In so mancher Nach hatte ich auf meinem Bett gelegen, die Hände hinter dem Kopf und den Blick an die Decke geheftet. Ich lag einfach nur da und dachte darüber nach, was der nächste Morgen bringen würde, ob ich wieder einen dieser tiefgründigen Träume haben würde, die mich bis in die Mittagsstunden des nächsten Tages verfolgten und darüber, ob es eigentlich Engel gab oder nicht.
Es hing ganz davon ab, ob man daran glaubte, ob man glaubte, dass es sie gab, oder ob man es nicht tat.
Ich wusste nicht, ob ich daran glaubte.
Ich wünschte es mir bloß.
Ich wünschte mir, dass es sie gab, diese wundervollen Wesen, die mir weichen, weißen Flügeln geziert waren.
Manch einer sagte, sie können in den verschiedensten Gestalten auftreten.
Schon eine Tat, eine Bewegung, ein Wort oder sogar ein Blick konnte bewirkten, dass wir sie sehen. Die Engel.
Und da erinnerte ich mich an eine Geschichte, die ich schon vor langer Zeit zum letzten Mal gehört hatte…
Es war einmal ein kleines Mädchen. Sie hieß Ria.
Ihre Nussbraunen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden worden.
Nur ein paar Strähnen, die kürzer waren, als die anderen, konnten sich dem engen Griff des Haargummis entziehen und kitzelten das Mädchen auf der Stirn.
Sie war die Tochter einer wohlhabenden Familie.
Mit ihren Eltern zusammen wohnte Ria in einem großen Haus.
Sie besaß viele Spielsachen und hatte nie Hunger leiden müssen.
Viele ihrer Freundinnen beneideten sie, da ihre Familien oft ein wenig ärmer waren.
Sie wollten immer zu Ria nach Hause kommen, um mit deren tollen Spielsachen zu spielen.
Anfangs freute sich Ria, dass sie von allen so gemocht wurde und fühlte sich Geborgen in der Gegenwart ihrer Freundinnen, mit denen sie oftmals mehr Zeit verbrachte, als mit ihren Eltern.
Die Eltern von Ria waren nämlich sehr beschäftigte Leute.
Ständig mussten sie zu irgendwelchen treffen und ließen Ria in der Obhut eines Kindermädchens.
Und wenn sie einmal zu Hause waren, waren sie oft zu müde, um etwas mit Ria zu unternehmen.
So war sie praktisch auf die Gesellschaft ihrer Freundinnen angewiesen.
Eines Tages, kamen Rias drei beste Freundinnen mit zu ihr nach Hause.
Sie verkleideten sich und wollten ein Theaterstück vorführen.
Ria hatte sich einen braun getupften Pullover von ihrem Vater angezogen, der ihr viel zu groß war. Darin sah sie beinahe aus, wie ein Straßenkind.
Ihre Freundinnen hatten drei Kostüme aus der großen Kostümkiste von Ria ausgesucht, die sie eigentlich immer an hatten, wenn sie bei Ria waren.
Ria wurde das aber zu langweilig, immer das gleiche anzuziehen.
Da ihre Eltern sich aber an diesem Tag verspäten würden, und das Kindermädchen auf der Couch ein Nickerchen hielt, beschlossen die vier, Verstecken zu spielen.
Ria würde sich als erste verstecken.
Als ihre Freundinnen anfingen zu zählen, lief Ria auf der Suche nach einem geeigneten Versteck durchs ganze Haus.
Doch sie fand kein Versteck, das sie noch nicht ausprobiert hatte.
Seufzend setzte sie sich auf einen Stuhl in der Küche.
Oben konnte sie schon die Geräusche ihrer Freundinnen hören, die bereits begannen, sie zu suchen.
Sie brauchte ein gutes Versteck, wenn sie nicht gefunden werden wollte.
Da fiel ihr Blick auf die Terrassentüre.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Sie sprang leise vom Stuhl, lief zur Türe und machte sie vorsichtig auf.
Draußen war es bitterkalt, doch Ria dachte sich, dass ihre Freundinnen sie sicher bald finden würde und schloss die Türe zu.
Zitternd ließ sie sich unter einem der Gartenstühle nieder.
Es dämmerte schon und die Sonne war soweit untergegangen, dass ihre matten Strahlen Ria in ihrem Versteck nicht mehr erreichten.
Da erschien plötzlich ein Gesicht im Fenster der Türe.
Ria war erleichtert.
Längst hatte sie das Versteckspiel vergessen und sprang unter den Stuhl hervor.
Ihr war so kalt, dass sie einfach nur reinwollte.
Josephine, die Freundin, die an der Türe stand, sah Ria allerdings nur ausdruckslos an.
Dann verschwand sie wieder.
Panik begann in Ria aufzusteigen und sie schluckte krampfhaft.
Dann stürzte sie vor zur Tür und hämmerte mit aller Kraft dagegen.
Kurze Zeit später tauchte Josephine mit den beiden anderen wieder auf.
Erleichtert atmete sie aus.
„Ich dachte schon, ihr lasst mich jetzt einfach hier draußen.“ Sagte sie mit dünner Stimme, obwohl ihr klar war, dass ihre Freundinnen sie nicht hören konnten.
Die drei hinter der Scheibe warfen sich vielsagende Blicke zu.
Wie ein stummes Gespräch, an dem Ria nicht teilhaben konnte.
Ria verzerrte das Gesicht, als eine Windbö durch ihr Haar fuhr und sie frösteln ließ.
Wieder klopfte sie gegen das Glas.
„Lasst mich doch bitte rein! Es ist kalt hier!“ rief sie, doch ihre Stimme erstarb an der Scheibe und drang nicht zu den dreien durch.
Die Freundinnen im inneren des Hauses schauten sich um und nickten sich dann kurz zu.
Josephine sah Ria in die Augen.
Sie hatte einen so kalten Blick aufgesetzt, dass Ria sie beinahe nicht wiedererkannte.
Mit ein paar Schritten war Josephine zur Tür getreten und hatte ihre Hand auf das Schloss gelegt.
Zuerst dachte Ria, dass Josephine sie nur ein bisschen zappeln lassen wollte, als kleinen Scherz, und dass sie sie jetzt ganz bestimmt reinlassen würde, aber so war es nicht.
Josephines Mund formte Worte, die Ria nicht verstand.
Dann drehte ihre Hand den Schlüssel um.
Einmal.
Und noch einmal.
Das scharfe Geräusch, als sich die Türe verschloss und für Ria unüberwindbar wurde, stach sich schmerzen in ihr Gehör.
Dann waren ihre Freundinnen mit freudigen Sprüngen im Haus verschwunden.
Ria glaubte das alles nicht.
Ihre Beine zitterten, sie fiel auf die Knie und starrte mit trübem Blick hinein.
Die, von denen sie gedacht hatte, sie wären ihre Freunde, bei denen sie sich so sicher gefühlt hatte, die hatte sie in der eisigen Kälte zurückgelassen… Sie ausgesperrt.
Rias kalte Hand glitt über die Scheibe und ihr warmer Atem, der hier draußen zu kleinen Wolken gefror, blieb am Glas hängen und färbte es trüb.
Einen Moment lang, drohte Ria ihrer Verzweiflung zu verfallen.
Eine Träne rann ihr über die Wange.
Dann noch eine.
Sie biss die Zähne aufeinander und wischte mit einem Pulli Ärmel über ihr Gesicht.
Wenn sie jetzt weinte, wurden ihre Tränen womöglich zu Eis und froren auf ihrem Gesicht fest, dachte sie sich.
Nein, sie durfte nicht weinen.
Sie musste nur etwas finden, von wo aus sie ihre Eltern erreichen konnte.
Oder das Kindermädchen.
Mühsam hievte sie sich auf die wackeligen Beine und machte sich auf den Weg ins Dorf.
Ihre Mutter hatte sie gelegentlich mal mit hinunter genommen und ihre den ein oder anderen Laden gezeigt.
Sie hatte auch gesagt, wo Ria hingehen sollte, falls irgendetwas passiert sei.
Doch Ria konnte sich nicht erinnern, von welchem Ort ihre Mutter gesprochen hatte.
Sie wanderte Ziellos umher.
Die Sonne war längst unter gegangen und die Häuser lagen verlassen und bedrohlich da.
Ria hatte Angst.
Große Angst.
Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Zähne hatten zu klappern begonnen und ihre Füße taten weh.
Schließlich ließ sie sich, von der Erschöpfung und Müdigkeit übernommen, an einer Hauswand zu Boden sinken.
Ihre Finger und Zehen spürte sie nicht mehr und ihre Lider waren schwer.
Sie zog die Beine ganz eng an ihren Körper und schlang die Arme darum.
Dann schloss sie die Augen.
Sie kam erst wieder zu sich, als eine warme Hand ihre Wange berührte.
Kraftlos schlug sie die Augen auf und blinzelte.
Ihr war nun noch kälter als vorher und ihr Kopf fühlte sich warm auf ihren Knien an.
„Kleines.“ Ertönte neben ihr eine freundliche, leise Frauenstimme.
Ria hob den Kopf, so gut das ihr noch gelang.
Die Nacht war vollständig hereingebrochen und über ihr leuchtete hell das Sternenzelt.
In der Dunkelheit zeichneten sich die Umrisse einer Frau ab.
Soweit Ria es erkennen konnte, hatte sie dunkles, langes Haar und trug selber nicht mehr am Leib als Ria selber.
„Wer… wer bist du?“ fragte Ria. Ihre Stimme brach bei jedem Wort und sie musste immer neu ansetzten.
Die Frau hier ihr den Zeigefinger vor die Lippen.
„Pscht.“ Flüsterte sie und das matte Licht der Sterne leuchtete in ihren Augen.
Ria sprach trotzdem.
„Meine Freunde… Sie… sie haben mich ausgesperrt… ich dachte, sie mögen mich…“ Ria rang nach Luft.
„Mir ist kalt…“
Die Frau legte eine Hand auf Rias Stirn.
„Ich weiß, was deine Freunde getan haben… doch sie haben es nicht mit Absicht getan und werden irgendwann einsehen, dass das, was sie taten, falsch war.“ Sagte sie.
Ria sah die Frau an.
„Wirklich? ... und werden sie dann wieder mit mir spielen?“ fragte sie flüsternd und hustete.
Die Frau machte ein bekümmertes Gesicht.
„Es tut mir leid, doch ich fürchte um einzusehen, dass es falsch ist andere auszunutzen, musstest du ein sehr großes Geschenk geben…“
Rias Augen weiteten sich.
Sie horchte auf ihren Herzschlag, doch er war nicht da.
Noch nie hatte sie sich so leer gefühlt.
Doch dann wurde sie vollkommen ruhig.
Sie schaffte es sogar, ein leichtes Lächeln aufzusetzen.
„Wenn es ein Geschenk für meine Freunde ist, dann soll es mir recht sein. Denn sie sind alles in meinem Leben, was mir wichtig ist.“ Murmelte Ria.
Die Frau streichelte ihre Hand.
Tränen sammelten sich in Rias Augen.
„muss ich jetzt gehen?“ fragte sie zaghaft.
Die Frau schwieg eine Weile.
Dann wanderte ihr Blick hoch zum Himmelszelt.
„Sag mir, Ria, magst du die Sterne?“ fragte sie.
Für diese Frage brauchte Ria nicht lange zu überlegen.
Sie nickte.
Die Frau lächelte.
„Ich glaube, dann wird es dir nicht allzu schwer fallen…“
Sie legte die Hand auf Rias Kopf und kniete sich hin.
Jetzt sah Ria an ihrem Rücken etwas helles Schimmern und nach und nach erkannte sie, dass es Flügel waren.
Sie waren weiß und glänzten von den tausenden von Federn, mit denen sie geschmückt waren.
„Du… du bist ein Engel…“ flüsterte Ria.
De Frau Lächelte.
„Ja, meine kleine.“ Sie streichelte Ria über den Kopf. „Und ich verspreche dir, dass dein Abschied die Leute zum Nachdenken anregen wird… zum Nachdenken darüber, was die Menschen auszeichnet, und ob man selber wirklich wichtiger ist, als andere.“
Ria schmiegte sich an ihre Hand.
„Ich wollte schon immer mal einen Engel treffen…“ sagte sie.
Der Engel gab Ria einen Kuss auf die Stirn.
Dann erhob er sich, schlug kräftig mit den Flügeln und stieg hinauf in den Himmel.
Ria sah in ihre Hand.
Dort war eine kleine, weiche, weiße Feder zurückgeblieben.
Sie umschloss sie ganz fest mit ihrer Hand und schloss die Augen.
„Ich danke dir…“ hauchte sie, bevor sie aufhörte zu sein.
Texte: Das Copyright liegt bei mir!
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2012
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