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Der Körper kann ohne den Geist nicht bestehen,

aber der Geist bedarf nicht des Körpers.

Erasmus von Rotterdam

 

 

Der Inhalt dieser Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Orten oder Begebenheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Der Nachbar

Steven knirschte mit den Zähnen und schaute stur geradeaus. Nur keinen Blick nach links wagen. Er wollte nicht wissen, ob sein Nachbar Carl Benting am Fenster stand und ihn, wie so oft, beobachtete. Leugnen und ignorieren schien der einzige Weg, um sich nicht wieder stundenlang den Kopf zu zerbrechen.
Freundlich formuliert hatte der Typ von nebenan nicht alle Tassen im Schrank. Zu der Erkenntnis gelangte Steven drei Monate nach seinem Einzug. Genau ab dem Moment, wo er Carl das erste Mal einen höflichen Korb gegeben und der die Abfuhr einfach nicht zur Kenntnis genommen hatte.

Sie trennten nicht nur fünfzehn Jahre voneinander. Der ältere Mann war obendrein fern von dem, was Steven attraktiv fand. Der große, bullige Kerl mit den grauen, schütteren Haaren und Bierbauch lag eindeutig nicht in seinem Beuteschema. Zusätzlich hielt Carl nicht viel von Körperpflege, sodass Stevens Magen rebellierte, wenn sein Nachbar beschloss, Distanzzonen zu ignorieren und ihm zu nahe zu kommen. Nicht zu vergessen, dass Carl mit seiner Mutter zusammenlebte. Steven hatte die alte Dame nur einmal kurz nach seinem Einzug an einem Fenster stehen sehen.
Steven bewohnte die kleine Doppelhaushälfte seit eineinhalb Jahren. Es gab Momente, in denen bestand die Versuchung, das Haus zu verkaufen und sich eine andere Bleibe zu suchen. Doch dann regte sich Trotz in ihm. Der Gedanke, dieses perfekte Heim abzustoßen, weil sein Nachbar ein liebestoller Freak war, erschien ihm absurd. Er hoffte, dass Carl Benting irgendwann die Luft ausging und er verstand, dass er einfach keine Chancen bei ihm hatte.

Steven fuhr die Einfahrt hinauf, drückte den Knopf, damit das Garagentor aufging, und parkte den Wagen einen kurzen Augenblick später. Nachdem er aus dem Auto gestiegen war, machte er Licht in der Garage und ließ das Tor hinunterfahren.
Seit Wochen nahm er nur noch den Seiteneingang in das Haus. Carl hatte ihn ein paar Mal ganz zufällig direkt vor der Haustür abgefangen. Dem wollte Steven entgehen. Carl kam immer mit den gleichen ätzenden Sprüchen daher. Allein der Gedanke daran sorgte dafür, dass sich bei Steven die Nackenhaare aufstellten. Carl erzählte ihm prinzipiell erst einmal, wie gut er doch in der Jeans aussah. Oder der Stoffhose. Je nachdem, was er an diesem Tag anhatte. An einem wie heute, wo es draußen ausgesprochen warm war, würde Carl ihm wahrscheinlich damit schmeicheln, wie gut das Poloshirt die Farbe seiner Augen unterstrich.

Er löschte das Licht in der Garage und betrat den schmalen Seitengang auf dem Hausflur. Beim Kauf des Hauses hatte er den Nebeneingang als unnütz empfunden. Inzwischen half er ihm mehr denn je, den Fängen des Spinners von nebenan zu entkommen.

Seufzend bog Steven um die Ecke und ging auf die Garderobe zu, die sich im Eingangsbereich befand. Erleichtert schlüpfte er aus seinen Schuhen. Zur Zeit gab es in der Versicherung so viel zu tun, dass er froh war, nur noch zwei Tage arbeiten zu müssen. Anschließend konnte er das Wochenende genießen. Bereits im letzten Sommer hatte er seine Terrasse mit einem Sichtschutz versehen, sodass er zumindest dort vor Carls Blicken geschützt war. Für die Gartenarbeit nutzte er inzwischen den Service einer Gärtnerei. Sie kümmerten sich einmal pro Woche um die Grünfläche hinter seinem Haus. Lediglich an ganz heißen Tagen wagte er sich, aus der Not heraus, zum Sprengen in den Garten. Carl erwischte ihn dennoch jedes Mal, egal ob morgens um halb sieben, mittags oder abends um neun. Dann versuchte er stets, mit Steven ein Gespräch am Gartenzaun anzufangen. Natürlich nicht, ohne ihn dabei ausführlich und gierig zu mustern. Carl guckte ihn sogar anzüglich an, wenn er viel zu große Jogginghosen und schlabbrige T-Shirts trug.

Sämtliche Maßnahmen, um Carl abzublocken, verliefen im Sand. Sobald Steven einen harschen Ton anschlug, so zog Carl sich bedauerlicherweise nicht zurück. Mitunter schaute er Steven dann schon fast herablassend an. Zumindest deutete Steven den Blick so. Heute würde er wohl drum herumkommen, seinem Nachbarn zu begegnen. Um den Garten musste er sich nicht kümmern und so konnte er den Rest des Nachmittags ungestört genießen.
Steven ging in die Küche, setzte Kaffee auf und sondierte den Inhalt seines Kühlschranks. Er war relativ leer, aber für ein Sandwich langte es. Ihm stand nicht der Sinn danach, das Haus noch einmal zu verlassen, um einkaufen zu gehen. Just in dem Moment, als er die Toastscheiben auf einen Teller gelegt hatte, klingelte es an der Haustür. Steven zuckte überrascht zusammen.

„Hoffentlich nicht“, murmelte er bei dem Gedanken, dass es vielleicht Carl sein könnte. Es kam selten vor, doch ab und an tauchte sein Nachbar mit fadenscheinigen Ausreden auf und nervte ihn auf diesem Weg.
Steven rollte mit den Schultern, um die entstandene Spannung zu beseitigen, und machte sich auf zur Tür. Als er sie öffnete, verkniff er sich ein genervtes Stöhnen. Bedauerlicherweise lag er mit seiner Vermutung richtig.

Carl lächelte ihn an. „Hallo, Steven.“

„Carl. Was führt dich her?“, erkundigte Steven sich ohne Enthusiasmus.

Überrascht stellte er fest, dass sein Nachbar ausnahmsweise nicht so ungepflegt aussah wie üblich. Der normalerweise vorhandene Dreitagebart war abrasiert, die Haare sahen kürzer und frisch gewaschen aus. Hoffnung keimte in Steven auf. Hatte Carl womöglich jemanden kennengelernt und verlor das Interesse an ihm?

„Kannst du mir ein wenig Zucker leihen? Ich brauche nicht viel. Eine viertel Tasse vielleicht. Ich müsste sonst nur deshalb zum Supermarkt.“

„Klar. Kein Problem. Einen kleinen Moment.“ Steven drehte sich erleichtert um und ging zurück in die Küche. Dass Carl lediglich nach Zucker fragte und keinerlei unangemessene Bemerkungen gemacht hatte, erschien ihm wie ein Sechser im Lotto.
Er nahm eine Tasse aus dem Oberschrank und holte die große Dose, in der er den Zucker aufbewahrte, aus dem Vorratsschrank.

Just in der Sekunde, als er etwas davon in die Tasse umfüllte, hörte er ein Geräusch hinter sich. Abrupt drehte Steven sich um. „Carl, was zur Hö…“

Schneller als er es realisieren konnte, überrumpelte Carl ihn. Das Letzte, was er spürte, war das Tuch, das Carl gegen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Cat T. Mad
Bildmaterialien: Bildmaterial: depositphotos.com
Cover: Cat T. Mad
Lektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2017
ISBN: 978-3-7438-4496-4

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