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Kapitel 1

Noch fünf Minuten, das verrät mir der Blick auf meine Uhr. Meine Wirbelsäule vibriert, mein Brustkorb pulsiert. Ich blende die Geräusche um mich herum aus, das Dröhnen des Motors, die Menschen, die neben mir auf dem Boden sitzen und sich unterhalten. Schweiß liegt in der Luft. Feuchte Handflächen werden am Hosenstoff gerieben.

 

Knapp vier Minuten, dann bin ich frei. Ich schließe die Augen. Mein Oberkörper wird von warmer Vorfreude geflutet, die kleinen elektrischen Kontakte meines Hirns arbeiten auf Hochtouren. Mein Grinsen muss debil aussehen. Sei es drum. Es ist mein Moment, einer von denen, die mir niemand nehmen können wird, ein weiterer, der sich in meiner Seele verankert und der mich zu dem macht, wer ich bin.

Mein Verstand lässt mich eine Melodie hören, passend zu meiner steigenden Euphorie. Harte Beats im gleichen Takt meines Herzschlages, synchron zum rhythmischen Pulsieren meiner Venen.

Die Stimme sagt, dass wir uns startklar machen sollen. Ich überprüfe die Gurte ein letztes Mal. Routine. Ich weiß, dass alles sitzt. Mein Blick gleitet zu meinem Höhenmesser. Gleich ist es soweit.

Die Tür wird geöffnet, kalte klare Luft drängt sich mit aller Macht in meine Lunge. Meine Haare tanzen um mein Gesicht, fast, als wollten sie sich meiner inneren Melodie anpassen. Ich rutsche an den Rand, lasse meine Füße viertausend Meter über dem Erdboden baumeln. Die Schutzbrille ist innerhalb von Sekunden aufgesetzt. Mein Blick ist auf die Wolken gerichtet. Felder in unterschiedlichen Farben und Waldflächen heißen mich Willkommen. Mein Herzschlag legt einen Gang zu, süßes Adrenalin fließt in meinen Adern.

Ich springe, strecke meine Arme aus, winkle meine Beine an und rase auf den Erdboden zu. 

Freier Fall.

 

Der Druck der kalten Luft nimmt jeden Millimeter meines Körpers ein. Eine Wolke lässt mich, durch das Sonnenlicht, die Farben des Regenbogens sehen. Ich rausche hindurch. Die feuchten Moleküle gleichen kleinen Nadelstichen in meinem Gesicht. Ich möchte mich für immer fallen lassen, ewig in diesem Zustand verharren. Ich biete der Luft soviel Widerstand, wie möglich. Es soll nicht enden.

Ein Stück unter und versetzt von mir geht der erste Flächenschirm auf. Ich brauche nicht auf den Höhenmesser schauen, ich weiß, dass ich nicht mehr lange habe. Es sind nur einige kostbare Sekunden. Ich schließe die Augen und lasse das Gefühl der Freiheit meinen Körper fluten, dann öffne ich sie wieder. Der Erdboden ist nähergekommen, ich muss die Leine ziehen, sonst springt gleich der Reserveschirm auf. Der Griff danach automatisiert, auch wenn mein Herz sich etwas anderes wünscht. Der Schirm öffnet sich, mein Flug wird mit einem Ruck abgebremst und ich greife nach den Steuerleinen. Ich ziehe keine Kreise um die Natur zu bewundern, zögere die Landung nicht hinaus. Es ist kein Kick für mich, durch die Luft zu schweben, nur der Fall hat mich in seiner festen Hand. Der Boden kommt näher, ich weiß, dass ich etwas zu schnell bin, aber was soll‘s, muss ich eben rennen, was das Zeug hält, um mich nicht auf die Schnauze zu packen. Meine Füße berühren das Gras. Ich lege einen Sprint hin, dann trabe ich langsam aus.

Ich raffe meinen Fallschirm zusammen und schlendere auf die Halle zu, wobei es sich für mich wie schweben anfühlt. Das Adrenalin ist noch immer in den Venen und wird eine Weile bleiben. Momente, in denen man sich für unverwundbar hält, wenn Endorphine, statt Blut in den Adern fließen.

 

Routiniert und konzentriert packe ich den Schirm und gehe mit ihm vor die großen Schiebetüren des Hangars. Ich setze mich in die Sonne und überbrücke die zwanzig Minuten, bis mein nächster Flug nach oben geht. Wenn ich die Augen schließe, fühlt sich mein Körper an, als wäre ich wieder im freien Fall.

»Lass die knappen Spielchen, Chris.«

Ich kenne die Stimme. Es ist Martin, ein anderer Fallschirmspringer. Einer aus der ganz akkuraten Riege, der aber nichts zu melden hat.

Ich halte ihm meine Faust entgegen und mein Mittelfinger springt hervor.

»Arschloch«, höre ich und die Schritte lassen mich wissen, dass er sich verpisst.

»Du mich auch«, flüstere ich grinsend, denn ich bin high. 

Vielleicht sollte ich ihn mal mit zum Basejumpen nehmen. Aber wahrscheinlich bräuchte er dafür eine Windel, weil er sich vor Angst in die Hose scheißen würde.

Kichernd greife ich nach meiner Flasche Wasser.

Verdammt, das Leben ist geil.

Kapitel 2

 Ich stelle meine Maschine ab, nehme den Helm vom Kopf und wuschele mir durch die braunen Locken, damit ich wieder aussehe, als wäre ich gerade aufgestanden. Ohne zu zögern, gehe ich an der langen Schlange vorbei, die auf Einlass in den Club wartet. Stefan, der Türsteher, lächelt mich an und schüttelt mir die Hand. Nachdem er mir einen schönen Abend und viel Spaß gewünscht hat, bahne ich mir meinen Weg durch den schmalen Gang, um den Helm und meine Lederjacke an der Garderobe abzugeben.

Es ist Samstagabend, der Laden ist gerammelt voll. Ich arbeite mich am Rand der Tanzfläche vor zum Tresen. Schweiß liegt in der Luft, Hormone und jede Menge Sex. Wegen Letzterem bin ich hier, ich verschaffe mir den perfekten Abschluss für diesen Tag. Ein oder zwei Nummern im Darkroom, schnell hart und heftig - genau danach steht mir der Sinn. Mein Kopf hat heute schon mehr als einen Orgasmus gehabt, mein Schwanz will auch zum Abschuss kommen.

 

Ich habe Glück und ergattere einen Platz an dem langen Tresen. Nachdem ich das bestellte Mineralwasser bekommen habe, drehe ich mich um und lasse meinen Blick das erste Mal genauer über die anwesenden Männer schweifen. Viele Gesichter sind mir bekannt, ebenso, wie ich kein unbeschriebenes Blatt bin. Wenn ich in der Stadt bin, ist dieser Gayclub meistens freitags und samstags meine Anlaufstelle für unverbindliche Befriedigung. Etwas Festes suche und brauche ich nicht, das ist zum Scheitern verurteilt. Ich bin zu schnell gelangweilt und wenn ich jemanden tatsächlich mal länger als ein paar Ficks interessant fand, ist es an meinem Job gescheitert. Ich bekomme Geld für meine Risikobereitschaft und das nicht gerade wenig. Ein namenhafter Sportbekleidungshersteller hat dafür gesorgt, dass ich meine Hobbys zum Beruf machen konnte. Inzwischen fliege ich für Spots und Fotos rund um die Welt. Nicht, wie ein normales Modell, sondern eines, das Felswände ohne Sicherung erklimmt oder mit einem Reserveschirm von Hochhäusern springt.

Das heute war reines Privatvergnügen, um Adrenalin zu schmecken. Es gehört zu meinem Leben, wie bei anderen der Kaffee zum Frühstück. Man sieht mir an, wie viel Sport ich treibe. Nicht, dass ich aussehen würde wie einer dieser Steroidtypen, die pumpen gehen, nein, ich bin schlank, aber muskulös und drahtig. Ich benötige Körperbeherrschung, bei dem, was ich tue. Wenn man zig Meter über dem Abgrund hängt und das an einer Hand, die sich an einen Felsvorsprung klammert, dann muss man sich auf jede Faser seines Körpers verlassen können.

Ich blicke einen Moment verträumt auf das sprudelnde Wasser in meinem Glas. Nächste Woche geht es wieder los. Südamerika. Ich freue mich darauf. Ein Free Solo. Keine Hilfsmittel, mein Körper, der sich an den kalten Stein schmiegt, Finger, die in noch so kleinen Rissen Halt finden und Konzentration, die die Welt um mich herum stillstehen lässt. Das Ganze mit zwei Kameramännern an meiner Seite, die abgesichert sind wie rohe Eier. 

 

Jemand rempelt mich an und reißt mich so aus meinen Gedanken. Ich werfe einen kurzen Blick auf den Störenfried und ziehe eine Augenbraue hoch, statt das Gesicht zu verziehen, denn der Typ ist wirklich hässlich. Er ist ungefähr so groß wie ich, einsfünfundachtzig. Blonde, nach hinten gegelte, Haare können nicht vertuschen, dass der Kerl in spätestens fünf Jahren eine Halbglatze haben wird. Er wirkt ungepflegt und das eng anliegende T-Shirt verheimlicht nicht, dass er kaum auf seine Figur achtet. Der Bierbauch ist offensichtlich.

»Und? Heute noch was Schönes vor?«, quatscht er mich von der Seite an.

Sein Atem riecht so unangenehm, dass mir ein kalter Schauer den Rücken entlang läuft. Bier und Nikotin sind dabei das geringste Übel, das in meine Nase strömt. Die braunen Augen linsen mich gierig an. Er ist eindeutig über einen Schwips hinaus, sonst würde er mich wohl auch nicht so dreist angraben. Ich überlege eine Sekunde, ob ich ihn höflich abwimmeln soll, doch ich glaube, das wird nicht fruchten.

»Ja, aber nicht mit dir«, antworte ich kühl.

Er zuckt kurz, ein Beweis für mich, dass meine Abfuhr so angekommen ist, wie sie sollte, dann schmollt er. Es sieht grotesk aus, sodass ich meine Augen auf die Tanzfläche dirigiere, um mir den Anblick zu ersparen. Typen, wie der neben mir, sind nicht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Cat T. Mad
Bildmaterialien: canva.com
Tag der Veröffentlichung: 15.08.2021
ISBN: 978-3-7487-9163-8

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