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Der Großvater saß mit seinen sieben Enkelkindern in dem kleinen, gemütlichen Wohnzimmer. Ein Mädchen, Josephine, stand mit großen Augen vor dem Fenster und starrte in die verschneite Landschaft hinaus. Mit ihren zehn Jahren war sie nicht sonderlich groß und besaß kastanienbraunes Haar, welches ihr locker über die Schultern fiel. Neben ihr reckte sich Stephen hoch, doch der fünf Jahre jüngere Bruder kam nicht hoch genug um eine gute Sicht zubekommen. Liebevoll hob seine Schwester ihn auf den Arm und zeigte ihm die Schneeflocken vorm Fenster.
Die anderen fünf Kinder saßen rund um den Ohrensessel ihres Opas und warteten gespannt auf eine neue seiner fantasievollen Geschichten. Träge ließ er sich auf das Polster fallen und rief die beiden auch zu sich. Stephen sprang freudig von den Armen seiner Schwester und rannte auf den alten Mann zu. Dieser setzte den Jungen auf seinen Schoß und blickte dann seine Enkelin an. Diese starrte weiterhin nach draußen, die Augenbrauen verärgert zusammengezogen. „Josephine, komm‘, deine Geschwister warten schon.“
„Nein, rede du nur. Erzähl‘ eine deiner glücklichen Geschichten. Ich will heute Abend keine hören.“ Sieben verständnislose Blicke lagen auf ihrem Rücken. Ihr Gesicht starrte sich weiterhin unverwandt im Fensterglas entgegen. „Aber, Josephine, was ist los? Sonst bist du doch immer die Erste, die meine Geschichten hören will.“ Sie wandte sich ihrer Familie zu. Ihre Augen spiegelten Desinteresse. „Ja, aber nicht heute. Wisst ihr“, sie sah abermals hinaus, „da draußen gibt es so viele arme Menschen, die kein Dach überm Kopf haben, die im Schnee frieren müssen. Sie tun mir so leid. Da kann mich auch keine deiner schönen Geschichten erfreuen.“ Ihr Großvater betrachtete sie nachdenklich. Dann sagte er in die Stille hinein: „Ich verstehe, was du meinst. Und du hast Recht; es ist schrecklich zu wissen, dass nicht ein jeder so viel Glück wie wir hat. Doch, Josephine, es ist ein Tag vor Heiligabend. Willst du wirklich nur hier herum stehen und Trübsal blasen? Weißt du, nur weil die Leute da draußen arm sind und kein warmes Haus haben, sind sie dennoch glücklich.“ Das Mädchen schnellte herum. „Wie? Sage mir, wie sollen sie glücklich sein, wenn sie erfrieren?“ Aus der Stimme des Alten sprach Ruhe. „Weil sie nicht alleine sind. Und das ist, was zählt. Komm zu mir, kleine Josephine, und ich erzähle dir eine Geschichte. Dieses Mal eine wahre. Komm‘ her.“ Noch einen Moment lang blieb sie regungslos stehen, ehe sie seufzte und sich vor dem Sessel ihres Großvaters niederließ. Träge winkelte sie die Knie an, schlang die Arme um ihre Beine und stützte das Kinn ab. Nachdem alle Stimmen der Enkelkinder verklangen waren, begann der Alte zu erzählen …



Socke, ein ehemaliger Müllmann, ließ sich auf seine Pappkartons und Decken fallen. Seine Kleidung war durchlöchert, die Handschuhe Fingerlos und aus dünnem Stoff, seine Schuhe Sohlenlos und ausgelaufen. Alles, was er besaß, waren rote Wollsocken.
Socke hatte keine Freunde, keine Familie, kein Haus. Der Winter war schon vor langer Zeit angebrochen und dir klirrende Kälte drang ihm unter die Haut. Immer wieder schlenderte er über den Weihnachtsmarkt und suchte Spenden der Geschäftsleute und Familien. Doch nie, oder nur selten, landete ein Geldstück in seiner Dose. Er war ganz allein auf dieser Welt.
Aber er konnte es den Menschen nicht verdenken. Er stank, war arm, arbeitslos und sah aus wie der Tod selbst. Nie war etwas Gutes in seinem Leben gewesen, weswegen die eisigen Temperaturen ihm keinen Respekt abrangen; er war schon an die Kälte gewöhnt.
Doch heute war es schlimmer als sonst. Heute war der vierundzwanzigste Dezember, Heiligabend. Die Kinder rannten glücklich umher, ihre Eltern trugen ein liebevolles Lächeln auf dem Gesicht, Freunde zogen mit der Weinflasche durch die Straßen und Paare schlenderten Arm in Arm durch den Park. Nur er, der einsame Socke, war allein. Trauer erfüllte sein Herz. Mit seinen fünfundvierzig Jahren war ein gemeinsames Fest mit der Familie schon lange her.
Socke machte sich auf und marschierte die verschneiten Gehwege entlang, seine zerfledderten Decken untern Arm geklemmt. Die Schal schützend bis unter die Nase gezogen, kämpfte er sich durch den Wind und die schnell fallenden Schneeflocken. Um auch nur das Gefühl von Wärme zu empfinden, wenngleich seine Fingerspitzen schon blau anliefen, dachte er an die Zeiten mit seinem alten Freund Jonathan zurück. Er kannte ihn jedoch nicht unter dem Namen Jonathan, das war nur das Wort seiner Geburt. Nein, sein Freund hieß Trouble. Wenn man nach einem Trouble fragte, wusste sofort jeder, wer gemeint war. Warum er diesen Namen trug? Tja, Trouble zog den Ärger förmlich an. Egal, wo er war, es passierte immer ein Ungeschick.
Bei dem Gedanken an seinen Kumpel, verkrampfte sich sein Herz und seine Augen brannten. Vor fünf Jahren saßen Socke und Trouble zusammen auf seiner Decke. Sie hatten monatelang Geld gespart und dem jeweils anderen ein kleines Trostgeschenk zu Weihnachten gekauft. Die roten Socken stammten von ihm. Doch als Socke am nächsten Morgen aufwachte, war der Platz neben ihm leer. Er wusste nicht, wohin sein Freund verschwunden war, doch wiedergesehen hatte er ihn nie.
Verbissen stapfte Socke weiter durch den Schnee. Bis ein starker Windstoß in überraschte und zu Boden warf. Kraftlos versuchte er aufzustehen. Seine Versuche scheiterten. Ahnungslos blickte er sich in seiner Umgebung um. Wo war er? Diesen Teil der Stadt kannte er nicht, war niemals hier gewesen. In dem weißen Nichts suchte er seine Decken, doch seine Wimpern waren von Flocken bedeckt und erschwerten ihm die Sicht. Die eisige Kälte des Bodens drang durch seine dünne Kleidung und nässte den klebenden Stoff. Fluchend tastete er weiter mit tauben Fingern.
Urplötzlich erklang eine krächzende Stimme. „Suchst du die hier?“ Socke zuckte erschrocken zusammen und hob den Kopf. Eine magere, kleine Gestalt stand vor ihm und hielt ihm etwas hin. Er griff hastig danach und spürte kaum den harten Stoff seiner Decken. Eilig entriss er ihn den fremden Händen und drückte ihn beschützend an seine Brust. „Keine Sorge, ich habe selber welche, ich brauche deine nicht.“ Verwirrt starrte er hinauf. Er erkannte nur Umrisse. Ein dünner Arm mit langen Fingern streckte sich ihm entgegen. Er wich zurück. Drängend sprach die Gestalt: „Komm‘ schon, nimm meine Hand. Ich will dir helfen.“ Zögerlich ließ er sich aufhelfen und trat dann wenige Schritte rückwärts. Die Person war mehr als einen Kopf kleiner als er selbst. „Wer bist du und was willst du?“, krächzte er schwach. Ein gelangweiltes Seufzen. „Ich will dir helfen, mein Gott. Du lagst im Schnee und, um Himmels willen, ich wollt dir etwas Gutes tun. Willst du vielleicht mit zu mir kommen und dich etwas ausruhen? Du siehst erschöpft und müde aus.“ Hoffnung schlich sich in sein Herz. „Du besitzt ein Haus?“
„Besser“, antwortete die Stimme geheimnisvoll. Die Gestalt forderte ihn auf, ihr zu folgen und zusammen stapften sie über den Gehweg.
Schließlich kamen sie in einer Seitengasse zum Stehen. Stolz wies sie auf ein Bett aus Decken und Kleidung und setzte sich. Etwas perplex starrte er auf das Stoffhäufchen. Und das fand sie besser als ein warmes Haus? Naja, seines Erachtens kam das nicht im Mindesten an die Gemütlichkeit einer Wohnung heran, aber es war immerhin nicht ganz so kalt wie der Boden, auf dem er gelegen hatte.
Langsam wurde seine Sicht besser und er konnte die Konturen und Züge der Person erkennen. Es handelte sich um eine Frau mit dunkelblonden Haaren, welche ungekämmt bis zu ihrer Brust reichten. Ein kleiner Piercing zierte ihre Nase und kleine Ohrringe schmückten ihre Ohren. Ansonsten trug sie keinen Schmuck und alte, zerrissene Kleidung. Trotz ihrer schmutzigen Haut war sie wunderschön.
Sie klopfte mit der Hand auf die Decken neben ihr. „Setz‘ dich.“ Er stolperte über seine eigenen Füße und fiel eher auf den Platz als das er sich setzte. Unverwandt starrte er sie von der Seite an. Gelassen kramte sie in ihrer Hosentasche und zog eine Schachtel Zigaretten hervor. Sie boten ihm eine an, die er jedoch dankend ablehnte. Schulterzuckend steckte sie sich zwischen dir Lippen und schnalzte mit einem Feuerzeug, aus dem eine lodernde Flamme hervor züngelte. In aller Seelenruhe pustete sie den Rauch aus und wandte sich dann ihm zu. „Also, wer bist du? Wie ist dein Name?“
„Socke. Ich heiße Socke“, stotterte er. Sein Blick hing an ihren Lippen und der glühenden Spitze der Zigarre. Ein amüsiertes Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln. „Nun, Socke, mein Name ist Lex, eine Abkürzung für Alexandra. Was hat dich in dieses Viertel verschlagen? Ich habe dich hier noch nie gesehen.“ Er musste sich zwingen aufzublicken und in ihre Augen zusehen. Diese schimmerten von einem lebendigen Grün. „Ich bin einfach ziellos umhergelaufen und dann … dann bin ich hier gelandet.“ Sie nickte und sog stark an ihrer Zigarette. Dann sah sie wieder weg und versank in ihren eigenen Gedanken.
Seine Augen huschten von ihrem Gesicht hinab zu den kleinen Wölbungen unter ihrem Pullover. Etwas regte sich zwischen seinen Beinen. Verwirrte starrte er wieder weg und studierte die Form ihres Mundes. Die Oberlippe war ein bisschen kleiner als die Unterlippe, was sie perfekt machte. Sie waren von einem zärtlichen rosa und so verführerisch, dass er seine am liebsten auf die ihren gelegt hätte. Immer wieder zog Lex an ihrer Zigarre und stieß dann wieder den grauen Rauch in die kalte Nachtluft hinaus. Es wurde dunkler und der Mond stellte sich an den Himmel. Einzelne Sterne funkelten über ihren Köpfen, doch Socke´s Aufmerksamkeit galt allein der schönen Frau. Das Glühen ihrer vierten und letzten Marlboro verging und sie drückte auch diese tief in den gerußten Schnee.
Dann sah sie Socke, das erste Mal wieder seit geschätzten zwei Stunden, an und grinste breit. „Wie lange hast du mich jetzt schon angegafft?“ In ihrem Ton lag Spott. Seine Wangen röteten sich peinlich berührt, was sie wahrscheinlich jedoch nicht sah, da sein ganzes Gesicht vor Kälte gerötet war. „Ich weiß es nicht“, gab er zu. „Stört es dich denn?“ Energisch schüttelte sie den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Es ist ein schönes Gefühl. So selten werde ich auf diese Weise angesehen.“ Überrascht hob er die Augen bis zum Haaransatz. „Selten? Eine Frau wie du? Das kann ich, ehrlich gesagt, nicht glauben. Du bist sehr hübsch, da drehen sich doch bestimmt alle Männer nach dir um.“ Traurig schüttelte sie abermals den Kopf. „Wenn es nur so wäre“, flüsterte sie verträumt.
So saßen sie da eine weitere Stunde lang und verbrachten schweigend das heilige Fest. Bis socke seinen Mut schließlich zusammen raffte und fragte: „Hast du eigentlich eine Familie oder Freunde?“ Sie hob den Blick. „Nein, du?“ Aus ihrer Stimme waren keine Emotionen herauszuhören. „Nein“, antwortete er traurig. Fragend hob sie die Brauen. „Wünscht du dir denn welche?“ Er nickte. „Ja. Sogar sehr. Weißt du, ich hatte mal einen Freund. Das ist schon lange her. Er hieß Trouble.“ Ihre Augen weiteten sich. „Trouble? Ich kenne Trouble. Ein wirklich netter Mann. Aber auch ganz schön nervig“, meinte sie kichernd. Er lachte kurz mit. „Ja, er war nervig. Aber auch sehr vertrauenswürdig. Doch eines Nachts, Heiligabend vor genau fünf Jahren, verschwand er spurlos und ließ mich allein mit seinen roten Socken zurück.“ Demonstrativ holte er die Plüschsocken aus seiner Tasche heraus und hob sie hoch. Verstehend nickte sie und lächelte ihm aufmunternd zu. Er ließ die Arme sinken und wieder kehrte Stille ein.
Nach einiger Zeit fing Lex plötzlich stark an zu zittern und ihre Zähne klapperten geräuschvoll. Augenblicklich nahm Socke seine durchlöcherten Decken und wickelte sie um ihren zierlichen Körper. Dankend blickte sie ihm in die Augen. Als er ihr dann noch die roten Wollsocken über die Hände zog, strahlte sie nur so vor Glück. Sie schmiegte sich an seine Schulter und er legte ihr schützend einen Arm um die dünnen Schultern. Die Minuten vergingen und ihre Nähe wärmte sie beide. Ruhig schliefen sie ein und verbrachten in ihrer Umarmung die Nacht.
Am nächsten Morgen schlug Socke die Augen auf und sah der strahlenden Sonne entgegen. Er wusste, dass er bald wieder gehen musste, also legte er Lex vorsichtig hin und betrachtete ihre Gestalt. So eingekuschelt in seinen Decken und in ihrem eigenen kleinen Traumland war sie wunderschön. Liebevoll löste er sie aus dem Stoff und deckte sie mit ihren Decken zu. Gerade wollte er ihre Hände aus seinen Socken nehmen, als er innehielt. Er würde gehen und sie nie wieder sehen. Sie würde ihn wahrscheinlich vergessen. Außer, er ließe ihr etwas von sich zurück. Erst rang er mit sich selbst, ehe er aufstand und auf sie hinabblickte.
Lex‘ Finger waren immer noch in den roten Plüschsocken und er machte keine Anstalten, irgendetwas an diesem Abbild zu verändern.
Er drehte sich um und marschierte einige Schritte durch den Schnee. Doch dann blieb er stehen und dachte an den gestrigen Abend zurück. Seine Gedanken blieben genau da stehen, als er an ihre verführerischen Lippen dachte. Schnurstracks machte er kehrt und beugte sich zu ihr hinab. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Sacht, daraus bedacht, sie nicht aufzuwecken, legte er seinen Mund auf den ihren. Der Kuss war nur flüchtig und hauchzart, doch er ließ in Socke´s Inneren ein Feuerwerk explodieren.
Rasch richtete er sich wieder auf und eilte davon. Sein Herz schlug schneller als sonst irgendwann in seinem Leben. Es war etwas geschehen, was nur Lex hatte vollbringen können.
Er war glücklich …



Der Großvater machte eine kurze Pause. Alle Kinder hatten gefesselt von der Geschichte die Luft angehalten. Sein Blick hing an der verschneiten Winterlandschaft hinter dem Fenster hängen.
„Doch Socke hatte sich geirrt. Er und Lex sahen sich wieder. Sogar sehr oft. Bis er sie irgendwann mit einem einzelnen Gänseblümchen bat, bei ihm zu bleiben. Er fand eine neue Arbeit und zusammen kauften sie sich ein kleines Haus und bekamen, trotz ihres hohen Alters, zwei wunderbare Kinder, die wiederum ebenfalls Eltern wurden. Und all die Jahre hoben sie das Paar roter Socken auf. Sie hingen sie jedes Mal an Heiligabend vor ihr Fenster, um sich an die erste Begegnung zu erinnern.“ Die Kinder strahlten, als ihr Großvater seine Geschichte beendete. Und selbst Josephine stand auf, umarmte ihn ganz fest und folgte dann ihren Geschwistern ins Bett.
Der Alte saß auf seinem großen Sessel und starrte hinaus. Eine krächzende Stimme holte ihn aus seinen Gedanken. „Das hast du aber schön erzählt.“ Er blickte zum Türrahmen, wo seine Frau stand. Ihr weißes Haar fiel ihr wellig bis zur Brust und ihre grünen Augen starrten in die seinen. Ein liebevolles Lächeln umspielte ihre rosigen Lippen. Er zwinkerte ihr zu. Und gleichzeitig wandte sich ihr beider Blick zu dem Fenster.
An dem ein Paar roter Socken hing.



Impressum

Texte: Die Geschichte ist allein meiner Fantasie entsprungen. Das Bild stammt aus dem Internet.
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme "Sockes Socken" allen Obdachlosen auf dieser Welt. Ich freue mich, mit meinem Beitrag wenigstens etwas zu helfen und bemühe mich, dass Geschenk des Schreibens sinnvoll einzusetzen. Meines Erachtens hat jeder ein frohes Fest der Liebe verdient, auch ärmere Menschen. Frohe Weihnachten!

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