hätte nie die Leute kennen gelernt, die er stolz seine Freunde nannte. Allein dieser Gedanke schürte in ihm Unbehagen. Darum war er froh, seine Heimat entgegen aller Widrigkeiten verlassen zu haben.
Er zog den Umhang fester um seine Schultern und schützte Mund und Nase so gut es ging vor dem Staub, den der Wind in sein Gesicht warf. Sein Blick war getrübt von wirbelndem Sand und der zittrigen Finsternis, sein Gehör eingeschränkt durch den brüllenden Wind.
Wie es wohl seiner Familie ergangen war, seit er sich entschlossen hatte, seinen Schwertarm gegen gutes Geld zu vermieten? So viele Wochen war er nun schon fort. War sein Vater gesund? Ging er immer noch hinaus in die Steppe, hütete die Tiere, ernährte Damaths Mutter und Schwester? Er konnte sich diesen kräftigen Mann im besten Alter bei nichts anderem vorstellen. Stets war er bester Gesundheit gewesen und immer voller Tatendrang.
Und seine Schwester Amarie? Hatte sich der scheue Garven aus dem Nachbardorf endlich getraut, um sie zu werben? Damath hoffte es, wusste er doch um Amaries Gefühle für ihn. Und wenn man den Gerüchten unter den jungen Männern glauben durfte, war er auch nicht abgeneigt. Amarie fehlte ihm doch mehr, als er sich zuerst hatte eingestehen wollen. Die kleine, immer nervende Schwester, die ihn ständig verfolgte und sich für alles interessierte, was er tat, wohin er ging und mit wem er sich traf, um es dann beim abendlichen, gemeinsamen Essen lang und breit am Tisch zu erzählen, ob er es nun wollte oder nicht.
Damath seufzte. Soviel Zeit. So weit entfernt. Ein anderes Leben. Er zog den Umhang fester um seine Schultern.
Er spähte durch die Dunkelheit, durch den rauschenden Wind, der dem flimmernden Sand in der Luft stetig neue Formen gab. In einiger Entfernung konnte er die Silhouette von Barc ausmachen, einem riesigen Kerl aus den nördlichen Landen, und wenn man ihm glauben konnte – nur ein Narr würde an den Worten des Hünen zweifeln – hatte er sogar in den Eisigen Landen gelebt, der lebensfeindlichsten Region des ganzen Königreichs. Sie bestand nur aus Eis und Schnee und beherbergte viele sonderbare, blutrünstige Ungeheuer. Barc war jemand, mit dem man lieber nicht aneinander geriet. Die Tatsache, mit ihm gemeinsam die Wache zu haben, beruhigte ihn jedoch ungemein. Jeglicher Ärger würde mit seiner Hilfe sehr schnell behoben sein. In den vergangenen Tagen, seit sie nun diese karge, felsige Steppe bereisten, war nichts Schwerwiegendes geschehen. Die Gruppe, zu deren Eskorte sie gehörten, harmonisierte sehr untereinander. Jeder half jedem, man trat füreinander ein und behielt stets einen höflichen Ton untereinander.
Ihr Weg hatte die Gruppe in den letzten Tagen immer weiter nach Westen geführt, denn das Ziel ihres Weges war Garan, eine Ansammlung von stetig größer werdenden Bauten, die sich fast schon als ein kleines Dorf bezeichnen konnte. Warum man sich in der Wullsteppe niederließ, war Damath unbegreiflich, war es doch nur ein staubiges, steiniges, von Winden geplagtes Stück Land, in dem es kaum eigenes Leben gab. Hierher zogen sich nur gescheiterte und zwielichtige Gesellen zurück, um dem Gesetz zu entgehen oder die Schmach eines nicht wieder gut zu machenden Fehlers zu vergessen. Allerdings war es auch eine gute Verbindung zwischen den Städten und kürzte umständliche Handelsrouten ab, wenn man sich traute, die Steppe zu durchqueren.
Damath seufzte erneut, schob seine kreisenden Gedanken beiseite und spähte wieder hinaus in den wirbelnden Staub. Er wünschte, ein Feuer würde ihn wärmen, aber trotz aller Bemühungen war es ihm nicht gelungen, eines zu entfachen. Der Wind war einfach zu stark. Etwas am südlichen Horizont erregte seine Aufmerksamkeit. Ein schwacher orangefarbener Lichtschimmer. Feuer? Das war nicht möglich. Wer in diesem tosenden Sturm ein Feuer entfachen konnte, musste ein Magier sein. Warum sie in ihrer Gruppe keinen Zauberkundigen hatten, war ihm immer noch ein Rätsel.
Damath schützte seine Augen so gut es ging und spähte angestrengt in die Richtung des lodernden Schimmers. Die flackernde Reflexion am Himmel glühte mal höher, mal tiefer. Es war Feuer. Unglaublich!
Er stand auf, reckte kurz die kältegeplagten Glieder und schaute fasziniert nach Süden. Es musste ein großes Feuer sein, wenn selbst der Sturm es nicht zu löschen vermochte. Der flammende Schein tanzte rot und orange am dunklen Nachthimmel, leckte wie gierige Zungen an den kreiselnd dahintreibenden Wolken.
Lange Zeit stand er da, beobachtete das immer größer werdende Schauspiel, bis er Barc an seiner Seite bemerkte. Schaudernd fuhr er herum.
»Hast du mich erschreckt«, entfuhr es ihm nervös.
Ohne auf ihn einzugehen deutete Barc mit seinem kurz geschorenen Kopf nach Süden. »Was ist denn da los?«
»Es brennt, soviel ist sicher, aber was, und vor allem warum, kann ich dir auch nicht sagen.«
Barc ließ ein verächtliches Schnaufen hören, dann drehte er sich herum und schritt auf die Zelte zu, in denen die glücklicheren Mitglieder der Gruppe schliefen.
Damath starrte weiter nach Süden. Das Feuer war näher gekommen, er konnte schon die ersten Flammenzungen über den Horizont aufragen sehen. Sie wurden immer größer, kamen näher.
Das kann doch nicht sein, dachte er und drehte sich zu der Stelle, wo Barc noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte. Dessen massiger Körper war in einem der Zelte verschwunden, undeutliche Gesprächsfetzen drangen durch den tosenden Wind nach außen.
Ein Geräusch verstärkte die aufkeimende Unruhe.
Pa-Damm. Pa-Damm.
Ein Poltern, sehr gleichmäßig. Eine Trommel? Nein, dafür war es zu dumpf.
Pa-Damm. Pa-Damm. Pa-Damm.
Schritte? Es waren Schritte. Ein Klang wie marschierende Soldaten. Aber wer sollte in der Nacht durch eine von Sturm geplagte Steinwüste marschieren und ein derartig großes Feuer mit sich führen?
Pa-Damm. Pa-Damm. Pa-Damm.
Pa-Damm. Pa-Damm. Pa-Damm.
Der Geruch des Feuers erreichte seine Nase, ein beißender, durch den Wind in Fetzen auf ihn zuströmender Gestank. Was brannte da?
Mittlerweile loderten die Flammen sehr hoch in den Himmel, erhellten die Nacht immer mehr. Furcht stieg in ihm auf. Der Wind war zu stark für ein mit normalen Mitteln entfachtes Feuer. Es konnte nur übernatürlich sein.
Aus den Zelten strömten die Leute herbei, binnen weniger Minuten waren alle auf den Beinen, die Männer spielten unruhig an ihren Waffengürteln. Schwertgriffe wurden fest umschlossen, nervös an den Sehnen einiger Bögen gezupft.
»Bei Narath! Steh uns bei!«, entfuhr es Damath und schlug entsetzt das Schutzzeichen gegen böse Geister. Er sah als erstes, was dort auf sie zukam. Im gleichen Moment wünschte er sich weit fort von diesem Ort. Die Höllenpforten hatten sich geöffnet, die Verdammten wandelten auf der Welt.
Eine Frau schrie hinter ihm auf. Ihre Stimme hallte gegen den tosenden Wind über die Steppe. Ihr Blick hing gebannt an dem näherkommenden Übel.
Seine Freunde versammelten sich um Damath, die Schwerter gezückt. Umar und Sandila führten die Gruppe an, sie waren die Söldner mit der meisten Kampferfahrung. Trotz des sich vor ihnen nahenden Schreckens blickten sie grimmig drein, fest entschlossen die reisenden Händler mit allem zu beschützen, dass ihnen zur Verfügung stand. Barc umklammerte mit beiden Händen seinen schweren Streithammer. Auch Damath zog seine Waffe. Das Schwert seines Vaters, das dieser ihm zum Abschied geschenkt hatte, auch wenn er seinen Sohn nicht gerne hatte ziehen lassen.
Unerbittlich und mit stechendem Gleichschritt marschierte eine fast kaum noch zu überschauende Horde brennender Gestalten auf sie zu. Die Flammen umspielten ihre Körper, der Gestank brennenden Fleisches schlug ihnen entgegen. Damaths Magen drückte sich nach oben und er musste mehrfach schlucken, um sein karges Abendessen bei sich zu behalten. Die brennenden Menschen liefen geordnet, aufgereiht, kein Laut des Schmerzes drang zu den entsetzten Männern herüber. Auf einen stummen Befehl hin teilten sich die vorderen Reihen und umringten das Lager, bis sie einen geschlossenen Kreis darum gebildet hatten. Dann standen sie still. Hell loderten die Flammen, beißender Qualm drang herüber, raubte ihnen das wenige an Luft, die ihnen der Wind zum atmen übrig ließ. In Damaths Kopf breitete sich der Wahnsinn aus, sein Verstand weigerte sich die Szenerie zu akzeptieren. Es waren Menschen, Männer, Frauen, allen Alters vertreten. Stück für Stück vergingen ihre Leiber im Feuer, leere Augenhöhlen blickten sie an. Ein Übelkeit erregender Gestank legte sich über das kleine Lager. Selbst der Wind vermochte ihn nicht zu verwehen.
Aus der lodernden Feuerwand aus Leibern bahnten sich zwei Gestalten einen Weg nach vorne. Wer ihnen im Weg stand, wurde einfach beiseite gestoßen. Das Feuer umspielte die Körper der Ankömmlinge, setzte sie aber nicht in Brand. Damath erkannte zuerst eine Frau, dann einen Mann. Beide blieben nur wenige Schritte von ihnen entfernt stehen.
Die Frau lächelte, ein grausames, böses Grinsen. Bis auf einen heftig im Wind flatternden Mantel und ans Knie reichende Lederstiefel war sie vollkommen nackt. An einem Gürtel befestigt hing ein Schwert an ihrer Seite, das im Wind tanzte. Langes, schwarzes Haar umwehte ihr graziles Gesicht wie ein Nest zuckender Schlangen.
Der Mann war komplett in schwarzes Leder gehüllt, über seinem Rücken kreuzten sich zwei Schwerter, an seinem Gürtel hinten zwei weitere. Sein langes, fast weißes Haar wirbelte um seinen Kopf. Sein kantiges Gesicht wirkte wie gemeißelt, keinerlei Regung war darin zu erkennen. Seine eisgrauen Augen blickten verächtlich und grausam auf die Gruppe, dann sah er zu der Frau hinüber. Damath sah, wie sich ihr Mund bewegte. Der weißhaarige Mann schüttelte den Kopf und machte eine wegwerfende Geste. Sein Herz hämmerte, sein Mund fühlte sich an, als habe er ihn mit Pergament vollgestopft. Die Hitze der unzähligen Feuer drückte auf seine Haut.
Die Frau drehte lächelnd ihre Handflächen nach oben. Kleine Feuerbälle tanzten auf ihnen, drehten sich um sich selbst, zeichneten jeden ihrer ausgestreckten Finger nach. Dann setzten sich die brennenden Leiber wieder in Bewegung. Sie fielen wie eine Naturgewalt über das kleine Lager her, und die Schreie der Sterbenden verhallten ungehört in der Einöde.

Kapitel 2



Er hörte das Gespann schon kommen, bevor es in Sicht kam. Laut schallte das Quietschen der Räder zu ihm herüber, und der Gesang des Fahrers tat sein übriges, um auch die letzten Tiere der Umgebung zu verscheuchen. Kardan lachte innerlich über den verschrobenen alten Mann, richtete sich auf, um seinen Rücken von der anstrengenden Arbeit der Aussaat zu entlasten, und schaute auf den sandigen Weg, der zu seiner bescheidenen Behausung führte.
Kühlender Wind streichelte sein Gesicht, die Wipfel der Bäume wogen sich sanft in der Brise. Der Himmel war blau, ein herrlich frisches, tiefes Blau eines wundervollen Tages. Die Sonne schien heiß herab, nur wenige Vögel ließen sich noch zu einem lieblichen Gesang erweichen. Der Großteil war unter den schrägen Tönen des alten Mannes fort geflogen.
Kardan drehte sich um und erblickte Girol, der mit einem lauten Brrr seine beiden Pferde zum stehen brachte. Endlich verstummte das grausige Quietschen des Karrens, und der alte Mann sah lachend auf ihn herab.
»Mein Freund«, rief er laut, »da bin ich. Nun bist du nicht mehr allein!« Schallend lachte er auf und klatschte sich freudig auf die Schenkel.
»Guter Girol«, erwiderte Kardan ebenfalls lachend, »bin ich froh dich zu sehen. Diese Einsamkeit hier draußen ist kaum zu ertragen.« Er grinste, reichte seinem Besuch die Hand, um ihm vom Bock zu helfen. Gerne nahm Girol das Angebot an und reckte seine müden Knochen, als er neben Kardan fest auf dem Boden stand.
»Ach mein Junge, ein halber Tag hin, ein halber Tag her, ich spüre wie meine Zeit verrinnt«, sinnierte Girol, dann lachte er über seine Aussage, als hätte er eine lustige Anekdote zum besten gegeben.
»Nun hör aber auf, ich bin mir sicher dich noch eine sehr lange Zeit ertragen zu müssen. Komm herein und trinke etwas, du musst nach der langen Reise kurz vor dem austrocknen sein.«
»Oh ja«, meinte Girol und strich sich demonstrativ über den Hals, »ich bin total ausgedörrt. Jetzt ein leckeres, kühles Getränk wäre eine feine Sache.«
Kardan zeigte einladend auf seine Hütte. Eine aus massiven Baumstämmen erbaute Unterkunft mit einem flachen Dach. Sieben Schritte lang, fünf breit und mehr als eine gute Mannslänge hoch. Aus einer Öffnung im Dach strömte leichter, heller Rauch, zwei ins Holz geschnittene Fenster zu jeder Seite der Tür standen offen. Umgeben von drei Bäumen mit sehr dichten und ausladenden Kronen fügte sich das Haus gut in das Bild der Natur. Im angebauten Unterstand drehte sein braunes Pferd Andur kurz den Kopf, um den Besuch zu erblicken, starrte dann mit augenscheinlich großem Interesse weiter auf die Holzwand vor sich.
Kardan öffnete die Tür, ging einen Schritt zur Seite und deutete auf die Öffnung.
»Nach dir, alter Mann.« Er grinste.
»Das könnte dir so gefallen, nachher erschlägt mich eine von dir erdachte Bosheit, die du von langer Hand vorbereitet hast. Nein, du gehst voran.« Er feixte schelmisch.
Kopfschüttelnd ging Kardan herein, Girol folgte ihm unmittelbar. Die Hütte war einfach, für das Leben eines einzelnen Mannes eingerichtet. In der linken Hälfte standen ein Bett, daneben ein Schrank und ein Stuhl, alles von eigener Hand aus dem Material der Natur gebaut. Einige Habseligkeiten waren auf drei versetzt angebrachten Regalen verstaut. Das Bett war gemacht, für einen allein lebenden Mann sogar recht ordentlich. Direkt gegenüber der Eingangstür stand eine große, verschlossene Truhe, in der sich selbst ein groß gewachsener Mann mühelos hätte verstecken können. In der rechten Hälfte gab es einen steinernen Kamin, in dem ein kleines, heimeliges Feuer brannte, daneben aufgereiht auf weiteren Regalen einige Utensilien um Nahrung zuzubereiten, daneben ein weiterer, wenn auch kleinerer Schrank als auf der linken Seite. Den Mittelpunkt bildete der große Tisch mit vier Stühlen, auf dem eine Karaffe mit Wasser stand, umringt von einigen fein geschliffenen, hölzernen Bechern.
»Oh ja, du bist ein reicher Mann«, witzelte Girol und nahm demonstrativ ächzend auf einem der Stühle Platz.
»Nun, für mein Leben reicht es. Ich weiß, du bist besseres gewohnt, aber sei versichert, so gut wie in wenigen Momenten hat dir ein Becher Wasser noch nie geschmeckt.« In der Königsstadt Lór tranken die vornehmen und reichen Leute aus Gläsern, einem der teuersten Luxusgüter, die es gab. Glas herzustellen und zu verarbeiten war er sehr aufwendiger Prozess, wenn man auf Magie verzichtete. Und für diese feinfühlige Arbeit konnten die Luxushändler ordentliche Preise verlangen.
Kardan schenkte zwei Becher ein, nahm ebenfalls Platz und prostete seinem Gast zu. Dieser nickte dankbar, nahm das Gefäß und trank mehr als die Hälfte in einem Zug aus. Er rülpste hinter vorgehaltener Hand und lehnte sich grinsend zurück.
»Oh ja, das hat sehr gut getan.«
Einen kurzen Moment herrschte behagliches Schweigen. Girol ließ seinen Blick schweifen, inspizierte den Raum unverhohlen. Kardan ließ ihn lächelnd gewähren.
Plötzlich schlug Girol mit der flachen Hand laut auf dem Tisch. Kardan zuckte zusammen.
»Das war eine schöne Fahrt hierher«, lachte er in Kardans erschrockenes Gesicht. »Wundervolles Wetter, keine Banditen. Einfach herrlich.«
»Ich denke, den Banditen ist es zu warm«, meinte Kardan und schenkte noch einmal nach.
»Ja, das wird es sein. Sind alle verweichlicht. Wenn ich an früher denke! Hinter jedem Baum hockte einer der Schurken, ob es heiß war oder kalt. Ist ja auch egal. Keine Banditen bedeuten mehr Lebensmittel für dich.«
»Das ist wahr. Dann lass mich doch einmal sehen, was du dabei habt.«
Girol folgte Kardan nach draußen. Der offene Karren war halb beladen und die Kisten unter einer Plane vor dem Wetter und möglichem herunterrutschen geschützt. Der Händler stieg auf einen Tritt am Ende der Ladefläche und zog die Plane zur Seite. Sieben unbeschriftete Holzkisten kamen zum Vorschein. Girol stieg ganz auf die Fläche und schob nacheinander die Kisten zum Rand. Kardan griff nach der ersten.
»Vorsicht, die sind ziemlich schwer«, warnte Girol ihn. Kardan lächelte und hob eine Kiste herunter. Seine Muskeln spannten sich sichtbar.
»Wie hast du die denn da hinauf bekommen?«, witzelte Kardan. »Sind da Steine drin?«
»Natürlich, du lutschst doch gerne am Stein, oder? Und ich habe hinter meinem Laden einen Flaschenzug, der ist besser als Angestellte. Kostet auf Dauer auch weniger.« Girol sah ihm entspannt dabei zu, wie Kardan nach und nach die Kisten vom Wagen hievte und nebeneinander vor seinem Haus aufreihte.
Der alte Mann tätschelte seinen rundlichen, von einem guten Leben geformten Bauch und genoss die warme Sonne durch seine kurz geschnittenen, grauen Haare auf der Kopfhaut. Er stieg umständlich vom Wagen, verzichtete auf Kardans Hilfe und grinste ihn herausfordernd an.
»Auch mit meinen mehr als Sechzig Jahren verstehe ich es immer noch, mich gut zu bewegen.«
»Das habe ich nie bezweifelt. Lass mich mal sehen was wir hier so haben.«
Schweigend inspizierten sie gemeinsam die Lieferung. Wobei es Kardan war, der schaute und Girol lediglich neben ihm wachte. Kartoffeln, Mehl, Zucker, Salz und einige andere wichtige Grundmittel kamen zum Vorschein. Kardan nickte zufrieden und machte sich daran, die Kisten ins Haus zu schaffen.
Als er fertig war, schwitzte Kardan mehr als er gedacht hatte. Girol grinste.
»Dir würde ein Flaschenzug auch gut tun«, lachte er und folgte dem etwas unverständliches murmelnden Mann wieder ins Haus. Sie setzten sich und tranken noch einen Becher kühlendes Wasser.
»Gibt es Neuigkeiten aus Lór? Irgendetwas, dass ich als Einsiedler wissen müsste?«, fragte Kardan schließlich.
Girol strich sich das stoppelige Kinn und dachte nach.
»Nichts, was für dich von Bedeutung wäre. Einige Hochzeiten stehen an, es gibt Gerüchte über eine baldige Erhöhung der Steuern, aber das halte ich für Unsinn. Unser König ist ein guter Mann. Ich halte es für die Aussagen einiger gieriger Geschäftetreiber, die mal wieder schnell viel Ware loswerden wollen, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.«
»Andererseits entscheidet der König so etwas nicht alleine, er hat einen großen Stab an Beratern, und die wollen ja auch ihr Stück vom Kuchen haben«, sagte Kardan.
»Ach nein, dem König und seinen Beratern geht es gut. Die Burg wurde erweitert. Ein neuer, prunkvoller Turm. Sehr schön, sehr hoch. Verziert mit goldenen Steinen rund um die Fensterscharten. Sehr schön anzusehen.« Girol trank einen weiteren Schluck. »Hmm, was gibt es sonst noch? Ein Bandit wurde hingerichtet. Und es heißt, dass einige Drakken den Kyrill verlassen hätten, um sich neue Jagdgründe zu erschließen.«
Kardan lachte. »Das halte ich aber wirklich für ein Gerücht. Einige Drakken. Wenn, dann jagen sie alleine, und sie werden ganz sicher nicht bewohnte Gebiete aufsuchen, die Drakkenjäger würden sich freuen. Sie hatten schon so lange keinen mehr vor der Nase.« Er schüttelte den Kopf. »Einige Drakken. Lustig.«
»Du hast nach Neuigkeiten gefragt, ich bediene nur deine Wünsche«, grinste Girol. »Und wenn es nur Gerüchte sind, ist das nicht meine Schuld.«
»Ich danke dir für deine Bereitschaft dein Wissen mit mir zu teilen. Wenn das die wichtigsten Geschichten sind, die Lór zurzeit beschäftigen, dann geht es der Stadt richtig gut. Der König ist gut zu seinem Volk. Hoffen wir mal, dass er noch lange an der Macht bleibt.«
Darauf prosteten sie sich erneut zu und tranken einen weiteren tiefen Zug.
»Ich denke schon, dem König geht es gut, seiner Frau geht es gut, den Kindern geht es gut. Unter dem derzeitigen Zepter wird es dem Land noch eine lange Zeit gut gehen, da bin ich sicher.«
Sie verbrachten gut eine Stunde mit Unterhaltung, erinnerten sich an vergangene Ereignisse, lachten, tranken und genossen die viel zu schnell verfliegende Zeit. Als die zweite Karaffe geleert war, stand Girol auf und reckte sich.
»Ich werde mich dann mal wieder auf dem Weg machen«, meinte er und ging Richtung Tür. »Vorher werde ich noch mal kurz hinter dein Haus verschwinden.«
Kardan salutierte grinsend und ging hinüber zu seinem Schrank neben dem Bett. Er holte einen klimpernden Sack heraus und zählte einige Goldmünzen ab. Er stellte den Beutel wieder hinein, dann klaubte er noch schnell eine weitere Münze heraus und folgte Girol nach draußen.
Dieser kam gerade hinter Kardans Haus hervor und kratzte sich den üppigen Bauch.
»Das hat gut getan«, grinste er.
Kardan griff nach seiner Hand und legte ihm die Münzen hinein.
»Das müsste für alles reichen«, sagte er.
»Das denke ich auch«, erwiderte Girol ohne sich die Münzen anzusehen. Er steckte sie einfach zu den anderen in den Beutel, der an seinem Gürtel hing.
Er bestieg seinen Bock und ließ seine Pferde antraben.
»Komm gut heim«, rief Kardan ihm nach. Girol winkte noch einmal und verschwand unter dem begleitenden Quietschen der Achsen aus seinem Sichtfeld.
Kardan schüttelte lachend den Kopf, schaute hinauf zur weiter gewanderten Sonne und fasste den Entschluss, noch ein wenig Zeit auf dem Feld zu verbringen.

Kapitel 3



Kardan erwachte in der Dunkelheit. Der Tag hatte noch nicht begonnen, keine Sonne schien durch die geöffneten Fenster herein. Ein schwacher Schimmer des glimmenden Holzes in der Feuerstelle war das einzige Licht. Mit einem Grunzen richtete er sich auf, reckte kurz seine Arme in die Höhe und stand auf. Es hatte sich ein wenig abgekühlt, doch empfand er es nicht als unangenehm. Er griff nach seiner Hose, schlüpfte hinein und durchquerte seine Hütte, um einige Scheite nachzulegen. Gierig nahm das fast verendete Feuer die neue Nahrung an, das Holz knackte als es sich erhitzte und leicht zu brennen begann. Der Duft trockenen Holzes erfüllte die kleine Hütte.
Er trat hinaus und bedachte die Dunkelheit mit einem müden, aber zufriedenen Blick. Die Sonne würde bald aufgehen, ein leichtes Schimmern machte sich Horizont bemerkbar. In Kürze wichen die funkelnden Sterne dem hüllenden blauen Schleier. Kardan gähnte, ging hinter die Hütte und erledigte das drückende Bedürfnis seines Körpers.
Sein Frühstück bestand aus einer Schüssel gekochtem Hafer, einigen Streifen Trockenfleisch und mehreren Bechern Wasser. Nachdem er satt und zufrieden war, machte er sich an sein morgendliches Programm, um den Rest Müdigkeit aus seinem Körper zu vertreiben und um sich in Form zu halten. Klimmzüge, Liegestütze, er trainierte seine Arme, den Bauch, die Brust und den Rücken. Binnen kürzester Zeit glänzte sein muskulöser Körper vor Schweiß.
Die ersten Zacken der Sonne ließen sich sehen, und wenig später schien die leuchtende Kugel auf dem schmalen Spalt des Horizonts zu balancieren. Die ausgehende Wärme erreichte ihn und bescherte ihm ein wohliges Gefühl.
Kardan benutzte ein dünnes Seil um seine Haare im Nacken zusammen zu binden, dann zog er ein Hemd ohne Ärmel über und schaute nach seinem Pferd, versorgte es und führte einen kleinen einseitigen Plausch mit ihm.
Im strahlenden Sonnenschein begutachtete Kardan sein Feld, das er in den letzten Wochen mit Liebe gehegt und gepflegt hatte. Die Saat war sehr gut angegangen, nur wenige Triebe waren den Räubern der Lüfte und dem Ungeziefer zum Opfer gefallen. Ein wenig unbehaglich bemerkte er, dass es nicht viel zu tun gab. Er knickte einen Grashalm ab und schob ihn sich in den Mundwinkel. Langsam kaute er darauf herum und dachte nach. Girol würde in den nächsten Tagen wieder vorbeikommen und Lebensmittel bringen, da seine Vorräte langsam zuneige gingen. Er hatte zwar noch genug für einige Tage, aber warum untätig herumsitzen? Er beschloss, sein Pferd zu satteln, auszureiten und dabei ein wenig die nähere Umgebung zu erkunden: Vielleicht hatte er sogar etwas Jagdglück. Also verschwand er wieder ins Haus, öffnete den Schrank an seinem Bett und nahm seinen Bogen, den Köcher mit den Pfeilen und zwei Dolche heraus, entschied sich dann noch für ein zweischneidiges Kurzschwert. Er überprüfte den Zug der Sehne, zählte die Pfeile und prüfte die Oberfläche des Köchers. Er war aus Leder gefertigt und immer noch gut eingeölt. Kardan grinste. Gelernt war eben gelernt, wer seine Waffen nicht pflegte, verdiente sie auch nicht. Er überprüfte die Schärfe der Klingen, und auch den Zustand der Scheiden, dann hakte er sie zufrieden an seinen Gürtel. Er tauschte sein Ärmelloses Hemd gegen ein anderes, mit ledernen Verstärkungen an den Unterarmen. Da er den Bogen mit beiden Händen benutzen konnte, hatte er den Schutz gegen die vorschnellende Sehne an beiden Armen anbringen lassen. Er schulterte Bogen und Köcher, nahm sich eine große Tasche und ging zum angebauten Stall. Andur war mit geübten Handgriffen schnell reisebereit, und seine Nüstern bebten freudig angesichts der Tatsache, sich mal wieder die Hufe zu vertreten.
Bevor er los ritt, vergewisserte er sich noch einmal dass das Feuer nur noch glühte und er bei seiner Rückkehr nicht vor einer rauchenden Ruine stehen würde. Kardan schwang sich grazil auf sein Pferd und ritt los.
Sein Weg führte ihn nach Westen, ohne Eile. Er genoss das schöne Wetter, den leichten Wind in seinem Gesicht und die Geräusche der Natur. Er hatte sich Proviant für zwei Tage eingepackt, falls es länger dauern sollte. Er nutzte diesen Ausflug als Entspannung, als Ablenkung. Als Beschäftigung. Nur er, Andur und die Natur. Wie in alten Zeiten.
Am Himmel zeigte sich keine Wolke, warm strahlte die Sonne auf ihn nieder. Eine leichte Brise blies ihm ins Gesicht, und er genoss das kühlende Gefühl auf der Haut. Kardan war schon lange nicht mehr einfach so ausgeritten, zu sehr hatte er sich um seine Felder und den Ausbau seiner Hütte gekümmert. Er hatte gedacht, es nicht zu vermissen, doch jetzt bemerkte er, dass es ihm doch fehlte. Sein Blick schweifte umher. Saftige Wiesen, üppige Bäume, ein Landstrich in voller Pracht bot sich seinen Augen. Tief sog er die frische Luft ein, den Duft des Grases, spürte den Wind, erfreute sich an der Natur. Er spornte Andur zu einem leichten Galopp an, schwenkte kurze Zeit später parallel zum fast erreichten Wald und zog seine Bahn unter den schattenspendenden Ausläufern der riesigen Bäume weiter. Kardan lockerte die Zügel und ließ Andur die Freiheit, selbst die Geschwindigkeit zu bestimmen. Sie flogen nur so dahin. Kardan lachte, er fühlte sich voller Leben. Andur schnaubte zufrieden und preschte in halsbrecherischem Tempo voran.

*

Kardan näherte sich der staubigen Straße, als ein Geräusch ihn veranlasste, Andur zu stoppen. Ein Schrei? Eine Frau? Er lauschte, und hörte es wieder. Nicht weit entfernt. Kardan richtete sich im Sattel auf und schaute umher, konnte jedoch nichts ausmachen. Er trieb Andur an und folgte zügig dem leicht hügeligen Pfad. Hinter einer Biegung erschien ein kleiner Karren, umringt von Pferden. Und Männern. Vier insgesamt. Auf der Ladefläche konnte er einen fünften ausmachen. Dieser hielt eine sich windende Frau fest, ihre Arme in die Höhe gezogen, den Rücken an den Wagen gepresst. Sie schrie und trat, doch zwei der andere packten ihre Beine und hielten sie fest. Ein Dritter riss ihr das einfache Leinenkleid herunter. Kardan trat Andur in die Seiten und hielt darauf zu.
Die Frau wand ihren Körper verzweifelt, ihr Busen wog unter der Bewegung. Die Männer waren so mit ihr beschäftigt und überhörten durch ihr gehässiges Lachen den heraneilenden Mann. Sie nahmen Kardan erst wahr, als dieser schon vom Pferd sprang und den ersten mit einem harten Tritt in die Rippen zu Boden schickte.
»Verdammte Schweine!«, rief er und zog das kleine Schwert aus seinem Gürtel. Der Kerl auf dem Karren hielt die Frau noch immer an den Armen in die Höhe und blinzelte verwundert. Die anderen verständigten sich durch Blicke und zogen ebenfalls ihre Waffen. Sie hatten kurze Schwerter, trugen jedoch keine nennenswerten Rüstungen. Vagabunden, einfache Straßenräuber, so sahen sie aus.
»Das war ein Fehler, Fremder!«, brüllte einer und stürmte auf Kardan zu. Dieser wich durch eine schnelle Drehung aus und rammte sein Schwert bis zum Heft zwischen die Schultern des Angreifers. Die durchstoßende Klinge ließ sein Blut in einer Fontäne aus der Brust des Mannes strömen und schreiend zu Boden gehen.
Kardan wirbelte herum, schenkte dem sterbenden Mann keine weitere Beachtung. Er zog die beiden Dolche und parierte noch rechtzeitig einen Schlag, der ihn den Kopf von den Schultern getrennt hätte. Seine Muskeln spannten sich unter dem Aufprall der Klingen. Kardan trat seitlich aus und brach seinem Gegner das Bein oberhalb des Knies.
Die Frau reagierte auf den immer noch über ihr stehenden und an den Armen haltenden Mann, zog die Beine in die Höhe und verlagerte ihr Gewicht so weit nach unten, dass der Bandit auf der Ladefläche das Gleichgewicht verlor und nach vorne stolperte. Die Frau landete hart auf ihrem Gesäß, der Mann stürzte über sie hinweg und musste sie loslassen, um sich abzufangen. Er kam wütend wieder auf die Füße und wollte nach der Frau treten. Sofort war Kardan bei ihm und hieb einen der Dolche mit einer Aufwärtsbewegung unterhalb seines Ohres seitlich in den Schädel. Die Spitze brach aus dem Schädel hervor. Er war sofort tot.
Die zwei übrigen Männer wechselten einen gehetzten Blick und rannten los, fort von dem Wagen. Einem schleuderte Kardan einen Dolch nach und traf den Widerling im Bein, doch dieser schrie nur und setzte humpelnd seine Flucht fort. Schnell griff Kardan sich seinen Bogen von Andurs Rücken. In seinen Augen brannte Wut und Verachtung. Er legte einen Pfeil an, spannte und zielte. Der Pfeil traf den Mann in den Rücken, durchbohrte sein Herz und tötete ihn. Der letzte der feigen Bande rannte Haken schlagend weiter. Kardan schwang sich auf sein Pferd und verfolgte ihn. Hektisch warf der Flüchtende immer wieder den Kopf herum, um nach seinem Verfolger zu sehen. Im vollen Galopp legte Kardan auf ihn an und der Pfeil in seinem Rücken ließ den Mann strauchelnd zu Boden gehen.
»Gnade, habt Gnade, lasst mich leben!«, wimmerte er und hob abwehrend die Hände. Kardan hielt neben ihm, legte an und tötete ihn mit einem Pfeil durch den Hals.
»Du verdienst keine Gnade«, sagte er leise. Kardan wendete Andur und kehrte zu dem Pritschenwagen. Erst jetzt erkannte er ihn. Es war der Wagen des alten, kauzigen Händlers, dieser klapperige Zweiachser war unverwechselbar.
Mittlerweile hatte die junge Frau ihr Kleid wieder übergeworfen und notdürftig zusammengeknotet. Sie sah erschrocken und ängstlich zu Kardan auf, ihre Augen strahlten jedoch ein vorsichtiges Vertrauen aus. Langsam stieg er vom Pferd und blieb in gebührendem Abstand stehen.
»Habt keine Angst, die Gefahr ist vorbei«, sagte er sanft. »Es wird Euch nichts geschehen.«
Sie blickte verwirrt auf die Leichen und sah Kardan schließlich mit festem Blick an. Sie räusperte sich.
»Ich danke Euch, Herr«, sagte sie mit gefasster Stimme.
»Mein Name ist Kardan«, meinte dieser und deutete ein leichtes Nicken an. »Ich wohne nicht weit von hier, Ihr hattet Glück, dass ich unterwegs war.«
»Kardan, so?« Ein erleichtertes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Nun, das freut mich. Ich bin auf dem Weg zu Euch.«
Kardan schaute fragend drein. »Zu mir?« Er blickte auf die Ladefläche des Wagens, und unter der schützenden Plane erkannte er die Umrisse der ihm allzu vertrauten Kisten. »Ich kenne dieses Gespann. Es gehört....«
»Meinem Vater«, beendete sie den Satz. »Ich bin Girols Tochter. Mein Name ist Nayla.«

Kapitel 4



Kardan half ihr auf den Wagen, bestieg Andur und ritt langsam voran. Hinter ihm quietschten die Räder des Wagens, und trotz der Leichen, die sie zurückließen, umspielte ein leichtes Grinsen seine Lippen. Girol hatte nie erwähnt, das er eine Tochter hatte. Zumindest konnte Kardan sich nicht daran erinnern. Sie war eine hübsche Frau, obwohl sie kaum alt genug war, sie als solche zu bezeichnen. Ihre Schönheit konnte sie nur von ihrer Mutter geerbt haben, denn Girol war nun wirklich keine Augenweide. In seinem Alter noch eine so junge Tochter zu haben war bemerkenswert. Kardan ließ sich ein wenig zurückfallen und ritt neben dem Wagen her.
Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Kardan schätzte ihr Alter auf Achtzehn Jahre. Langes, blondes Haar umrahmte ihr weiches, sinnliches Gesicht. Hohe Wangenknochen und volle Lippen verliehen ihr eine anmutige Schönheit. Auffallend zu ihrem schlanken, fast grazilen Körper war der wohlgeformte Busen, dessen Ansätze an den zerrissenen Stellen des Kleides durchblitzten. Ihre hellblauen Augen waren wach und aufmerksam. Kardan spürte, dass er sich auf den ersten Blick zu ihr hingezogen fühlte. Sie war eine Frau, die es zu behüten und umsorgen galt.
Sie erreichten seine Hütte nach kurzer Fahrt. Kardan reichte ihr die Hand und half Nayla vom Wagen.
»Ich habe Nähzeug in der Hütte. Warte bitte kurz, ich hole es. Dann kannst du hineingehen und den Schaden beheben. Ich werde in der Zeit abladen.« Die höfischen Redensarten waren, wenn man sich kennen gelernt hatte und niemand darauf bestand, nicht weiter einzuhalten, und so war Kardan in den normalen Sprachgebrauch übergegangen.
Nayla lächelte. »Das ist sehr nett von dir, Danke.«
Kardan verschwand im Inneren und stöberte in seinem großen Schrank nach dem Nähgarn. Er fand das aufgerollte und mit zwei Nadeln durchstochene Knäuel sehr schnell. Bevor er wieder hinaustrat, legte er noch schnell etwas Feuerholz nach, um es in der Hütte etwas gemütlicher zu machen.
Nayla hatte sich ein wenig die Umgebung angeschaut und die Hütte aufmerksam gemustert. Kardan reichte ihr mit einem knappen das Garn und deutete ins Innere. Lächelnd trat Nayla ein und schloss die Tür hinter sich. Er machte sich daran, den Wagen zu entladen. Bis auf eine Kiste waren alle unversehrt geblieben, und die Bruchstelle hatte den Inhalt nicht beeinträchtigt. Er stapelte die Behälter auf seiner Veranda, überflog kurz die Inhalte und wischte sich mit seinem Hemd den Schweiß von der Stirn, als alles erledigt war. Er schälte sich aus dem durchnässten Stück Stoff und lehnte sich an die Hauswand.
Nachdenklich zog er das Schwert aus der Scheide an seinem Gürtel und betrachtete die Klinge, die nun mit getrocknetem Blut überzogen war. Langsam kratzte er mit einem Fingernägel daran und löste es Stück für Stück ab. Sein Blick glitt in die Ferne, ein ungutes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. So routiniert. So eiskalt. Nach all der Zeit....
Kardan ging hinter das Haus und reinigte seine Waffen. Das Schwert, die beiden Dolche, die Pfeile, die er wieder an sich genommen hatte. Ihn überkam eine Ahnung, dass Nayla ihn darauf ansprechen würde. Auch wenn sie es bisher vermieden hatte, darauf einzugehen. Ihr Schock saß vermutlich tiefer als sein eigener, wenn sie auch sehr gefasst wirkte.
Gedankenverloren reinigte er die Waffen und bemerkte nicht, wie die Zeit verging. Das Geräusch der sich öffnenden Tür riss ihn aus seiner monotonen Arbeit. Schritte kamen näher.
»Hier bist du«, hörte er ihre Stimme hinter sich und drehte sich herum. Kardan lächelte.
»Ja. Verzeih, ich war hier ... beschäftigt«. Er deutete auf dem Wassertrog.
»Ich möchte dir noch einmal danken. Du hast mich vor Schande bewahrt und vermutlich sogar mein Leben gerettet.« Nayla verbeugte sich leicht.
»Es war meine Pflicht«, erwiderte Kardan. Mehr wusste er nicht zu sagen. Er hatte in den vergangenen Jahren nie große Reden geschwungen, und es wollten ihm auch jetzt keine passenden Worte einfallen.
Nayla wandte den Blick von seinem nackten Oberkörper ab und schritt wieder vor das Haus und schaute sich um.
»Du lebst sehr schön hier.«
»Ja, ich mag die Ruhe und Abgeschiedenheit«, lachte Kardan unbeholfen und trat neben sie. Was war denn los mit ihm?
Der Duft ihrer Haare stieg in seine Nase. Sie standen einige kurze Momente wortlos nebeneinander, und für ihn war es ein Augenblick, der es wert war, in Erinnerung zu bleiben. Widerwillig löste er sich und ging ins Haus. Er kam mit einem Beutel Münzen wieder heraus.
»Hier, für die Waren«, sagte er und reichte ihr das Geld.
Zögernd nahm Nayla es entgegen und nickte.
»Soll ich dich zurück begleiten?«, fragte er und zeigte auf die Sonne. »Es wird noch lange hell sein, aber das schien den Schurken vorhin auch nichts auszumachen.«
»Nun, das ist ein sehr großzügiges Angebot«, erwiderte Nayla, »aber ich glaube nicht, dass so etwas zweimal hintereinander geschieht.« Sie lächelte. »Außerdem hast du sie alle getötet.«
»Da magst du Recht haben, aber ich würde es mir nicht verzeihen, falls dir doch etwas geschieht. Und der Rache deines Vaters möchte ich nicht ausgeliefert sein.«
»Du bist ein guter Mann«, sagte Nayla. »Ich werde meinem Vater die besten Grüße von dir ausrichten.«
»Ja, das ist mir nur Recht. Und ich wünsche ihm gute Besserung.«
Kardan half ihr auf den Wagen. Sie sah noch einmal zu ihm herunter. Ihre Augen blickten tief in seine, und mit einem Mal wurde die Luft zu schwer zum atmen.
»Du bist ein ausgezeichneter Kämpfer«, sagte sie leise. »Ich glaube zu verstehen, warum du hier draußen so abgeschieden lebst.«
Kardan erwiderte nichts, lächelte aber. Nayla trieb die Pferde an und fuhr über den staubigen Pfad in Richtung Lór zurück. Kardan sah ihr noch eine Weile nach, bis sie verschwunden und das Quietschen der Achsen verklungen war. Dann ging er ins Haus und setzte sich nachdenklich ans Feuer. Trotz der warmen Jahreszeit war ihm kalt.

Kapitel 5



Die Tage vergingen, und Kardan hatte sich mit schwerer, körperlicher Arbeit von seinen Gedanken abgelenkt. Er hatte an seinem Feld gearbeitet, Bäume gefällt und Holzscheite gehackt, die ihn über den Winter bringen würden. Er hatte Essen vorgekocht und eingelegt, viele Ausritte mit Andur ins Umland unternommen. Er mahnte sich jedes Mal, dass er nicht Ausschau nach Gefahren hielt, dass er nicht in Sorge war und verhindern wollte, dass Nayla zurück kam und erneut in Bedrängnis geriet.
Wenn er zur Ruhe kam, beherrschte sie seinen Kopf. Sie war sicher nach Hause zurückgekehrt, hatte er doch auf seinen Touren keine Anzeichen eines Kampfes oder den verlassenen Wagen gefunden. Er war sogar einmal so nahe an die Stadt heran geritten, dass er sie am Horizont schon hatte sehen können. Und doch waren da verborgene Sorgen, die an seinem Gemüt zerrten und innerliche Unruhe verbreiteten. Ein Gefühl, von dem er dachte, es sei ihm schon vor langer Zeit fremd geworden, schlich sich in seinen Verstand.
In sein Herz.
In Gedanken versunken stocherte er im erlöschenden Feuer, als ihn ein Geräusch auf dem Dach aufhorchen ließ. Ein Klopfen? Eine schnelle Schrittfolge? Ein leichtes Trippeln, der Klopfrhythmus von kleinen Krallen. Es konnte nur ein Tier sein. Für einen Menschen waren die Geräusche zu leise, und ein großes Tier würde weitaus mehr Krach verursachen. Trotzdem war er vorsichtig, nahm sein Schwert an sich und trat rückwärts durch die Tür hinaus, den Blick auf das Dach gerichtet. Die Sonne war bereits versunken, Dunkelheit und die Geräusche der Nacht empfingen ihn. Er konnte nichts sehen, starrte angestrengt in die lichtschluckende Blase über seinem Haus.
Wieder ein Geräusch.
Ein Schaben? Raschelnde Blätter? Nein, ähnlich, aber anders. Ein Vogel der sein Gefieder schüttelte. Das war es.
Er war nun schon so weit vom Haus entfernt, dass er das Dach einsehen konnte. Seine Augen hatten sich angepasst, und nun sah er auch die Quelle der Geräusche. Ein Vogel saß auf seinem Dach. Ein Rabe.
Kardan lachte erleichtert auf, schüttelte über sich selbst den Kopf. Er hatte sich wegen eines Raben so angestellt, als würden die Diener aller Höllen auf seinem Dach hocken. Er ließ das Schwert sinken und rief zu dem Rabenhinauf: »Du hast mich erschreckt, Mistvieh!« Dann lachte er wieder.
Der Rabe kam an den Rand des Daches gehüpft, schaute mit neugierigem Blick aus seinen schwarzen Knopfaugen zu Kardan hinunter. Er neigte den Kopf abwechselnd nach links und rechts, musterte den Menschen unter sich. Kardan grinste. Der Rabe breitete sein Schwingen aus, hielt sie weit auseinander, fixierte den Mann weiter. Er ruckte den Kopf einige Male hervor, als würgte er einen Wurm herunter. Angesichts dieses Schauspiels schwand Kardans Lächeln. Etwas stimmte nicht. Ein warmes, prickelndes Gefühl breitete sich in seinen Eingeweiden aus.
Der Seelenbegleiter blickte auf Kardan, fixierte ihn wie eine mögliche Beute. Seine Flügel waren noch immer weit gespreizt, und er hockte auf der Kante des Daches. Das Rucken des Kopfes hatte aufgehört, dafür öffnete und schloss er nun gleichmäßig seinen scharfen Schnabel. Seine schwarzen, lidlosen Augen waren fest auf Kardan gerichtet.
»Hau ab«, rief Kardan und winkte durch die Luft. Stumme Worte sprudelten immer schneller aus dem Schnabel des Raben.
Kardan schüttelte den Kopf und ging wieder auf das Haus zu. Ein Rabe auf dem Dach machte ihn so nervös. Lächerlich. Nach allem, was das Leben ihm schon beschert hatte, sorgte so eine Kleinigkeit für Unruhe und Spannung.
Als er die Veranda erreichte sah er noch einmal zum Vogel hinauf, und das leichte Lächeln um seine Lippen erlosch. Ein infernalischer Schrei löste sich aus dem Schnabel des Vogels, ein schrilles Kreischen, das schmerzhaft in seinen Schädel eindrang und ihn zu bersten drohte. Er ließ das Schwert fallen und presste die Hände auf die Ohren, sackte etwas zusammen, hielt sich aber auf den Beinen. Entsetzt starrte er den Vogel an. Der Schrei wurde trotz seiner Hände nur mäßig gedämpft, nahm sogar an Intensität noch zu. Kein Wesen, dem Kardan bisher begegnet war, vermochte ein solches Geräusch von sich zu geben, selbst die Wesenheiten aller Höllen konnten nicht so schreien.
Der Vogel war kein normales Tier. Aber was war er? Sollte er Kardan aufsuchen? War es eine Nachricht? Eine Warnung? Ein Hilferuf?
Der Schmerz in seinem Kopf wurde so stark das Kardan die Tränen aus den Augen schossen. Schwindel ergriff ihn, seine Knie schlugen hart auf den Boden auf, sein ganzer Körper wehrte sich gegen den unnatürlichen Laut, seine zusammengepressten Lider drückten grelle Lichtpunkte auf seine Augäpfel. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sah er zum Raben auf, der immer noch auf der Dachkante hockte und auf ihn nieder starrte. Eine grünlich schimmernde Aura umgab das Tier wie wabernder Rauch.
Dann schloss er den Schnabel, und es war augenblicklich so still, als wäre alles Leben aus der Welt gewichen. Im ersten Moment glaubte Kardan, er wäre taub geworden. Die Stille drückte fast ebenso in seinem Kopf wie das widernatürliche Geschrei des Tieres. Schwer atmend richtete er sich auf, führte die Hände von den Ohren zu seiner Nase.
Er blutete.
Die warme Flüssigkeit rann aus seiner Nase und benetzte seine Lippen. Der Rabe starrte ihn, ruckte einige Male mit dem Kopf, dann erhob er sich in den Nachthimmel und flog davon.

Kapitel 6



Kardan erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Sein Kopf schmerzte. Der Rabe der vergangenen Nacht hatte ihn in seinen Träumen mehrfach aufgesucht und aufgeschreckt. Er ging mit wachsamem Blick auf die Umgebung hinter das Haus, stieg über das gestapelte Holz auf das Dach und sah sich um. Wonach suchte er? Spuren? Trotz sorgfältiger Suche fand er nichts auf dem Holz.
Was hatte er erwartet? Er wusste es selbst nicht zu sagen. Er brauchte Beweise, dass er sich den seltsamen Besucher nicht eingebildet hatte. Sein schmerzender Schädel war jedenfalls Beweis genug.
Eine Spur der Aura? Verbranntes Holz an der Stelle, wo der Rabe gehockt hatte? Das unnatürliche Leuchten des Vogels deutete auf Magie hin. Erneut rief er sich den schrillen Schrei ins Gedächtnis, in seiner Erinnerung jedoch merklich gedämpfter und keineswegs schmerzhaft.
Nachdenklich stieg Kardan wieder vom Dach und ging hinein. Er aß etwas Brot und Fleisch, nahm sein Schwert und band es am Gürtel fest. Von nun an würde er nicht mehr unbewaffnet umher laufen. Er war besorgt. Etwas nagte in seinem Inneren und höhlte ihn langsam aus. Er musste sich ablenken.
Sein Tatendrang führte ihn zu Andur, der ihn mit einem freudigen Schnauben begrüßte. Kardan starrte den Hengst verwirrt an. Erst jetzt fiel ihm auf, dass dieser in der letzten Nacht überhaupt nicht reagiert hatte. Oder war sein Wiehern und Toben von dem schmerzhaften Laut überlagert worden?
Andur stand ruhig unter dem Dach, den Wänden und dem Boden nach zu urteilen hatte er sich nicht viel bewegt. Kein Getrampel, kein wildes Zerren um sich loszureißen, keine Anzeichen von Versuchen, dem grausigen Ton zu entgehen. Wenn ein Pferd nicht auf eine solche Bedrohung reagierte, wie real war sie letztendlich gewesen?
Kardan zweifelte immer mehr. Hatte nur er ihn gehört? War es eine gezielte Nachricht für ihn gewesen? Eine Botschaft? Eine Warnung? Und wenn, wer hatte den Vogel geschickt? Und warum mit einer solchen Verzauberung und nicht einfach einem Zettel am Bein?
Kardan legte neues Futter aus und striegelte Andur, was dem Hengst hörbar gefiel. Die Zeit verging, und als er fertig war, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Der Schweiß lief seinen Rücken herunter, und Kardan reckte das Gesicht zum Himmel empor, um sich von der Sonne wärmen zu lassen. Mittlerweile fühlte er sich merklich wohler als am Morgen.
Der Klang sich nähernder Pferde drang an seine Ohren, in einem gemächlichen Schritt. Kardan schaute auf die Ankömmlinge. Sie waren zu dritt, zwei Männer seines Alters, und ein Junge, den er auf achtzehn Jahre schätzte. Sie wirkten ein wenig müde, waren leicht gekleidet, reisten aber mit ausreichend Gepäck, was ihm die prallen Satteltaschen und die unförmig gerollten Decken hinter ihren Rücken verrieten. Einer der Älteren hob grüßend eine Hand.
»Hallo guter Mann, seid gegrüßt.« Er stoppte sein Pferd direkt vor Kardan, und dieser erwiderte den Gruß. Die beiden anderen bedachte er mit einem freundlichen Nicken.
Sie trugen dem Wetter entsprechende Kleidung, leichte Stoffhemden und Leinenhosen. Der Junge hatte seine sogar bis zu den Knien hochgerollt. Die zwei Erwachsenen trugen Jagdmesser an den Gürteln, und einer von Ihnen hatte einen Bogen samt Köcher geschultert.
»Verzeiht unsere Reise über Euer Gut, werter Herr, doch wir sind auf dem Weg nach Lór. Könnt Ihr uns sagen, ob wir auf dem richtigen Weg sind? Und wie weit es noch ist?«
»Aber gewiss. Lór liegt in diese Richtung«, Kardan deutete grob nach Nordosten, »folgt einfach der Straße, die dort beginnt. In einem gemütlichen Tempo könnt Ihr Lór vor der Dämmerung erreichen, wenn Ihr die Tiere ein wenig antreibt, schon eher. Ihr seid auch gern zu einer Rast eingeladen.« Kardan und deutete auf sein Haus.
»Das ist sehr nett von Euch«, erwiderte der Wortführer. »Wir sind heute Morgen sehr früh aufgebrochen, und eine kleine Rast bevor wir den letzten Teil des Weges in Angriff nehmen wäre sicherlich nicht verkehrt.«
Sie steuerten die Pferde zu der Tränke neben dem Unterstand und stiegen ab.
»Mein Name ist Pewin«, sagte der Älteste. »Dies ist mein Bruder Rol und sein Sohn Gendan.«
»Mein Name ist Kardan. Kommt nur herein.«
Sie betraten das Haus. Kardan wies auf den Tisch mit den Stühlen, auf denen seine Gäste Platz nahmen. Er brachte etwas Brot und Fleisch und stellte ein große Karaffe frisches Wasser dazu.
»Verzeiht dieses kleine Mahl«, meinte Kardan, »aber ich habe mich an die Umstände eines einfachen Lebens gewöhnt und komme damit mehr als aus.«
»Euer Angebot ist mehr als ausreichend«, erwiderte Pewin und nickte ihm dankend zu.
Kardan bemerkte die neugierigen Blicke des Jungen, mit denen er ihn bedachte, sprach ihn jedoch nicht darauf an. Er nahm ebenfalls Platz und deutete auf die Schalen mit den Speisen. Alle begannen zu essen.
»Verzeiht meine Neugierde«, sagte Kardan zwischen zwei Bissen, »aber was führt Euch nach Lór, und wo kommt Ihr her?«
Der Ältere sah ihn an. »Wir wollen Waren für unser Dorf in Auftrag geben. Wir kommen aus Nien, doch diese verfügten nicht über die Bestände, die wir benötigten. Also entschieden wir uns dafür, selbst nach Lór weiter zu reiten, anstatt einen Mittelsmann mit den Besorgungen zu beauftragen.«
Kardan lachte. »Das ist eine gute Idee. Ich beziehe meine Waren ebenfalls aus Lór. Es gibt dort einen sehr guten Händler den ich empfehlen kann. Sein Name ist Girol. Ausgezeichnete Ware und annehmbare Preise.«
»Ich danke Euch für diese Information«, sagte Pewin. »Das erleichtert uns die Suche und spart wertvolle Zeit.« Er nahm einen weiteren Bissen und fuhr fort. »Habt Ihr schon von den Gerüchten aus dem Süden gehört? Es heißt, dass eine Armee brandschatzend aus der Wullsteppe erschienen ist und sich einen Weg nach Norden bahnt.«
»Nein«, musste Kardan gestehen, «ich lebe hier sehr abgeschieden und es kommen nur selten Menschen vorbei.«
»Wir halten es selbst ebenfalls für ein Gerücht. Wenn es wirklich eine so große Armee wie von den Leuten beschrieben wäre, hätten sicherlich schon viele verschiedene Quellen dies bestätigt. Wahrscheinlich ist es eher eine Gruppe marodierender Räuber, die sich einfach zu weit ins Land gewagt haben.«
»Und wie war eure Reise bisher?«, fragte Kardan.
»Recht ereignislos«, erwiderte der Bruder des Älteren. »Wir sind jetzt seit sechs Tagen unterwegs, und haben außer wildem Getier niemanden Gefährlichen getroffen.«
Sie sprachen noch einige Zeit über verschiedene Themen, doch Kardan merkte, dass es die drei Männer zum Aufbruch drängte. Sie verabschiedeten sich, wünschten sich alles Gute und Kardan sah ihnen noch eine Weile nach, während sie in Richtung Lór davon ritten. Als sie außer Sicht waren, ging er zurück in seine Hütte und kümmerte sich um das schmutzige Geschirr.

Kapitel 7



Der Wind umspielte sein Haar und ließ es wie die trägen Flügel eines dahingleitenden Vogels leicht flattern. Mit beiden Händen wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht, den die anstrengende Arbeit ihm aus den Poren getrieben hatte.
Kardan streckte den Rücken durch und ließ seine Augen über die Landschaft gleiten. So lange lebte er nun hier draußen, und noch immer konnte er sie jeden Tag aufs Neue genießen.
Eine entfernte Staubwolke erregte seine Aufmerksamkeit. Er beschattete seine Augen und erkannte ein langsam näher kommendes Pferd samt Reiter auf dem staubigen Weg, der zu seiner Hütte führte. Einige Momente später erkannte er Nayla und verschwand lächelnd hinter dem Haus, um sich den Schweiß von der anstrengenden Tagesarbeit abzuwaschen. Bis sie die Hütte mit der eingeschlagenen Geschwindigkeit erreichte, hatte er noch ein wenig Zeit.
Kardan betrachtete sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche des Fasses. Er lächelte. Gleichzeitig spürte er eine Unruhe in seinem Magen. Sie kam ohne den Handelskarren, also hatte sie nichts zu liefern. Sie hatte die Strecke also nur für ihn zurückgelegt. Kardan runzelte die Stirn über seine Gedanken. Er verhielt sich wie ein junger Geck, der seine Angebetete erwartete. Nayla war hübsch, regelrecht schön, zumindest empfand er es so. Die Männer in der Stadt drehten sich mit Sicherheit auch nach ihr um. Seine letzte ernsthafte Beziehung lag schon eine sehr lange Zeit zurück. Das Ende hatte unter keinem guten Stern gestanden.
Kardan schüttelte den Kopf und grinste. Er wollte nicht über Vergangenes nachdenken. Schnell reinigte er sich und verschwand kurz in der Hütte, um sich ein neues Hemd überzuziehen. Als er hinaustrat, hatte Nayla ihn fast erreicht.
Sie trug ihr Haar zusammengebunden, nur eine kleine Strähne fiel ihr in die Stirn. Sie war mit einer ledernen Hose und einer weit geschnittenen Jacke bekleidet, die ihre Figur nur leicht betonte und von hoher Bequemlichkeit zeugte. Perfekt für eine längere Reise zu Pferd.
»Nayla, was für eine angenehme Überraschung«, begrüßte er sie lächelnd.
»Hallo Kardan«, erwiderte sie. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
»Aber nein, du bist jederzeit herzlich willkommen.«
»Das ist gut zu wissen«, lächelte sie verhalten.
Kardan bemerkte an ihrer Stimme, dass etwas nicht stimmte. Ihre Augen lächelten nicht. Sie blickten stumpf und glanzlos zu ihm herunter.
Er reichte Nayla die Hand und half ihr, vom Pferd zu steigen.
»Was ist los?«, fragte er besorgt. Er fühlte, wie die Luft schwerer wurde, er mehr Kraft brauchte, um tief einzuatmen.
Ihre Augen wurden feucht.
»Es geht um meinen Vater«, sagte sie und atmete tief durch. »Er stirbt.«

*

Kardan reichte Nayla ein Glas Wasser, das sie dankbar nickend entgegennahm. Sie saß ihm am Tisch gegenüber und trank einen kleinen, höflichen Schluck. Kardan hatte bisher auf drängende Fragen und tröstende Worte verzichtet. Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen und ihr die Zeit geben, sich von selbst zu öffnen.
Sie drehte das Glas in ihren Händen und sah Kardan schließlich mit festem Blick an.
»Du bist so still«, sagte sie.
»Ich gebe dir nur Zeit«, erwiderte er und versuchte ein beruhigendes Lächeln. Es schien zu funktionieren, denn Nayla atmete seufzend durch und der Blick ihrer großen Augen wurde weicher.
»Vater stirbt. Er ist schon länger krank, aber es wird einfach nicht besser. Wir haben mehrere Ärzte konsultiert, sogar einen Heilmagier bemüht. Nichts hat geholfen. Es ist wohl einfach an der Zeit.« Ihre Augen begannen zu schwimmen.
»Es tut mir leid das zu hören«, sagte Kardan aufrichtig und griff behutsam nach ihrer Hand. Sie ließ es zu und schenkte ihm einen dankbaren Blick.
»Er würde dich sicher gerne noch einmal sehen«, sagte sie. »Weißt du, er spricht oft von dir.«
»Wirklich?« Kardan lächelte. »Ich mag ihn auch sehr. Natürlich werde ich dich zurückbegleiten. Es dämmert bald, also sollten wir morgen sehr früh aufbrechen. Dann können wir gegen Mittag in Lór sein.«
Sie nickte. Kardan bemerkte ihren prüfenden Blick, als sie durch die Hütte schaute.
»Keine Angst«, meinte er ruhig. »Ich schlafe draußen bei Andur. Das Bett gehört dir. Ich werde einige neue Felle auflegen, dann kannst du unbesorgt schlafen.«
»Ich habe keine Angst«, erwiderte sie mit sanftem Blick. »Du bist ein ehrenvoller Mann.«
Kardan lächelte. Wohlige Wärme breitete sich in seinem Inneren aus. Er bemerkte, dass er noch immer ihre Hand hielt. Sie senkte ihre Augen und begann, mit dem Zeigefinger die Innenfläche seiner Hand zu streicheln. Ihre Blicke begegneten sich, und Kardan verlor sich in ihren hellblauen Augen.

*

Nebeneinander reitend passierten sie problemlos die Wachen und betraten durch das gewaltige, gut zehn Mannslängen große, prunkvoll verzierte Eisentor die Königsstadt Lór. Kardan war wieder einmal überwältigt von den Bauten aus Marmor und Stein, die Gebäude funkelten wie Gold und Silber in der strahlenden Mittagssonne. Das freundliche Entgegenkommen einiger Passanten erwiderten sie höflich. Nayla war in der Stadt keine Unbekannte, trotz ihrer gewaltigen Größe. Mehr als 100.000 Menschen lebten in Lór. Die größte Stadt des gesamten Reiches, das einen ganzen Kontinent ausmachte.
Über eine mit Steinen fugenlos gepflasterte Straße ritten sie durch die Stadt, nahmen immer wieder verwinkelte Abzweigungen und Kardan wusste, dass er ohne Naylas Führung binnen kürzester Zeit die Orientierung vollkommen verloren hätte. Er war für ein Leben in der Stadt einfach nicht gemacht.
Er trottete ihr auf Andur hinterher, ließ seine Augen immer wieder schweifen. Fasziniert betrachtete er die mit Marmor verkleideten Häuser. Es gab auch einfachere Gebäude, die mit Putz, Sand oder fein bearbeiteten Holzplatten versehen waren. Jedes Haus war mit einer Nummer versehen, die Planung der Stadt bis ins kleinste Detail durchdacht.
Sie erreichten das Haus von Girol. Im unteren Bereich befand sich der Laden, in dem er seine Waren feilbot. Durch eine riesige, die gesamte Front einnehmende Glasscheibe konnte man ins Innere schauen. Eine Mitteilung war an der Tür angebracht.
Kurzzeitig geschlossen. Bald wieder für Sie da!
Nayla band ihr Pferd an einem weiß getünchten Geländer fest und winkte Kardan, ihr zu folgen. Sie führte ihn durch eine kleine Gasse zwischen dem Laden und einem angrenzenden Gebäude und gelangten über eine Treppe in den oberen Bereich des Gebäudes. Hier waren die Wohnräume untergebracht.
Ein Diener in fein geschnittener Kleidung öffnete die Tür und begrüßte Nayla mit einer höflichen Verbeugung.
»Jedes Mal sage ich ihm, dass er das lassen soll«, meinte sie zu Kardan, als sie die Räume betraten. »Aber er besteht darauf.«
Die Einrichtung entsprach so gar nicht Kardans Vorstellungen eines wohlhabenden Händlers. Sie war nicht voller Prunk und Protz, Teppichen, in denen man versank, die Wände mit riesigen Gemälde behangen, mehrfarbiges Fensterglas, samtene Vorhänge, edle Bezüge auf den Sesseln und Sofas. Man erwartete irgendwie, dass Kaufleute ihr Geld zur Schau stellten. Girol war auch in dieser Hinsicht anders. Seine Einrichtung war eher verhalten, beinahe asketisch schlicht. Eine wohltuende, schöne Einfachheit. Fein geschnitzte Holzstühle, ein schnörkelloser Tisch, feine Läufer, die geschickt Laufbrücken auf dem steinernen Boden bildeten. Weiße Vorhänge mit kaum wahrnehmbaren Dekorlinien.
Den einzigen Luxus bildeten zwei Kerzenleuchter, die von der gebeizten Holzdecke hinunter hingen. Kardan schätzte wohl gute fünfzig Kerzen auf jedem von ihnen. Ausreichend Licht, um nach Sonnenuntergang den gesamten Raum zu erhellen.
Hinter einer Tür erklang ein bellendes Husten, und Nayla warf Kardan einen traurigen Blick zu. Er folgte ihr, sie klopfte und ohne eine Antwort abzuwarten traten sie ins Zimmer.
Der Mann im Bett war ein Fremder. Während Girol das Abbild eines wohlgenährten, fülligen Mannes war, war dieser das genaue Gegenteil. Er war ausgezehrt, eingefallene Wangen verliehen dem Gesicht das Antlitz eines von Krankheit gezeichneten Mannes. Mit stumpfen Augen blickte er auf die Besucher.
»Guter Girol«, hauchte Kardan und trat an das Bett.
»Kardan«, erwiderte dieser mit heiserer Stimme. Tränen füllten seine Augen. »Was machst du hier?« Er sah mit mahlendem Kiefer zu Nayla.
»Darf ein Freund einen Kranken nicht besuchen? Ich denke, das ich nach all der Zeit ein Anrecht darauf habe.« Er setzte sich auf einen Stuhl neben dem zerwühlten Bett.
»Verzeih mir, Vater« sagte Nayla leise. Girol hob eine Hand und winkte Nayla, still zu sein.
»Ich danke dir, mein Kind.« Er schaute zu Kardan. »Es freut mich dich zu sehen.«
Lächelnd holte Kardan seine Tasche vom Rücken und nahm eine unbeschriftete Flasche heraus. »Ein letztes beisammen sitzen, ein wenig Gerede über Ereignisse und Gerüchte, wie wäre das?«
Der Mann im Bett nickte schwach. »Lässt du uns allein, bitte?«, fragte er Nayla. Mit Mühe rang sich diese zu einem Lächeln durch, warf Kardan einen dankbaren Blick zu und schloss leise die Tür hinter sich.

*

Als Kardan aus dem Zimmer trat, war der Diener gerade dabei, auf einer schlichten Holzleiter stehend, die Kerzen der Kronleuchter anzuzünden. Draußen dämmerte es bereits.
»Er ist müde und möchte schlafen«, sagte er zu Nayla. »Wir hatten ein gutes Gespräch.« Kardan setzte sich zu ihr an den großen Tisch. »Er möchte noch kurz mit dir sprechen. Ich warte hier auf dich.«
Sie unterdrückte ein Schluchzen und stand auf. Unbeholfen legte sie eine Hand auf Kardans Schulter, drehte sich herum und verschwand im Zimmer ihres Vaters. Kardan sah aus dem Fenster zur untergehenden Sonne.
»Mach es gut, alter Freund«, sagte er leise und verbarg seine Augen hinter einer Hand.

Kapitel 8



Gedankenversunken kehrte Kardan zu seiner Hütte zurück. Girol war nun seit vier Tagen tot, und wie es Brauch in der Königsstadt war, hatte man seinen Leichnam umgehend in die Gruft seiner Familie gelegt. Viele Menschen hatten der Zeremonie beigewohnt, Händler, Freunde, Bekannte, Kunden. Aber er hatte nur Augen für Nayla gehabt. Fast die gesamte Zeit hatten sie zusammen verbracht. Sich besser kennen gelernt. Auch wenn ihm bei dem Gedanken nicht wohl gewesen war, dass es ein derart trauriges Ereignis benötigte, um seine tief vergrabene Gefühle für eine Frau wieder zu erwecken. Aber hieß es nicht auch, aus jedem Schrecken gedeiht etwas Gutes?
Die Sonne näherte sich schon dem Horizont, und die ersten Nachtjäger pirschten durchs Unterholz.
Vor seiner Hütte stand ein Pferd, auf ihm saß ein Reiter, gehüllt in einem langen, den gesamten Körper umschließenden Mantel. Über dem Kopf eine ausladende Kapuze gezogen, die das gesamte Gesicht verbarg.
Kardan ritt ohne Stocken näher auf den Besucher zu. Der Fremde bemerkte ihn, drehte sein Pferd in seine Richtung. Es schnaubte und schüttelte kurz die prächtige braune Mähne.
»Seid gegrüßt, Reisender. Mein Name ist Kardan und dies ist meine Behausung. Wie kann ich Euch zu Diensten sein?«
Er spürte, wie der Blick des Fremden ihn und Andur aufmerksam musterte.
»Das ist also aus dir geworden«, sagte der Mann mit heiserer Stimme.
Kardan stoppte Andur und starrte den noch immer einige Meter entfernten Fremden an. Ein seltsames Kribbeln fuhr über seinen Kopf, ein unruhiges Gefühl breitete sich in ihm aus. Kannte er diesen Mann? Wer war er? Er versuchte sich an die heisere Stimme zu erinnern, konnte sie aber nicht einordnen.
»Verzeiht, doch wer seid Ihr?«, fragte Kardan. Ohne Hast legte er fast beiläufig seine Rechte auf den Knauf seines Schwertes.
»Es stimmt mich traurig, dass du mich nicht erkennst«, erwiderte der Fremde, »aber was soll man schon von jemandem erwarten, der ein glorreiches Leben ablegt und Bauer wird!« Er bellte ein heiseres Lachen, legte die Hände an die Kapuzenränder und warf sie mit einer schnellen Bewegung zurück.
Kardan blickte in das Gesicht eines alten Mannes, dessen Wangen und Kinn von einem kurz gestutzten, weißen Bart umrahmt waren. Seine Kopfbehaarung war so kurz geschnitten, dass er fast schon als kahl zu bezeichnen war. Die untergehende Sonne spiegelte sich in grauen Augen und verlieh ihnen den funkelnden Glanz von Edelsteinen. Der Alte grinste und entblößte zwei Reihen ebenmäßiger weißer Zähne.
Kardan schnappte erstaunt nach Luft. In seinen Inneren brodelte die Freude auf und bahnte sich ihren Weg nach oben, wo sie mit einem erstaunten Ausruf aus seinem Mund drang.
»Harvon!«, rief er freudig. »Ich kann es kaum glauben.«
Er sprang von Andurs Rücken und auch sein Besucher verfügte trotz seines sichtlich fortgeschrittenen Alters über eine behände Geschmeidigkeit. Lachend gingen sie aufeinander zu, fielen sich in die Arme, klopften sich ab, begrüßten sich auf die innige Art und Weise, die eine tiefe Freundschaft bekundete.
Harvon packte Kardan an den Schultern und schob ihn auf Armeslänge fort.
»Junge, sieh dich an! Was trägst du überhaupt für Kleidung?« Er lachte und drückte ihn wieder an seine Brust. Kardan grinste.
»Was führt dich zu mir? Wie hast du mich gefunden? Komm herein, lass uns essen und trinken!«
»Gerne, doch gestatte mir erst, mein Pferd zu tränken. Wir haben einen langen Weg hinter uns.«
Sie führten die Pferde zur Tränke und befreiten sie von den Sätteln und Decken. Kardan beobachtete Harvon aus den Augenwinkeln und sagte schelmisch: »Nettes Kleid, das du da trägst!«
Harvon lachte laut auf, drehte sich einmal spitzbübisch um die eigene Achse und machte einen eleganten Knicks. Kardan prustete los und stützte sich mit den Händen auf die Knie. Tränen der Freude liefen aus seinen Augen. Er gab Harvon einen kumpelhaften Klaps auf die Schulter.
»Komm herein, alter Freund, und erzähle mir was dich zu mir führt.«
Sie gingen ins Haus. Nachdem Kardan das Feuer angefacht hatte, bot er Wasser, Brot und gepökeltes Fleisch an und mit einem tiefen Seufzer ließ sich Harvon auf dem Stuhl nieder.
»Hach, das tut gut, nach all der Wildnis und dem Pferd endlich mal wieder ein vernünftiger Stuhl.«
Kardan lachte. »Alter Mann, ich wette, du bist weitaus besseres gewohnt als einen einfachen Holzstuhl. Was hast du die letzten Jahre getan?«
»Wenn die Gesellschaft die richtige ist, ist es gleich, worauf man sitzt«, meinte Harvon mit einem Augenzwinkern. Er ließ seinen Blick durch die Hütte schweifen. »Nun, im Gegensatz zu dir habe ich mir kein eigenes Heim gebaut. Ich lebe in Veshen, unten im Süden, in der Akademie der Künste Onags und unterrichte Adepten.«
»Bist du also doch Lehrer geworden? Haben deine heimatlosen Tage auch ein Ende gefunden?«
Harvon lächelte. »So kann man es nennen. Aber sind wir denn immer herumgezogen?«, fragte er mit einem ernsten Unterton.
»Nein«, erwiderte Kardan. »Wir waren da, wo man uns brauchte.«
»Und genau das ist der Grund, warum ich die Akademie verlassen habe«, sagte Harvon und nahm einen weiteren Bissen Fleisch.
Kardan stutzte. »Warum bist du hier?«, fragte er ernst.
»Erinnerst du dich an den Schwur von Alynthias, den wir gemeinsam geleistet

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: André Höhle
Bildmaterialien: Elena Sandfort
Tag der Veröffentlichung: 23.07.2012
ISBN: 978-3-95500-054-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Andrea, meine Prinzessin und den Commander. Jeden Tag aufs Neue.

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