Ein halbes Jahr zuvor
Lilith konnte ihre Augen nicht trauen. Ihre Tochter lag mit einem Dolch in der Brust vor ihr, die Lider zum Tode niedergeschlagen. Ihr Herz blieb stehen, ihr Verstand hielt inne und ihre Atmung erstarrte.
Angel war tot.
Das Geschehene nicht glauben wollend, zwinkerten ihre Augen unkontrolliert, ihre Hände zitterten beängstigend schnell und ihre Schwingen bebten, sodass ihre Federn schmerzten.
Dann konnte Lilith die Gefühle nicht mehr unterdrücken. Sie schrie aus voller Seele. Tränen sammelten sich in ihren Augen und ihre Schreie klangen rau durch die brennenden Schluchzer. Sie fiel auf die Knie, neben den toten Körper ihrer Tochter.
Hilfesuchend betastete Lilith die blasse, kalte Haut Angels. Sie wusste nicht, wie lange sie betäubt durchs Schreien hier verweilt hatte, aber nun war alle Wärme aus ihrer Tochter gewichen.
Sie konnte sich nicht halten, ihre Finger suchten rasend nach einem Puls, der nicht existierte, nach einer Atmung, die schon lange verebbt war. Nach einem Kind, das tot war.
Mal blieb die Zeit für Lilith stehen, und mal kam es ihr schneller vor, als die Wirklichkeit vermochte.
Urplötzlich legte sich eine warme Hand auf ihre bebende Schulter. Erschrocken fuhr sie herum, die Augen panisch aufgerissen.
Doch es war nur der blonde Engel, der mit sorgenvollem Blick auf sie hinab blickte.
„Lilith, was …?“ Die Frau schüttelte tragisch den Kopf und deutete auf das tote Mädchen. Liliths Stimme war von Tränen erstickt, sodass sie keine Antwort heraus bringen konnte. Sie brach abermals in Tränen aus.
Sofort kniete die Blonde neben ihr und nahm sie tröstend in den Arm. Erst setzte sie zu guten Worten an, doch noch bevor ein Laut aus ihrem Mund kam, verstummte sie und schloss in wieder. Egal, was sie jetzt gesagt hätte, es würde Liliths Schmerz nicht lindern.
Also umarmte sie ihre Freundin nur, spendete ihr Halt und gab ihr Geborgenheit, wie es ihre Pflicht als Untergebene und Freundin war.
Als die Blonde ihren Kopf allmählich von Liliths hob, öffnete diese zaghaft die geröteten Augen. Blasses Abendrot schien durchs Fenster hinein. Auch die andere bemerkte die vergangene Zeit.
Traurig sah sie auf das tote Mädchen herab. Dann huschte ihr Blick zu dem dunkelhaarigen Jungen neben ihr. Das musste Sam sein.
Schließlich hörte Lilith die Stimme ihrer Freundin. „Lilith, wir müssen sie fortbringen. Es ist ein Wunder, dass man bisher noch nicht bei mir eingetroffen ist. Aber Raphael ist fort. Cleo ist ihm hinterher geflogen, als sie sah, wie er floh. Doch wie sie mir berichtete, verlor sie seine Spur an der Grenze Elynias. Sie kümmerte sich um Simon. Wenigstens er lebt noch.“
Bei dem Namen ihres Sohnes zuckte Lilith zusammen. Was für eine grausame Mutter sie für ihn doch gewesen war. Selbst jetzt, wo er tödlich verletzt war, hatte sie ihm nicht helfen wollen, sondern nur um ihre verstorbene Tochter getrauert.
Sie schüttelte den Kopf, angewidert von sich selbst.
Tröstend strich der blonde Engel mit einem ihrer Flügel über Liliths Arm. Diese sah träge zu ihr auf. Ein trauriges Lächeln umspielte die Mundwinkel der anderen. „Komm mit mir. Ich lasse Angel begraben, wenn du möchtest. Aber erst einmal müssen wir von hier fliehen, bevor man dich entdeckt.“
Trotzig schüttelte sie den Kopf. Zum ersten Mal, seit dem Tod ihrer Tochter, machte sie wieder den Mund auf. „Ich werde nicht ohne meine Tochter gehen. Sollen sie mich foltern, töten. Mir egal. Aber ich lasse sie nicht zurück!“
Die Blonde blickte verzweifelt ihre sture Freundin an. Dann stellte sie sich auf die andere Seite von Angel und erhob die Arme über deren Körper. Entsetzt riss Lilith die Augen auf. „Was machst du, Morgana?“
Morgana schloss konzentriert die Augen. „Wenn du nicht ohne sie gehst, muss ich sie wohl mitnehmen.“ Verstehend nickte Lilith. Geduldig betrachtete sie, wie Morgana ihre Kräfte einsetzte und mithilfe von Engelsmagie den schlaffen Körper Angels zum Schweben bracht.
Träge erhob sich Lilith. Schon wollte sie zum Fliegen die Flügel ausbreiten, da warf sie einen Blick zurück auf Angels Freund. Er hatte alles getan, um ihre Tochter zu retten.
Sie seufzte schwer. Dann drehte sie sich um und drehte den Finger.
Erst geschah gar nichts. Doch dann erhoben sich Lüfte und wirbelten von draußen ins Zimmer hinein. Morgana blickte verdutzt drein. Lilith ignorierte ihren fragenden Blick und befahl die Winde in Gedanken, den Jungen zu tragen.
Und so geschah es; die Luftströme erhoben den Toten vom Boden und ließen ihn neben Lilith schweben.
Mit Konzentration darauf bedacht, ihn nicht fallen zu lassen, nickte sie Morgana zu, woraufhin diese durchs Fenster in die Freiheit entflog. Lilith folgte ihr, den Jungen angestrengt von der Luft tragen lassen.
Als sie über Wolken flogen, holte Lilith ihre Freundin ein und warf einen schmerzvollen Blick auf ihre Tochter.
Der blonde Engel bemerkte ihre Trauer und dachte nach. Dann flüsterte sie: „Wir werden einen Weg finden, sie wiederzubeleben. Ich verspreche es.“
Sich an dieses Versprechen klammernd, flog Lilith weiter. Eine einzige Träne rollte ihr über die Wange und enthielt in sich all ihren Schmerz und Trauer.
Ich hockte auf einem hohen, alten Ast einer riesigen Kiefer. Ihre Krone umhüllte mich schützend vor dem beißenden Wind. Ich suchte den Waldboden mit meinem klaren Blick ab. Irgendwo musste es doch einen Bach oder Beerensträucher geben!
Ich strich mir genervt die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Es war anstrengend, für eine ganze Familie irgendwo im Nirgendwo etwas Nahrung zu finden.
Ein Vogel krächzte schrill hinter mir auf. Ich erschrak und verlor mein Gleichgewicht. Ich ruderte Haltsuchend mit den Armen, doch da fiel ich schon die Vier ein halb Meter in die Tiefe. Mein Schrei hallte mir in den Ohren nach.
Der dumpfe Aufschlag auf den knochigen braunen Herbstblättern ließ meine Welt sich kreisen. Mir wurde schwindelig und meine Lider fielen betäubt zu. Ich wollte an meinen pochenden, schmerzenden Kopf fassen, doch ich konnte mich nicht regen. Erst wollte ich erneut losschreien, doch mein Mund blieb geschlossen.
Und dann kam ein Filmriss und ich fiel erneut. Nicht auf den harten Waldboden, sondern in die dunklen Tiefen meines Bewusstseins. Ich kannte dieses stechende Gefühl, wenn man bewusstlos wurde. Also gab ich mich kampflos auf und hoffte nur, dass die Dunkelheit mich nicht auf Ewig gefangen halten würde.
Doch selbst, als ich gedanklich meine Augen ebenfalls schloss, versank ich nicht in der Bewusstlosigkeit. Es war wie in einer Art Trance. Und plötzlich erschienen Bilder vor meinem inneren Auge, die mich die Luft anhalten ließen. Unsanft wurde ich zurückkatapultiert zu dem Augenblick, als meine Mutter mit Morgana es geschafft hatte, mich mit einer starken, machtvollen Engelszauber zu neuem Leben zu erwecken. Das das Konsequenzen mit sich zog, war mir in diesem Moment noch nicht bewusst …
„Glaubst du wirklich, dass das funktioniert?“ Liliths zittrige Stimme war nicht mehr, als ein Flüstern.
„Es muss“, kam Morganas skeptische Antwort. Darauf folgte Stille, eisiges Schweigen. Gespannt warteten sie auf irgendeine Reaktion.
Ich wollte mich bewegen, meine Lider aufschlagen und das Gesicht der beiden Engel sehen, doch ich war wie gelähmt. Die Zeit verging und meine Anstrengungen waren umsonst.
Gerade wollte ich es aufgeben, da hörte ich Morganas ängstliche Stimme von weiter weg. Anscheinend stand sie nun woanders im Raum und nicht mehr an meiner Seite. „Lilith, es sieht schlecht für ihn aus. Sams Körper reagiert nicht auf meine Magie. Er blockt sie ab.“
Ich erschrak. Sam.
Mir blieb die Luft weg, wobei ich bezweifelte, ob ich überhaupt geatmet hatte zuvor.
Sam war tot. Er war gestorben. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Warum sagte Morgana dann so etwas?
Und da fiel es mir wieder ein. Ich war ebenfalls tot! Ich hatte mir diesen Dolch ins Herz gestoßen.
Ohne es wirklich gemerkt zu haben, war meine Hand auf meine Brust gewandert und suchte vergebens das Heft der Waffe. Ein erstickter Schrei Liliths erklang. Sie stammelte Hilferufe, woraufhin Morganas schnelle Schritte heraneilten.
Ein warme Hand, ob nun von dem blonden Engel oder meiner Mutter, legte sich auf die meine und drückte sie liebevoll.
Und bei dieser Geste wurde mir klar, dass ich kämpfen musste. Das ich mithilfe der Engelsmagie, die die beiden Unsterblichen mir schenkten, zurück ins Leben kommen konnte.
Und ich kämpfte. Ich zwang meine Augen, sich zu öffnen. Flatternd schlug ich meine Lider auf und blickte in ein wunderschönes grünes Augenpaar. Ein Lächeln spiegelte sich auf dem Gesicht meiner Mutter und Tränen rollten über ihr helles Gesicht.
Neben Lilith starrte Morgana mich ungläubig an. Ihre hellblonden Locken umrahmten ihre rosigen Wangen und ließen ihre eisblauen Augen von innen heraus strahlen. Ein gequältes Heben der Mundwinkel wies auf ihre erleichterte Glückseligkeit hin.
Ich öffnete den Mund, doch Morganas mütterlicher Blick ließ ihn mich wieder schließen. So unfair und komisch es auch klang: Wenn ich meine Mutter und ihre Freundin so nebeneinander sah, sah ich, trotz Liliths und meiner Ähnlichkeit, den blonden Engel eher als meine Mutter an. Ich zwang mich, diesen dümmlichen Gedanken zu unterdrücken und wandte meinen Blick von Morgana ab, zu Lilith.
Diese beugte sich nah über mich. Ihre kühlen Finger legten sich auf meine Wange. Also hielt Morgana meine Hand, schoss es mir bei der zarten Berührung durch den Kopf. Ein schneller Augenaufschlag mit Sicht auf meine Hand, bestätigte meine Annahme. Die zwei Berührungen waren so unterschiedlich, wie Tag und Nacht.
Lilith sah mit tief in die Augen. „Du lebst!“, flüsterte sie ungläubig. Zaghaft nickte ich. Dann schlang sie ihre Arme um mich und küsste mich liebevoll auf die Wange …
Vorsichtig öffnete ich die Augen. Warmes Sonnenlicht schien mir ins Gesicht. Ich stützte mich schwerfällig auf meine Ellenbogen und dachte über die Erinnerungen nach.
Dann musterte ich meinen Körper. Meine Konturen verschwammen, ich flackerte. Es überraschte mich von Mal zu Mal mehr, wenn mein Körper dabei war, sich in Luft aufzulösen. Das waren die Konsequenzen, die ich angesprochen hatte. Immer, wenn ich mich nicht konzentrierte, verblasste ich, wie ein Geist. Es nervte, denn darauf folgten meistens schreckliche Kopfschmerzen. Aber ich erinnerte mich an Morganas aufrichtigen Worte: „Lieber ein Caduca, als tot.“
Caduca nannte man Engel, die starben und als menschlicher Geist zurück in die Welt kamen. Auch wenn ich kein reiner Engel war; es lief auf dasselbe hinaus.
Ich stand auf und stolperte, etwas vom Fall benommen, über die Laubböden aus dem Wald hinaus. Die Nahrungssuche hatte sich also für heute erledigt.
Leicht deprimiert wanderte ich auf die große Holzhütte auf dem Hügel mir gegenüber zu. Ich torkelte einen Kiesweg hinauf und blieb schwer atmend vor der Tür stehen. Um wieder leichter Luft zu bekommen, stützte ich mich schwerfällig auf meine Knie.
Die Tür wurde mit einem Ruck aufgeschlagen und eine weiße Hand zog mich am Arm in eine aufrechte Haltung. Die blonden Haare kitzelten mich an der Wange, als sie sich vorbeugte, um mein dreckiges Gesicht anzuheben. „Was ist passiert?“
Ich winkte ab. „Nicht so wichtig. Ich hockte auf einem hohen Baum und hab dann mein Gleichgewicht verloren. Aber es geht mir gut“, bestätigte ich dem Engel, auf ihren beängstigten Blick hin. Morgana umarmte mich eilig, ehe sie mich ins Haus zog und bedächtig die Welt draußen studierte.
Ich wurde von dem blonden Engel geradewegs an meiner auf der Couch schlafenden Mutter vorbeigezerrt und in das riesige Badezimmer geschoben. Dort wusch Morgana mein Gesicht mit einem nassen Lappen, ließ heiß dampfendes Badewasser ein und zerrte mir dann die Kleider bis auf die Unterwäsche vom Körper. Sie ging mit dem Befehl, ich solle baden und Haare waschen, widerwillig aus dem Bad und ließ mich alleine.
Ich pellte mich auch aus den übrigen Klamotten und stieg dann ins Heiße mit einem genießerischen Seufzen. Ich ließ mich bis zum Kinn ins Schaumwasser gleiten und schloss die Augen zum Entspannen. Ich merkte nicht einmal, dass ich einschlief.
Ich lag unter einem hohen Baum mit weit reichender Krone. Er warf einen schützenden Schatten über mich. In der Ferne sah ich das grell helle Sonnenlicht auf einen tiefgelegenen Teich strahlen. Anscheinend befand ich mich auf einer Anhebung. Das verdunkelte Gras überzog weich den Boden – wie eine unendlich weiche Wolldecke.
Ich schloss die Augen und lauschte dem Singen der Vögel, dem Pfeifen des leisen Windes und dem Schaukeln der Äste des Baumes. Es war wunderschön.
Von dieser Schönheit gelockt, öffnete ich die Augen wieder und starrte ins Blätterdach über mir. Ich entdeckte nahe am Stamm sitzend auf einem der Holzarme ein Eichhörnchen, welches genüsslich an einer Nuss nagte. Ich studierte das sauber gepflegte Fell, die spitzen Ohren und das kleine Näschen.
Mit einem Lächeln wanderte mein Blick weiter. Auf einem anderen Ast befand sich ein Nest mit neugeborenen Amseln, die ihre Mutter versuchte zu füttern. Doch die kleinen Piepmatze rangen miteinander um den ersten Wurm und die liebe Frau Mama konnte nur verzweifelt zu sehen. Diese Eifrigkeit und Glückseligkeit versetzte mir einen Stich im Herzen.
Das letzte Mal, dass ich so viel Freude an den Tag gelegt hatte, wie diese Vögel, war schon viel zu lange her – es war der Tag, an dem ich mit David auf die Lichtung geflohen war.
Bilder schossen mir durch den Kopf. Bilder von dem überaus attraktiven Jungen. Bilder von einem Dämonenprinzen. Bilder von einem Kuss, der unendlich viele Gefühle mit feuriger Leidenschaft ausdrückte. Und Bilder eines Verrats, den ich ihm nie verzeihen könnte.
Ich schüttelte den Kopf, versuchte schmerzlich die traurigen Bilder zu vergessen, sie aus meinem Kopf zu verbannen. Es funktionierte. Diesen Augenblick des Sieges musste ich auskosten denn ich wusste um seiner Kürze.
Eilig sprang ich auf und hüpfte den Hügel hinunter. Unten blieb ich am Ufer des Teiches stehen und betrachtete die spiegelnde Oberfläche. Darunter war es tief und dunkel, aber sie selbst strahlte wie funkelnde Diamanten im hellen Sonnenlicht.
Und dann entdeckte ich mich selbst im ruhigen Wasser. Ich sah mein Spiegelbild und erschrak. Meine Haare waren hochgesteckt und mit glänzendem Gold verziert. Ich trug ein schwarzes bodenlanges und schulterfreies Kleid, welches mit wunderschönen grünen Smaragden besetzt war. Um meinen Hals trug ich ein mit Diamanten besetztes Collier. Ich sah aus, wie an dem Tag des großen Festes mir zu Ehren, das vom Teufel selbst errichtet worden war. Ich sah aus, wie an dem Tag, als ich das erste Mal mit David tanzte. Wie an dem Tag, als wir beide uns das erste Mal küssten.
Doch als ich mich jetzt umdrehte und weglief, folgte er mir nicht. Niemand folgte mir. Und das war schrecklicher als alles andere. Es war mir die Bestätigung, dass ich ganz alleine war.
Tränen drohten zu fließen und ich rannte einfach weiter. Bis ich plötzlich direkt in eine harte Umarmung lief. Als ich meinen trüben Blick hob, sah ich in ein Gesicht, welches mir allzu bekannt war. Sam.
Ohne ein Wort zu verlieren, hielt er mich fest und tröstete mich. An seine Schulter gelehnt weinte ich und gab all meinen Schmerz preis.
Doch warum? Ich war überhaupt nicht allein. Wäre ich’s, läge ich nun auf dem Boden. Doch ich wurde gehalten, und zwar von meinem besten Freund. Ich konnte also gar nicht alleine sein, denn es gab Sam.
Ich blickte auf, doch Sams blaue Augen schienen nicht glücklich zu sein. Sein Gesicht spiegelte Angst, Hilflosigkeit. Was war denn los?
Ich wollte ihn genau das fragen, als er plötzlich in die Knie sank. Ich trat einen Schritt von ihm weg und seine Knochen brechen. Alles geschah durch eine unsichtbare Hand. Ich hörte ihn schreien, obwohl sein Mund geschlossen war. Tränen standen ihm in den Augen. Und dann sah ich dieses schöne Blau erlöschen und Sam regte sich nicht mehr.
Ich fiel neben ihm auf die Knie. Ich konnte nicht atmen, konnte nicht schreien. Ich konnte nur da sitzen und seinen leblosen Körper im Arm halten. Wie konnte ich mir nur etwas vormachen? Ich war ganz allein. Denn Sam war tot.
Mit einem Schrei, wachte ich auf. Doch dieser Schrei kam nie an Gehör, denn mein offener Mund befand sich unter Wasser und Unmengen füllten in weniger als einer Sekunde meine Kehle. Ich verschluckte mich, versuchte, das Wasser auszuspucken. Ich versuchte zu atmen.
Endlich bekam ich meine Kehle frei und schnappte nach Luft. Mein Atem war nicht mehr als ein rasches Hecheln. Meine Augen waren vor Panik immer noch weit aufgerissen und ich krallte mich Halt suchend am Wannenrand fest.
Nach mehreren zitternden Atemzügen blickte ich vor mich auf das schaukelnde Schaumwasser. Ein bitterer Geschmack lag mir im Mund, doch ich ignorierte ihn. Es war eh niemand da, der mir helfen könnte. Ich war allein.
Wie Morgana es mir befohlen hatte, wusch ich mir die Haare. Der frische Duft von Mango stieg mir in die Nase und beruhigte mich langsam. Öfter als nötig wusch ich mir meine Lockenpracht aus, ehe ich wackelig aufstand und mich mit einem Handtuch abtrocknete.
Ich stieg aus der Badewanne und blieb am riesigen Spiegel stehen. Als ich in mein Gesicht sah, sah ich makellose Haut, feine Gesichtszüge und volle Lippen. Ich sah ein schönes Gesicht.
Langsam ließ ich das Handtuch los, welches lautlos zu Boden fiel. Ich betrachtete meinen Körper. Auf den ersten Blick hin schien er vollkommen. Ich war schlank, mein Bauch flach und fest. Meine Taille war schmal, die Hüften etwas breiter. Ich besaß straffe Rundungen und die Kurven an den richtigen Stellen. Ich war groß, aber nicht zu groß. Meine Beine waren lang und elegant. Oh ja, ich war schön.
Doch wenn ich meine dunklen wunderschönen Locken über meine Schulter zurück strich, gaben sie die Sicht frei auf die Narbe, die sich mitten auf meiner Brust abzeichnete. Und wenn ich meinen Blick verschärfte, sah ich andere Narben überall auf meinem Körper verteilt. Alles Zeichen von unzähligen Kämpfen. Ich hatte schon so viele Nahtoderfahrungen gehabt, wie es ein normaler Mensch in seinem gesamten Leben nicht haben dürfte.
Aber ich war ja auch kein Mensch. Meine restliche Vollkommenheit bewies dies nur zu gut.
Ich konnte meinen Blick nicht länger auf mir haben, also griff ich schnell nach dem Handtuch, wickelte es um mich und trat, ohne einen weiteren Blick in den Spiegel, aus dem Badezimmer.
Ich konnte nur Lilith auf dem Sofa schlafend erblicken, von Morgana keine Spur. Also ging ich sie suchen, es handelte sich schließlich nur um eine kleine Hütte. Erst sah ich in mein Zimmer und erwartete sie vor meinem Kleiderschrank, skeptisch meine Sachen begutachtend. Doch der Raum war leer.
Ich ging weiter zu dem kleinen Zimmer in dem sie nachts schlief und am Tag zu jeder freien Minute in ihren Büchern las oder einen Brief für Cleo schrieb, die sie für uns zurück gelassen hatte. Aber auch dort fand ich sie nicht.
Also blieb nur noch ein Zimmer. Ich stand vor der Tür, meine Hand schon am Knauf. Doch ich konnte nicht eintreten. Würde ich den Anblick, der sich mir bieten würde, nach meinem Albtraum aushalten können?
Ich schloss kurz die Augen. Doch dann dachte ich nicht weiter nach und öffnete einfach die Tür, sowie meine Augen. Und so schlimm war es gar nicht, was ich da sah. Nein, eigentlich kannte ich dieses Bild schon. Ich hatte es oft genug gesehen.
Sam lag reglos in seinem Bett, die Augen geschlossen. Morgana saß auf einem Stuhl daneben, hielt seine Hand und versuchte in Gedanken Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Wortlos zog ich mir einen zweiten Stuhl heran und setzte mich Morgana gegenüber. Sie sah mich nicht an, doch ich wusste, dass sie meine Anwesenheit spürte. Ich blickte zu Sam. Sein Gesicht war ausdruckslos. Es schien, als würde er schlafen. Wenn es doch nur so wäre.
Minuten verstrichen, bis Morgana irgendwann es aufgab und Sams Hand sinken ließ. Ich zitterte, mir war kalt, schließlich saß ich hier nur in ein Handtuch gewickelt. Der blonde Engel starrte den Jungen vor sich noch etwas an, ehe sie aufstand und zu mir hinüber kam. Als sie mein Zittern sah, trat sofort dieser mütterliche Ausdruck in ihre Augen.
„Angel! Warum hast du denn nichts an? Es ist doch schrecklich kalt hier drinnen von meiner Magie.“ Ich zuckte die Schultern und sah hinüber zu meinem Freund. Sie folgte meinem Blick und verstand. Langsam zog sie mich auf die Füße und schob mich vorsichtig zur Tür. „Ich weiß, du machst dir Sorgen. Aber keine Angst, irgendwann wird er meine Magie annehmen und dann kann ich ihm helfen.“
„Und was, wenn nicht?“ Sie hielt kurz inne und blieb stehen. Ich wollte mich umdrehen und ihr ins Gesicht sehen, doch sie drehte mich weg.
„Das wird nicht geschehen.“ Ihre Stimme war leise und ich wusste, dass sie genauso Bedenken hatte, wie ich.
Ich erwiderte nichts und ging wortlos mit ihr in mein Zimmer. Dort setzte ich mich aufs Bett, faltete die Hände in meinem Schoss und blickte hinab. Während ich darauf wartete, dass sie meine Kleidung für den heutigen Tag bestimmte, war ich in Gedanken bei Sam.
Warum nur wehrte er Morganas Magie ab?
Wie konnte ich ihm helfen?
Würde er je wieder lebendig neben mir stehen?
Würde ich irgendwann mal wieder wie früher mit ihm reden und lachen können?
Und wenn er wirklich aufwacht, wie geht es dann mit uns beiden weiter, nach seinem Geständnis?
Das waren alles Fragen, die ich nicht beantworten konnte und deren Antworten ich gleichzeitig auch nicht wissen wollte.
Der blonde Engel stellte sich vor mich und ich sah auf. Morgana hielt mir eine dunkelblaue enge Jeans und einen am Körper anliegenden dünnen weißen Pullover hin. Das Material des Oberteils war so hauchzart, dass ich es beinahe auf meiner Haut nicht spürte. Dazu zog ich schwarzgraue Turnschuhe an. Mich wunderte ihre Kleiderwahl, sonst gab sie mir immer Kleider und andere feminine Sachen, die ich nur hier im Verborgenen und niemals in der Öffentlichkeit trug.
„Warum diese Sachen?“, fragte ich verständnislos. Morgana warf mir einen nachdenklichen Blick zu.
„Ich denke, du solltest etwas unter Leute kommen. Du bist ganz still und verschlossen geworden, seit du hier bist.“
„Und wo sollte ich hin?“ Ich wusste nicht, was das alles bringen sollte und meine kepsis klang in meinem Tonfall wider.
„In den Urlaub. Ich habe mir erlaubt, eine Reise für dich zu buchen.“
„Nur für mich?“ Jetzt war ich ganz perplex. Morgana schüttelte den Kopf. Ein Lachen kam leise über ihre Lippen. „Natürlich nicht alleine; das würde doch dann gar nichts bringen.“ Ein Stein fiel mir vom Herzen.
„Nein, Angel, ich habe eine Reise für zwei gebucht. Wen du mitnimmst ist dir überlassen. Vielleicht haben wir ja Glück und bis dahin ist Sam erwacht.“ Die Hoffnung spiegelte sich in ihren Augen wider und sprang sofort auf mich über. Mit einem winzigen Lächeln fragte ich: „Und wo soll es hingehen?“
„Paris.“ Meine Augen wurden groß bei dieser Antwort. Paris. Schon immer hatte ich dahin gewollt, aber meine Großmutter konnte eine so lange Strecke nicht mehr zurück legen. Es war auch ihr größter Traum gewesen, einmal über die Saine zu fahren und auf dem Eifelturm zu stehen.
Der Gedanke an meine Granny verscheuchte alle Freude. Vor etwa einem Monat war Morgana von der Menschenwelt wiedergekehrt. Sie hatte nach dem Rechten schauen wollen und war mit schrecklichen Nachrichten zurück gekommen. Meine Großmutter war gestorben. Es war ein schöner Tod gewesen, einfach eingeschlafen. Dennoch litt ich unter dem Verlust.
Morgana bemerkte meine Traurigkeit und die Schuldgefühle standen in ihren Augen.
„Es tut mir leid. Ich kann auch etwas anderes buchen, wenn du möchtest …“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist schon okay. Paris ist schön. Da würde ich gerne hin.“ Der Engel nickte mit einem wissenden Blick. „Nun gut. Mach dich doch bitte fertig. Wir beide werden gleich etwas versuchen, um Sam zu erwecken. Außerdem müssen wir noch Kleidung und vieles andere Einkaufen gehen für die Reise. Dafür werden wir auf die Erde zurück müssen. Deshalb auch die Kleidung.“ Ich nickte.
Morgana ging aus dem Zimmer und schloss leise hinter sich die Tür. Ich blieb jedoch stumm sitzen und starrte auf meine Hände. Ich wartete auf Tränen, doch es kamen keine.
Sam lag auf der Wiese, Kerzen um ihn herum ausgebreitet. Ihr flackerndes Licht erhellte im Dunkeln sein Gesicht und meine Hände auf seiner Brust. So friedlich er auch aussah, ich wusste, spätestens wenn er aufwachte, würden die Schmerzen kommen. Denn die Knochen waren immer noch gebrochen. Sie könnten erst heilen, wenn er lebte.
Morgana kniete mir gegenüber und legte ihre kühlen Fingerspitzen an seine Schläfen. Sie nickte mir kurz zu, dann schloss sie die Augen. Ich wusste, was ich tun musste.
Während Morgana versuchte, zu Sams Geist durchzuringen, beugte ich mich weiter vor. Mein Gesicht schwebte nur Zentimeter über seinem, unsere Lippen waren sich ganz nah. Ich dachte noch einmal nach, was ich sagen sollte, bevor ich den Mund öffnete.
„Sam. Ich wünschte, du wärst jetzt bei mir. Ich wünschte, du könntest meine Hand halten. Ich wünschte, wir würden zusammen hier stehen und die leichte Brise genießen. Ich will dich bei mir haben. Ich brauche dich.“ Damit legte ich meine Lippen auf seine.
Morgana hatte gesagt, durch Sams Gefühle für mich würde diese Berührung eine innigere Bindung herstellen. Das sagte ich mir die ganze Zeit, das ich das alles nur deshalb machte. Dabei genoss ich es. Natürlich küsste ich ihn, um ihn zu retten. Doch ich küsste ihn auch, weil ich es wollte.
Ich schob den Gedanken beiseite, mein Geist sollte frei sein, wenn ich Sam Eintritt gewähren wollte.
Ein Schaudern ging durch meinen Körper und ich wusste, dass er gekommen war. Ein Seufzen entrang sich mir, und langsam entstand ein Abbild von Sam vor meinem inneren Auge. Ich lächelte ihm entgegen. Ich wusste, dass das alles nur in meinem Kopf geschah, dennoch rührte es mich wie die Realität.
„Hi“, flüsterte ich. Er machte große Augen, als er mich erblickte. Ich ging auf ihn zu und nahm vorsichtig seine Hand. Erst zögerte er, ließ sich dann aber von mir wegführen. Wir schlenderten einfach gerade aus. Ich malte mir eine Landschaft aus. Einen ruhigen Ort. Nur für Sam und mich.
Ich roch die frische Landluft, schmeckte förmlich die intensiven Farben der strahlend grünen Baumkronen, der weichen, mit Blumen gesäumten Wiese und den hell blauen wolkenlosen Himmel. Und dort in der Mitte stand ein Fels, nicht groß und gewaltig, aber weitreichend und von der Sonne gewärmt. Wir liefen auf ihn zu und legten uns gleichzeitig auf die raue Fläche. Es war so ein bekanntes Gefühl, seine Hand zu halten, einfach nur seinem Atem zu lauschen und die Augen zu schließen.
Doch es war zu still. Es zwitscherten keine Vögel und auch Sam sagte kein Wort. Ich setzte mich auf und sah in sein markantes Gesicht. Er wirkte ernst und angespannt. Freundschaftlich strich ich ihm über den Arm und blickte ihm tröstend in die Augen.
„Sprich mit mir. Was ist geschehen, dass du mich aus deinen Gedanken ausschließt?“ Sam schien über seine Antwort zu überlegen.
„Alles, was ich gefürchtet habe, ist passiert. Angel, ich weiß nicht, wie es jetzt mit uns weiter gehen soll. Ich bin tot und habe keinen blassen Schimmer, wieso das gerade geschieht und wie ich dich sehen kann … Aber ich weiß, dass egal was ich mache, alles anders sein wird. Weil ich es dir gesagt habe.“ Ich versuchte, aus seinen Zügen schlau zu werden und wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Oh Sam, du weißt gar nicht, wie wichtig du mir bist – und deshalb will ich dich nicht verlieren. Ich kann nicht ohne dich leben und will es mir nicht einmal vorstellen. Eine Welt ohne dich ist keine Welt für mich. Ich bitte dich, komm zu mir zurück. Lebe wieder!“ Meine Stimme brach und wurde zum Schluchzen. Doch Sams Gesicht blieb hart.
„Warum? Nenne mir einen Grund.“
„Weil da deine Freunde sind, deine Familie.“ Er blickte an mir vorbei.
„Das reicht nicht.“ Ich überlegte von neuem.
„Weil die Welt schon schlecht genug ist und mit dir etwas viel zu Gutes verliert.“ Ein Lächel zuckte in seinen Mundwinkeln, doch sein Blick ging immer noch an mir vorbei.
„Immer noch nicht gut genug.“ Und dann sagte ich die Worte, die direkt aus meinem Herzen kamen.
„Dann tu es für mich. Es darf dir egal sein, ob dich deine Freunde verlieren, ob die Welt schlecht ist oder nicht. Alles darf dir egal sein. Aber ich, ich darf dir nicht egal sein. Und wenn du es schon nicht für dich selbst tust, dann tu es wenigstens für mich.“ Und endlich schaute er mich an, blickte tief in meine Augen und entschied sich.
„Was muss ich tun?“, war alles, was er sagen musste. Ich umarmte ihn nicht stürmisch, ich lächelte auch nicht. Nein, ich starrte ihn einfach nur mit Tränen in den Augen an. Dann blinzelte ich diese weg und versuchte mich an Morganas Worte zu erinnern.
„Du musst daran glauben. Glaube daran, wieder von neuem zu leben. Glaube an alles Gute auf der Welt. Glaube an dich. Und dann wird dir Hilfe kommen. Ihr musst du dich von ganzem Herzen öffnen. Und dann wirst du leben.“ Sams Antwort war ein Nicken.
Ich sah ihn noch einmal an, unterdrückte die schmerzenden Gefühle bei seinem Anblick und drehte mich dann einfach um. Ich glitt vom Felsen und ging, ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich ging geradewegs aus der Traumwelt in die Realität zurück.
Als ich meine Augen öffnete, und meinen Mund von seinem nahm, liefen mit Tränen über die Wangen und ein Schluchzen bebte durch meinen Körper. Morgana sah mich aus traurigen Augen an, sagte jedoch nichts.
Ich stand auf, wischte mir Grashalme von den Knien und stellte mich dann etwas abseits in die Schatten. Nicht eine einzige Sekunde schaute ich weg, mein Blick lag die ganze Zeit auf Sams leblosen Körper und Morganas schlanken, helfenden Händen. Die Nacht brach ein, der Vollmond stieg.
Plötzlich schrak Sams Kopf hoch und seine weit aufgerissenen Augen starrten mich an. Ich war so perplex, dass mir meine Kinnlade herunterfiel. Einen Moment distanzierten sich unsere Blicke, doch dann trat Schmerz in seine Augen und jede Barriere war durchbrochen und ich direkt neben ihm, seine Hand in meiner. Ich drückte tröstend seine Finger, strich ihm liebevoll übers Haar, während er schrie.
Ich war bei ihm, als die Schmerzen des gebrochenen Körpers kamen, als sie von Morganas Magie unterstützt neu wuchsen und als er sich fast selbst verlor. Sein Gesicht war verzerrt, seine Sicht getrübt von Tränen und alles was er empfand waren Leid und Qual. Es war mir eine Folter, ihm dabei zuzusehen, doch niemals würde ich von seiner Seite weichen.
Stunden vergingen, ein neuer Tag brach an und die Schreie wurden zu einem heiseren Röcheln, ihre schreckliche Wirkung blieb jedoch. Ich konnte nicht sprechen, konnte nicht atmen, ich konnte nur stumm da sitzen und Sam beistehen.
Schließlich, nach einem neuen Tag und einer angebrochenen Nacht, schloss Sam den Mund. Seine Augen waren gerötet von den vielen Tränen, ebenso meine. Er zitterte, seine Zähne schlugen aufeinander. Erst jetzt viel mir auf, wie dunkel es doch war. Die Kerzen waren erloschen und nur der Mond gab sein Licht.
Ich holte einmal tief Luft, dann fuhr ich mit meinen Fingern seine Gesichtszüge nach. Er öffnet zittrig seine Lider und sah mir in die Augen.
Als unsere Blicke sich trafen, schien die Welt stehen zu bleiben. Ich erinnerte mich an alles, was geschehen war. Von dem Moment unserer ersten Begegnung bis hin zu seinem schrecklichen Tod. Und jetzt lag er hier, hier in meinen Armen, verletzt und schwach, aber am Leben.
Stürmisch schlang ich meine Arme um seinen Hals, soweit es in seiner liegenden Position ging und bettete meinen Kopf, das Gesicht voran, an seinem Hals. Er atmete unregelmäßig und schwer, doch als ich mich etwas von ihm lösen wollte, drückte er kraftlos einige Finger in meinen Rücken und bedeutete mir, genauso zu bleiben.
Tränen flossen – Tränen der Glückseligkeit. Und ich betete, bedankte mich stumm unzählige Male bei Gott. Ich wollte Sam nie wieder los lassen, in der Befürchtung, ihn ein weiteres Male zu verlieren.
Sam saß auf einem Holzstuhl. Er trug eine dunkle Jeans und ein weißes Shirt. Er war gerade dabei, seine Turnschuhe zuzuschnüren, als ich in Zimmer tanzte. Seid Sam aufgewacht war und bei vollem Bewusstsein mit mir gesprochen hatte, konnte nichts meine Stimmung senken.
Ich hatte die dreckigen Klamotten durch eine saubere schwarze Hüftjeans und ein knappes gelbes Top getauscht. Ich ging auf Sam zu, dessen Blick unverwandt auf mein Gesicht gerichtet war. Er schenkte mir ein Lächeln, das mich beinahe umkippen ließ. Etwas flaues erfüllte meinen Magen und Schmetterlinge flogen wild durch meinen Bauch. Ich versuchte, unter seinem intensiven Blick nicht zu erröten, doch das Glitzern in meinen Augen musste mich wohl verraten haben.
Schwerfällig stand Sam von seinem Stuhl auf und machte einen Schritt auf mich zu. Er blieb ein Stück weit von mir entfernt, hätte diese Distanz jedoch in weniger als einer Sekunde überbrücken können.
Ich schluckte schwer, bevor ich zaghaft meinen Mund öffnete. „Ich wollte fragen, ob … du mit mir kommen möchtest.“ Er hob fragend eine Augenbraue. Etwas zu schnell und durchgängig am stottern, antwortete ich: „Paris. Al-lso, Morga-ana meinte, ich ... solle wieder e-etwas unter Leute kommen … und hat mi-ir deshalb diese … Reise geschenkt.“
Sam nickte verstehend. „Nun, wie kann ich da nein sagen?“ Mit einem Grinsen umarmte er mich und hob mich schwerfällig, sich im Kreis drehend, hoch. Ich lachte überrascht auf und ließ mich umher schleudern.
Als er mich mit einem angestrengten Seufzen zu Boden ließ, waren wir beide immer noch leise am kichern. Dann trafen sich unsere Blicke erneut. Sie sprachen von langjähriger Freundschaft, großem Vertrauen – und unentdeckten Gefühlen. Verstört wandte ich den Blick ab. Das kam so abrupt, dass auch Sam überrascht schien.
Bevor er etwas sagen konnte, fragte ich: „An wie vieles kannst du dich noch erinnern? Ich meine, bevor …“
„ … Ich starb?“, vollendete er meinen Satz. Ich nickte zaghaft. Er überlegte sehr lange. So lange, dass ich irgendwann ihn ansehen musste. Er musterte mein Gesicht von der Seite. Er verzog sein Gesicht zu einem nachdenklichen Ausdruck. Dann gab er mir schließlich die Antwort. „An nicht viel. Wir kämpften mit Raphael und Jason, doch dann … Nichts.“
Ich atmete zittrig auf. So etwas wie Hoffnung, versetzt mit Erleichterung, durchzog mein Herz. „Das heißt, alles, was geschah, während du verletzt auf dem Boden lagst, hast du vergessen?“ Er hob eine Braue. „Ja. Warum? Was war denn da?“
Beschämt schaute ich weg. „Nichts. Nichts Besonderes. Alles ist gut.“ Sam schaute mich besorgt an, versuchte etwas aus meinem Gesicht zu lesen, doch ich wandte mich ab und ging zur Tür. Ohne zurück zu sehen, rief ich ihm zu: „Komm ins Wohnzimmer, wenn du fertig gepackt hast.
Ich saß auf dem gemütlichen Sessel, hatte meine Augen geschlossen und dachte nach.
Als ich damals diese drei Worte Sam zu geschrien hatte, hatte es sich so gut und echt angefühlt. Doch jetzt in diesem Moment ganz und gar nicht. Ich wollte dieses
Geständnis
zurücknehmen, wollte es ungeschehen machen. Ich konnte von Glück reden, dass Sam sich daran nicht mehr erinnern konnte, sonst würde alles wahrscheinlich anders laufen.
Ein Krachen riss mich aus meinen Gedanken. Ich schlug ruckartig die Augen auf und starrte vor mich. Sam hatte seine riesige Reisetasche mit solcher Wucht auf den Boden geschmissen, dass er fast mit gefallen wäre. Er lächelte mich peinlich berührt an. Mein aufgesetztes Grinsen war mehr gezwungen, als echt.
„Du bist fertig?“, fragte ich trocken. Er nickte eifrig. Etwas zu eilig sprang ich auf und schnappte mir meinen kleinen Rucksack. Ich konnte nicht sagen, dass ich viel dabei hatte. Zwei Jeans, mehrere dünne Shirts, einen dicken Pullover, Unterwäsche und ein Schlaftop mit Shorts. Sam dagegen schien seinen gesamten Kleiderschrank mitzunehmen.
Ich ging aus der Hütte und genoss kurz die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Ein leichter Windstoß kündigte Morganas Landung an. Ich blickte in den Himmel hinaus. Ihre Haare strahlten Gold, ihre blauen Augen konkurrierten mit dem Horizont und ihre Schwingen warfen lange Schatten auf mich.
Der Engel landete vor mir und schenkte mir ein Lächeln. „Also geht ihr zusammen?“ Ich nickte. In meinem Bauch tat sich was. Aufregung. Ich war schrecklich aufgeregt mit Sam irgendwo alleine hinzugehen.
Sam stellte sich neben mich. „Und wie gelangen wir nun nach Paris?“ Morgana blickte ihn an. Ein fröhlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. Das hatte ich schon lange nicht mehr bei ihr gesehen.
„Das ist eigentlich ganz leicht. Ich werde euch in eine Art Trancezustand versetzen. In dem müsst ihr euch einfach nur ein Bild von eurem Zielort vor Augen führen und stark daran denken. Und dann … naja, dann seid ihr da.“ Sam pfiff einmal anerkennend. „Diese Art des Reisens wäre früher sehr vorteilhaft gewesen. Man hätte viel länger schlafen können vor der Schule und die langen Autofahrten wären erspart geblieben.“
Ich musste grinsen. Ich wusste, was Sam damit anspielen wollte, sicher machte mich dabei sein geheimnisvoller Seitenblick.
Einmal, Sam und ich waren gerade dreizehn, fuhren wir nach Kroatien. Ja genau, wir fuhren. Und es dauerte ganze zwei Tage. Seine Eltern mussten sich mit dem Fahren abwechseln und auch wenn wir beide noch so viele Energiedrinks getrunken hatten, irgendwann hatte die Müdigkeit und Langeweile doch gesiegt.
Morgana kam auf uns zu. „Am besten einigt ihr euch auf ein Bild, damit ihr auch am selben Ort ankommt. Paris ist nämlich sehr groß.“ Sie zwinkerte uns zu. Ich drehte mich Sam zu. „Wie wär’s am Eifelturm?“ Er nickte.
„Ja, das Bild kennen wir beide.“ Also war’s entschieden. Morgana bedeutete uns, uns an der Hand zu fassen. Ich fühlte mich ein wenig unwohl, weil das Geheimnis meine Worte immer noch mein schlechtes Gewissen anregte, doch Sam griff sicher meine Finger und drückte sie beruhigend.
Der Engel legte uns beiden eine Hand auf den Kopf. Mein Griff um den Riemen des Rucksacks verstärkte sich, sodass meine Knöchel schon weiß zum Vorschein kamen. Ich schloss die Augen, erfasst von einer plötzlichen Müdigkeit. Ich spürte Morganas Magie durch meinen Körper fließen und gab mich dem schwerelosen Gefühl hin. Ich malte mir die eisernen Stränge, die vielen Menschen und den wunderschönen, lichtüberfluteten Eifelturm aus. Plötzlich durchfuhr mich ein Schub. Vor Schreck riss ich die Augen auf und stand auf einer dunklen Wiese.
Doch eigentlich war die Wiese gar nicht dunkel, sie lag nur im Schatten einer großen Eiche. Neben mir schwankte Sam mit seiner schweren Tasche. Er ließ sie fallen und versuchte kampfhaft sein Gleichgewicht zu halten. Ich umklammerte seine Hand und bewahrte ihn vor einem Sturz. Er schenkte mir ein dankbares Lächeln ich zuckte mit den Schultern und sah dann nach vorne.
Da stand er, der gewaltige Eifelturm in all seiner Pracht. Er war riesig und schien weit in den Himmel hinein zu reichen. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus.
„Der Anblick ist wunderschön“, flüsterte ich ehrwürdig. Eine Bewegung neben mir lenkte die Aufmerksamkeit auf Sam. Er lud sich seine Tasche auf den Rücken und sah mich wartend an. „Ja, aber vielleicht sollten wir erst mal das Hotel aufsuchen.“ Sein gequälter Blick brachte mich zum Lachen.
Zusammen gingen wir an Passanten und Touristen vorbei und hielten Ausschau nach den Initialen des Hotels. Als wir immer noch keine Spur gefunden hatten, verlor ich langsam die Geduld. Ich tippte einem jungen Mann auf die Schulter und versuchte mich mit meinen mangelnden Französischkenntnissen zu verständigen.
„Bonjour, vous pouvez parler anglais?“
Der Mann nickte.
„Ja, ein wenig“, antwortete er mir in meiner Muttersprache. Erleichtert atmete ich aus und lächelte freundlich. „Wissen sie, wo sich das Hotel Ville des Lumières befindet?“ Der Mann überlegte kurz.
„Ah, oui, aber das kann ich nicht auf Englisch erklären …“, Er schien verzweifelt. Ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Dann versuche ich es auf Französisch zu verstehen.“ Er grinste mich erleichtert an.
„Merci. Bon, Vous allez tout droit, puis vous prenez la première rue à gauche. Vous allez jusqu'à un grand carrefour. Il vous tournez à droite. Immédiatement après vous prenez la deuxième rue à gauche et après environ deux cents mètres est une petite rue. Il a le même nom que l'hôtel. À la fin de la rue est l'hôtel.“
Ich nickte verstehend. „Merci. Salut !“ Der Mann winkte mir zum Abschied noch zu, ehe ich mich zu Sam umdrehte. Dieser starrte mich unwissend an. „Und, was hat er gesagt?“ Ich überlegte schnell noch mal.
„Also, wie sollen erst einmal gerade aus gehen, bis links eine Straße kommt. In die biegen wir ein und gehen bis zu einer großen Kreuzung. Von dort gehen wir nach rechts und nehmen sofort wieder die zweite linke Straße. Nach mehreren Metern kommt eine Straße, die denselben Namen wie das Hotel hat und auch direkt dahin führt.“
Ein Lächeln erschien auf Sams Gesicht. Stolz stand in seinem Blick. „Gut, dass wenigstens du in der Schule aufgepasst hast!“ Ich grinste ihn an. Etwas von dem flauen Gefühl erlosch, als er einen Schritt auf mich zu machte.
Ich wandte meinen Blick ab und sah die lange Straße hinauf. „Na, dann wollen wir mal“, murmelte ich und ging voran. Sam folgte mir etwas langsamer. Als wir vor dem hellen Hotel hielten, blieb mir die Luft weg.
Das Ville des Lumières war gewaltig. Es bestand zu achtzig Prozent aus Glas und zahlreiche, weitläufige Balkone reihten sich neben einander. Der Eingang war poliert und fröhlich bunte Blumen säumten die Lobby. Staunend tappte ich vorsichtig über den schneeweißen Teppich, welcher alles noch viel traumhafter wirken ließ. An der Rezeption stand ein junger, gut aussehender Mann, um die zwanzig rum, mit blondem Haar und treuen himmelblauen Augen.
Ich hatte ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht, fasziniert von der Schönheit um mich herum. Ich tänzelte schon fast zur Rezeption, so euphorisch war ich plötzlich. Der junge Mann lächelte mir herzerwärmend zu, als er meine Freude sah.
„Bonjour, mademoiselle, je peux vous aider ?“ Ich nickte eifrig. „Oui, mais vous peux parler l’anglais ?“
Er grinste mich amüsiert an. Entweder, weil meine Aussprache schlecht war, oder mir lief Sabber aus dem Mund. Da zweites nicht der Fall war, musste es erstens sein.
„Natürlich kann ich Englisch. Also, wobei kann ich ihnen behilflich sein?“ Seine Stimme klang so zuckersüß, mit ihrem hinreißenden französischen Akzent. Ich musste mit meiner Schätzung richtig liegen – er konnte nie und nimmer älter als zwanzig sein. Ich schenkte ihm ein strahlendweißes Lächeln.
„Wir haben eine Reservierung. Zwei Personen, vierzehn Tage, unter dem Namen Emerald.“ Er hob überrascht eine blonde Augenbraue. „Vierzehn Tage? Das ist eine ganz schöne Menge Geld …“
Klar war er überrascht, hierbei handelte es sich um ein riesiges Luxushotel und vor ihm standen zwei Achtzehnjährige in durchschnittlichen Klamotten und alten Reisetaschen. Ich lächelte ihm selbstbewusst zu. „Schauen sie in ihrem Computer nach, es ist alles schon bezahlt.“ Seine Finger flogen über die Tasten und verblüfft schaute er auf seinen Display. Er murmelte leise französische Wörter, ehe er grinsend aufblickte und mir zwei Karten hinhielt.
„Pardon, ich wollte nicht unhöflich klingen.“ Er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Ich nahm die beiden Karten entgegen und als sich unsere Hände berührten, warf ich ihm einen verstehenden Blick zu und hatte ein leichtes Lächeln in den Mundwinkeln. Er entspannte sich sichtlich und schon grinste er wieder.
„Ihre Zimmernummer ist 321. Ich begrüße sie herzlich vom gesamten Personal und wünsche ihnen einen schönen Aufenthalt.“ Mit einem Nicken drehte ich mich um und schritt auf einen der fünf Fahrstühle zu. Ich spürte den Blick des Mannes auf mir, während Sam ganz nah an meine Seite rückte. „Wie du dich durch dein Leben flirtest …“, murmelte er skeptisch. Ich knuffte ihm freundschaftlich in die Seite, erwiderte jedoch nichts darauf. Mit einem breiten Grinsen, drückte ich auf den Knopf an der Wand und die Türen zum Fahrstuhl öffneten sich augenblicklich. Spätestens als wir eintraten und sich die Türen wieder schlossen, erlosch mein Lächeln und ein angespannter Ausdruck trat in mein Gesicht.
„Ich will einfach nur nicht, dass jeder mein echtes Gesicht sieht. Ein Fake-Lächeln ist immer noch besser als Tränen“, antwortete ich auf seinen vorigen Kommentar. Und ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, umarmte Sam mich und legte meinen Kopf gegen seine Schulter. Seine Hand lag auf meinem Rücken und alles war still. Es kamen keine tröstenden Worte seinerseits, keine Tränen von mir. Einfache Stille machte den Schmerz taub für den Moment und alles andere hätte diese Taubheit ausgelöscht.
Wir lösten uns voneinander, als sich die Fahrstuhltüren öffneten und ich trat mit einem Lächeln hinaus, nickte höfflich der Putzfrau zu und lächelte das ältere Ehepaar an, das uns entgegen kam, und suchte dann mit Blicken die Zimmernummer 321. Ich musste eine der Karten drei Mal durch den Scanner ziehen, bis das Klicken ertönte. Mit einem erleichterten Seufzen öffnete ich die dunkle Holztür, die sich drastisch von den cremefarbenen Wänden abhob, und trat ein.
Wenn mich die Lobby schon fasziniert hatte, blieb mein Herz nun stehen vor Staunen. Mein Mund öffnete sich und mein Blick nahm verträumt die reine Schönheit war.
Die gegenüber liegende Wand bestand komplett aus Glas, seidene, beinahe durchsichtige cremefarbige Vorhänge waren zu beiden Seiten gezogen. Ein riesiges weißes Ledersofa stand mitten im Raum, ihm gegen über an der Wand hing ein XXL-Flachbildschirmfernseher und die Tapete war von einem zarten hellen Karamellton, wo bis zur Hälfte eine Vertäfelung – dem Aussehen nach wahrscheinlich schrecklich teures Ebenholz – sich entlang zog.
Es gab noch zwei weitere Türen, ebenfalls aus einem strahlend hellen Ton, wie die Vertäfelung. Langsam schritt ich über den schneeweißen Teppichboden zur ersten Tür und spähte vorsichtig hinein. Vor mir erstreckte sich ein riesiges Doppelbett, auf welchem ein samtweich aussehender marineblauer und weißer Bettbezug lag. Die Wand war in einem himmlischen Babyblau gestrichen und mit dunkleren Blautönen waren Muster drauf gemalt worden. Hier war ebenfalls eine ganze Seite verglast, der Boden war laminiert und ein weicher, runder Fusselteppich lag mitten im Raum. In einer Ecke stand ein Schreibtisch mit passendem Stuhl und eine lange Seite wurde verdeckt von einem gewaltigen Schrank.
Ich konnte dem Drang nicht wiederstehen, durch den Raum zu tappen und mich aufs federweiche Bett fallen zu lassen. Genießerisch schloss ich die Augen und gab mich ganz dem wunderbaren Gefühl hin, in der weichen Matratze zu versinken.
Da fiel plötzlich ein anderer schwerer Körper neben mir aufs Bett und drückte mich etwas hoch. Ich hob meinen Kopf aus den unzähligen Kissen, nur um wie erwartet Sams Lächeln entgegen zu sehen. Seine Augen funkelten blau, wie der Horizont, versetzt mit strahlenden Sternen. Ich konnte mich nicht von seinem Blick lösen und lehnte mich automatisch etwas vor.
Er senkte die Lider und sah begehrend auf meine Lippen, was mir wieder einen klaren Kopf verschaffte und ich mich augenblicklich zurück zog. Diese Gedanken, mit ihnen war jetzt Schluss. Es würde ihrer Freundschaft nicht gut tun, wenn sie falsche Gefühle für Sam entwickelte, mochte er fühlen, was er wollte – es würde doch eh alles zerstören.
Eilig sprang ich auf und murmelte auf seinen murrenden Protest: „Mal schauen, wie die anderen Zimmer aussehen.“ Beim einen handelte es sich um ein luxuriös eingerichtetes, hell erleuchtetes Badezimmer und beim anderen um eine gut ausgestattete Küche.
Nachdem ich mit meiner Besichtigungstour zu Ende war, setzte ich mich auf die Couch, das rechte ein unter geschlagen und den Fuß auf dem Leder, und betrachtete noch einmal aus dieser Perspektive den Raum. So wie alle anderen, war er groß, geräumig und stilvoll eingerichtet. Von der teuren Preisklasse erst gar nicht zu sprechen.
Mit vorsichtig tastenden Fingern, griff ich nach einer nahe liegenden Zeitschrift und blätterte sie durch. Sie berichtete in mehreren Sprachen über die besonderen Sehenswürdigkeiten Paris‘ und gaben schrecklich viele Informationen. Ich überflog mit leichter Langeweile die Zeilen und spitzte dabei die Lippen. Irgendwie konnte ich nicht glauben, dass alles wirklich so toll war, wie beschrieben.
Schließlich legte ich die Broschüre weg und sah mich suchend um. Sam lehnte an einem Stuhl, welcher zusammen mit drei weiteren und einem großen Esstisch in der Nähe stand, und beobachtete mich aus kristallklaren Augen.
Seine schwarzen Haare waren in der Zeit, während er ‚geschlafen‘ hatte – eine andere Bezeichnung, welche nicht so sehr mein Herz schmerzen ließ, fiel mir nicht ein – etwas gewachsen und fielen ihm nun lässig in die Stirn. Sie reichten bis knapp über sein Ohr und besaßen trotzdem immer noch den modischen Schnitt wie vorher. Seine Schultern waren breit und seine Figur hatte sich komischer weise positiv weiterentwickelt, während sein Geist geruht hatte. Er hatte zugelegt und irgendwie – wie, war mir selbst nicht klar – Muskeln aufgebaut, die sich leicht unter seiner gesunden, hellen Haut abzeichneten. Außerdem war er größer geworden, geschätzte sieben Zentimeter größer als ich selbst.
Ich kam nicht wirklich aus dem Staunen heraus. Es war mir vorher noch gar nicht so richtig, wie attraktiv Sam eigentlich war. Jetzt jedoch, wo wir uns zusammen eine Suite teilten und nur wenige Meter voneinander entfernt waren, fühlte ich mich sehnlich zu ihm hingezogen.
Um den Kopf frei zu bekommen, erinnerte ich mich wieder daran, was ich eigentlich wollte und klopfte ablenkend von meiner Faszination mit gesenktem Blick auf das freie Leder neben mir. „Komm, Sam, setzt dich zu mir. Lass uns mal schauen, was die Franzosen sich alles für Schrott reinziehen.“ Demonstrativ griff ich nach der Fernbedienung vor mir auf dem Tisch und zeigte damit auf den Fernseher.
Als er sich neben mich setzte, strahlte ein breites Grinsen auf seinem Gesicht und das Blau seiner Augen funkelte amüsiert. Wir schalteten durch die Kanäle, bis wir endlich englischsprachige Top-Sender fanden und uns schließlich eine Lieblingsserie nach der anderen ansahen.
Als ich spät in der Nacht entspannt in Sams Umarmung lag, unsere Beine in einander verschlungen waren und mein Kopf an seinem Hals ruhte, war ich vollkommen ruhig und ausgeglichen. Ich hatte alle anderen Gedanken verdrängt und mich einzig und allein dem Gefühl hingegeben, dass es sich gut hier so dicht bei Sam anfühlte. Fast so wie früher.
Der Abspann der letzten Serie lief, als Sam sich erschöpft streckte. Ein Gähnen begleitete seine Worte. „Okay, und was nun? Ab jetzt läuft nichts Gutes mehr im Fernsehen und es ist schon spät. Willst du schlafen gehen?“
Die Frage drang zwar bis an mein Ohr durch, aber mein Körper wollte nicht wirklich mehr reagieren. Es war grad so schön hier in dieser Position, daraus wollte ich mich nicht lösen. Weswegen nur ein leises Murren aus meiner Kehle kam.
Sam entgegnete meinem Protest mit einem belustigten, rauen Lachen und schlang dennoch die Arme um mich. Einen schob er unter meinen Kopf, der andere hielt mich unter den Kniekehlen. Wie ein kleines Kind hob er mich hoch, als wöge ich nichts, – mein Gott, was er für Muskeln bekommen haben musste! – und trug mich langsam durch den Raum.
Ich protestierte immer noch leise, doch anscheinend überhörte er mich. Als ich plötzlich auf eine weiche Matratze herabsank, was sich anfühlte, wie schwerelos auf einer Wolke zu schweben, zog ich unwillkürlich die Beine an und schlang die Arme um mich.
Fürsorglich und liebevoll wurde die warme Decke über meinen Körper gezogen und ich seufzte genießerisch. Nach kurzer Zeit, legte sich Sam ebenfalls hin. Erst wollte ich auf Abstand bleiben, welches ich meinen noch nicht ganz schlafenden Gehirnzellen verdankte.
Doch dann konnte ich der Versuchung nicht wiederstehen und kuschelte mich kätzchenhaft an seine Seite. Unwillkürlich zog er mich in seine Umarmung und legte sein Kinn auf meine Haare. Mein Gesicht verbarg ich verschmust an seiner Brust. Noch einmal atmete ich verträumt auf. Es war ein wunderschönes Gefühl, so mit ihm hier zu liegen.
Und mit diesem Gedanken schlief ich glücklich ein.
Es war beinahe eine Woche vorbei, als Sam beim Frühstück fragte: „Sag mal, Angel, erinnerst du dich noch an den brillanten Künstler vor dem Eifelturm? Der mit dem kleinen Bärtchen, der so nett gelächelt hat.“ Mein Essen kauend nickte ich und wartete, dass er fortfuhr.
„Naja, ich habe mir gedacht, es wäre doch ganz schön, ein Erinnerungsbild von uns beiden von ihm malen zu lassen. Dann können wir uns immer daran erinnern, wie schön es hier war.“ Ich sah ihm tief in die Augen und musste lächeln.
„Das hört sich gut an. Wie wäre es, wenn wir uns gleich nach dem Frühstück fertig machen und zu ihm gehen?“ Er grinste hoffnungsvoll. „Klar. Ist okay.“ Dann aßen wir schweigend weiter.
Ich dachte an die vergangenen Tage. Wir hatten viele Sehenswürdigkeiten besucht, unter anderem auch den berühmten Eifelturm. Und es war wirklich schön gewesen. Doch seit dem einen Abend, wo Sam und ich im Bett so dicht bei einander gelegen hatten und ich mich immer enger an ihn gekuschelt hatte, war da so ein Ziehen in meinem Magen, wenn ich ihn sah – was fast vierundzwanzig Stunden am Tag der Fall war.
Ich redete mir ein, dass es sich dabei um mein schlechtes Gewissen handelte, weil ich eigentlich nur auf freundschaftlicher Ebene mit ihm umgehen sollte. Doch mich beschlich das seltsame Gefühl, dass es sich eher darauf zurück führen ließ, dass wir seit diesem Moment nie wieder so nah beieinander gewesen waren.
Ich verscheuchte eilig alle zweifelnden Gedanken und legte meine Gabel beiseite. Ich brachte meinen leeren Teller in die Küche, stellte ihn in die Spüle und trat dann wieder ins Wohnzimmer, um Sam grinsend zu zuzwinkern.
„Ich mach mich dann mal fertig. Ich muss schließlich gut aussehen.“ Sam grinste mir zu und neckte: „Du bist immer wunderschön.“ Die Worte waren in einem sarkastischen Ton ausgesprochen worden, doch in seinen blauen Augen lag ihr Ernst.
Und mit einem Mal fielen mir seine Worte wieder ein, die seine Lippen hauchten, als all sein Leben aus ihm entschwand.
„Ich liebe dich, Angel. Ich habe dich immer geliebt.“
Beinahe hätte ich seine Worte laut ausgesprochen, aber dann kniff ich fest die Augen zusammen und mahnte mich, meine Lippen zu zulassen. Dann verschwand ich verkniffen lächelnd im Badezimmer und schloss leise hinter mir die Tür. Schwer seufzend lehnte ich mich gegen das massive Holz.
Dann flog mein Blick zu meinem Spiegelbild und ich erstarrte. In dieser entspannenden Woche hatte ich mich irgendwie verändert. Meine Haut strahlte etwas gebräunter, was von der heißen Sommersonne kommen konnte. Auch meine Locken sahen kein bisschen mehr strapaziert oder gar wild aus. Sie fielen seidig und tiefschwarz über meine Schultern und reichten bis zu meiner Brust.
Meine Augen starrten mir in einem leuchtenden Smaragdgrün entgegen und wurden von dichten, langen naturschwarzen Wimpern umrandet. Mein Gesicht war fein geschnitten und mein Mund rosig und herzförmig. Ich hatte kleine Pausbäckchen bekommen, welche von einem zarten Rotschimmer überzogen waren.
Eigentlich musste ich nicht viel verbessern. Ich trug hell glitzernden Lidschatten auf, etwas schwarzen Kajal und ein wenig Lipgloss. Dann machte ich noch einige selbstgerechte Posen vor dem Spiegel.
Als ich mich hübsch genug fand, trat ich hinaus. Sam musterte mich und zeigte dann einen Daumen nach oben. Schon machte er sich auf den Weg zur Tür, da hielt ich ihn geschockt auf.
„Wir können noch nicht gehen! Ich bin noch nicht umgezogen!“ Verwirrt starrte er mich an und begutachtete dann mein Outfit. „Das sieht doch gut aus“, murmelte er. Doch er wusste nur allzu gut, was ich machen würde und ließ sich ohne ein weiteres Wort gelangweilt auf einen Stuhl fallen. „Aber beeil dich.“
Mit einem siegesfreudigen Grinsen stürmte ich ins Schlafzimmer und entkleidete mich all meiner Klamotten. Nur in dunkelgrüne Spitze gekleidet, – von Calvin Klein! – stand ich vor dem Schrank und begutachtete meine Sachen.
Irgendwie erschien mir meine Suchaktion nur wie trostlose Sekunden, doch als Sam neugierig seinen Kopf durch die Tür steckte, wurde mir schlagartig klar, wie lange ich schon hier stehen musste.
Und dann fiel mir ein, dass ich nur in Unterwäsche da stand. Anscheinend bemerkte das auch Sam, dieser errötete nämlich schuldbewusst und starrte peinlich berührt zu Boden.
„‘tschuldigung, ich wollte nicht einfach so reinplatzen. Du hattest nur so lange gebraucht und mir war so langweilig …“ Mit einem verkniffenen Lachen eilte er wieder aus dem Zimmer und schloss ruckartig die Tür.
Oh mein Gott. Was war das denn? Erst jetzt wurde ich mir der Situation bewusst und schämte mich für mich selbst. Eilig zog ich zerfranste Hotpants und ein lockerluftiges, buntbedrucktes Top, welches ich in die helle Jeans steckte, aus dem Schrank und schlüpfte in dazu passende neonpinke Schnürschuhe.
Hastig legte ich mir mehrere Armreifen um die Handgelenke und eine lange Kette mit weißen und rosa Federn um den Hals. Dann betrachtete ich noch ein letztes Mal meinen Anblick – meine langen, schönen Beine, die ausladenden Hüften, die dünne Taille und meine unter dem Top abgezeichneten Brüste – und machte mich dann mit einem verschmitzten Lächeln auf den Weg zu Sam.
Dieser hob kurz bei meinem Eintreten den Blick, nur um ihn sofort wieder zu senken. Ich tänzelte auf ihn zu und legte meine Hand an seine Wange. Irgendwie wollte ich nicht, dass er so schuldig dreinblickte.
Auf meine stille Aufforderung hin, hob er den Kopf und sah mir in die Augen. Er wollte zu einer Entschuldigung ansetzten, doch ich legte ihm sacht den Daumen auf den Mund und ein liebevolles Lächeln spielte um meine Mundwinkel.
„Kein Problem. Ist nicht so schlimm. Es war meine Schuld. Also hör auf so zu gucken und fang lieber wieder an zu lächeln! Schließlich will ich ein schönes Bild von uns beiden!“ Nach einem zaghaften Zögern, fing er an, breit zu grinsen und sprang auf.
Zusammen verließen wir die Suite, Sam schnellte die Karte durch den Pieper und wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach unten. Leise fing ich an, die Anfangsmelodie von meinem Lieblingslied zu summen und mit einem Lächeln stimmte Sam nach nur wenigen Sekunden mit ein.
Unten angekommen, traten wir ins Foyer, wo der süße Typ von der Rezeption mich, wie schon die vorigen Tage auch, mit einem charmanten Blick bedachte. Ich konnte nur verspielt mit den Augen rollen und summte unbesonnen weiter.
Wir machten uns auf den Weg zum Eifelturm. Fuhren mit der Bahn und schlürften mit den vielen Touristen uns Franzosen über die überfüllten Gehwege und waren dabei ständig am Witze reißen, am lachen und herumalbern.
Es war ganz so wie früher.
Der alte Mann hatte sofort, als er uns gesehen hatte, angefangen zu lächeln und eine niegelnagel neue Leinwand hervor gekramt. Seine Farben, Pinsel und eine Wasserflasche standen neben seinem Hocker und er positionierte uns beide mit einem schelmischen Grinsen auf den spröden, alten Lippen.
Als er mit uns fertig war, stand ich dicht an Sam, mein Bauch an seine rechte Seite gedrückt, mein linker Arm von hinten um seine Schultern geschlungen, die andere Hand auf seinem Oberarm und mein Gesicht ihm zugewendet. Sams linke Hand steckte lässig in seiner Hosentasche, er war völlig entspannt und auch er drehte mir den Kopf zu. Unsere Blicke trafen sich und wir lächelten beide für ein schönes Bild.
Sofort fing der alte Mann voller Euphorie an zu malen und murmelte immer wieder französische Wörter, die nach viel Hingebung und Faszination klangen.
Ich versuchte, mich nicht von der Stelle zu bewegen und schaute unverwandt Sam in die hellen blauen Augen. Seine Blicke sprachen mit mir und meine antworteten. Es war, als verstanden wir uns wortlos und konnten einfach nicht aufhören zu grinsen.
„Angel?“ Die ungläubige Stimme war mir nur allzu bekannt. Perplex schnellte ich herum und starrte auf einen jungen Mann mit kurzen braunen Haaren und dunklen Augen. Augen wie Schokolade …
„David …?“ Mehr brachte ich nicht heraus. Meine Stimme brach, meine Kehle war plötzlich ganz trocken und mein Lächeln war von einem Augenblick zum anderen erloschen. Das konnte doch nicht sein. Wie konnte er hier sein …?
Davids Erscheinungsbild hatte sich drastisch verändert. Seine Haare waren kürzer geschnitten und ein Bart ließ ihn auf nicht unattraktive weise um mindestens fünf Jahre älter wirken. Sein Gesicht war etwas schmaler, als ich es in Erinnerung hatte und er war auch etwas größer. Dennoch hatte er immer noch diesen umwerfenden Eindruck auf mich, wie bei unserem ersten Treffen.
„Was machst du hier?“, keifte ich etwas zu streng. Aber ich schämte mich nicht für meinen Tonfall, denn mit den ganzen überraschten Gefühlen kam auch der Hass auf ihn zurück. Er hatte mich benutz, verlassen und einfach nur mit mir gespielt. Er hatte nichts anderes verdient, als meine Wut.
„Ich habe dich gesucht …“ Seine Worte verklangen hilflos und in ihnen lag eine abgrundtiefe Verzweiflung. Sam räusperte sich und funkelte dann zornig David an. „Ich weiß zwar nicht, was du dir erhofft hast, wenn du sie wieder triffst, aber ich werde dich wohl leider enttäuschen müssen. Ich schließe aus ihrem Tonfall, dass sie dich nicht hier haben will, und ich übrigens auch nicht.“
David kniff genervt die Augen zusammen und musterte Sam auf eine heralassende weise, die mir gewaltig gegen den Strich ging. Es war ein Knurren, das aus seiner Kehle beim Sprechen kam. „Und du stehst meiner Meinung nach viel zu nah bei ihr.“ Ich wusste, dass wenn ich nicht irgendwas machte, diese Situation hier eskalieren würde; Sams Blicke sprachen blutige Bände.
Gerade wollte ich etwas sagen, da schnitt mir der alte Mann das Wort ab mit seinem akzentdurchsetzten Englisch. „Meine Herren, wenn ich bitten darf? Ich würde gerne mein Bild zu Ende malen, wozu sie beide sich bitte wieder in ihre ursprüngliche Position stellen müssen. Und sie“, er musterte David streng, „ werden meine Arbeit nicht stören und sich gefälligst abseits hinstellen und warten, bis ich fertig bin.“
David wollte etwas erwidern, doch der Mann ließ ihn mit einem bösen Funkeln und einer gehobenen Braue verstummen und wartete, bis David sich beleidigt trollte. Dann zwinkerte er mir zu und erhob wieder den Pinsel.
Ich atmete tief durch. Oh mein Gott, das konnte doch nicht wahr sein. David war hier. In Paris. Und Sam war mit mir hier. Das konnte nur in einer Katastrophe enden. Das wusste ich jetzt schon, dabei waren erst fünf Minuten vergangen, seit David meinen Namen gesagt hatte. Und schon bei dieser kurzen Nennung, hatte das Schicksal einen unheilvollen Lauf genommen.
Verbissen sah ich Sam in die Augen, legte dabei den Kopf in den Nacken und zwang mich zu einem Lächeln. Dabei sah ich aber einfach nur ins Nichts, mein Lächeln war eiskalt erstarrt und ich fühlte mich schrecklich. Von der vorherigen Glückseligkeit war nicht ein einziges bisschen übrig geblieben.
Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Das Cover habe ich selbst entworfen.
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Wer widme ich all meinen Lesern des ersten Buches, die mich dazu angespornt haben, überhaupt einen zweiten Teil zu schreiben.
Danke