Cover

Eine Woche vor Weiberfastnacht




Aber Mama! Ich will da nicht hin! Ich hasse Tobi und den Großen!“ Meine Mutter stellt ungerührt den Korb, in welchem sich grüner Stoff und unendlich viel Nähzeug befinden, ab und schaut mich mit gehobenen Augenbrauen an.
„Warum? Die beiden sind doch total nett. Der Große ist nur ein Jahr älter als du und schrecklich charmant. Seine Mutter und ich hoffen ja immer noch, dass ihr beide mal zusammen kommt.“ Ich puste mir genervt eine meiner wuseligen Locken aus den Augen und starre sie aufmüpfig an. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Er ist ein totales Arschloch!“
Sie schüttelt den Kopf und hebt den Korb wieder hoch. „Wie warten im Auto auf dich. Du kommst mit, egal ob du willst oder nicht. Beeil dich!“ Damit tritt sie hinaus und schließt die Haustür hinter sich.
Da ich weiß, dass streiten nichts bringt, schlurfe ich in mein Zimmer, tausche Jogginghose gegen eine helle Jeans, einen weichen Pullover und käme mir noch einmal schnell die Haare. Flüchtig trage ich Wimperntusche auf und schlüpfe in meine neun Zentimeter hohen Stiefeletten. Ich weiß, die kommen etwas tussihaft rüber, aber mit denen wirken meine Beine nicht ganz so kurz. Dann schnapp ich mir meine Jacke und gehe zum Rest meiner Familie.
Meine Eltern diskutieren aufgeregt darüber, dass wir dieses Jahr ja das erste Mal mit dem Karnevalsumzug mitgehen und wie toll das wohl werden wird. Währenddessen sitzt meine nervige kleine Schwester neben mir auf der Rückbank und spielt mit ihrem Nintendo. Ich sage kein Wort und stelle mir dabei die schlimmsten Sachen vor, die gleich passieren könnten.
Als wir nach zehn Minuten bei den anderen eintreffen, will ich am liebsten erst gar nicht aussteigen. Mehrere Autos parken in der Einfahrt und drängen sich dicht aneinander. Das heißt, alle sind schon da und starren uns an, wenn wir als Letzten eintreffen. Na toll.
Genervt folge ich meiner Familie. Drinnen werden wir freundlich von einer stämmigen, schwarzhaarigen Frau begrüßt. Wenn ich mich recht erinnere, heißt sie Michaela und ist so viel, wie das Oberhaupt der Großfamilie. Mehrere Eltern, Mütter und Kinder tummeln sich im kleinen Wohnzimmer, sitzen eng beisammen und reden so schrecklich laut.
„Jenny! Da bist du ja endlich!“ Erschrocken drehe ich mich um und entdecke Marisa, meine beste Freundin, welche gerade aus einem der anderen Zimmer kommt. Ihre blonden glatten Haare hat sie hochgebunden, eine Seltenheit, und sie trägt sogar mal Schminke, was so gut, wie nie vorkommt. Da ich aber nicht unhöflich klingen will vor all den vielen Menschen, lächele ich nur und umarme sie, meine Überraschung verberge ich.
„Gott sei Dank bist du auch hier. Ich dachte schon, meine Ma würde mich an die dummen Jungs hier abschieben.“ Meine Worte entsprechen voll und ganz der Wahrheit und meine Erleichterung muss zu hören und sehen sein, denn Marisa grinst amüsiert und zwinkert mir zu. „Ich weiß doch, dass du die nicht abhaben kannst. Und wir gehen übrigens auch mit, dass heißt ich bin jetzt immer zum Helfen mit.“
Nun kann ich meine Verwunderung nicht verbergen und hebe irritiert die Brauen. „Seit wann?“ Sie lacht auf. „Das haben wir vorhin so spontan entschieden.“ Das reicht mir als Antwort und ich zucke knapp mit den Schultern.
Als nächstes schaue ich mich suchend um. Und, oh Gott, nur einen Meter von uns entfernt steht das Grauen. Ein Meter achtzig groß, hübsches Gesicht, braune Augen und freundliches Lächeln. Eigentlich sieht er richtig nett aus. Ihn mögen auch viele. Aber seine arrogante Art macht ihn mir richtig unsympathisch.
Er redet mit seiner Mutter, Michaela, und sieht uns dabei immer mal wieder an. Neben mir steht Marisa, den Blick starr auf ihn gerichtet, ein Lächeln im Gesicht. Ihre Wangen sind leicht gerötet und ihre Augen glitzern. Ich verdrehe die Augen und würde mich am liebsten umdrehen und verschwinden. War ja klar, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte. Er war genau ihr Typ.
Mein Blick schweift von den beiden ab und richtet sich auf den Jungen neben dem Grauen, welches den Namen Lukas trägt. Der andere hat pechschwarze Haare, katzenartige Augen und steht mit den Händen in den Hosentaschen gelangweilt an die Wand gelehnt.
Meine Neugier ist geweckt. Ich stoße Marisa leicht den Ellenbogen in die Seite und nicke in seine Richtung. „Wer ist der Junge bei Lukas?“ Marisa schaut mich verwirrt an. „Raphael. Sein Vater ist mit Michaela zusammen, er und Lukas sind beste Freunde. Tja und jetzt wohnen sie zusammen.“ Ich lächele. Als sie das sieht, starrt sie mich verwundert an. „Wieso willst du das wissen?“
„Nur so.“ Sie kauft mir meine gespielte Gleichgültigkeit ab und geht dann auf Lukas zu, mich am Arm hinter sich her ziehend. Ihre Stimme ist zuckersüß, als sie ihn begrüßt: „Hi, Lukas!“ Er grinst ihr charmant zu und erwidert die Begrüßung.
Als er dann mich anschaut, sieht sein Lächeln mehr gespielt als echt aus und er nickt mir knapp zu. Ich mache es ihm nach. Soll mir recht sein, wenn wir nicht mit einander reden. Darauf kann ich gerne verzichten.
Den gesamten Abend über hängt Marisa bei Lukas, ich bei ihr und Raphael bei ihm. Nachdem mein Vater sich das erste Bier gönnt, schnappe ich mir auch eins und trinke es so schnell wie möglich aus. Das zweite kommt sofort hinterher und Marisa zieht mit und trinkt mit mir.
Das mache ich sonst nie, also Alkohol trinken, aber an diesem Abend brauche ich wirklich etwas Aufputschmittel. Ich werde offener, freundlicher und lache viel. Die Mütter nähen und wir füllen irgendwelche genähten Grashalme mit Watte aus. Marisa, Lukas, Raphael und ich haben Spaß, was ich selber nicht ganz verstehen kann.
Als wir uns am Abend verabschieden, lächel ich Raphael an. Er ist echt nett, etwas abgedreht, aber witzig. Und süß ist er dazu auch noch!
Vielleicht wird Karneval doch nicht so schlimm.



Karneval




Marisa und ich treffen uns am Bahnhof, nachdem wir beide Schulschluss haben und fahren zusammen zu den anderen. Wir kommen viel zu spät, weil wir einen Zug verpasst haben, doch so schlimm ist es nicht. Das diesjährige Motto unserer Umzugstruppe hat irgendwas mit Gemüse zu tun. Die Männer und Jungs haben das Glück, Gärtnerhandschuhe, grüne Schürzen und einen Strohhut zu tragen, Die Mütter gehen als Karotten und wir Mädchen als Schnittlauch. Wir sehen ja so sexy aus!
Als wir uns auf den Weg machen, redet Marisa ununterbrochen mit Lukas und beachtet mich überhaupt nicht mehr. Meine gute Laune macht schnell einen Abgang und ich keife alles und jeden an, der mich nervt.
Auf einem riesigen Parkplatz kommen alle Truppen zusammen. Ich stehe neben Marisa, deren Rücken mir zu gedreht ist, während ihr Gesicht Lukas ansieht. Ich spiele genervt mit meinem Handy rum, als hinter mir jemand lacht. Ich drehe mich um und alles was ich sehe, ist ein Junge in Schafskostüm und schwarzweiß bemaltem Gesicht.
Als er dann erneut anfängt zu lachen, weiß ich auch, wer er ist: Mein Ex-Freund Justin. Ihn kann man mit wenig Worten erklären: blond, blauäugig, Macho und Playboy. Seine Beziehungen halten nie mehr als zwei Wochen. Leider wollte ich das nicht glauben und ließ mich auf ihn ein. Jetzt bezahle ich die Rechnung dafür.
„Was willst du Stratmann?“ Als ich ihn mit seinem Nachnamen anspreche, erlischt sein Lächeln. Ach ja, stimmt ja. Seiner Meinung nach sind wir wieder beste Freunde geworden, nachdem er Schluss gemacht hat. Klar dass er dann meine Abneigung ihm gegenüber nicht versteht.
Also setze ich ein Lächeln auf und mache eine wegwerfende Geste mit der Hand. „Scherz. Na, wie geht´s Justin?“ Er fängt wieder an zu grinsen und deutet auf mich. „Als was gehst du denn?“ Vielleicht ist es nicht so gemeint, aber die Bemerkung kommt richtig herablassend aus seinem Mund. Ich zwinge mich weiterhin fröhlich den Mund zu verziehen und zwinkere ihm zu. „Ich bin Schnittlauch. Und du?“
„Shaun das Schaf!“ Er macht ein Schafgeräusch und grinst mich dann an. Zu meinem Glück wird er von anderen Schafen gerufen und verschwindet, bevor er noch ein Gespräch mit mir anfängt. Genervt hole ich mein Handy wieder raus. Plötzlich stupst mich jemand an und ich blicke in zwei fröhliche Gesichter. Lukas und Marisa strahlen mich an, als wollten sie mich verglühen. Irritiert hebe ich eine Braue und Marisa verzieht schelmisch die Mundwinkel. „Lukas hat deiner Mutter kleine Pinchen abgezogen. Ich hab einen Waldmeister bekommen!“ Sie sagt das, als wäre es etwas ganz besonderes.
Plötzlich springt Raphael zu uns, aufgedreht wie immer. Wie ich erfahren darf, hat auch er schon einen kleinen Schnaps hinter sich, genauso wie Lukas und Marisa. Ich ignoriere ihre Prahlereien, wer wohl am meisten verträgt und gehe neben ihnen her, während sich unsere Truppe startklar macht.
Ich klinke mich ins Gespräch mit ein, auch wenn ich nicht wirklich mitreden kann. Ich bekomme ab und zu irgendwelche Bonbons gegen den Kopf, ohne zu wissen, wer mich abwirft. Als ich dann aber einmal mich umdrehe und mitten im Gesicht getroffen werde, sehe ich Raphaels Grinsen und mehrere schussbereite Süßigkeiten. Ich rege mich gespielt auf, um seine Aufmerksamkeit mehr auf mich zu ziehen.
„Spinnst du? Ohh, glaub mir, das wird Rache geben!“ Er zucke gelangweilt mit den Schultern und wirft mich erneut ab. Sein Lachen ist ansteckend. Natürlich muss ich meine wütende Maske aufrecht erhalten, weshalb ich unter Mühen mein Lächeln verberge. So geht das die nächsten Stunden weiter, bis der Umzug kurz eine Pause einlegt.
In dieser stellt Marisa sich zu mir, während Raphael zu Lukas geht. Verwirrt schaut sie ihm hinter her. „Was habt ihr beiden gemacht? Mögt ihr euch etwa?“ Ihre Stimme wird gleich mehrere Oktaven höher, während ich meinen Blick auf den schwarzhaarigen Jungen mit dem Strohhut richte. „Ja. Er ist doch richtig nett. Und der Strohhut steht ihm voll.“ Ihr zwinker ihr zu und sie starrt mich entgeistert an.
„Jenny? Du machst mir Angst. Findest du ihn etwa süß?“ Ich nicke und schocke sie noch mehr, indem ich erwidere: „Ja, vielleicht finde ich ja etwas Zeit um mit ihm zu Flirten. Vielleicht wird ja was aus uns. Ich meine, er ist witzig, cool und viel netter als Stratmann.“ Genau in diesem Moment geht ein Schaf an uns vorbei. Als Justin sich umdreht, schreie ich fast auf. Doch ich unterdrücke den Laut und lächele ihn an, als wäre nichts gewesen.
Ich spiele falsches Spiel, aber das ist mir egal. Er hat damit angefangen, als er mich verarschte. Er hat damit angefangen, als er mir das erste Mal die Lüge erzählte, ich wäre ihm wichtig. Als er meinte, er würde mich lieben. Als er mich ohne genannten Grund verließ. Jetzt kommt die Rechnung, er weiß es nur noch nicht.
Ohne, dass ich zu gehört habe, hat Marisa damit angefangen, mir einen Vortrag darüber zu halten, dass ich doch verrückt sei, wenn ich mich auf ihn einließe. Ich tu ihre Worte mit einem Schulterzucken ab und gebe keine Antwort, nur ein verspieltes Lächeln. Sie schüttelt den Kopf über mich, kann sich ein amüsiertes Lächeln aber nicht verkneifen.

Nachdem der Umzug abends zu Ende ist, fängt die Party erst richtig an. Dafür lassen Marisa und ich uns den Autoschlüssel meines Vaters geben, um uns umziehen zu können. Auf dem Weg zun Parkplatz treffen wir Stratmann. Da ich die Fassade der guten Freundin weiterhin zur Schau trage, frage ich ihn ganz lieb, ob er nicht mitkommen möchte und zu dritt gehen wir zum Auto.
Ich habe mir am Morgen extra eine Strickjacke eingepackt, da die Feier hauptsächlich im Warmen stattfinden soll. Also ziehe ich mir das hässliche Kostüm übern Kopf, den Pullover auch und stehe dann nur noch im dünnen Top da. Marisa fängt an zu grinsen; sie kennt meine Pläne, mich an Stratmann zu rächen.
Ich strecke mich ausgiebig und sehe, wie Stratmann meine Oberweite anstarrt. Ich sage nichts dazu, soll er ruhig sehen, was er sitzen gelassen hat. Marisa schüttelt den Kopf über mich und wir fangen gleichzeitig an zu lachen. Es macht so Spaß sich gegen Jungs zu verbünden.
Wir schlendern zurück und treffen dann mit Lukas und Raphael zusammen. Zu fünft hängen wir rum, Marisa und ich setzen uns auf Fahrradständer und die Jungs stehen im Halbkreis vor uns.
Dank des Alkohols hat Lukas anscheinend vergessen, dass er mich eigentlich nicht ausstehen kann, Justin hat anscheinend vergessen, wie man lacht und Raphael hat vergessen, wie man auch mal ruhig stehen bleibt. Lukas redet mit mir und behandelt mich, wie eine gute Freundin. Justin ist deprimiert und sagt fast kein Wort. Und Raphael springt die ganze Zeit herum und ist hyperaktiv, auf eine süße und verspielte Art.
Ich beobachte ihn heimlich, lächele ihn so oft wie möglich an. Sein Lachen ist etwas herb mit einem rauen Unterton, aber das gefällt mir. Seine Augen haben ein helles Grün und funkeln, ob es vom Alkohol oder von seiner Fröhlichkeit kommt, weiß ich nicht. Er trägt eine graue Jeans und dazu eine schwarze Übergangsjacke. Dieser dunkle Look steht ihm, betont seine stark gebräunte Haut und seine schwarzbraunen Haare.
Der Abend vergeht und Lukas ist total betrunken. Er fasst mich an der linken und Marisa an der rechten Hand. „Kommt mit zu mir. Da ist es viel cooler als hier!“ Ich schaue sie mit gehobenen Brauen an. Ich fange an zu lachen, urplötzlich, ich merke mir selber die Nebenwirkungen des Alkohols an, den ich dann doch im Laufe der letzten Stunden getrunken habe.
„Ich muss aber erst meine Eltern fragen“, erwidert Marisa. Ich nicke zustimmend und wir trotten zu meinem Vater und ihrer Mutter. Ihre Ma sagt strikt nein, während mein Vater mit einem Lächeln die Schultern zuckt und es mir erlaubt.
Traurig berichtet Marisa Lukas die Nachricht. Da ich ganz sicher nicht alleine mit ihm gehe, bleiben wir also alle da.
Irgendwann kommen dann meine Eltern und meine Schwester, während Marisa und ich gerade am Tanzen waren und die Jungs etwas abseits uns zuschauen. Meine Mutter zieht mich am Arm zu sich und brüllt gegen den Lärm an: „Wir wollen jetzt fahren, kommst du?“ Ich nicke, da Raphael und Lukas eh auch jetzt nach Hause müssen. Wir verabschieden uns alle voneinander und dann fahren wir.
Im Großen und Ganzen war der Abend eigentlich richtig schön.



Drei Wochen später




Unser Dach soll erneuert werden, weshalb mein Vater Raphael und Lukas zum Arbeiten angeheuert hat. Seit Karneval chatten wir viel und lernen uns jetzt beim Arbeiten besser kennen.
An diesem Morgen sitze ich neben Marisa, welche seit einer Woche mit Lukas zusammen ist, im Bus, auf dem Weg zur Schule.
„Jenny, ich muss dir was erzählen!“ Ihre Stimme ist etwas nervös, was meine Neugier weckt. Gespannt warte ich darauf, dass sie anfängt.
„Ich kenne da einen Jungen, der auf dich steht. Er und ich schreiben jetzt schon seit längerem und da hat er mir das gestanden. Da er sich selber aber nicht traut, dich drauf anzusprechen, soll ich das jetzt übernehmen.“ Ich starre sie aus großen Augen an. Mein Herz rast und ich will unbedingt wissen, wer es ist. Insgeheim wünsche ich mir, dass es dieser ganz bestimmte Junge ist, glaube meinen eigenen Hoffnungen jedoch nicht.
„Komm schon, Marisa, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen! Sag schon, wer ist es?“ Sie sieht verunsichert aus und spielt mit den Fingern. „Raphael.“
Mein Herz setzt aus. Ich halte die Luft an und bekomme kein Wort raus. Nach einigen gestotterten Wörtern, bringe ich einen vollständigen Satz heraus. „Raphael mag mich?“
Sie nickt eifrig und spielt zur Ablenkung mit ihrem Handy herum. Ich kann es nicht fassen. Erst mehrere Minuten später realisiere ich überhaupt, was sie mir da gerade gesagt hat. Verwundert schaue ich sie an und bekomme urplötzlich keine Luft mehr.
„Und was soll ich jetzt machen?“ Unsicher blicke ich drein und kaue auf meiner Unterlippe rum. Marisa zuckt belanglos die Schultern. „Wie wär´s, wenn ihr euch mal trefft? Also nicht beim Arbeiten, sondern mal ganz alleine. Ihr könntet ins Kino gehen.“ Ich nickte. Mein Herz schlägt aufgeregt bei dem Gedanken, mit ihm alleine zu sein.
An diesem Nachmittag kann ich ihn kaum anschauen, als ich nach Hause komme und er nur ein paar Meter von mir entfernt mit Lukas Holz sägt. So schnell es geht, bin ich im Haus und in meinem Zimmer. Ich brauche lange für meine Hausaufgaben, so unkonzentriert und aufgeregt bin ich. Manchmal will ich raus gehen, ihn einfach direkt heraus fragen, ob er sich mit mir verabreden will. Doch dann bleibe ich immer an meiner Zimmertür stehen und bekomme Angst. Ich drehe mich wieder um, setze mich zurück auf meinen Stuhl und mache mit den Aufgaben weiter.
Am Abend gehe ich in Facebook on. Er ist auch da. Nach kurzem Zögern, schreibe ich ihn an und lege mir im Kopf die Wörter zurecht, die ich ihm schreiben will. Die Minuten vergehen und wir schreiben immer mehr. Am Ende haben wir uns für den nächsten Samstag fürs Kino verabredet.
Dass wir in Titanic reingehen, finde ich so toll, dass ich sofort meiner Freundin Ilka davon erzählen muss. Marisa kann ich ja nicht anschreiben, die ist mit Lukas beschäftigt und kann dann nie zurück schreiben.
Ilka und ich planen noch bis spät in die Nacht hinein, was ich anziehen, sagen und tun soll. Es macht Spaß mit ihr darüber zu reden. Sie unterstützt mich, auch wenn wir nicht beste Freundinnen sind. Und sie ist auch die erste Person, der ich all meine Gefühle beichte, die ich für Raphael empfinde …



Samstag




Ich ziehe mich fünfmal um, bis ich endlich das richtige Outfit gefunden habe: einen schwarzen Pullover, dunkle Jeans und eine dünne Weste mit Pelz drüber. Ich brauche mehr als eine halbe Stunde im Bad, da ich mich immer wieder schminke und abschminke, weil´s hässlich aussieht, neu schminke und dann alles wieder von vorne. Als ich dann endlich fertig bin, feuchte ich meine Hände noch mal mit Wasser an und knete meine Locken etwas durch. Danach sprühe ich ein bisschen Parfüm auf meinen Hals und steck mir ein Bonbon in den Mund.
Ich steige schrecklich aufgeregt in das kleine Auto meiner Mutter und je näher wir seinem Haus kommen, desto größer wird meine Nervosität. Als wir in der Einfahrt parken, steige ich zögerlich aus und will gerade klingeln, als Michaela mir die Tür öffnet. Sie ruft Raphael, mustert dann meine Aufmachung und lächelt mir verkniffen zu. Wir verabschieden uns und fahren dann los zum Kino.
Obwohl ich sonst immer wie ein Wasserfall rede, kriege ich jetzt kein einziges Wort heraus. Ich sitze auf der Rückbank, während Raphael und meine Mutter vorne neben einander sitzen.
Als meine Mutter anfängt, eine Konversation zu starten, antwortet der Junge neben ihr in knappen Sätzen und macht es ihr schwer, ein anständiges Gespräch zu führen. Jedoch lächelt er viel, lacht ab und an und macht einen sehr sympathischen Eindruck. Man sieht meiner Mutter an, dass sie langsam anfängt ihn zu mögen.
„Sag mal, Raphael, wie ist eigentlich eure Telefonnummer, damit ich deinen Vater gleich anrufen kann, um ihm zu sagen, wann der Film zu Ende ist?“ Raphael verzieht nachdenklich den Mund und grinst dann verunsichert. „Keine Ahnung. Weiß ich nicht.“ Er überlegt noch kurz einen Moment.
„Warte! Ich habe die im Handy eingespeichert.“ Konzentriert durchforstet er die Dateien und lächelt dann triumphierend. „Ich hab´s!“
Meine Mutter lässt sich die Nummer diktieren und speichert sie bei sich im Autotelefon ein. Danach erlaubt sie sich den Spaß, ihm seine eigene Nummer beizubringen. Das geht ungefähr zwanzig Minuten so, bis wir endlich beim Kino ankommen und Raphael erlöst wird.
Als wir drei an der Kasse stehen, habe ich irgendwie ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Einerseits will ich meine Mutter so schnell wie möglich los werden und mit ihm alleine sein, andererseits soll sie bei mir bleiben und mich bloß nicht alleine lassen.
Natürlich verabschiedet sie sich wenige Minuten nachdem wir die Tickets gekauft haben und geht hinaus zu ihrem Auto. Raphael und ich stehen noch einen Moment schweigend da, dann machen wir uns auf den Weg zum Kinosaal.
Vor dem Eingang hole ich meine 3D-Brille aus der Tasche und mustere die verschiedenfarbenen Gläser. Raphael macht es mir nach und blickt skeptisch auf seine hinab, was mich leicht verwirrt. „Was ist denn los?“, frage ich.
„Ich kann durch diese Dinger voll schlecht sehen. Davon tun meine Augen immer so weh.“ Ich erschrecke.
„Warum hast du mir das denn nicht früher gesagt? Dann wären wir in einen anderen Film gegangen.“ Raphael schüttelt stur den Kopf.
„Ist schon okay. Marisa hat mir gesagt, dass du diesen Film liebst, also lass ihn uns ansehen.“ Zusammen gehen wir rein und suchen unsere Plätze. Er sitzt links von mir und tippt auf seinem Handy rum. Da meine vielen Konversationsversuche offenbar daran scheitern, werde ich neugierig, was er macht. Und etwas eifersüchtig, schließlich ist er mit mir im Kino, nicht mit seinem Handy.
„Mit wem schreibst du da die ganze Zeit?“ Er sieht nicht mal auf, als er mir knapp antwortet: „Kasi.“
Ich nicke langsam. Kasi ist seine beste Freundin. Ich habe schon viel mit ihr gechattet. Sie hört sich eigentlich ganz nett an. Das einzige Makel: Sie ist in ihn verliebt.
Ich versuche meine aufsteigende Eifersucht zu ignorieren und konzentriere mich auf den beginnenden Film. Immer wieder schaue ich zu ihm nach links. Ab und an legt er seine Brille zur Seite, reibt sich die Augen und schließt sie einen Moment. Manchmal ist er sogar kurz vorm Einschlafen.
Ich versuche andauernd Blickkontakt herzustellen, doch er weicht mir immer aus. Mein Mut vergeht und ich weiß jetzt schon, dass es zu dem von mir vorher geplanten Kuss nicht kommen wird, weil ich mich nicht mehr trauen werde.
Enttäuscht sinke ich ins Polster zurück und warte, dass der Film zu Ende geht.

Als wir etwas später den Kinosaal verlassen, ist meine gute Laune von heute Mittag noch nicht wieder vorhanden. Wir warten einige Zeit im Warmen. Ich überlege, ihn einfach zu küssen, doch ich traue mich nicht. Also gehen wir zu seinem Vater nach draußen, welcher uns nach Hause bringt.
Auf der Rückfahrt erzählt mir Klaus, Raphaels Vater, dass es wirklich verwunderlich sei, dass sein Sohn mit mir in diesen Film gegangen ist, weil dieser sonst solchen Kitsch nicht leiden könne. Ich lächele kurz über diese Worte und schaue zu dem Jungen im Rückspiegel.
Doch meine Freude vergeht, da ich die flink auf dem Handy tippenden Finger sehe und das Lächeln, während er schreibt. Ich weiß ganz genau, wer seine Nachrichten bekommen wird.
Und damit erlischt auch noch der letzte Funken Hoffnung in mir. Ein uns wird es nicht geben, dafür wird sie sorgen …



Kurz vor den Sommerferien




Kasi und ich haben die letzten Monate nicht aufgehört zu schreiben. Auch nicht, nachdem sie nur eine Woche nach Raphaels und meinem Date mit ihm zusammen gekommen ist. Ich habe zwar darüber nachgedacht, den Kontakt zu ihr zu beenden, so wie ich es bei ihm gemacht habe, habe es dann aber doch nicht über mich gebracht. Ich mag sie, auch wenn ihr Freund der Junge ist, in den ich mich verliebt habe. Und ich will ihr eine gute Freundin sein, meine Gefühle dabei außer Acht gelassen. Also höre ich ihr zu, wenn sie von ihrem Glück berichtet, und täusche eine fröhliche Maske vor.
Jedoch wendet sich das Blatt, als Raphael sie nach einem Monat verlässt. Innerlich mache ich Luftsprünge, äußerlich bin ich die gute Freundin, die Kasi in dieser Krise beisteht, sie tröstet und immer noch keinen Kontakt zu Raphael aufnimmt. Sie beschuldigt mich, ich sei der Grund, weshalb er sie verlassen hat. Sie hält mir vor, er könne mich nicht vergessen. Ich lass sie das denken, lasse sie in ihrer Trauer alle Schuld auf mich schieben und sehe sie immer noch als gute Freundin, weil gute Freunde das so machen.
Insgeheim bin ich aber keine gute Freundin. Insgeheim hoffe ich, dass sie recht hat, dass er mich wirklich nicht vergessen kann und dass er nur wegen mir sie verlassen hat. Doch glauben kann ich das ganz und gar nicht.
Ich sitze vorm Computer und chatte mit Kasi und Marisa. Diese jammert mir vor, dass sie eigentlich gar nicht mehr mit mir ins Zeltlager gehen will, da Lukas sie vor mehr als einem Monat in den Wind geschossen hat und sie es jetzt nicht aushalten wird, mit ihm eine ganze Woche zu verbringen. Ich überzeuge sie, dass alles schon gut wird und hoffe nur, dass ich recht behalten werde.
Plötzlich öffnet sich ein neuer Chat. Raphael hat mich nach mehr als zwei Monaten angeschrieben. Mein Herz setzt aus, als ich seinen Namen lese. Und dann überkommen mich alle Gefühle, die ich Kasi zu Liebe die ganzen letzten Wochen verdrängt habe. Ich überstürze die Situation und schreibe seine alte beste Freundin an, erzähle ihr, dass er mich angeschrieben hat.
Doch ihre Reaktion ändert sich schlagartig. Vorher war sie noch gut gelaunt, jetzt nicht mehr. Meine Freude schwindet und ich hasse mich dafür, es ihr gesagt zu haben. Ich beende also den Chat und tippe oben in der Suchleiste seinen Namen ein.
Umgehend erscheint vor mir seine Facebook-Seite und ich erschrecke erneut. Sein Titelbild ist immer noch dasselbe wir an dem Tag, an dem wir uns getroffen haben. Das Herz, das er für mich gemalt hat.
Eine Welle aus Glück überschwemmt mich und in meiner Euphorie erzähle ich ihm, dass ich ihn immer noch mag, dass ich nie damit aufgehört habe. Er will es mir nicht glauben. Also verspreche ich ihm, dass wenn er mit ins Zeltlager komme, ich ihm noch eine Chance geben würde. Er stimmt zu und ich verabschiede mich überglücklich.
Nachdem der Computer aus ist, lege ich mich ins Bett und fange an zu träumen. Vielleicht wird es ja doch noch ein uns geben.



Erste Sommerferienwoche




Ich stehe aufgeregt vor meinem Kleiderschrank und ziehe ein Outfit nach dem anderen an. Schließlich entscheide ich mich für eine helle Jeans, mein neonpinkes trägerloses Top und dazu ein hellgraues Jäckchen. Danach verschwinde ich für eine halbe Stunde im Bad.
Als wir wenig später losfahren, bin ich schrecklich nervös. Erst als wir eintreffen und ich Marisa erblicke, werde ich etwas ruhiger.
Wir beide reden fröhlich, lachen viel und freuen uns auf die kommende Woche. Kurze Zeit später werden alle Kinder und Jugendlichen zusammen gerufen. Wir schlendern zu den Restlichen und warten darauf, dass unsere Namen aufgerufen werden und wir unser Namensschildchen abholen können.
Als ich meins habe und zurück zu meiner Freundin gehe, erblicke ich Raphael, welcher neben Lukas auf dem Eingangstor sitzt. Er schaut mich an und ich erröte leicht. Ich muss meine Beine dazu zwingen, weiter zu gehen und nicht stehen zu bleiben.
Natürlich hat Marisa meinen Gesichtsausdruck bemerkt und folgt meinem Blick. Ihr Gesicht verdüstert sich, als sie ihren Ex erblickt, und sie dreht sich mir wieder zu. Ihr aufgesetztes Lächeln sieht so unecht aus, dass ich augenblicklich anfangen muss zu lachen. Meine Anspannung fällt von mir ab und ich beruhige mich wieder.

Ich steige aus dem Auto aus und betrachte die Umgebung. Wir stehen auf einem Berg aus Weideland und nur ein kleines Dorf liegt in der Nähe. Das Fußballfeld, auf welchem die Zelte aufgebaut sind, ist groß und neben ihm ist eine Schützenhalle.
Wir sind die ersten, die angekommen sind, also müssen wir noch auf die anderen warten. Als nächstes treffen irgendwelche ein, die ich nicht kenne und danach das Auto, in welchem Raphael und Lukas sitzen. Zu meinem Glück fährt nur wenige Sekunden nach ihnen das vor, in welchem sich Marisa befindet. Ich gehe zu ihr und versuche, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
Zusammen laden wir unser Gepäck aus und holen unsere Matratzen, um sie aufzupusten. Während wir anstehen, umrunden mehrere Jungs Raphael und sein geliebtes Mischpult. Lukas lacht plötzlich auf und ich höre, wie mein Name von einem Mann gesungen wird.
Jeder im Raum starrt mich an und meine Augen werden riesig. Alle Jungs um Raphael herum lachen und ich höre dem Text geschockt zu. Marisa neben mir kann sich das Lachen nicht verkneifen und meinem Kumpel Just kommen schon die Tränen vor Lachen.
Und ich stehe mitten drin, knallrot, und weiß nicht, was ich machen soll. Mein Blick kreuzt den von Raphael, welcher ein schelmisches Grinsen im Gesicht hat.



Am dritten Tag




Es ist der zehnte Juli. Wie schon sooft hängen ein Junge, den alle Weiser nennen, Raphael, Michi, Annalena, Viktoria, Lukas, Marisa und ich zusammen ab. Wir lachen viel, zumindest alle, außer Raphael. Als ich zum Kiosk mit Marisa gehe, um mir eine Cola zu holen, folgt Weiser uns.
„Sag mal, Jenny, hast du mal mit Raphael geredet?“ Ich hebe eine Braue. „Nein, wieso?“ Weiser schaut zurück zu seinem Kumpel.
„Solltet ihr mal. Ich meine, jeder weiß, dass ich was für einander empfindet. Warum also seid ihr nicht zusammen?“ Ich kaue auf meiner Unterlippe rum. Dieses Gespräch habe ich schon voll oft gehabt die letzten Tage. Kein Wunder. Marisa konnte es natürlich nicht für sich behalten, dass ich auf Raphael stehe und Weiser musste auch allen sagen, dass sein Freund in mich verliebt ist.
„Keine Ahnung. Ich meine, was soll ich denn sagen? Ich kann wohl schlecht einfach fragen, ob wir zusammen sein wollen. So sollte eine Beziehung nicht beginnen.“ Weiser grinst geheimnisvoll und zwinkert mir zu. „Dann küss ihn doch einfach mal.“
Augenblicklich werde ich rot. „Nein.“ Marisa baut sich neben mir auf und starrt mich an. „Wieso denn nicht?“ Ich schaue zu Boden und zucke mit den Schultern. Ihr Tonfall ist richtig einschüchternd und anklagend. Weisers dagegen viel netter.
„Ach komm schon, Jenny, trau dich einfach!“ Ich lächele ihn an. „Wieso küsst er mich denn nicht einfach?“ Weisers Miene wird nachdenklich. „Raphael meint, er wäre dazu zu schüchtern.“ Ich nicke eifrig. „Genau das bin ich auch.“
Weiser mustert mich von oben bis unten, dann zwinkert er mir erneut zu. „Brauchst du aber nicht zu sein. Er liebt dich. Er wird dich nicht zurück weisen, falls das deine Angst ist.“ Ich atme schwer aus und nicke. „Mal schauen, vielleicht traue ich mich nachher, oder er sich.“
Damit zaubere ich Weiser ein Lächeln ins Gesicht und wir drei gehen zurück zu den anderen.
Doch dort muss ich feststellen, dass Raphael gar nicht mehr da ist. Viktoria beichtet mir, er sei ins Zelt gegangen und hätte keinen Bock mehr auf die andern. Ich mache ein verwirrtes Gesicht. Da schubst Weiser mich etwas nach vorne und sagt: „Na los, geh hin. Wetten er hofft, dass du zu ihm gehst?“ Erst will ich mich weigern, doch da alle mich anstarren, verdrehe ich die Augen und verschwinde nach draußen.
Vor Raphaels Zelt bleibe ich unsicher stehen und frage dann ganz leise: „Raphael? Bist du hier?“ Auf sein Brummen hin, ziehe ich den Reißverschluss runter und gehe ins Innere. Er liegt ganz hinten, den Kopf im Kissen vergraben und seine Decke über sich.
Nachdem ich das Zelt wieder hinter mir geschlossen und mich neben ihm auf einer anderen Matratze niedergelassen habe, wendet er sein Gesicht mir zu und schaut mich fragend an. Ich lächele etwas unsicher und meine: „Die anderen sagten, du seist genervt. Ich wollte nur schauen, ob du irgendwas hast.“
Er antwortet mir nicht sondern sieht mich nur an. Ich fühle mich in der Stille etwas unwohl, also fange ich ein belangloses Gespräch an. Nach und nach wird er lockerer und seine Antworten werden immer längere Sätze, anstatt knappe Wörter zu bleiben. Mein Lächeln wird richtig echt und so, wie wir jetzt reden, haben wir noch nie mit einander gesprochen.
Doch als wir dann keine Fragen, keine Antworten mehr haben und ganz nah voreinander liegen, kommt das Schweigen wie ein Segen über uns. Unsere Blicke sind verflochten, mein Spiegelbild zeigt sich in seinen wunderschönen grünen Augen. Seine Hand legt sich warm um meine Wange. Ich will mich vorlehnen, meine Lippen auf seine legen, doch ich traue mich einfach nicht. Also bleibe ich regungslos so liegen und warte ab.
Es kommt mir vor, als würden Minuten und Stunden vergehen, langsam erlischt sein Lächeln und sein Gesicht wird ernster. Und dann, ich wollte mich schon von ihm lösen, fasst er sich ein Herz und beugt sich zu mir vor. Sein Mund berührt meinen, ganz zart und weich, und in mir ist ein Feuerwerk der Erleichterung. Ich kann nicht glauben, was gerade in diesem Moment geschieht, doch ich will auch nicht, dass es aufhört. Noch nie habe ich einen Kuss so sehr genossen, auch wenn er nur wenige Sekunden andauert.
Als er sich wieder von mir löst, liegt ein überglückliches Lächeln auf meinen Lippen. Auch er sieht erleichtert aus. Genau in diesem Augenblick erklingt die Pfeife, die uns alle zusammenrufen soll. Überstürzt stehe ich auf und verlasse das Zelt. Marisa kommt mir entgegen, sieht mein Grinsen und nimmt mich ohne Vorwarnung in den Arm.
Wir gehen zu den anderen. Raphael kommt nach einiger Zeit auch zu uns und stellt sich hinter mich. Seine Arme legt er um meine Taille und er lehnt sich von hinten an mich. Im ersten Moment bin ich über diese Geste mehr als überrascht. Doch dann beruhigt sich mein Herzschlag wieder und ich genieße das Gefühl.
Weiser stellt sich vor mich und fragt: „Und, seit ihr endlich zusammen?“ Die ganzen Tage zuvor haben wir immer ausweichend reagiert oder nein gesagt. Doch jetzt gebe ich Raphael nicht einmal die Chance irgendwas zu sagen und antworte einfach: „Ja, sind wir.“
Weiser ist die Überraschung deutlich anzusehen, doch dann grinst er und nickt. Ich hoffe, dass Raphael hinter mir meine Antwort in Ordnung findet und bete dafür, dass er nichts dagegen hat. Am liebsten würde ich meine Worte doch wieder zurücknehmen, aber das geht nun mal nicht.
Da er nichts sagt und mich weiterhin umarmt, nehme ich an, dass er mir zustimmt. Außerdem ist nun eh nichts mehr rückgängig zu machen, da Weiser unseren Freunden und allen im Umkreis Stehenden die allerneuste Information brüh warm auftischt.

Meiner Meinung nach vergehen die Tage viel zu schnell. Raphael und ich verbringen jede Minuten, die wir können, zusammen. Manchmal beobachte ich ihn dann heimlich und kann mir einfach nicht erklären, wie er sich in mich verlieben konnte. Er ist einfach wunderbar!
Am letzten Tag wollen wir noch eine Nachtwanderung machen. Letztes Mal musste Raphael eine der Fackeln halten und heute auch wieder. Also hänge ich mich an meinen Kumpel Just und rede mit dem, während wir losgehen.
Wir sind total aufgedreht, haben Spaß und singen zusammen ein Lied nach dem anderen. Irgendwann stößt Raphael zu uns und die beiden singen mir Lieder vor, reißen Witze und der Abend wird einfach unbeschreiblich. Plötzlich kreischen vorne einige Mädchen auf, gerade, als Raphael und ich uns küssen wollen. Einer der Betreue hat sie erschreckt.
Nachdem wieder Ruhe eingetreten ist, machen Raphael und ich einen Deal: Bei jedem Schrei, der heute noch erklingt, werden wir uns einmal küssen. Mir gefällt die Abmachung durchaus, da die Betreuer vorhaben uns alle in Angst und Schrecken zu versetzen.
Am Ende kommen wir auf dreiunddreißig Küsse …

Am nächsten Morgen werden wir alle von unseren Eltern abgeholt oder die Betreuer nehmen uns mit nach Hause. Ich bin immer noch darüber am grübeln, wie ich meinen Eltern erklären soll, dass ich jetzt mit Raphael zusammen bin, da diese ihn nicht sonderlich mögen.
Als das Auto, in dem ich mitfahre, als allerletztes am Treffpunkt ankommt, stehen die anderen und ihre Eltern schon da und warten. Marisas Mutter und meiner Eltern stehen zusammen, bei ihnen Klaus. Ich umarme meine Mutter, welche mir ins Ohr flüstert: „Wir werden ein ernstes Gespräch führen müssen. Ich glaube, du hast uns noch was zu erklären.“
Scheiße! Wer hat es ihnen gesagt? Raphael nicht, das weiß ich, weil er nämlich selber Angst davor hat, wie sie reagieren. Ich schaue mich suchend um, doch mein Vater unterbricht mich. Er hat ein breites Grinsen auf dem Gesicht und macht sich mit blöden Sprüchen über mich lustig. Alles ist genauso zwischen uns wie immer, was mich darauf schließen lässt, dass er nichts gegen meinen Freund hat. Wenigstens etwas Gutes.
Plötzlich umarmt mich jemand von hinten. Das Gefühl ist mir schon so vertraut, dass ich mein Lächeln nicht unterdrücken kann.
„Hey.“ Das Wort wird mir ins Ohr geflüstert, sodass nur ich es hören kann. Mein Lächeln wird breiter und ich entspanne mich merklich. Meine Mutter beobachtet uns skeptisch, während mein Vater mir zunickt. Er hat also wirklich nichts dagegen.
Doch mit Raphael ist auch Lukas gekommen. Er steht neben uns und verzieht arrogant das Gesicht. „Na, hast du mit deinen Eltern schon gesprochen? Ich war so frei und hab ihnen alles erzählt.“ Ich merke, wie die Wut in mir aufkocht und meine Wangen rot werden. Ich verkneife mir einen schnippischen Kommentar und ignoriere ihn. Er kann mich mal kreuzweise.



Nach meinem Urlaub in Kroatien




Nur einen Tag nach unserer Anreise, besucht Raphael mich. Er sitzt stumm und reglos auf meinem orangenen Drehstuhl, während ich auf meinem Bett liege, mein großer Kuschelhund auf dem Schoß. Minuten vergehen, bis endlich einer von uns beiden etwas sagt.
„Und? Was wollen wir jetzt machen?“, fragte er mit unsicherer Stimme. Ich zucke mit den Schultern und schaue scheu weg. Ich greife nach der Fernbedienung und frage: „Wollen wir Fernsehen?“ Er nickt und spielt mit meinem großen roten Stoffball.
Ich schalte das Gerät an, achte dabei jedoch in keinster Weise auf die laufende Sendung. Ich beobachte lieber Raphael von de Seite und würde ihn so gerne bitten, sich neben mich zu setzten. Doch die Worte kommen einfach nicht über meine Lippen. Enttäuscht schaue ich zum Fernseher, bis meine Mutter mich ruft. Auf ihre Aufforderung hin, verlasse ich den Raum und bringe den Müll hinaus.
Als ich wieder zurück in mein Zimmer komme, hat Raphael es sich auf meinem Bett bequem gemacht. Deshalb setzte ich mich ohne ein Wort zu verlieren auf den Drehstuhl und betrachte die Menschen im Fernseher. Wir starren so lange stumm auf den Bildschirm, bis er endlich die Stille durchbricht.
„Willst du dich nicht zu mir legen?“ Sei Stimme klingt rau und ruhig; so wunderbar, das bei ihrem Klang meine Haut kribbelt. Ich lächele erleichtert, nicke und lasse mich neben ihm nieder. Bevor ich etwas Abstand zwischen uns bringen kann, weil ich immer noch so unsicher bin, legt er seinen rechten Arm um meine Schultern und drückt mich liebevoll an sich.
Ich atme immerzu seinen Duft ein und schmiege meine Wange an seine Brust. Sein Körper unter dem Stoff seines Shirts ist warm und seine Finger streicheln mich am Oberarm. Ich lege vorsichtig meine Hand auf seinen Bauch. So liegen wir den gesamten Nachmittag da. Wenn im Fernsehen nichts Interessantes läuft, reden wir über Belangloses, wie seine ganzen verrückten Freunde, Schule oder sonstiges. Unsere Fragen sind oberflächlich und unpersönlich, aber sie geben einen guten Anfang und durch sie lernen wir uns langsam besser kennen.

Das zweite Treffen verläuft ähnlich wie das erste, und das dritte wie das zweite. Beim vierten setzten wir uns schon sofort neben einander aufs Bett. Rein aus Routine macht Raphael den Fernseher an und ich kuschel mich in seine Umarmung. Wir reden ab und an miteinander, lachen viel und albern rum.
Während ich in seinem Arm liege, puste ich ihm andauernd ins Ohr und lache jedes Mal, wenn er so süß das Gesicht verzieht. Doch plötzlich unterbricht er mich, indem er mich mit dem Arm unter meinem Kopf auf sich rollt und ich erschrocken aufkreische. Jetzt ist er derjenige, der lacht und dabei treten seine knuffigen Grübchen wieder zum Vorschein. Mit Schmollmund rolle ich mich von ihm runter und lege mich auf die Seite. Raphael ist immer noch am lachen und drückt mich fest an sich.
Es ist so wundervoll in seiner Umarmung zu liegen. Sein wunderbarer Duft steigt mir in die Nase und setzt sich dort angenehm fest, während meine Finger verspielt die Hebungen seines angedeuteten Sixpacks nachfühlen.
Ich denke an die letzten Tage im Zeltlager zurück. Am Ende haben wir uns sooft geküsst und jedes Mal war es wunderschön. Doch seitdem ich aus dem Urlaub wieder zurück bin, haben sich unsere Lippen nicht mehr zum Kuss getroffen. Ein winziger Funken Enttäuschung acht sich in mir breit.
Als hätte Raphael meine Gedanken gelesen, dreht er sich leicht auf die Seite, wodurch auch mein Körper bewegt wird. Automatisch hebe ich meinen Kopf und schaue ihm in die Augen. Ein zartes Funkeln erhellt das strahlende Grün seiner Iris und lässt mich schlagartig die Luft anhalten. Mein Blick huscht zu seinen Lippen, von welchen die untere ein Tick voller als die andere ist, was beide damit perfekt macht. Sein Mund ist ein Spalt breit offen und sieht so einladend aus. Meine Augen suchen wieder die seinen und finden so viel Liebe, das mein Herzschlag für einen Moment aussetzt.
Und dann – endlich! – kommt sein Kopf mir näher und sein Mund legt sich zart auf meinen. Ich kann mein Lächeln nicht verkneifen und legte sehnsüchtig meine Hand auf seine Brust. Der Kuss ist bittersüß und voller Zärtlichkeit, bis langsam Flammen aufschlagen und sich mit ihnen Leidenschaft und Begehren in mir ausbreiten. Wie auf einen Schlag ist dort ein Gefühl, des Besitzes. In diesem Augenblick will ich Raphael mit niemandem teilen und am liebsten nie wieder hergeben.
Dass der Kuss dann schnell wieder endet, macht den Moment vorher umso kostbarer. Fragend schaut Raphael mir in die Augen und mit einem Lächeln beuge ich mich vor und küsse ihn erneut. Die Küsse ziehen sich hin, werden immer länger, immer schöner, immer vertrauter.
Bis schließlich meine Mutter an die Tür klopft und das Zimmer betritt. Sofort lösen wir uns voneinander und ich werde sogar ein wenig rot.
„Raphael, wir haben halb neun. Du musst jetzt los.“ Da er heute das erste Mal mit seinem neuen Roller zu mir gekommen ist, muss er natürlich auch schon früher losfahren um pünktlich zu Hause zu sein. Er steht auf und ich folge ihm nach vorne. Als er seine Schuhe anhat, gehen wir zusammen nach draußen und stehen dann ratlos da.
Ich schaue schüchtern zu Boden und flüster: „Ich möchte nicht, dass du jetzt schon gehst.“ Raphaels Arme schließen sich um mich. Sein Mund ist nah an meinem Ohr, während er leise erwidert: „Ich weiß, Süße. Aber ich muss nach Hause.“ Ein bisschen traurig, hebe ich den Kopf und lächel ihn an. „Ich weiß.“
Er lächelt zurück und küsst mich sacht. Dann löst er sich von mir, bleibt aber meinem Mund ganz nah. Er blickt mir tief in die Augen. „Ich liebe dich.“ Ich muss lächeln und bin überglücklich. „Ich liebe dich auch.“ Daraufhin küsst er mich noch einmal. Dann macht er einen Schritt zurück, setzten den Helm auf und steigt auf seinen Roller.
„Tschüss, Süße. Ich schreib, wenn ich zu Hause bin.“ Ich nicke und mahne: „Fahr vorsichtig, Schatz!“ Er nickte und startet den Roller. „Tschüss!“ Rufe ich und winke leicht. Er fährt langsam vom Hof, während ich ihn noch kilometerweit höre.



Impressum

Texte: Die Geschichte ist von mir mit meinen eigenen Worten nacherzählt und entspricht der reinen Wahrheit
Bildmaterialien: Mein Freund hat das Bild gemalt, ich hab´s abfotografiert
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für dich, Raphael. Weil du mich gebeten hast, unsere Anfänge festzuhalten, damit diese schönen Erinnerungen niemals vergessen werden. Ich liebe Dich.

Nächste Seite
Seite 1 /