Es war ein warmer Tag gewesen, daran erinnerte ich mich. Ein Tag wie jeder andere im Sommer, nur heißer. Der heißeste Tag seit langem.
Ich wartete schon lange in gespannter Vorfreude darauf, dass Jorge uns für einen Tag nach Berlin entführte. Die Hauptstadt, von der ich schon so viel gehört hatte.
Jetzt endlich war es so weit. An unserem Geburtstag würde uns Jorge mitnehmen, das hatte er versprochen.
Ich schlug das Buch zu. Genug Hausaufgaben gemacht für heute. Die glühenden Strahlen der Sonne drangen durch den Spalt, den die Vorhänge offen gelassen hatten, und verzehrten die Schatten auf meinen Holzdielen.
Ich zog die Beine an den Körper, um ihnen zu entkommen. Da klopfte es an die Türe.
„Herein!“ rief ich.
Mit einem knarrenden Geräusch öffnet sich die Türe und Emilia kam freudig ins Zimmer gesprungen.
Ihr Rock, der mit kleinen Blümchen übersät war, flatterte als sie hochsprang.
Mit glänzenden Augen sah sie auf mich hinunter.
„Was sitzt du hier über deinen Hausaufgaben? Wir fahren heute nach Berlin… Berlin
!!“ rief sie aufgeregt und drehte sich im Kreis. Dabei verschlangen sie die Strahlen der Sonne und ließen die Farben ihrer Handstulpen erstrahlen.
Sie wand sich zum Fenster, zog die Vorhänge auf und genoss die Wärme, die auf ihr gebräuntes Gesicht fiel.
Ich kniff die Augen zusammen. Die Hitze traf mich wie ein Schlag, da ich bis eben noch in Kühle Schatten gehüllt war. Ich beobachtete Emilia dabei, wie sie die warme Luft tief in sich aufsog.
Manchmal konnte ich nicht glauben, dass wir Schwestern waren.
Ich hievte mich auf, trottete zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Diesmal war kein spalt verschont geblieben und die hellen Strahlen waren vollständig ausgesperrt.
„Ach komm schon Felia!“ sagte Emilia quengelnd. „Heute ist doch unser Geburtstag… das wird bestimmt toll!“
Ohne auf meine Antwort zu warten flitze sie aus der Türe und verschwand in ihrem Zimmer, gegenüber von meinem.
Ich seufzte. Eigentlich freute ich mich auf Berlin. Doch die Wärme begeisterte mich nicht gerade sonderlich.
Ich packte meine Schultasche, stellte sie neben den Schreibtisch und nahm die gepackte Tasche von meinem Bett.
„Habt ihr euch auch gut eingecremt? Es ist heiß draußen!“ Erklang von unten die Stimme meiner Mutter.
„Ja Mama!“ antwortete Emilia leicht genervt.
Ich musste schmunzeln. Eigentlich war Emilia ein fröhlicher Mensch und zu allen Leuten nett, von ihrer Mutter war sie aber ziemlich schnell genervt. Ich schob es auf die Pubertät, die ich ja selber auch zu spüren bekam. Ich ließ meinen Blick durchs Zimmer schweifen und überlegte, ob ich auch nichts vergessen hatte.
Dann schloss ich die Türe hinter mir zu und ging in den Flur hinaus.
Aus dem hinteren Zimmer drang ein leises Schnarchen. Das waren die Geräusche von meinem Vater, die bezeugten, dass er schlief. Er arbeitete auf einer Baustelle und musste oft bis spät in die Nacht die Arbeit der anderen überwachen und schauen, dass alles so lief, wie es sich gehörte. Dafür schlief er bis in den Nachmittag rein.
Ich schlich die glatten Stufen der Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Meine Mutter war in der Küche und bereitete uns Brötchen vor, die wir auf unseren Tagesausflug mitnehmen sollten.
Mein Blick wanderte zur Uhr. Viertel vor zehn.
Jorge sollte uns eigentlich um zehn Uhr abholen, aber er nahm es mit der Pünktlichkeit nie so genau, weshalb ich vermutete, dass er mindestens fünf Minuten später eintraf.
Ich ließ meine Tasche auf den Boden fallen und setzte mich aufs Sofa.
Der Fernseher lief und zeigte eine Nachrichtensendung.
„Der heißeste Tag seit fünf Jahren startet direkt mit einer Tragödie. Mehrere Kinder sind auf einer Reise mit dem Bus einem Kreislaufkollaps zum Opfer gefallen und werden derzeit in einem örtlichen Krankenhaus behandelt…“
Ich runzelte die Stirn und griff nach der Fernbedienung. So etwas wollte ich mir nun wirklich nicht ansehen, da wir in einem viertel Jahr auf Klassenfahrt fuhren… mit einem Bus.
Aber im Herbst waren die Temperaturen bestimmt nicht so schrecklich hoch… beruhigte ich mich.
Ich zappte ein bisschen herum, bis ich eine Dokumentation über Tiger fand. Das war doch schon besser.
Gerade als ich mich auf dem Sofa zurückgelehnt hatte, kam meine Mutter mit einer Kühlbox in der Hand aus der Küche gestapft.
„Felia. Du bist ja schon fertig. Ist deine Schwester noch oben?“ fragte sie und stellte die Box neben mir auf dem Sofa ab.
„Ja, sie schaut glaub ich noch, was sie anziehen soll.“ Antwortete ich abwesend und heftete meinen Blick auf den Bildschirm.
Aus den Augenwinkeln bekam ich mit, wie Mutter die ersten Treppenstufen hinaufstieg und nach Emilia rief.
„Emilia schatzt, beeil dich mal ein bisschen! Jorge kommt bestimmt jeden Augenblick!“ Dann ging sie zurück in die Küche.
Ich wusste genau, dass meine Mutter über die Unpünktlichkeit ihres Bruders bescheid wusste. Aber ich wusste ebenso, dass sie Emilia gut genug kannte und wusste, wie lange sie immer brauchte.
Schließlich kam Emilia geräuschvoll die Treppe hinuntergesaust.
Sie hatte den Blümchenrock gegen eine, mit Absicht zerfetzte, Hotpants eingetauscht und die Handstulpen abgelegt. Stattdessen glänzte an ihrem Daumen ein Kunstdiamantenüberzogener Ring.
Wie man bei diesem Wetter Handstulpen hätte tragen können, das war mir ohnehin ein Rätsel gewesen.
Emilia stellte ihre rosafarbene Tasche neben meiner ab und gesellte sich zu mir aufs Sofa.
„Was schaust du denn da?“ wollte sie wissen und sah zum Fernseher rüber.
Diese Frage brauchte ich ihr nun wirklich nicht zu beantworten.
„Interessant“ murmelte sie und griff nach der Gummibärchentüte.
Jorge kam eine Gute viertel Stunde zu spät, was aber niemanden von uns wunderte.
Als es klingelte, sprang Emilia ruckartig auf und stürmte zur Türe.
An ihrem erfreuten Ausruf, erkannte ich, dass es Jorge sein musste.
Als zweite Kam Mutter aus der Küche, warf einen Blick zur Türe und wand sich dann mir zu.
„Felia, dein Onkel ist da! Mach doch mal den Fernseher aus.“
Dann ging sie mit der Kühlbox zur Türe.
Wiederwillig schaltete ich den Fernseher aus und ging meinen Onkel begrüßen, der gerade Emilias neuen Oberteil begutachtete.
„Felia! Meine kleine! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Wie geht’s dir?“
Er sprach mit dem leicht südländischen Akzent, wie ich es von ihm gewohnt war.
Ich umarmte ihn kurz und setzte ein Lächeln auf.
„Danke! Mir geht’s gut, und dir?“
Er grinste breit.
„Mir auch. Seit ihr Fitt für Berlin?“
Emilia nickte eifrig und sagte zum einhundersten Mal wie sehr sie sich darauf gefreut hatte.
Ich fand, Onkel Jorge hatte etwas von einem Fernsehmoderator mit seinem breiten Grinsen, der offenen Stimme und der starken Freundlichkeit.
Emilia und ich holten unsere Taschen aus dem Wohnzimmer.
Währenddessen überreichte Mutter ihm die Kühlbox und drückte ihm eine Flasche Sonnenmilch in die Hand.
„Achte darauf, dass sie nicht allzu lange in der Sonne bleiben. Und dass sie genug trinken.“
Ihre Mütterliche Führsorge drückte sich mit diesen Worten wiedereinmal aus.
„Mach dir keine Sorgen, Desiree. Es wird schon alles gut gehen.“
Versprach Jorge, wobei er Mutter die Hand auf die Schulter legte.
Diese nickte nur, schien aber wenig überzeugt zu sein.
„Wir werden bestimmt nicht verdursten!“ rief Emilia etwas zu spitz, wie ich fand.
Sie wand sich aus den Liebkosungen ihrer Mutter und drängte sich an ihr vorbei durch die Türe nach draußen.
Ich folgte ihr und setzte meine große Sonnenbrille auf.
Die Sonne blendete hier noch greller als in meinem Zimmer und die Hitze war fast unerträglich.
Es würde noch schlimmer werden, wenn wir erst einmal in Berlin waren, das wusste ich.
Jorge verabschiedete sich auch von Mutter und entsperrte dann das Auto, ein Porsche-Cabrio.
Er war ein nicht ganz unerfolgreicher Filmproduzent, was erklärte, dass er sich so ein Teures Auto leisten konnte.
„Dann steigt mal ein ihr Hübschen, und macht’s euch bequem. Wir werden eine ganze Weile brauchen, ehe wir da sind.“
Sagte er und öffnete uns die Autotür.
Emilia kletterte als erste hinein und rutschte durch.
Ich setzte mich neben ihr hinter den Beifahrersitz.
Jorge schlug die Türe zu, ging ums Auto herum und stieg ebenfalls ein.
Als er losfuhr, rief uns Mutter, die immer noch an der Haustür stand einen Gruß zu und winkte.
Ich winkte kurz zurück, dann packte ich die Kopfhörer aus der Tasche und schaltete mein Handy ein.
Die fahrt dauerte etwa anderthalb Stunden und führte uns vorbei an Feldern, Seen, Wäldern und Städten.
Emilia hörte sich die Informationen von Jorge zu den einzelnen Orten, an denen wir vorbeifuhren an.
Ich hörte nur halb zu. Viel mehr war ich in die Musik meines Handys und meine Gedanken vertieft.
Ich schaute aus dem Cabrio nach draußen.
Der Fahrtwind zerzauste mir Das Haar und blies mir kalt ins Gesicht.
Ich fröstelte, wobei das auf der Rückfahrt bestimmt sehr erfrischend sein musste, nachdem man mehrere Stunden in der Stadt herumgelaufen war.
Wir fuhren durch ein kleines Wäldchen.
Die Bäume flogen regelrecht an uns vorbei.
Das Blätterdach ließ nur wenige Sonnenstrahlen hindurch, die ein getupftes Muster auf Straße und Waldboden malten.
Zwischen den Bäumen wuchs Gras und hier und da auch mal ein Gänseblümchen.
Ich fand, es war ein so schönes Bild, was sich mir bot, dass man es eigentlich hätte fotografieren müssen.
Doch ehe ich diesen Gedanken zuende geführt hatte, waren wir schon aus dem Wäldchen raus, in ein kleines Dorf gefahren.
Am Wegesrand spielten zwei Jungen, ein jüngerer und ein älterer, der ungefähr in meinem Alter war, mit einem Fußball.
Der ältere sah auf, als wir an ihnen vorbeifuhren und fixierte mich mit seinen grünen Augen.
Ich musste den Blick abwenden und schaute stattdessen einer Katze zu, die über die Straße huschte.
Es war ein gemütliches kleines Dörflein.
Die Häuser waren teilweise mit Efeu überzogen und um die Blumenbewachsenen Gärten verliefen ungleichmäßige Holzzäune.
Schließlich fuhren wir an einem Bauernhof vorbei, an den mehrere eingezäunte Wiesen grenzten.
Auf einer, unmittelbar neben der Straße, Grasten mehrere Kühe.
Eine sah auf und kaute genüsslich auf einem Büschel Gras herum.
Ich musste schmunzeln.
Dahinter auf der Wiese standen drei Pferde.
Zwei Braune mit schwarzen Mähnen und ein braun-weiß geschecktes.
Das erinnerte mich daran, dass ich ein paar Jahre lang regelmäßig Reitstunden genommen hatte.
Ich warf den Tieren einen letzten Blick zu.
Dann lehnte ich mich zurück, schloss die Augen, genoss den Wind, der um meine Nase Strich, und stellte mir vor, auf einem Pferd über die Landschaft zu galoppieren.
Wir fuhren eine ganze Weile noch auf der Autobahn.
Dort musste Jorge allerdings das Verdeck schließen, da es zu windig werden würde.
Emilias Haare sahen schon ganz zerzaust aus und ich war sicher, dass meine dem sehr ähnelten.
Mit den Fingern fuhr ich mir durchs Haar und versuchte, es dazu zu bewegen, sich wieder ein wenig zu glätten.
Dann lehnte ich mich im Auto wieder zurück und ließ mich voll und ganz von der Musik ausfüllen.
Ich war schon fast eingedöst, als das Auto zum stehen kam.
Rückartig schreckte ich hoch und blinzelte.
Durch das Fenster fielen unerbärmlich die heißen Sonnenstrahlen und wärmten meinen Arm.
„Wir sind da!“ ertönte von draußen gedämpft die Stimme von Jorge.
Emilia war neben mit eingenickt. Ich stieß sie leicht mit dem Ellebogen an.
„Emilia. Aufwachen, wir sind da.“ Flüsterte ich in ihr Ohr.
Emilia grummelte und öffnete die Augen ein wenig.
„Wo? Was ist los?“ murmelte sie.
„In Berlin, du weißt schon, mit Jorge.“ Rief ich ihr in Erinnerung.
Plötzlich war Emilia hellwach und setzte sich auf.
„Ja, sind wir schon da?“
Sie schaute aus dem Fenster.
Ein breites Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit, als sie die ganzen Gebäude sah.
„Das ist noch gar nichts.“ Sagte Jorge, der den Kopf ins Auto gesteckt hatte.
„Warte ab, bis wir bei den Geschäften sind“
Jetzt erst fiel mir auf, dass das Auto in einem Parkhaus stand.
Die Sonne fiel durch die Fenster hinein und erhitzte den Gurt, der sich auf meiner Schulter straffte.
Ich schnallte mich ab, nahm meine Tasche und öffnete die Autotüre.
Von draußen kam mir ein Schwall warmer Luft entgegen. Jorge hatte vermutlich wieder die Klimaanlage im Auto eingestellt.
Ich hievte mich aus dem sitzt und streckte mich erst einmal ordentlich.
Meine Beine waren eingeschlafen und ich hoffte, dass wir nicht so lange gefahren waren, als dass man sich Sorgen darum machen müsste, Thrombose zu bekommen.
Emilias Müdigkeit war wie weggeblasen und sie kämmte aufgeregt ihre Haare zu Recht.
Jorge verriegelte das Auto.
„Alle bereit?“ fragte er und setzte wieder sein Grinsen auf.
Emilia und ich nickten.
„Na dann kannst ja losgehen! Machen wir mal die Stadt unsicher!“ rief er ankündigend und ging voraus.
Emilias Augen strahlen, als sie neben ihm herlief.
Auch ich war mittlerweile aufgeregt.
Wir mussten durch das halbe Parkhaus laufen – es war riesig – um zum Ausgang zu gelangen.
Fast jeder Parkplatz war besetzt. Ich hatte noch nie so viele Autos auf einmal gesehen.
Es war sehr stickig hier drinnen und die Luft trug den starken Geruch von Gummi und auch eine feine Spur von Benzin an meine Nase.
Schließlich kamen wir am Ausgang an.
Jorge öffnete die Türe und ließ uns den Vortritt.
Draußen traf mich die Wärme der Sonne nicht ganz so stark und es wehte sogar ein kühles Lüftchen.
Jorge setzte seine Sonnenbrille auf und sah sich zufrieden um.
Das Parkhaus lag mitten in der Stadt, so konnte man in die einzelnen Verkaufsmeilen schauen und unendlich viele Geschäfte ausmachen.
„Viola! Willkommen in Berlin!“ sagte Jorge. „Na, wo wollt ihr als erstes hin? Schuhe oder Klamotten schauen? Wir können natürlich auch zuerst Essen gehen“
Emilia sah sich um. Von einer Seite zur anderen und wieder zurück, als könnte sie es gar nicht fassen.
Sie war im Paradies gelandet.
Ich muss aber zugeben, dass die ganzen Geschäfte sehr beeindruckend und verlockend waren.
Doch es machte mir auch irgendwie Angst, mich in das Getümmel stürzen zu müssen.
„Ich muss unbedingt
nach Klamotten schauen! Ich hab noch gar keine richtigen Sommerklamotten. Und Schuhe brauche ich auch!! Aber… warte. Ich brauche ja dann auch wieder Schmuck! Und letztens hab ich noch so tolle Ohrringe gesehen… weißt du noch, Felia? Die mit den Steinchen? Hoffentlich haben sie die hier…“ Die Worte sprudelten nur so aus Emilia heraus und ich musste schmunzeln.
„Ja, ich weiß noch. Keine Sorge, dass ist Berlin! Hier haben sie die bestimmt.“ Sagte ich zu ihr.
Wenn ich so überlegte, hatte ich auch noch nicht so wirklich viele Sommersachen.
Es konnte ja keiner ahnen, dass es dermaßen heiß werden würde.
Für die gesamte nächste Woche war noch keine Wetteränderung gemeldet worden, wir konnten uns also auf Tops, Röcke und Hotpants einstellen.
Schließlich zog es Emilia in ein riesiges Kaufhaus, in dem Geschäfte aller Art versammelt waren.
Es war hier wesentlich kühler als draußen, insofern konnte ich ihre Wahl gutheißen, zuerst ins Kaufhaus zu gehen.
Wir machten uns auf den Weg auf die erste Etage.
Emilia und ich steuerten auf ein Klamottengeschäft zu.
Jorge folgte uns ohne wiederrede, wie ein Schatten, hatte er gesagt.
Ich musste unbedingt nach ein paar Tops und kurzen Hosen Ausschau halten, denn davon hatte ich gehörig wenige.
Emilia zog mich in eine Ecke, in der das Motto wohl ‚rosa, weiß und schwarz’ lautete.
An einigen Bügeln hingen rosafarbene Jeanshosen und daneben die dazu passenden Tops in rosa-weiß gestreift.
Emilia hatte sich anscheinend in die rosa Hose verliebt und suchte nach ihrer Größe.
Neben den Tops lagen noch T-Shirts in dem gleichen Muster und Strickjacken.
Dann gab es auch Tops in schwanz-weiß gestreift.
Das gefiel mir schon besser.
Ich nahm das obere vom Stapel um schaute es mir an.
Emilia hatte sich eine Hose über den Arm gelegt und kam zu mir rüber.
„Damit siehst du ja aus, wie ein Häftling!“ scherzte sie.
Ich verzog das Gesicht. „Mir gefällt’s. Außerdem passt es du dem schwarzen Rock, dem ich hab.“
„Du meinst wohl, zu dem einzigen
Rock, den du hast.“ Erwiderte sie und ging weiter zu den Röcken.
Ich seufzte.
Dann nahm ich das Top mit.
Als wir aus dem Geschäft kamen, hatten Emilia und ich schon jeweils eine Tüte, und Jorge hatte eine neue Sonnenbrille gefunden.
Emilia hatte sie für die rosafarbene Hose und eine dunkelblaue Hotpants entschieden.
Ich hatte nur das Top genommen.
Dann ging es weiter ins Schuhgeschäft.
Diesmal war das auch günstiger für Jorge, glaubte ich zumindest, denn er bestand darauf, am Ende noch mal bei den Herrenschuhen vorbei zuschauen.
Emilia und ich probierten die verschiedensten Schuhe aus.
Hochhackige mit zehn Zentimeter hohem Absatz, Sneakers in grellen Gelb- und Grüntönen, Sandalen mit Steinchen besetzt und welche, die man bis zu den Knien zuschnüren musste.
Emilia war im Himmel, da war ich mir sicher.
Sie liebte Schuhe, sogar fast noch mehr als Klamotten, und wollte später einmal in einem Schuhgeschäft arbeiten.
Doch von Herrenschuhen war sie nicht sonderlich begeistert.
Jorge hingegen schien die Auswahl, die sich ihm bot, zu gefallen.
Von Lederschuhen, die vorne spitz zuliefen bis hin zu einfachen Hausschuhen über Krokodilslederschuhe war so ziemlich alles dabei was ein Männerherz begehrte.
Emilia stieß ab und an absichtlich laute, gelangweilte Seufzer aus.
Jorge schien sich darum aber nicht zu kümmern, schließlich kannte er Emilia, und suchte ein paar schwarze Lederschuhe in seiner Größe raus.
Als er die passenden gefunden hatte, machten wir uns auf zur Kasse.
Diesmal war Emilia die einzige, die nichts abgestaubt hatte.
Ich hatte mir ein Paar Ballerinas in blau-weiß kariertem Stoff und Jorge sich die Lederschuhe gekauft.
So langsam war es Zeit, uns etwas Nahrung zu suchen.
Mein Magen fing schon an, lauthals zu protestieren, als ich ihm nur Wasser gab.
„Ich glaube, wir sollten mal etwas essen gehen.“ Meldete ich mich, als wir gerade aus dem Schuhgeschäft rausgekommen waren.
„Können wir nicht nachher noch essen? Wir sind doch gerade erst in zwei Geschäften gewesen!“ quengelte Emilia.
Jorge schmunzelte.
„Deine Schwester hat Recht. Es ist schon halb vier. Ich möchte ja auch nicht, dass ihr mir hier gleich umfallt.“
Er bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, Emilia und ich dich hinter ihm, und führte uns zu einem verhältnismäßig kleinen Restaurant zwischen einem Schmuckgeschäft und einem Kiosk.
Es war ein Chinesisches oder Thailändisches Restaurant mit einer Selbstbedienungstheke.
Emilias gute Laune war wieder zurückgekehrt, nachdem sie das Essen gesehen hatte.
Es gab Reis, Nudeln, Paniertes Hähnchen oder Schwein, Frühlingsrollen, gebratenes Gemüse und Soßen.
Dazwischen noch allen möglichen ausländischen Beilagen.
„Das sieht aber lecker aus!“ rief Emilia.
„Ja, und es riecht auch gut.“ Fügte ich hinzu.
Der Duft der süß-sauren Soße war der stärkste. Nebenbei Roch es nach Gemüse und Fleisch.
Jorge ging vor und nahm sich einen Teller auf einem Tablett.
„Ihr könnt den Teller so voll machen, wie ihr wollt!“ sagte er und lächelte.
Emilia griff gierig nach einem Teller.
Ich ließ ihr den Vortritt, da ich beinahe befürchtete, sie könnte mich essen, falls sie nicht bald etwas anderes bekam.
Ich reihte mich hinter ihr ein und füllte meinen Teller.
Schließlich saßen wir mit gefüllten Tellern und Bechern an einem runden Holztisch und Aßen.
„Was macht die Schule so?“ fragte Jorge zwischen einem Bissen Hähnchenfleisch und einem Schluck Bier.
„Ganz okay. Du kennst ja unsere Einstellung zu diesem Thema.“ Sagte ich ironisch.
„Also, was meine liebe Schwester damit sagen will: Alles wie immer.“ Entgegnete Emilia, bevor sie sich noch eine Gabel Reis in den Mund schob.
„Dann weiß ich ja bescheid“ meinte Jorge und aß weiter.
Wir blieben noch bis Abends in dem Einkaufscenter, das so riesig war, als dass man über eine Woche gebraucht hätte, ehe man alle Geschäfte durch gehabt hätte.
„Wir müssen jetzt langsam wieder los.“ Meinte Jorge mit einem bedeutungsvollen Blick auf seine Armbanduhr.
Emilia verzog das Gesicht.
„Jetzt schon?“ fragte sie ungläubig.
Jorge lachte kurz auf.
„Ja jetzt schon. Wir müssen ja noch zurückfahren, dass dürft ihr nicht vergessen.“
Emilia schien trotzdem nicht zufrieden.
„Warum haben wir auch bloß einen Tag?“ fragte sie eher zu sich selbst.
Um sicher zu gehen, antwortete ich ihr aber.
„Du weißt doch, dass Mama für morgen die ganzen Erwachsenen eingeladen hat.“
Emilia sah mich mit einem giftigen Blick an, als wäre ich daran schuld, dass wir nicht noch einen Tag bleiben konnten.
Ich seufzte.
„Da kann man nichts machen. Desiree hat es so gesagt, so wird’s gemacht. Aber keine Sorge, wir kommen bestimmt auch mal für eine Übernachtung nach hier.“
Versuchte Jorge Emilia aufzuheitern.
Ich war überrascht, wie gut ihm das gelang.
Emilia lächelte leicht.
„Okay. Können wir den wenigstens noch ein Eis haben?“
fragte sie.
Ich war von der Idee sehr angetan und schaute Jorge erwartungsvoll an.
„Von mir aus. Auf dem Weg zum Parkhaus kommen wir an einer Eisdiele vorbei, da darf sich jeder von euch eine Kugel nehmen.“
Willigte Jorge ein.
Gut gelaunt, aber erschöpft vom langen Tag gingen wir zum Ausgang.
Jorge hatte neben den Schuhen auch ein paar Klamotten gefunden, Emilia hatte sich neben Schminke auch noch zwei Röcke, ein Top, eine Hotpants, zwei Paar Schuhe und ein leichtes Oberteil sowie Schmuck gekauft und ich hatte mich für zwei Tops, ein T-Shirt, einen Rock, zwei Röhrenjeans, ein Paar Balerinas und ebenfalls Schmuck entschieden.
Die Sonne malte helle Lichtstreifen auf den Boden und überall verschwanden die kleinen Gassen in Geheimnisvollen Schatten, die alles, was dort war, im Verborgenen hielten.
Ich nahm einen Löffel von dem Pfefferminz-Eis, was ich mir gekauft hatte.
Immer noch war die Luft recht schwül, auch wenn die Temperaturen in der Abenddämmerung nicht mehr ganz so dramatisch hoch waren, wie am Mittag.
Ich ließ das Eis auf meiner Zunge zergehen und versuchte, soviel wie möglich von dem Geschmack herauszufiltern, bevor ich es hinunterschluckte.
Frostig lief es mir den Hals hinunter.
Es waren immer noch viele Leute unterwegs, jedoch hatten sich die meisten in Geschäfte oder Einkaufspassagen zurückgezogen.
Emilia hatte ihr Eis, eine Kugel Schlumpfblau, schon zur Hälfte aufgegessen und schlang gerade einen weiteren Löffel voll hinunter.
„Das war mit Abstand der beste Shoppingtag aller Zeiten!“ sagte sie mit vollem Mund.
Ich nickte bestätigend und musste ein Gähnen unterdrücken.
Tränen rannen mir in die Augen und ließen die Farben, die ich sah ineinander verschwimmen.
Ich blinzelte und nahm noch etwas von dem Eis.
Als wir beim Parkhaus ankamen, hatten wir beide unser Eis aufgegessen.
Der Temperaturunterschied vom Parkhaus zu draußen war fast kaum spürbar, doch der unverkennbare Geruch hing immer noch in der Luft.
Emilia rümpfte die Nase.
„Bäh, hier stinkt’s!“ sagte sie angewidert.
Ich fragte mich, ob sie den Geruch an Anfang nicht bemerkt hatte, oder ob sie sich erst jetzt dazu äußerte.
Jorge führte uns wieder durch das halbe Parkhaus zurück zum Auto.
Zwischendurch hatte ich schon die Befürchtung, wir hätten und verlaufen, doch dann kam das Cabrio in Sicht.
„Endlich.“ Murmelte ich und war noch nie so erfreut über den Anblick eines Autos gewesen.
„Ja… meine Füße tun mir schon weh!“ ergänzte Emilia.
Jorge schmunzelte.
Wir verstauten unsere Tüten im Kofferraum und setzten uns in das, mittlerweile sehr warm gewordene, Auto.
Jorge stellte als aller erstes die Klimaanlage wieder an und kurbelte das Fenster hinunter.
Dann fuhr er zum Ausgang.
Ich hatte mir wieder die Kopfhörer in die Ohren gesteckt.
Verträumt schaute ich aus dem Fenster, während meine Sinne von der Musik betäubt waren.
Wieder musste ich Gähnen.
Wir fuhren auf der Autobahn und die Bäume am Horizont vereinten sich durch das hohe Tempo zu einer geraden Linie.
Das letzte, was ich mitbekam war, dass wir einen großen LKW überholten.
Dann hatten mich das sanfte rattern des Autos und die leisen Klänge der Musik in weichen Schlaf gehüllt.
Ich öffnete blinzelnd die Augen einen kleinen Spalt.
Mein verschwommener Blick huschte aus dem Fenster.
Zuerst war mir nicht klar, was mich geweckt hatte.
Alles schien so wie betäubt.
Wie aus einem Traum, den ich träumte. Doch ich schlief nicht mehr.
Ich war wach.
Oder schlief ich doch?
Der Horizont war seltsam verzogen und irgendetwas an seinem Ort verstörte mich.
Dann ertönte ein Schrei direkt neben mir.
Doch für mich war er im Moment sehr weit entfernt. Zu weit, als dass ich davon irgendwie beunruhigt wurde.
Der Schrei endete in einem erstickten Laut und verstummte.
Ich spürte meine Beine und Arme nicht mehr. Mein Kopf fühlte sich an wie Watte.
Noch ein Schrei. Dann ein leises knacken.
Mein Herz schien auszusetzen.
Ich konnte die Augen nicht länger aufhalten. Mein Kopf tat weh.
Ich ließ die Lieder sinken und fiel zurück in die Schwärze. Die Musik war längst verstummt.
Und wieder wusste ich nicht, ob ich träumte oder wach war, als die leisen Stimmen sich in meine Wahrnehmung gruben.
Ich nahm eine Sirene war.
Das glaubte ich zumindest.
Lauter stechende, schrille Geräusche, die sich aneinanderdrängten, als ob sie es gar nicht erwarten konnten, endlich erklungen zu sein.
Hätte man mich nach einer Farbe gefragt, die mir durch den Kopf ging, wenn ich diese Töne hörte, hätte ich geantwortet: „knallig“.
Ich meinte eine Berührung an meiner Hand zu spüren, vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein.
Dann war ich auch schon wieder abgetaucht, in die Sicherheit der Benommenheit.
Eiskalt fuhr mir ein Wind den Rücken hinunter.
Ich stand am Ende einer langen Straße. Der Horizont verschwand hinter schwarzen Bäumen, die alles zu verschlucken schienen.
Ich hatte keine Ahnung, was ich hier machte, oder wie ich hier her gekommen war.
Die Geräusche klangen alle gedämpft, aber doch so laut, dass sie meinen Kopf komplett ausfüllten.
Wieder streifte ein Windhauch meinen Körper. Diesmal zehrte er aber von so viel Kraft, dass ich das Gefühl hatte, davongetragen zu werden.
Ein süßlicher Duft schwebte zusammen mit der kalten Luft an meine Nase.
Ich zog ihn tief in mir auf.
Er löste ein unglaublich schönes, angenehmes Gefühl der Geborgenheit in mir aus, sodass ich am liebsten nie mehr ausgeatmet hätte, aus Angst, diesen Duft für immer zu verlieren.
Mir wurde schwindelig, ich konnte mich nicht mehr auf meinen Beinen halten und fiel.
Aber anstatt, wie zu erwarten, auf dem harten Betonboden der Straße zu landen, fiel ich auf etwas weiches, wie die Mattratze meines Bettes zuhause.
Als sich schließlich ausatmete und dann erneut die Luft prüfte, war der Duft tatsächlich verschwunden.
Er wurde abgelöst von einem scharfen Geruh nach Reinlichkeit und Alkohol.
Dann drang ein unangenehmer Laut durch mein Bewusstsein.
Immer wieder durchdrang das stechende Piepen mein Gehör.
Dieses Geräusch kannte ich von irgendwoher.
Ich versuchte ein Auge zu öffnen, es gelang mir allerdings nur einen Spalt weit, dann fiel es mir wieder zu.
Ich war müde, unglaublich müde.
Plötzlich ertönte eine Stimme, hoch und laut.
„Sie ist wach! Felia.. Felia, kannst du mich hören?“
Ich spürte eine warme Hand an meiner Wange und fühlte den Atem, ganz nah an meinem Ohr.
Es war wie als quetschte mich diese Nähe ein.
Ich versuchte zu antworten.
„Ja.. ich.. wo bin ich?“ meine Stimmt war kaum mehr als ein Hauch und sie zitterte.
Ich wollte den Kopf heben, als auf einmal meine Muskeln versagten.
Wieder verlor ich mich, jedoch nur für einen kurzen Moment.
Dann konnte ich die Augen wieder ganz öffnen.
Ich sah ein weiß-hellgrünes Krankenhauszimmer.
In der Mitte stand ein Bett, auf dem ein Mädchen lag, den Kopf unnatürlich schlaff zur Seite gelegt.
Sie war an alle möglichen Geräte angeschlossen und erinnerte mich an die Rückseite unseres Fernsehers, der mit Kabelanschlüssen übersäht war.
Um sie herum scharrten sich mehrere Krankenschwestern und Ärzte, sie wirkten panisch, doch für mich wirkte das alles weit weg.
Sie versuchten, das Mädchen wiederzubeleben.
Seltsamer Weise blieb ich ganz ruhig und starrte nur auf das Gesicht des Mädchens, das unter ihren Haaren verborgen lag.
Eine Krankenschwester wand mir ihr Gesicht zu.
Es war das markante Gesicht von Emilia, das mich flehend ansah.
Erschrocken fuhr ich zurück.
Ihr Mund öffnete sich ein Stück und ihre Lippen formten Stumme Botschaften an mich, die ich nicht verstand.
Dann schloss sie die Augen, eine Träne rann ihr über die Wange und zersprang auf dem Boden.
Dort weitete sie sich zu einer Pfütze, aus der mich mein Onkel, Jorge, anblickte.
Seine Augen wirkten leer und sein Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck.
Ich erkannte den freudigen, mir sonst so vertrauten Mann nicht wieder.
Dann spürte ich einen Druck, fast wie ein Sog, der mich zu dem Mädchen hin zwang.
Ich konnte mich nicht wehren.
Kurz bevor ich bei ihr ankam, fiel ihr Kopf zur Seite und gab den Blick auf ihr Gesicht frei.
Mit stockte der Atem.
Das Mädchen, das dort im Bett lag, sah aus wie ich.
Das Geräusch zweier Stimmen und die Tatsache, dass sich eine kühle Hand auf meiner Wange befand, ließen mich aufwachen.
Es war so, als kehre ich nach einer Monatelangen Reise endlich wieder in meinen Körper zurück.
Doch ich wusste nicht, ob ich wieder dort sein wollte.
Ich spürte einen leichten Druck an meinem Kopf, so als hätte ich mich irgendwo gestoßen.
Doch ich konnte mich nicht erinnern.
Ich konnte mich an rein gar nichts erinnern.
Egal, wie tief ich in den endlos scheinenden Weiten meines Gedächtnisses grub, das letzte woran ich mich erinnern konnte, war, dass sich Emilia über den Gestank des Parkhauses beschwert hatte und wie ich mit der Musik verschmolz. Darauf folgte nur schwärze, wie als hätte jemand mit einem Radiergummi all das, was danach kam wegradiert und schön säuberlich darauf geachtete, dass der die Ränder nicht mit entfernte.
Ich blinzelte und es kam mir so vor, als hätte ich das in der letzten Zeit schon ziemlich oft getan.
Jetzt erkannte ich die Stimmen, hörte sie ganz deutlich, und konnte sie zuordnen.
Die eine zumindest.
Sie gehörte meinem Vater. Doch seine Stimme klang irgendwie anders als sonst. So belegt.
Als hätte er in der letzten Zeit viel mitgemacht.
Die andere Stimme, eine hohe, fast schon schrille Frauenstimme, kannte ich nicht.
Trotzdem kam sie mir sehr bekannt vor. Fast wie bei einem Radiosprecher.
Man hörte die Stimme immer im Hintergrund, wenn Zuhause oder im Auto das Radio lief, konnte sie aber keinem Gesicht zuordnen.
Mein Blick war verschleiert und trüb und meine Augen waren ganz klebrig vom Schlaf.
Ich hob eine Hand um mir über die Augen zu reiben.
Ich fühlte mich beinahe wie neugeboren. Als hätte man mich wieder auf Hochglanz gebracht.
Die Muskeln meines Armes fühlten sich schwach, dünn und weich an. Noch betäubt von dem langen Aussetzer, den sie vermutlich hatten.
Dann drang das Geräusch schwerer Schritte an mein Ohr.
Wenig später beugte sich ein schlau aussehender Mann über mich und leuchtete mir mit einer kleinen Lampe erst in das eine, dann in das andere Auge.
Ich musste blinzeln.
Das grelle Licht unmittelbar vor meiner Netzhaut hatte dunkle Flecken in meinem Sichtfeld hinterlassen.
„Felia?“ Mein Name brannte sich schmerzhaft aber auch taub in mein Gehör.
Ich öffnete die Lippen ein Stück. Mein Hals kratzte.
„J-Ja?“ Das Wort war schwerer auszusprechen, als ich gedacht hatte. Meine Stimme zitterte und war kaum mehr als ein Hauch. Ich schluckte schmerzhaft und musste Husten.
Lauter kleine Bilder gruben sich in mein Gedächtnis und füllten es aus.
Doch ich konnte nicht erkennen, was sie darstellen. So als wären sie zu weit weg oder zu unscharf als das ich sie hätte erkennen können.
Mein Unterbewusstsein klammerte sich an einem dünnen Faden fest, um nicht abzurutschen und in die Dunkelheit zurückzufallen, bis er wieder Boden unter sich bekam.
„Ruh dich aus. Dein Körper muss sich erholen.“ Ertönte wieder diese schmerzende Stimme.
Ich atmete einmal tief ein.
Dann schloss ich wieder die Augen und versuchte, zu schlafen.
Ob meine Eltern da gewesen waren, oder nicht, dass war mir gar nicht bewusst gewesen.
Erst später hatte ich darüber nachgedacht, dass sie doch eigentlich hätten da sein müssen.
Bei mir.
Ihrer verletzten Tochter.
Im Krankenhaus.
Doch sie waren nicht da gewesen.
Es war wie eine Reise.
All die Male, wo ich aufwachte.
Wie eine Wiedergeburt nur immer und immer wieder.
Wie eine Verwandlung.
Es war schrecklich.
Nun konnte ich mich ein wenig ablenken, indem ich Fernsah. Bewegen durfte ich mich ja sowieso nicht.
Mein linker Arm war komplett in Gips gehüllt und um meinen Hals band sich eine straffe Schiene.
Meine Eltern waren immer noch nicht da gewesen.
Ich zappte ein bisschen zwischen den Sendern herum, doch es lief nichts Anständiges.
Man hatte mir meinen MP3-Player oder mein Handy noch nicht gegeben, also konnte ich keine Musik hören.
Immer noch ein bisschen benebelt schaltete ich den Fernseher per Fernbedienung aus und Gähnte.
Im nächsten Moment klopfte es an die Türe.
Es war ein kräftiges, geübtes Klopfen, so als hätte diese Person das schon eintausend Mal getan.
Mir tat immer die Hand weh, wenn ich so feste klopfte, deshalb tat ich es nie.
„Ja?“ sagte ich schnell, ehe meine Stimme wieder versagte.
Die Türe öffnete sich und ein Mann im weißen Kittel kam gefolgt von einer Krankenschwester in mein Zimmer.
Er hatte einen gekünstelten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Die Krankenschwester hingegen schaute mich mit mitleidendem Blick an.
Der Arzt flüsterte ihr etwas ins Ohr und sie schaute betreten nach unten.
Er räusperte sich, ging um das Bett herum und reichte mir die Hand.
Das Licht der Lampe leuchtete auf sein Namensschild, sodass ich nicht erkennen konnte, was darauf stand.
Ich reichte ihm mühsam meine nicht eingegipste Hand.
„Hallo, Felia. Mein Name ist Herr Dr. Rous, ich bin zurzeit dein behandelnder Arzt hier.“ Sagte der Man mit freundlicher Stimme, die von den vielen verharmlosten Gesprächen, die er vermutlich führte, ganz eingefroren klang.
Ich nickte nur.
Noch fühlte ich mich nicht in der Lage dazu, meine Stimmbänder zu gebrauchen.
Vielleicht aus Angst davor, dass ich den Klang, den sie produzierten nicht wiedererkannte oder einfach weil ich zu erschöpft war und keine Lust hatte, zu sprechen.
„Wie fühlst du dich heute?“ fragte Herr Dr. Rous“ und sah mir prüfend in die Augen.
Ich hasste es, wenn Leute mir direkt und ungehindert in die Augen sahen, also wand ich den Blick ab.
Ich schluckte.
„Ganz gut soweit.“ Die Worte klangen dünn und zerbrechlich, so als seien sie aus Glas.
Ein vorsichtiges Lächeln machte sich auf dem Gesicht des Doktors breit, doch die Krankenschwester warf mir nur einen wehmütigen Blick zu.
Es lag eine so klare Botschaft in der Luft, wie als ob man sie mit schwarzem Edding an die Wand geschrieben hätte. Doch ich schien zu blind zu sein, um sie zu sehen.
Meine rechte Hand zog sich zu einer Faust zusammen und entspannte sich wieder.
„Sie sind doch nicht hergekommen, um mich zu fragen, wie es mir geht.“ Sagte ich zu dem Arzt, sah dabei aber die Krankenschwerster an.
Dr. Rous seufzte.
„Ja. Du hast recht… es gibt noch einen Grund, warum ich hergekommen bin.“ Er quälte die Worte förmlich aus seinem Mund heraus.
Dann kam er etwas näher zu meinem Bett.
„Ich muss dir eine unerfreuliche Nachricht überbringen, Felia.“ Er räusperte sich und setzte erneut an.
„Die beiden, die mit dir im Auto gefahren sind.. Dein Onkel Jorge und deine Schwester Emilia.. sie.. sie haben den Unfall leider nicht so gut überstanden wie du…“
Er brauchte gar nicht erst weiterzureden.
Mein Mund fühlte sich auf einmal ganz trocken an. Wie der Sandkasten, indem ich früher immer spielte.
Die Zunge klebte ungenutzt und wertlos an meinem Gaumen.
Meine Augen weiteten sich, bis sie einfach nicht mehr groß genug waren, um den Tränen Einhalt zu gebieten.
Ein warmer Tropfen lief meine Wange hinunter und malte eine glänzende Spur auf meine Wange, auf der die Luft zu gefrieren schien.
Der Arzt sah mich bekümmert an. Vermutlich hatte er noch etwas anderes gesagt, ich hatte es aber nicht mitbekommen.
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Tag der Veröffentlichung: 10.04.2012
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