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Teil 1




Erinnerung




Je schöner und voller die Erinnerung,
desto schwerer ist die Trennung.
Aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung
in eine stille Freude.
Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel,
sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.



Dietrich Bonhoeffer







Flammendes Verlangen




Bill Referty spürte sie schon, ehe er sie erblickte. Ruckartig drehten sich alle männlichen, wie auch weiblichen Köpfe an der Bar in ihre Richtung. Was nicht wirklich verwunderlich war. Sie war eine wahre Schönheit.
Ihre rote Lockenpracht wippte bei jedem ihrer leichten Schritte auf ihrem Rücken auf und ab. Wie flackernde Feuerzungen in einem lodernden Flammenmeer. Ihre Gesichtzüge waren fein und wunderschön. Und erst ihre Augen. Ruß, ja, sie erinnerten einen an Ruß, zurückgeblieben im Feuer. Oder auch an Rauch. Nebel, der einen einhüllte und nie wieder los lassen, immer an der Haut heften bleiben würde.
Sie war atemberaubend schön. Buchstäblich. Jeder auf der Tanzfläche, über die sie gerade leichtfüßig und geschmeidig schritt, und auch die Leute an der Theke hielten gefesselt von ihrem Anblick den Atem an.
Und sie wusste es. Die Grazie wusste genau um
Ihrer Selbst, und es schien sie zu verzücken.
Anmutig kam sie auf ihn zu, so erschien es ihm zumindest. Und alle Blicke hefteten an ihren grazilen Bewegungen.
„Gefällt es dir, was du siehst, Mann?“ Himmel, ihre Stimme. Samtig weich und doch gebieterisch. Sie würde immer alles und jeden dazu bringen, sich ihrem Willen zu beugen. Und das allein mit ihrer himmlisch melodischen Stimme.
Die Masse um Bill war ebenso gefesselt von ihrem Auftreten, wie er selbst. Nach einem schweren Schlucken nickte er langsam. Zu mehr war er nicht fähig.
Sie ging lautlos auf den Barhocker neben Bill zu, und ohne Umschweife trollte sich der ältere Mann mit Bärtchen, Ehrfurcht in den dunklen Augen.
Ein Schimmer von Furcht durchfuhr Bill, doch er schüttelte ihn ab, gebannt von den Augen der Schönheit. Er verlor sich in ihnen, und ein leises Lächeln huschte über das Gesicht der Frau. Doch so schnell, wie es kam, verschwand es auch wieder und die ausdruckslose Maske war abermals sichtbar.
„Wie heißt du, Mann?“ Ihre Stimme durchschnitt die Stille, die in dem teuren Nachtklub aufgekommen war. Die Totenstille und ihre scharfe und gleichzeitig melodische Stimme jagten ihm einen Schauder über den Rücken. Seine Hände wurden eiskalt, während sein Gesicht glühte und von einem Schweißfilm bedeckt war. Wieder überfiel ihn die Angst. Sein Körper warnte ihn. Seine Oberschenkelmuskeln zitterten unkontrolliert, bereit, zu fliehen.
Nur sein Gehirn, benebelt von ihrer magischen Erscheinung, ließ ihn weiterhin auf dem Barhocker in diesem schwach beleuchteten Klub sitzen bleiben.
„Wie heißt du, Mann?“, wiederholte sie, dieses Mal mit einem drängenden Unterton. Völlig perplex riss Bill die Augen auf. Und stotterte etwas Unverständliches vor sich hin.
Ihre Augen veränderten sich schlagartig. Um dieses verführerische Grau zog sich ein pechschwarzer Kreis, drohte, die farbige Iris zu verschlingen und nur noch dunkle Kälte zurückzulassen.
„Eure Augen …“, vernahm er seine zittrige Stimme.
„Was ist mit meinen Augen? Sind sie nicht wunderschön?“ Sie blickte ihm durchdringend in die vor Furcht weit geöffneten Augen. Forderte ihn mit ihrem drängenden Blick dazu auf, ihr die Antwort zu geben, die sie hören wollte.
„Sag, sind meine Augen nicht das Schönste, was du jemals erblicken durftest?“ Ihre Stimme war so scharf und schneidend, wie ein perfekt gewetztes Jagdmesser. Sein trockener Mund setzte zur Antwort an, doch erst nach einem schweren Runterschlucken der riesigen Angst, die ihn bei ihren schwarzen Pupillen überfiel, konnte er einen Ton über seine Lippen hervorbringen.
„Sie sind das Schönste, was ich je erblicken durfte.“ Bills Stimme jagte ihm einen eiskalten Schauder über den Rücken, und am ganzen Körper brach ihm der Schweiß aus.
„Und meine Haare? Findest du sie nicht ebenfalls himmlisch?“ Stumm nickte Bill und fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe.
Herrisch ertönte noch mal eine Aufforderung der unersättlichen Schönheit. „Sag es mir. Sag mir augenblicklich, dass meine Haare himmlisch sind.“
„Sie sind himmlisch. Eure feuerroten, flammenden Locken sind ein Geschenk des Himmels.“
Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf das Gesicht der Schönheit. Nachdem Bill einmal den Blick auf ihre vollkommenen und weichen Lippen geheftet hatte, kam er nicht wieder frei.
„Worauf schaust du, Mann?“ Die verzückte Stimme der hübschen Frau ließ ihn einen Ton hervorbringen, einem Knurren der Tiere gleich.
„Eure Lippen…“ Bill war wie ferngesteuert. Sein Gehirn sagte ihm, er solle diese wunderschöne Frau vor sich ganz ansehen. Doch sein Körper reagierte allein auf ihre Lippen überaus empfindlich.
Ein wohliger Schauder lief ihm über den Rücken. Ein samtiges Kribbeln legte sich unter seine Haut. Und das Bild dieser perfekt geformten Lippen, dieses himmlischen Mundes, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Bill verspürte das sehnsüchtige Gefühl, seine Lippen auf die ihren zu legen. Sie zu küssen. Ihre weiche Haut unter seinem großen Körper zu fühlen. Ihren Körper bis auf die kleinste Vollkommenheit zu erforschen.
Er träumte von ihr, ihrem atemberaubenden Körper. Bestehend aus den perfekt gerundeten Brüsten. Der schmalen Taille. Der wunderschönen Hüfte, unter der man die Hüftknochen bezogen mit ihrer gold schimmernden Haut fühlen konnte. Und ihren himmlisch langen Beinen.
Er stellte sie sich auf seinem großen Bett vor. Auf einer schwarzen Seidenbettwäsche liegend. Das feuerrote Haar locker über das Kissen und ihrer nackten Haut ausgebreitet.
Bill wollte solche Gedanken nicht haben. Doch es schien ihm, als würden sich die erotischen Bilder einfach vor sein geistiges Auge schieben. Er konnte nichts dagegen tun. Sein Wille beugte sich der Macht der Grazie.
„Wovon träumst du, Mann?“ Ihre samtweiche Stimme ließ ihn nur noch mehr schwärmen.
Er träumte, sie würde geheimnisvoll seinen Namen flüstern, während sie auf seinem Bett lag. Ihm die schönsten Sachen versprechen, die sich ein Mann nur wünschen kann. Und sie würde ihm ihre Liebe gestehen.
„Von euch“, ertönte brüchig seine Antwort. Bills Mund war trocken und er musste schlucken.
„Und gefällt dir, was du da siehst?“ Er nickte.
„Und wünscht du es dir?“ Nein! Er nickte erneut.
„Wenn ich dir verspreche, dir das zu geben, wonach du lechzt, gibst du mir dann auch, wonach ich strebe?“ Nein!, ertönte ein Stimme tief drinnen in Bills Herzen, Denk doch nur mal an deine Frau, Sue, und an deine Kinder, Richi und Sean!
Aber sein Kopf nickte ganz von selbst und die Augen aller Anwesenden um ihn herum weiteten sich. Doch Bill konnte nichts dagegen tun. Er war im Bann der Schönheit.
„Gut, gut. Dann komm, begleite mich.“ Bill gehorchte und folgte augenblicklich ihrer Aufforderung. Sie nahm seine Hand in ihre. Und Bill kam es vor, als würde er schweben. Seine Beine waren schwerelos und sie zog ihn mit sich. Ein wohliges Lächeln legte sich auf seine Lippen und sein Blick verschwamm. Es war so ein schönes Gefühl, leicht wie eine Feder zu sein. Dieses Gefühl hatte er noch nie bei seiner Sue gehabt. Doch allein durch eine kleine Berührung der Schönheit, und er war frei. Frei von allen Sorgen, weswegen er auch hierher gekommen war, um sich voll laufen zulassen. Frei von dem Stress, der ihn auf seiner Arbeit immer überfiel. Frei von der Verantwortung, der Vater einer vierköpfigen Familie zu sein. Nicht einmal sein geliebter Alkohol hatte ihm bisher so viel geholfen, wie sie.
Bills Körper wurde träger und schwächer, als würde ihm die Lebenskraft aus den Adern gezogen werden. Doch er merkte es nicht.
Die Schönheit schleifte ihn in eine dunkle Gasse. Was Bill nur auffiel, da der Geruch von Abfall und Erbrochenem ihm in die Nase stieg. Die wunderschöne Frau lehnte ihn an eine schäbige Hauswand und betrachtete ihn eingehend.
„Du bist wirklich sehr attraktiv“, schnurrte sie und Bill streckte sehnsüchtig die Arme nach ihr aus. Sie ergriff seine Handgelenke und legte seine Handflächen auf ihre Brüste. Er konnte nicht anders, als leise zu knurren.
„Gefällt es dir, Mann?“ Und ob ihm das gefiel. Er nickte und zog sie sich näher heran. Oh, ihr Duft! Er verzückte ihn. So frisch. Bill vergrub seinen Kopf in ihrem Haar, welches noch weicher war, als er gedacht hätte. Oh, alles was er mit ihr machen würde, würde ihm sehr gut gefallen.
Sie lehnte sich an ihn und schlang ihre Arme um seinen kräftigen Hals. Bill legte seine großen Hände auf ihren zierlichen Rücken und drückte sie, so fest es ging, an seine Brust. Ihm brach der Schweiß aus und sie stöhnte auf. Das verzückte ihn noch mehr. Träge drehte er sie beide um, sodass nun sie an der Mauer lehnte. Er stütze sich mit beiden Armen neben ihrem Kopf ab und roch an ihrem Hals. Gierig küsste er sich ihre Halsschlagader hinunter, über ihr Schlüsselbein, zu ihrem Ausschnitt. Ihre schwarze Bluse ließ ihn wiederholt knurren und mit einem Ruck riss er sie auf und die Knöpfe fielen scheppernd zu Boden. Ehrfürchtig fuhr Bill den Umriss ihres dunklen Spitzen-BHs nach. Durch den dünnen Stoff hindurch umkreiste er ihre Nippel, welche sich unter seinen Berührungen spitz aufstellten. Sie bog ihren Rücken ihm verführerisch entgegen. Mit einen tiefen Stöhnen machte sich sein Mund wieder auf zu ihren Hals. Leicht strichen seine Lippen über ihr Kinn, ihre Wange und kamen immer wieder ganz nah an ihren Mund, legten sich jedoch nie darauf. Er spielte nur mit ihr, und sie ließ es mit sich machen. Noch. Ein williges Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, was ihn dazu aufforderte, weiter zugehen. Er nahm den Knopf ihrer Hose in zwei Finge und löste ihn ganz vorsichtig, während er mit der linken Hand über ihren glatten Bauch strich. Ja, sie war wirklich vollkommen.
„Mach schon. Zieh sie herunter“, stöhnte die hübsche Frau. Doch Bill war noch nicht so weit, er wolle sie noch länger zappeln lassen. Ein wissendes Lächeln legte sich auf seine Lippen.
„Noch nicht, meine Schöne. Gedulde dich noch etwas. Wir haben alle Zeit der Welt.“ Wiederholt bog sie ihren Rücken durch, angeturnt von seinen flinken Fingern in ihrem Hosenbund.
Bill ging einen Schritt zurück und betrachtete sein Spielzeug. Es war wunderschön. Erinnert ihn an Sue, welche ihm genauso unter geben war. Doch sie war nicht so stark wie sie hier. Sue war zerbrechlich. Und zerbrechlich brauchte er jetzt nicht. Kurz zuckte er, von dem Bild seiner Frau, zusammen. Doch er wurde von dem Aufstöhnen der Grazie vor ihm zurückgeholt. Er schritt auf sie zu und öffnete den Reisverschluss der schwarzen Hose. Ein kehliges Stöhnen entrang sich ihnen beiden und vorsichtig streifte Bill den Stoff von den langen Beinen der Schönheit. Diese warf ihren Kopf zurück und lachte lustvoll auf. Ihr Kopf fiel danach erschöpft auf seine breite Schulter und er umschlang sie mit seinen starken Armen, hielt sie fest.
Als sie wieder Kraft geschöpft hatte, stützte sie sich von Bill ab und sah ihm mit ihren dunklen Augen in die seinen.
„Jetzt spiele du mit mir, Frau. Ich habe dich verzückt, jetzt verzücke mich auch.“
„Liebend gerne“, schnurrte sie an seinem Ohr und drehte ihn um. Willig lehnte er sich an die Hauswand und musterte sie aus trübem Blick. Eine wahre Schönheit. Keine noch so schöne Frau der Welt konnte ihr das Wasser auch nur annähernd reichen.
Sie schob ihre feingliedrige Hand unter sein zerknittertes Hemd und streichelte ihm über die muskulöse Brust. Er keuchte auf und ein Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Ganz langsam, sodass Bill fast den Verstand verlor, knöpfte sie es auf und gab den Blick frei. Sie zog kurz anerkennend die Luft ein, bevor sie flüsterte: „Wahrlich. Du bist sehr attraktiv. Ich habe die richtige Wahl getroffen.“ Ihre schwarzen, endlos tiefen Augen musterten jeden unter der braunen Haut abgezeichneten Muskel. Dann fuhr sie sie sacht nach und ein verzücktes Lächeln legte sich auf ihre vollkommenen Lippen.
„Würde ich mich zurückhalten können, wärst du bestimmt ein wunderbarer Partner.“ Bill hörte die Worte nur undeutlich. Ein Schleier legte sich auf seinen Blick und nur noch sie vernahm er ganz scharf. Wie sie sich hinunter beugte und mit ihrem wundervollem Mund über seine Brust strich. Wo sie ihn berührte, hinterließ sie ein wohliges Kribbeln unter der Haut, welches Bill verrückt machte.
„Meine Hose, zieh sie aus. Lass mich frei.“ Als Antwort lachte sie nur verzückt auf, ließ jedoch die Finger von der Jeans. Er beugte sich ihr entgegen und sie küsste sich einen Weg tiefer, über den Bauchnabel, bis hin zum Hosenbund.
„Soll ich?“, vernahm er ihre gierige Stimme. Er nickte. Willig schob er die Hüften vor und ihr Blick zeigte ihm unverhohlene Gier. Ihre zarten Finger strichen über den festen Stoff und langsam öffnete sie seine Hose. Bill stieß ein erleichtertes Seufzen aus, als seine Jeans zu Boden fiel und nur noch seine Boxershorts ihn an seiner Freiheit hinderten.
Die Schönheit erblickte das Zelt unter seiner Boxershorts und lachte verzückt auf.
„Ja, du warst wirklich die richtige Wahl.“ Bill sehnte sich nach ihrer Nähe und so fasste er an ihre Schultern und zog sie sich an die Brust. Er fühlte ihre weiche Haut an seiner reiben und den zarten Stoff ihrer Unteräsche unter seinen gierigen Fingern. Er strebte nach ihren Lippen und ein lustvolles Stöhnen kam aus dem Mund der Schönheit.
Bill umfasste mit den Händen ihre beiden perfekten Brüste und sie drückte sich willig gegen seine warme Brust.
„Küss mich“, schnurrte sie. Und Bill ließ sich nicht zweimal bitten. Gierig presste er seine Lippen auf ihre. Ein Keuchen ihrerseits. Durch den offenen Mund drang seine Zunge in sie ein und sie beide stöhnten gleichzeitig auf. Der Kuss war leidenschaftlich. Bill war heiß, er stand in Flammen, so wunderbar war der Mundkontakt. Doch als ihm immer heißer wurde, sodass es sich anfühlte, als würde er verbrennen, schnappte er nach Luft. Skeptisch schaute er an sich hinab. Und erschrak. Wahrhaftig, er stand in Flammen! Er brannte!
Hilflos schrie er auf und blickte ängstlich in das Gesicht der Schönheit. Sie lächelte. Es verzückte sie.
„Du warst so naiv, Mann.“ Bills Augen weiteten sich.
„Was passiert mit mir?“, schrie er.
„Du verbrennst“, kam die trockene Antwort.
„Schade eigentlich. Du wärst wirklich ein guter Liebhaber gewesen. Attraktiv genug, um an meiner Seite gesehen zu werden. Und stark genug bist du auch.“ Doch die Komplimente prallten an Bill ab. Er dachte an Sue und Richi und Sean. Er hatte die falsche Entscheidung getroffen. Hätte niemals mit der Schönheit, wie sie auch heißen mochte, weg gehen sollen.
„Wie heißt du?“ Seine Stimme war brüchig und unter den Schmerzen und Qualen drohte er zu zerbrechen. Er wünschte, er wäre taub, doch nun sah er alles Glas klar und hörte jedes kleinste Geräusch. Er blickte auf die Flammen, die ihn verschlangen, ihm aus jeder Pore krochen. Und hörte sie züngeln, wie Zungen von gierigen Schlangen. Hörte sich schreien. Hörte ihr Lachen. Und sah ihre pechschwarzen Augen.
„Ich habe viele Namen. Manche nennen mich den Teufel, manche das Böse. Doch mein eigentlicher Geburtsname ist Jillien.“
„Jillien.“ Ihr Name auf seiner Zunge zu spüren, war wie der Geschmack von Verdorbenen. Wieder stieg ihm ihr Duft in die Nase. Frisch. Johannesbeeren. Er liebte Johannesbeeren, konnte nicht genug von ihnen bekommen. Und so auch nicht von ihr. Obwohl sie gerade jetzt dabei war, ihn zu zerstören, liebte er sie dennoch und verlangte mehr von ihr.
„Das ist ein Fluch. Auf dir liegt ein Fluch“, flüsterte er, während die Feuerzungen schon seinen Hals erreicht hatten. Sie nickte zur Antwort und betrachtete ihn mit einem freudigen Lächeln. Sein Blick spuckte Feuer, doch es konnte niemals so machtvoll sein, wie ihres. Ihre schwarzen Augen strahlten reine Macht und unverhohlene Gier nach Anderer Leben aus. Doch plötzlich veränderte sich ihre Iris schlagartig. Ihre Augen waren wieder rauchgrau und panisch schaute sie auf den brennenden Mann vor sich. Ihre Knie gaben nach und instinktiv wusste Bill, dass diese Frau vor ihm, die echte Jillien war und nicht dieses Monster.
„Es tut mir schrecklich leid“, vernahm er ihre brüchige Stimme. Ihre nun
wunderschönen und wahren Augen waren erfüllt von Leid und Trauer. Und Bill
glaubte ihr. Glaubte ihre jedes einzelne Wort, das gerade über ihre vollen Lippen
gekommen war. Er nickte langsam zur Bestätigung.
„Ich weiß“, sprach er aus einem Flammengefüllten Mund. Nun verspürte er keine
Schmerzen mehr. Nur noch unverhohlenes Mitgefühl für die junge Frau vor seinen
Füßen.
Er spürte einen leichten Stich durch seinen brennenden Körper fahren und erhaschte noch einen Blick auf ihre taubengrauen, Tränen erfüllten Augen und viel dann ins Leere.

Tränen liefen über Jilliens vollkommenes Gesicht. Schon wieder. Sie hatte schon wieder das Leben eines weiteren, unschuldigen Mannes beendet, nur um ihres zu verlängern. Sie war wahrhaftig verflucht, so wie der Mann es ihr gesagt hatte. Auf ihr lastete ein Fluch. Sie verabscheute sich, für das, was sie den Menschen antat. Nur durch eine einzige Berührung ihrer Lippen, und der Mann verbrannte. Ihre Flammen zogen jegliche Lebensenergie aus ihm und leiteten sie in sie hinein. Doch diese Kraft hielt nicht lange an. Wehalb sie dieses Vorgehen auch ständig wiederholen musste. Weswegen sie sich noch mehr hasste. Sich und diese Bestie. Denn nicht wirklich sie war es, die die Männer immer verführte. Im Gegenteil. Sie wehrte sich dagegen. Doch sie war nicht stark genug, um das Monster aufzuhalten. Und erst, wenn die Kraft der Männer in sie floss, kam sie wieder zu sich. Und war jedes Mal aufs Neue verängstigt und hilflos. Was würde sie dafür geben, einmal normal zu sein. Sie hasste ihre Mutter dafür, sie in die Welt gesetzt zu haben. Menia, hätte sich nie mit ihrem Marc treffen dürfen. Sie hätten sich nie in einander verlieben dürfen. Denn nun war Jillien verloren. Es gab nicht viele auf der Welt, die so waren, wie sie. Nur eine Handvoll. Und sie lebten bedeckt. Sie waren unsterblich. Sie brauchten nicht essen, nicht trinken oder sonst welche Nachteile des Menschsein. Was sie brauchten, um zu überleben, waren andere Menschen. Durch die würden sie für immer auf der Welt sein.
Der Nachteil dabei war nur, sobald die Bestie Hunger bekam, hatte Jillien sie nicht mehr unter Kontrolle. Das Wesen suchte sich einfach den stärksten Mann in ihrer Nähe aus und pirschte sich mit Jilliens Schönheit an ihn heran und verschlang ihn kurzer Hand.
Jillien weinte weiter und langsam fing es an zu regnen. Die großen Wassertropfen vermischten sich auf ihren Wangen mit den Tränen.
Ein wenig später spürte Jillien einen eisigen Wind auf ihrer Nassen Haut und ihr war kalt. Sie schlang sich ihre Arme um den Körper, während sie die dreckige Gasse nach ihren Kleidern absuchte. Sie fand sie, durchnässt und mit Ruß bedeckt an der Stelle, wo der junge Mann sie ihr ausgezogen hatte. Mit Mühe schaffte sie es, ihre enge schwarze Jeans über ihre Hüften zu ziehen. Das Gefühl von dem nassen Stoff auf ihrer feuchten Haut ließ ihr einen Schauder über den Rücken laufen. Wassertropfen verfingen sich in ihrem Haar und auf ihren Wimpern. Aus einem Tränenschleier betrachtete sie ihre schöne Designerbluse. Sie war ruiniert. Die runden Knöpfe fehlten und der Stoff war zerknittert und an manchen Stellen sogar zerrissen. Die Gier des verstorbenen Mannes sah man an ihrer Kleidung. Er hatte sie wirklich gewollt. So wie jeder andere Mann vor ihm auch schon.
Jillien betrachtete seine Kleidung, welche neben ihrer auf dem Boden gelegen hatte. Das vorher blütenweiße Hemd war ebenfalls ruiniert. In der Tasche seiner Jeans suchte sie nach einem Führerschein oder sonst welchen Hinweisen über in. Sie fand seine Brieftasche. Doch nicht die fünfhundert Dollar in ihr ließen Jillien stocken. Sondern ein Bild von ihm, einer bildhübschen Frau und zwei kleinen Jungen. Er hatte seinen muskulösen Arm um die Hüfte seiner Partnerin gelegt und ihr hellblondes, glattes Haar fiel über ihre Schultern. Er küsste sie auf die errötete Wange und ihre grünen Augen strahlten nur so vor Glück. Sie hatte eine Hand auf die Schulter des Jungen vor ihr gelegt, welcher freudig zu ihr hinauf blickte. Ein paar Strähnen seiner blonden Haare fielen ihm in die Stirn. Seine Augen hatten die gleiche Farbe, wie die seines Vaters. Ein wunderschönes braun. Neben ihm stand ein etwas größerer Junge, schätzungsweise zehn Jahre alt. Auch er sah seine verliebten Eltern an, auch er strahlte über das ganze Gesicht. Doch er passte überhaupt nicht in die Familie hinein. Während alle glatte blonde Haare hatten, besaß er schwarze Locken, die ihm locker in den Nacken fielen. Und seine Augen glänzten von so einem reinen blau, dass sie schon fast unmöglich schienen. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Natürlich sah er glücklich aus, aber Jillien beschlich das Gefühl dass er das ganz und gar nicht war. Seine Haltung war gebeugt und er stand auch etwas Abseits von dem Rest der Familie.
Jillien standen wieder Tränen in den Augen. Also wandte sie den Blick von dem Bild ab und machte sich weiter auf die Suche. Sie fand, wonach sie suchte. Auf seinem Personalausweis stand beim Namen: Bill Referty. Er war gerade mal einunddreißig Jahre alt und lebte hier ganz in der Nähe.
Jillien konnte nicht anders. Sie ging zu dem riesigen Haus und spähte durch eines der großen Glasfenster. Dahinter sah sie die junge Frau von dem Bild auf einem der Stühle am Küchentisch sitzen. Neben ihr der kleine blonde Junge. Sie redete mit ihm und lächelte ihn an und legte ihre zarte Hand auf die keine ihres Sohnes. Und den beiden gegenüber, mit Blick aufs Fenster, saß der schwarzhaarige. Sein Brot, das vor ihm auf dem Teller lag, rührte er nicht an. Seine Augen sahen auf eine Stelle auf dem Holztisch. Die Mutter schien ihn gar nicht zu bemerken. Er fühlte sich alleine, das spürte Jillien. In seinen blauen Augen lag Trauer und Neid, als er seine Mutter und seinen Bruder betrachtete. Dann huschte sein Blick zu Jillien. Seine klaren Augen weiteten sich verängstigt. Doch nachdem Jillien ihm zugelächelt hatte, stand ein anderes Gefühl in seine Augen. Zuneigung? Natürlich, er sah ihre Schönheit. Und doch, da war noch etwas anderes. Denn wenn die Menschen sie normalerweise sahen, trübte ihr Blick, verschwamm. Doch seiner war klar und frei. Und was war das in ihrem Herzen. Da war keine Bestie, die sich Aufmerksamkeit verschaffen wollte. Nur Wärme. Dieses Gefühl verstörte sie. Und aus Furcht verschwand sie.




Spiel der Realität




Immer wieder war Jillien zu ihm gekommen. Sie hatte nachts an seinem Fenster gestanden und ihm beim Schlafen zugesehen. Sie war in seinen Träumen erschienen, hatte jedoch nie mit ihm auch nur ein einziges Wort gewechselt. Er hatte nicht gewusst, wer sie war, sie hatte nicht gewusst, wer er war. Nachdem seine Mutter bekannt gegeben hatte, ihr Mann wäre verschwunden, hatte ihn das nicht interessiert. Während seine Mutter und sein kleiner Bruder Stunden lang mit Tränen verschmierten Gesichtern Bill nachgetrauert hatten, war er einfach kalt geblieben. Jillien hatte nicht gewusst, warum, aber die Kaltherzigkeit des Jungen hatte ihr das Herz gebrochen. Was musste ihm angetan worden sein, um ihn so gefühllos werden zulassen? Sie hatte es nicht verstehen können. Und doch hatte sie den Kleinen ins Herz geschlossen. Hatte ihm Wärme geschenkt und er hatte sie dankbar entgegen genommen.
Doch nach ganzen fünf Jahren, genau an seinem fünfzehnten Geburtstag, hatte sich etwas verändert. Nun war er nicht mehr der kleine Junge gewesen, der Jilliens Mitgefühl erregt hatte. Nun war er ein junger Mann. Ein sehr gut aussehender junger Mann. Und Jillien entwickelte Gefühle für ihn. Nicht Mitleid oder Wärme. Sondern andere, stärkere, machtvollere. Und nun begann auch die Bestie in ihr, sich nach ihm zu verzehren.
In der Nacht seines Geburtstages hatte sie sich noch ein einziges letztes Mal in seine Träume gestohlen und hatte ihn von sich träumen lassen, hatte ihm Bilder von sich vor Augen geführt, mit der Macht der Bestie.
In seinem Traum hatte sie vor ihm gestanden, auf einer grünen Wiese. Mann hatte einen Bach rauschen gehört und das Vogelgezwitscher. Jillien war eingehüllt in einem strahlend weißen Kleid gewesen. Es hatte sich um ihre langen Beine gelegt, und ein frischer Wind hatte es mit ihren Haaren im Gleichtakt flattern lassen. Ihre rauchgrauen Augen hatten fest in die seinen geblickt. Die Sonne hatte ihren hellen Schein auf sie beide geworfen. Und er hatte die Sachen seines verstorbenen Vaters getragen. Das blütenweiße Hemd mit Kragen, der oberste Knopf geöffnet. Darunter eine dunkle Jeans und schwarze Schuhe. Er hatte darin sogar noch besser ausgesehen, als sein Vater es getan hatte, und Tränen waren Jillien in die Augen gestiegen. Doch sie hatte ihn einfach in dieser Kleidung sehen müssen. Etwas hatte sie dazu gezwungen, ihn so zu erblicken.
Sie hatte ihm ihre Hand hingehalten und wortlos hatte er sie entgegen genommen. Ein Trauertropfen war ihre Wange hinuntergerollt und er hatte ihn vorsichtig mit dem Daumen weggewischt. Jillien hatte als Dankeschön leicht seine Hand gedrückt und zusammen waren sie weiter gelaufen. Irgendwann war Jillien stehen geblieben und hatte sich hingesetzt. So geschmeidig wie sie es getan hatte, hatte auch er sich niedergelassen. Sie hatte ihm in die kristallklaren blauen Augen geblickt, und wieder waren Tränen gelaufen. Er hatte sich leicht nach vorne gebeugt, und während sie die Luft angehalten hatte, hatte er ihr jede einzelne weggeküsst. Er war so zärtlich zu ihr gewesen, dass sie den Blick danach nicht mehr hatte von ihm nehmen können. Das erste Mal hatte sie andere Gefühle, außer Kälte und Eis, in seinen Augen gesehen. Liebe. Die gleiche Liebe, die sie auch für ihn empfunden hatte. Und das hatte nicht sein dürfen.
Nun aber hatte Jillien weggeschaut, doch sie hatte auch seinen sehnsüchtigen Blick auf sich gespürt. Sie hatte aufs blaue Meer vor sich gesehen und hatte diese Farbe augenblicklich mit der seiner Augen verglichen. Sie hatte ihren schmerzerfüllten Blick senken müssen, nur um auf Schwärze zu treffen und an seine Haare zu denken. Als sie die Augen wieder geöffnet hatte, hatte sie ihn dann doch eines Blickes gewürdigt. Sie hatte den Kopf zu ihm gewandt und sofort den Drang verspürt, ihm über die seidigen Locken zu streichen. Als sie ihrem Willen dann nachgegeben hatte und eine zarte Hand über das mitternachtsschwarze Haar hatte gleiten lassen, hatte er ein leises genießerisches Seufzen von sich gegeben und sich mit der Wange an ihre Handfläche geschmiegt. Jillien hatte ihn nicht daran gehindert.
So hatte sie still da gesessen. Doch als der Traum sich seinem Ende geneigt hatte, war sie ihm noch einmal über das Gesicht mit den Fingerspitzen gestrichen. Hatte seine weichen Gesichtszüge nachgezogen. Das war das allererste Mal gewesen, das er ausgeglichen gewesen war. Ruhig.
Als sie vorsichtig mit dem Finger seine weiche Unterlippe nachgefahren war, hatte sie den Blick nicht von ihm nehmen können, und das war nicht wegen der Bestie gewesen. Sie hatte in Träumen nichts verloren gehabt. Hatte nicht mit hinein kommen können. Nur allein Jillien.
„Darf ich dich etwas fragen, mein Junge?“, hatte sie zögerlich ihre weiche Stimme vernommen. Der Junge war zutiefst erschrocken gewesen, noch nie hatte er sie sprechen gehört. Doch trotz des Schocks, war seine Stimme fest gewesen, als er geantwortete hatte.
„Ja, alles was du willst.“ Jillien hatte den Atem angehalten. So eine schöne Stimme. Voll. Tief. Sie hatte ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper gejagt.
„Wie heißt du, mein Junge?“
„Sean“, war die Antwort erklungen. Sean. Was für ein schöner Name. Perfekt für ihn, hatte sie gedacht. Dann war sie aufgestanden, hatte ihm tief in die Augen geblickt und leise gemurmelt: „Auf Wiedersehen, Sean. Vergiss mich nie.“
Sie hatte ihm ihren Talisman gegeben, welchen sie von ihrer Mutter am Sterbebett erhalten hatte.
Und dann war sie weg gewesen.



Als Jillien wieder an das Geschehene dachte, kamen ihr erneut die Tränen. Sie hatte Sean nie wieder gesehen und es brach ihr jeden Tag aufs Neue das Herz. Heute war der zweiundzwanzigste November. Heute war es genau zehn Jahre her. Zehn Jahre ohne ihn. Zehn Jahre Sehnsucht nach seinem Körper, seiner Nähe, seiner Wärme. Hilflos schlang Jillien ihre Arme um sich und trauerte. Trauerte dem kleinen, zehn jährigen Jungen hinter her und dem jungen, gut aussehendem Mann. Beide hatten sie gemocht, doch nur einer von beiden hatte sie geliebt. So wie sie ihn geliebt hatte. Und das tat sie heute immer noch. Sie verzehrte sich nach dem wunderbaren Gefühl ihrer beiden Hände, in einander verschränkt. Er hatte sie geliebt, genau wie sein Vater, nur das es da einen kleinen, jedoch entscheidenden Punkt gab. Bill hatte die Bestie dank ihrer Magie verehrt. Sean hatte Jillien geliebt.
Traurig lag sie auf ihrem großen Himmelbett in knapper roter Boxershorts und schwarzem Top. Sie sah auf den Wecker. Ein Uhr einundvierzig. Sie konnte nicht einschlafen. So wie jede Nacht. Und doch fühlte sie sich hundemüde. Grundsätzlich musste sie nicht schlafen. Jedoch verhalf es ihr zu mehr Energie.
Jillien wusste nicht mehr, wann sie das letzte Mal geschlafen, geschweige denn geträumt hatte. Doch sie wusste es. Vor zehn Jahren. Als sie noch bei Sean war. Und wieder übermannten sie die Tränen. Dass sie überhaupt noch genug Wasser in ihrem Körper dafür hatte, überraschte sie. Denn, ehrlich gesagt, weinte sie fast jede Nacht durchgängig und heute war es noch Schlimmer, als sonst. Träge schleppte sie sich aus dem Bett. Es würde so wie so nichts mehr nützen hier zu bleiben, da konnte sie wenigstens raus an die frische Luft gehen.
Jillien zog sich ihren schwarzen Mantel über und schlüpfte noch schnell in Paar Schuhe, ehe sie durchs Treppenhaus nach unten schlich und dann in die Freiheit. Tief sog sie die kalte Nachtluft in ihre Lungen und marschierte durch den hohen Schnee. Unter ihrem Mantel trug sie nichts weiter, als ihre Boxershorts und das Top. Doch ihr war nicht kalt.
Sie schritt am Times Square entlang und musterte die Umgebung. Die hohen Bäume waren ihre Blätter los und mit Schnee bedeckt. Das braune Gras war weiß bemäntelt. Und der Fluss war still und kalt. Alles war leblos. Genau wie sie.
Jillien blieb nicht stehen. Auch dann nicht, als der Kieselweg endete, den sie entlanggegangen war. Sie marschierte einfach weiter über eine Schneedecke, unter der sich eine Wiese verbarg. Und die ganze Zeit über, dachte sie ununterbrochen an Sean. Nicht die Kälte konnte sie daran hindern. Nicht der peitschende Wind, der ihre Lockenpracht zerzauste konnte daran etwas ändern. Und auch nicht ihr eiserner Wille.
Jillien wusste nicht, wo sie war, bis sie vor einem riesigen Haus zum stehen kam. Sie blickte auf. Dort, da oben war sein Kinderzimmer gewesen. Dort war das Fenster, durch das sie manchmal gespäht hatte. Und dort der Baum, auf den sie dafür immer geklettert war. Doch nun sah sie das ‚Zu verkaufen’ - Schild. Und es brach ihr das Herz. Sean lebte nicht mehr in diesem Haus. Nur ihre Erinnerungen an ihn. Und sie wollte nicht einen Gedanken daran verschwenden, dass irgendwann ein anderes Kind vielleicht in diesem einem Zimmer schlief.
Tränen liefen ihr wieder über die Wangen, doch sie wischte sie nicht weg. So schnell sie konnte, lief sie ihre Fußspuren zurück nach Hause, rannte in Windeseile die Treppen hinauf und schloss ruckartig die Tür hinter sich. Erschöpft ließ sie sich gegen das harte Holz sinken und den Kopf zurück fallen. Nie wieder, nie wieder würde sie auch nur in die Nähe dieses Hauses gehen. Es tat einfach zu sehr weh.
Und doch wiederholte sich dieses Geschehen jede Nacht. Sie hielt diesen Schwur jedes Mal ab.
Nur um ihn wieder aufs Neue zu brechen.



Versuchung




Sean Referty betrachtete mit halbem Interesse den kleinen Raum mit den weißen Plastikstühlen, den mit Papieren und Ordner überfüllten Schreibtisch, die dazugehörigen Sekretärin, welche ihm heimliche Blicke zuwarf, und musterte die leuchtende Innenausstattung des kleinen Wartezimmers. Alles war hell. Der Teppich, strahlend weiß, das Holz unter ihm beige. Der Schreibtischstuhl war ebenfalls cremefarbig. Das Holztischchen vor ihm wirkte so zerbrechlich und instabil, dass er nicht einmal wagte, seine großen Hände darauf zu legen. Die vielen Glasvitrinen an den Wänden, zeigten Bilder der Sportmannschaften der James-Steven-Highschool und Preise der Schachmeister New Yorks, Dokterzertifikate einiger Lehrer. Ihm selber entsprach der Stil nicht, doch wenn die Leute es hier mochten, konnte er nichts dran ändern. Er selber benutzte lieber grelle Kontraste. Schwarz und feuerrot, Beispielsweise. Und sofort, als er allein in Gedanken sich die Farben vorstellte, dachte er auch an die dunklen, faszinierenden, rauchgrauen Augen und an sie.
Die Namenlose. Er verdrängte ihr hinreißendes Abbild, welches sich vor sein geistiges Auge schob und überprüfte noch einmal sein Aussehen. Der schwarze Nadelstreifenanzug saß perfekt. Die marineblaue Krawatte ebenfalls. Wie oft schon hatte er diese Sachen getragen? Bei fast jedem Vorstellungsgespräch. Und doch hatte es nie geklappt. Meistens lag es an ihm selbst, dass sich das Jobangebot verflüchtigte.
„Sean Referty? Sie können jetzt reinkommen“, rief die zierliche Sekretärin aus, starrte ihn schwärmerisch an, und träge stand er auf. Stur ging er durch die offen gehaltene Tür, den Blick gesenkt. Nachdem die Tür hinter ihm wieder geschlossen wurde, sah er auf. Ihm den Rücken zugewandt saß eine junge Frau mit blondem Haar, welches ihr in einem modischen Kurzhaarschnitt stufig in den Nacken fiel. Ihr Hals war lang, die Schultern schmal und steif. Eine Hand hielt einen schwarzen Hörer an ihr Ohr und bedächtig nickte sie mit dem Kopf.
„Ja, Mr Mathwef, ich verstehe das vollkommen. Es ist alles nicht so einfach.“ Wieder ein zögerndes Kopfbewegen und ihr entrang sich ein müdes Seufzen. Genervt dehnte sie ihren Nacken. Eine Reaktion, die er bei einer Frau selten erlebt hatte. „Ja, natürlich, Mr Mathwef. Wir werden uns darum kümmern.“ Verspannt drehte sie sich auf ihrem schwarzen Lederstuhl um und fuhr sich durch das kurze Haar. Mit einem Nicken begrüßte sie Sean höfflich, machte eine ausladende Handbewegung, bedeutete ihm, er solle sich setzen. Mit einem amüsierten Lächeln ließ er sich ihr gegenüber nieder. Sie verdrehte die Augen, schrieb mit der freien, linken Hand etwas auf einen Zettel und hielt ihn hoch.
Etwas zu Trinken?
Sean schüttelte mit dem Kopf und konnte sich ein belustigtes Kichern nicht verkneifen.
Die Direktorin der James-Steven-Highschool murmelte etwas Unverständliches und meinte dann mit entzückt gespielter Stimme: „Mr Mathwef, entschuldigen sie, wenn ich ihre melodramatische Zusammenfassung ihres Wohlergehens unterbrechen muss, aber ich habe noch einen Termin. Wir sehen uns nach ihrer Genesung wieder. Auf Wiedersehen.“ Mit einem Knall legte sie auf und strich sich entnervt den fransigen Pony aus der Stirn, schüttelte einmal ihre Arme aus und blickte dann Sean an. Dem wurde augenblicklich unwohl unter ihrem Blick, doch sie lächelte nur freundlich. Sofort entspannte er sich wieder.
„Anstrengender Job, was?“, fragte er amüsiert.
„Und wie“, kam prompt die Antwort und nach einer kurzen Stille lachten beide beschämt auf. Dann fasste sich die Frau ihm gegenüber wieder und musterte ihn abermals, ein bezauberndes Lächeln auf dem Gesicht.
„So, Mr Referty. Sie bewerben sich also für die Stelle als Englisch- und Geschichtslehrer an unserer Schule?“ Zustimmend nickte er. Und ehe sie nachfragen konnte, legte er sein Doppeleinskommanullabschlussdiplom vor. Die Direktorin staunte nicht schlecht, zog anerkennend eine Augenbraue hoch und betrachtete ihn ein drittes Mal eingehend. Interessiert lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück.
„Dann erzählen sie mal. Was haben sie gemacht, bevor sie hierher kamen?“
„Ich habe studiert und einige kleine Jobs ausprobiert, um meine Miete bezahlen zu können.“ Ihr Blick verfinsterte sich.
„Haben sie schon mal mit Kindern zusammen gearbeitet?“ Träge schüttelte er den Kopf, setzte dann aber noch hinterher.
„Ich habe auch als Babysitter gejobbt. Ich weiß, dass ist nicht das gleiche. Doch ich wollte schon immer mal Lehrer werden. Und so schwer kann es schon nicht werden.“ Noch während er das sagte, wollte er sich auch schon dafür ohrfeigen. Zu selbstgerecht. Sie zog die Brauen fragvoll hoch. „Sie sind sehr von sich überzeugt, Mr Referty. Was lässt sie darauf schließen, dass sie mit unseren Schülern umgehen können?“ Sean beugte sich zu ihr über den Tisch und senkte seine Stimme. „Ich weiß es einfach. Geben sie mir eine Chance. Wenn ich gut bin, überlegen sie weiter. Wenn ich versage, gehe ich.“ Sein Blick hielt ihren gefangen und ein verzücktes Lächeln huschte über ihr symmetrisches Gesicht. Auch sie beugte sich etwas nach vorne, ihre Gesichter nur Zentimeter von einander entfernt. „Was, wenn ich nein sage?“, fragte sie herausfordernd. Er grinste belustigt. Ihm gefiel das. Geflüstert kam seine Antwort. „Dann jammere ich so lange, bis sie zusagen. Und glauben sie mir, mein Durchhaltevermögen ist noch größer, als meine Arroganz.“ Sean und die Direktorin warfen sich amüsierte Blicke zu, bis sie sich wieder zurücklehnte und auch er sie nach hinten fallen ließ. Ernst durchsuchte sie Ordner und starrte auf Formulare und Papiere. „Wann können sie anfangen?“ Siegessicher entspannte Sean sich.
„Sofort“

Es war alles reibungslos gelaufen. Sean war den anderen Lehrern vorgestellt worden und hatte alles Schriftliche erledigt. Nächsten Montag würde er anfangen. Er konnte es kaum erwarten.
Während er über den Schnee bedeckten Bürgersteig lief, klingelte sein Handy. Nach einem kurzen Blick auf dem Display, nahm er ab.
„Hey Chris, was ist?“
„Dein Geburtstag? Ey, Sean, du wirst fünfundzwanzig. Das feiert man!“ Sean zog eine Grimasse. Fünfundzwanzig. Es war schon zehn Jahre her. Ein Trauer erfülltes Seufzen entrang sich Seans trockener Kehle.
„Hey, Chrissy. Ich wollte eigentlich n-“
„Denk nicht mal dran, Sean. Wir feiern. Ich habe Toby, Jake und Charlie schon angerufen. Ich bin in zehn Minuten bei deiner Wohnung. Und denk nicht mal dran, nicht aufzukreuzen. Heute Abend wird getrunken, bis zum geht nicht mehr.“ Damit war die Verbindung abgebrochen. Widerwillig stapfte Sean durch den dreißig Zentimeter hohen Schnee. Er zog sich seinen Mantel fester um den Körper und wickelte den wärmenden Schal enger um seinen Hals. Genervt von seinem besten Kumpel und dessen grenzenlose Glücklichkeit, stampfte Sean die wenigen Treppen hoch und schloss träge die Haustür auf. Gerade, als er sie wieder hinter sich schließen wollte, schritt Chris’ Fuß dazwischen. Mit einem freudigen Klopfen auf die Schulter, begrüßte er Sean und marschierte einfach in die kalte Wohnung. Nach einem kurzen Frösteln, ging er zur Heizung an der gegenüberliegenden Wand und drehte sie voll auf.
Christopher Stevens war verheiratet mit seiner geliebten Frau Elli, und würde in sechs Monaten Vater werden. Die beiden freuten sich wirklich. Und auch wenn Sean bei dem Gedanken, an ihre gegenseitige Liebe und ihr Glück einen Stich der Eifersucht verspürte, wünschte er ihnen doch alles Gute. Chris hatte ebenfalls immer gute Laune, doch wenn er dann einmal wütend wurde, dann rastete er total aus, und nur einige Wenige konnten ihn dann wieder abreagieren, ohne sich Eine einzufangen. Seine treuen, haselnussbraunen Augen verrieten ihn jedes Mal, wenn er versuchte, zu lügen. Und seine blonde Löwenmähne war einfach einzigartig. Nur allein durch sie, hätte Sean seinen Kumpel unter tausend anderen Menschen sofort finden können.
Nun musterte er Sean abschätzend und ging dann zielstrebig in das Schlafzimmer des jungen Mannes.
„Kumpel, so kannst du doch nicht unter Menschen treten. Du siehst aus, wie ein arroganter Snob. Und du weißt, wie sehr ich diese Art von Mensch hasse.“ Ein breites Grinsen legte sich auf Seans Gesicht. Genau das war die beste Eigenschaft an Chris. Er machte Sean selbst in der schlechtesten Verfassung doch zu einem grinsenden Honigkuchenpferd. Allein mit der Dramatik in seiner Stimme, wenn er über so etwas Belangloses, wie Kleidung sprach, war schon geil. Aber seine Mimik, der Wahnsinn.
Chris riss die Holztür des schmalen Schranks auf und warf die Hemden und Hosen wild aufs Bett. Lächelnd schritt Sean ebenfalls ins Schlafzimmer und stellte sich neben seinen Freund. Im Gegensatz zu Chris, hatte Mode Sean noch nie wirklich interessiert. Endlich hatte Chris das gefunden, was ihm einiger Maßen zu Frieden stellte und hielt es Sean hin. Kommentarlos nahm dieser die Kleidungsstücke entgegen und zog sich um. Prüfend betrachtete Chris sein Werk und nickte zustimmend. Dann drehte Sean sich um und blickte in einen großen Spiegel. Er trug lässige Jeans und ein blütenweißes Hemd. Genau wie in seinem letzten Traum von ihr. Seine Augen füllten sich mit Tränen, doch er wischte sie schnell mit dem Ärmel weg, ehe sein Freund sie sah. Dieser hatte sich gerade in dem kleinen Zimmer umgesehen. Und nun war sein Blick auf etwas in seinen Händen geheftet. In seinen großen Pranken hielt er ein kleines Portrait, welches Sean selbst angefertigt hatte. Von ihr.
„Sie ist schön. Wie heißt sie?“ kam augenblicklich die Frage, nachdem Chris das Bild eingehend gemustert hatte.
„Ich weiß es nicht.“ Die Antwort schmerzte ihn und nach einem Räuspern meinte er in die Stille: „Ich nenne sie die Namenlose.“ Bei der Trauer in Seans Stimme hob Chris den Kopf und bemerkte den traurigen Gesichtsausdruck.
„Woher kennst du sie?“ Seine Stimme war weicher geworden und er schritt langsam auf seinen Freund zu.
„Ich traf sie das erste Mal mit zehn. Sie stand vor unserem Küchenfenster und betrachtete mich mitleidig, weil sie sah, dass meine Mutter mir keine Aufmerksamkeit schenkte, obwohl ich sie brauchte. Danach erschien sie jede Nacht in meinen Träumen um mich zu trösten. Doch nie sprach sie ein Wort. In der Nacht meines fünfzehnten Geburtstags stellte ich fest, dass ich mich in sie verliebt hatte und zeigte es offen. Das erschrak sie anscheinend so sehr, dass sie für immer verschwand. Doch kurz davor fragte sie mich noch nach meinem Namen und verabschiedete sich von mir. Und mit den Worten ‚Vergiss mich nie’ gab sie mir diesen Talisman.“ Sean zog die Kette unter dem Hemd hervor. Mit gerunzelter Stirn betrachtete Chris seinen Kumpel, als hätte dieser ein Rad ab. Doch sofort setzte er wieder seine Honigkuchenpferd-Maske auf und meinte: „Das ist eine ganz schöne Zuckerschnecke, Kumpel. Klar, dass du dich in sie verliebt hattest.“
„Auf dem Bild ist sie nicht einmal annähernd so schön, wie in echt“, murmelte Sean trostlos und drehte sich um zur Tür.
„Komm, Kumpel. Ich könnte jetzt wirklich gut einen Schnaps gebrauchen. Oder auch zwanzig.“ Strahlend folgte ihm Chris und sie gingen zusammen zu seinem schwarzen Mercedes.

Jacob Smith war ein durchtrainierter Spitzenanwalt. Er lebte in einer heruntergekommenen Wohnung, in einer schrecklichen Gegend und arbeitete bei der reichsten und beliebtesten Anwaltkanzlei, ganz Brooklyns. Sein vieles Geld sparte er fleißig, um irgendwann sich eine riesen große Jacht zu kaufen oder in einer Villa in Florida mit seiner zukünftigen Frau zu leben. Oder auch beides. Doch dafür brauchte er erst einmal eine Frau. Was eigentlich kein Problem sein sollte. Er hatte den Körper von einem spitzen Sportler, hatte braune kurze Haare und grüne Augen. Er war charmant, witzig und sympathisch. Und die Frauen standen bei ihm auch Schlange. Doch er fand einfach nicht die Richtige.
Die Hände in die Hosentaschen geschoben wartete er auf seine Kumpel vor dem Nachtklub. Mit dem Blick suchte er die Straßen ab und endlich erblickte er zwei von ihnen. Toby und Charlie. Tobias Colnis war Chirurg und Vater einer vierköpfigen Familie. Seine beiden Töchter Lilly und Michelle waren bildhübsch, wie ihre Mutter. Sie alle drei hatten dunkelbraune, glatte Haare und blaugraue Augen. Michelle sah wirklich aus, wie eine verjüngte Version Penelopes, doch Lilly unterschied sich. Sie hatte kleine Sommersprossen auf ihren Pausbäckchen und war nicht ganz so schmal gebaut wie ihre ältere Schwester. Jedoch machte genau dieser Babyspeck sie so unglaublich süß.
Jake hatte eine Vorliebe für Lilly. Sie war einfach mehr wie ihr Vater. Im Gegensatz zu Michelle konnte sie sich durchsetzen und es auch einmal wegstecken, wenn sie nicht ihren Willen bekam. Während Michelle die ganze Zeit ununterbrochen an ihrer Mutter hing, konnte Lilly sich schon selbst versorgen, obwohl sie drei Jahre jünger war, als ihre Schwester. Und sie wurde von Penelope auch nicht so verhätschelt, weswegen Jake sich immer ganz intensiv mit ihr beschäftigte, bei seinen Besuchen. Und die Kleine mochte ihn genauso wie er sie.
Neben Toby schlenderte Charlie über die Straße. Er besaß einen Bierbauch, jetzt schon eine dunkle Halbglatze und graue, ausdruckslose Augen. Seine Freundin hatte sich letzten Monat von ihm getrennt, er war gefeuert worden, und seitdem bekam man ihn nur sehr selten vom Alkohol weg. Er war mit seinen fünfunddreißig Jahren der Älteste von ihnen, ihm folgte Toby mit dreiunddreißig Jahren, dann kam Chris mit stolzen einunddreißig. Mit seinen neunundzwanzig war Jake der Zweitjüngste und der Kleine war Sean mit seinen fünfundzwanzig. Ja, bei ihnen war wirklich alles dabei.
Nur ein paar Meter hinter Toby und Charlie, stiegen Chris und Sean aus einem schwarzen Mercedes aus.
Als alle bei Jake angekommen waren, betraten sie zusammen den Nachtklub. Schwüle begrüßte sie, begleitet von hämmerndem Rap und dem beißenden Geruch von Alkohol. Charlie schritt zielstrebig zur Bar und hatte sich schon einen Grey Goose bestellt, ehe die anderen eintrafen. Jeder von ihnen kippte einen Drink nach dem anderen.
Nach dem sechsten Drink war Jakes Sicht trüb und er schwankte, als er zur Toilette ging. Auf dem Weg dahin, stieß er gegen eine Blondine. Als er sich bei ihr entschuldigen wollte, verharrte er. Ihre schönen grünblauen Augen blickten in die seinen. Und als sie eine Begrüßung säuselte, wurde ihm bewusst, dass sie ebenfalls betrunken war. Perfekt. Er lehnte sich zu ihr hinunter, mit gutem Blick in ihren Ausschnitt.
„Bist du alleine hier, meine Hübsche?“ Sie nickte.
„Gut. Hast du schon etwas vor?“ Sie schüttelte den Kopf, fasziniert von seinem tiefen Schnurren und seinen unter dem Shirt abzeichnenden Muskeln.
„Willst du es auf der Toilette oder in einer Seitenstraße?“
„Komm mit zu mir in die Wohnung. Da ist es schöner.“ Das ließ er sich nicht zwei Mal sagen. Beim Verlassen des Klubs sagte er noch seinen Kumpels Bescheid und schon war er weg.

Christopher Stevens sah noch Jake hinterher, wie er mit der Blonden verschwand, dann wandte er sich wieder Sean zu.
„Hey, Kumpel. Ich habe noch mal über diese Namenlose nachgedacht. Und ich glaube, ich habe sie schon einmal hier gesehen“, säuselte er. Plötzlich ganz nüchtern blickte Sean auf. Hoffnung in den blauen Augen.
„Wirklich? Wo?“ Seine Stimme war nicht mehr, als ein Lufthauch.
„Nicht weit von hier in einem anderen Klub singt sie. Aber das ist so eine Schnöselbude. Nur reiche Leute. Ich war da einmal mit meinem Alten.“ Mit glänzenden Augen sah Sean zur offenen Tür des Klubs. Als entschiede er, ob er hier bleiben oder sofort rüber laufen sollte.
„Hey, Alter. Wenn du sie wirklich wieder sehen willst, dann können wir uns morgen Nacht ja mal in Schale werfen und denen einen Besuch abstatten.“ Tränen schimmerten in Seans Augen und Chris war echt Schleierhaft, warum ihn das so rührte. Normalerweise war er nicht so sentimental. Schnell blinzelte sein Kumpel sie weg und schenkte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Cocktail.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Chris Charlie, welcher eine hübsche Brünette, mit tollem Hüftschwung, von hinten angrapschte. Dieser gefiel es anscheinend, doch als sie sich umdrehte, um ihren Liebhaber zu begutachten, bekam sie einen Schreck und wand sich aus seiner Umarmung. Charlie sah ihr, benebelt vom Wodka, traurig hinterher, nur um gleich die Nächste anzumachen. So lief das die ganze Zeit, bis er eine Dunkelblonde erblickte, welche sich anscheinend so viele Drogen rein gezogen haben musste, dass sie sich ihm um den Hals warf. Nach einem kleinen Tänzchen, zog sie ihn zur Männertoilette und Chris konnte sich gut vorstellen, was sie darin machten.
Mit einem Seufzen hob er sein halbleeres Glas, legte den Kopf in den Nacken und trank in gierigen Schlucken. Ach, die guten, alten Zeiten. Früher war er auch, sturzbetrunken, auf der Tanzfläche umhergewandert, nur um eine zu finden, die er in die Kiste bekam. Doch nun war es vorbei mit den One-night-stands, denn zu Hause wartete eine schwangere Frau auf ihn. Doch auch wenn er voll gelaufen wäre, würde er seine Elli nicht betrügen. Sie war einfach so wunderschön. Keine andere Frau war aus seiner Sicht auch nur annähernd so schön, wie sie. Nicht einmal diese Namenlose.
Sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie war wirklich eine Schönheit. Doch als er Sean sagte, sie schon einmal gesehen zu haben, da hatte er gelogen. Gesehen hatte er sie noch nie zuvor. Doch er hatte von ihr gehört. Sie solle die schönste Frau der Welt sein, und nur Männer, die ihre große Liebe schon gefunden hatten, waren vor ihr sicher. Und selbst die verzehrten sich nach ihr. Ob diese Gerüchte stimmten, bezweifelte er jedoch stark. Doch ihre Beschreibung passte perfekt zu Seans Bild. Wenn das die Namenlose war, dann würde sein Kumpel morgen viel Glück haben. Denn das sie in dieser Schnöselbude sang, dass wusste Chris hundertprozentig. Nur wegen ihr, war sein Alter immer in diesen Schuppen gegangen und hatte seine Frau mit ihren fünf Söhnen alleine zu Hause gelassen. Chris’ Vater hatte immer Geschichten von ihr erzählt. Sie hätte die Stimme eines Engels. Morgen würde sie das beweisen können.
Mit einem Seitenblick auf Sean, stellte er fest, dass dieser überglücklich war, seine Namenlose morgen Nacht vielleicht wieder zusehen.
Dann sah Chris zu Toby, welcher noch nicht einmal sein erstes Glas Grey Goose angefangen hatte zu leeren.
„Hey, komm schon, Toby. Ein Glas wird dir nicht schaden. Du wirst Penelope schon nicht mit irgendeiner hier betrügen. Wir passen auf dich auf. Trink doch einfach.“ Noch nicht ganz von Chris’ Argument überzeugt, nippt er einmal an seinem Getränk, nur um kurz darauf es gierig geleert zu haben. Er seufzte erleichtert auf und betrachtete das leere Glas.
„Wie lange habe ich das schon nicht mehr getrunken?“, fragte er skeptisch.
„Seit vier Jahren“, antworteten Chris und Sean im Chor. Die beiden Kumpel blickten sich an, und mussten augenblicklich lachen. Was Chris einen Schauder über den Rücken jagte. So lange. So lange hatten sie beiden nicht mehr herzhaft gelacht. Endlich hatte er es geschafft, seinen Freund einmal wirklich glücklich zu machen. Und das nur wegen dieser einen Frau? Was hatte sie denn an sich, dass Sean so verrückt nach ihr war?
Chris musterte seinen Freund einmal mehr eindringlich. Er hatte schwarze Locken, die ihm in den Nacken vielen. Und kristallklare blaue Augen. Sean hatte einen sehr gut gebauten Körper. An seinem Bauch, der Brust, den Armen und den Oberschenkeln zeichneten sich beeindruckende Muskeln ab. Er konnte charmant und witzig sein. Und er war besonders hart im Nehmen. Er trainierte in einem der bekanntesten Boxstudios und kämpfte abends in einem Fight-Klub, hier in der Nähe. Er hätte keine Probleme, sich und seine Frau nachts auf den Straßen von New York zu beschützen. Seine Instinkte waren wie die von einem Raubtier auf der Jagd. Wenn ihm etwas gehörte, dann konnte ihm niemand das lebendig wieder wegnehmen.
Also, warum nutzte er seine Vorzüge nicht einfach und schnappte sich eine von hier.
Wie lange, hatte er jetzt schon nachts im Bett gelegen, alleine?
Wenn Chris an ihre gemeinsame Zeit auf dem College dachte, dann bemerkte er, dass Sean nicht ein einziges Mal eine hatte.
War das alles etwa wirklich nur für diese Namenlose?
„Hey, Chrissy. Was starrst du mich so an?“ Seans Stimme hallte in Chris’ Ohren wieder. Jetzt bemerkte auch er, dass er zu lachen aufgehört hatte und seine Alles-ist-so-wunderbar-Maske abgenommen hatte und seine wahren Gefühle zeigte. Sofort setzte er ein strahlendes Lächeln auf. Welches ihm hochgradig misslang. Mit einem Seitenblick auf sein leeres Glas verachtete er Alkohol und die Macht, die er über ihn hatte.
„Weißt du, Sean. Ich habe etwas nachgedacht“, lallte er. „Diese Namenlose. Die muss ja ein echter Kracher sein. Du hast, seit ich dich kenne, und das ist schon sehr lange, nie auch nur irgendein Mädchen berührt.“ Sean war bei ihrer Nennung zusammengezuckt. Jetzt jedoch spiegelte sich einzig und allein Unwissenheit in seinem Blick.
„Ich habe doch schon so oft Mädchen berührt.“ Eine Augenbraue hochgezogen, betrachtete er seinen Freund mit unverhohlener Skepsis.
„Ich glaub, wir bringen dich besser nach -“
„Ich meine doch nicht berühren im Sinne von Berührung. Ich rede davon, dass du dir nicht mal einen kleinen Spaß gönnst. Die Einzige, von der ich weiß, ist Jane Gilbert. Aber danach. Nichts! Wie hältst du das aus?“
„Ich…ich steh nun mal nicht so auf Frauen und …“
„… und du machst das nur wegen der Namenlosen? Ey, Alter, die will doch nichts von so einem kleinen Bubi wie dir. Du hast nur einen Job als kleinen Highschoollehrer, nichts Tolles. Du hättest sie gar nicht verdient. Und das weiß sie!“
Scheiße, jetzt hatte er Mist gebaut.
Sean war wie erstarrt, völlig regungslos. Doch seine Miene deutete von Zorn.
Beschwichtigend legte Chris die Hand auf die Schulter seines Freundes.
„Hey, Sean, Kumpel. So war das -“
„Doch, genau so hast du es gemeint. Ich habe es in deinen Augen gesehen. Und jetzt sehe ich es auch. Aber, hey, vielleicht hast du ja recht. Vielleicht sollte ich mir mal einen One-night-stand genehmigen.“ Verbissen stand Sean auf und übersah die gefüllte Tanzfläche. Bis sein Blick hängen blieb. An einer zierlichen Schwarzhaarigen mit grünen Augen.

Sean marschierte quer über die Fläche. Der beißende Geruch von Alkohol, Schweiß und Koks drang ihm in die Nase und ließ sich nicht mehr abschütteln. Er steuerte auf eine wild tanzende junge Frau zu und verglich sie mit der Namenlosen. Schwarze, glatte Haare, keine feuerroten Locken. Hell grüne Augen, keine rauchigen Murmeln. Und ihre Stimme ließ in aufhorchen. Sie war kehlig und kleinlaut. Perfekt.
Sean schlich sich von hinten an sie ran und umarmte sie. Ihre beiden Freundinnen zogen scharf die Luft ein, nur um wenig später einen leisen Pfiff auszustoßen. Ihre Freundin legte den Kopf gegen seine Schulter und schloss mit einem kehligen Stöhnen die Augen.
„Wie heißt du?“ Er hatte den Kopf gesenkt und atmete ihr nun vorfreudig ins Ohr. Sie kicherte verzückt auf.
„Amber.“ Sean nahm ihren Geruch auf. Dunkel und aromatisch. Nicht frisch. Sie gefiel ihm immer besser.
Spielerisch strich er mit der Hand über ihr hauchdünnes, schwarzes Top. Kam immer ihren Brüsten ganz nah, berührte sie jedoch nie. Dann beugte er sich hinunter und küsste ihren Hals. Ihr entrang sich abermals ein Stöhnen und Sean nahm nun auch die andere Hand zu Hilfe und streichelte ihr Dekolleté. Sie bog ihren Rücken durch. Er flüsterte an ihren Hals: „Willst du nicht einmal schauen, wie ich aus sehe. Vielleicht gefalle ich dir ja gar nicht.“ Vorsichtig drehte er Amber und sie öffnete träge die Augen. Sie musterte ihn eingehend mit großen Augen und kam ihm dann ganz nah.
„Warum hättest du mir nicht gefallen sollen? Du bist vollkommen.“ Sean nahm eine ihrer Haarsträhnen und wickelte sie sich um den Finger.
„Komm mit.“ Augenblicklich folgte sie seiner Aufforderung. Sie zwinkerte ihren beiden Freundinnen einmal kurz zu, welche anfingen zu kichern, und ließ sich dann von ihm hinaus führen.
Als Sean bei Toby und Chris vorbei kam, spiegelte sich in seinen Augen Verachten gegenüber seinem besten Freund. Dieser fasste ihn jedoch am Arm und zog ihn zurück.
„Sean, hey, mach jetzt nichts Falsches, weil du’s mir heimzahlen willst. Lass es lieber.“ Doch Sean schüttelte ihn nur ab und ging hinaus in die kalte Nachtluft.
Amber gesellte sich an seine Seite und legte ihre zierliche Hand auf seine Hüfte.
„Wie heißt denn eigentlich du?“ Sean verbarg seinen Gesichtsausdruck, indem er den Kopf leicht sank und seine Locken ihm in die Stirn fielen.
„Das ist nicht von Belang.“ Sie machte ein Geräusch, welches von ihrer Endtäuschung verriet, fragte aber nicht weiter. Was ihr noch einen Pluspunkt verschaffte. Auch wenn Sean die Namenlose nie wirklich richtig kennen gelernt hatte, geschweige denn sie wahrlich zu verstehen, vermutete er dennoch, dass sie niemals Ruhe geben würde, bevor sie nicht die Informationen bekommen hatte, die sie wollte. Obwohl, wenn sie ihn fragen würde, er könnte nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden, mit der Antwort zu zögern, oder sogar Nichts zu erwidern.
Er war wirklich voll und ganz in ihrem Bann gefangen. Niemals könnte er sich ihm entziehen.
Auch nicht auf diese Art hier. Das musste sofort beendet werden.
Mit einem schlechten Gewissen, drehte Sean sich zu Amber um und fasste sie an der Schulter, um sie zum stehen zu bringen. Entschuldigend sah er ihr in die hell grünen Augen und fuhr sich nervös durch die schwarzen Locken.
„Es tut mir leid, aber ich kann das hier nicht.“ Ein entsetzter Ausdruck legte sich auf ihr eckiges Gesicht. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, meinte er schnell: „Es liegt nicht an dir, es ist nur… Da gibt es eine, die hatte mich voll und ganz in ihren Bann gezogen, unabsichtlich. Doch auch nach ihrer Abweisung, bekomme ich sie nicht mehr aus dem Kopf, und es wäre nicht fair, dir gegenüber, ab jetzt so… “, er deutete auf ihre Hand auf seiner Hüfte, „… weiter zu machen.“ Ihre Miene veränderte sich. Gereizt. Doch dieses Gefühl konnte er ihr nicht verdenken und so nahm er, mit dem winzigen Funken Würde, den er noch nach dieser Aktion besaß, ihren harten Schlag gegen seine Wange entgegen. Mit gebrochenem Stolz und aufsteigenden Tränen in den Katzenaugen, machte sie kehrt und marschiert zurück zum Klub. Ihre hautenge Lederhose machte nicht ein einziges Geräusch, während sich ihre langen Beine fortbewegten.
Und augenblicklich wurde Sean bewusst, dass die Namenlose in seinen Träumen immer nur weiche, seidene Kleider getragen hatte, niemals solches robuste Leder. Und unwillkürlich stellte Sean sie sich in einer hautengen, Figur betonenden Lederhose und einem knappen, schwarzen Lederstoff, der nur notgedrungen ihre Brüste bedeckte vor. Sie wäre wirklich sexy in dieser Kleidung. Doch niemals würde sie auch nur in Erwägung ziehen, sich mit so wenig zu kleiden. Das war einfach nicht ihr Stil.
Träge folgte Sean Amber in den Klub zurück und ließ sich auf dem Barhocker neben Chris nieder.
„Einen Grey Goose, und zwar pronto.“ Der Kellner zog spöttisch eine dunkle Augenbraue hoch, wandte sich dann aber der Bestellung zu. Chris richtete seine volle Aufmerksamkeit auf Sean und fragte nur trocken: „Zu Verstand gekommen? Ich hätte dich eigentlich schon viel früher erwartet.“ Jedoch sah Sean am Blick seines Freundes, dass dieser ihn schon ganz aufgegeben hatte. Dankend klopfte er ihm auf die Schulter.
„Sie war nicht schön genug“, lächelte er und sie beide lachten kurz kehlig auf. Dann beugte Sean sich um Chris herum und betrachtete fragend Toby.
„Sein sechster“, antwortete Chris auf die unausgesprochene Frage. Skeptisch zog Sean eine Grimasse.
„Vielleicht sollten wir… “
„Denk nicht einmal dran, Kleiner. Dein Kumpel hat schon die gleiche Masche abgezogen.“ Sean warf Chris einen warnenden Blick zu. Dann widmete er sich seinem Whiskey und trank ihn, als wäre er Wasser und er am verdursten. Er machte dem Barkeeper klar, dass dieser Nachschub besorgen sollte und leerte auch dieses Getränk in einem Zug. Nach noch drei weiteren, war sein Blick vernebelt, sein Gehör vernahm nur noch seine eigene lallende Stimme und sein Gehirn konnte nicht registrieren, warum er überhaupt in diesem Nachtklub war.
Als er seine beiden Kumpel erblickte, welche ebenso zugedröhnt wie er selbst waren, fasste er den Entschluss, sofort Schluss zu machen. Denn wenn er aussah, wie die beiden anderen, dann hatte seine Hollywood-Schönheit heute Abend frei genommen. Sie waren das Schreckens-Trio Nummer eins. Sie würden alle anderen Kandidaten aus dem Weg räumen.
Volle Kanne voraus!
„Hey, Leute. Ich glaub, wir sind bis zum Rand voll.“ Chris und er lachten gleichzeitig ohne Grund auf und nahmen ihre Mäntel. Doch Toby rührte sich nicht vom Fleck.
„Hey, Toby, Mann. Irgendwann muss auch mal Schluss sein.“ Chris hörte sich echt verzweifelt an. Und Sean konnte ihn verstehen. Toby war wirklich sehr anfällig, wenn es um Alkohol ging. Und so wie der aussah, war er wirklich richtig voll gelaufen. Zusammen versuchten die Freunde ihn von seinem Hocker zu zerren. Doch Toby holte nur mit einem aggressiven Gesichtsausdruck zum Boxhieb aus, und beförderte Chris auf den Boden, wo dieser sich nicht mehr bewegte.
Unerklärlicher Zorn ließ Seans Körper in lodernden Flammen stehen. Wie ein Bulle rannte er auf seinen betrunkenen Freund zu und verpasste dem einen Boxhieb gegen den harten Kiefer. Seans Knöchel knackten, doch das stechende Ziehen, welches die flammenden Schmerzen seinen Arm hinauf leitete, kümmerte ihn nicht. Er wich einem unsicheren Tritt seines Gegners aus und kauerte sich tief vor ihn. Durch den eigenen Schwung wackelte Toby gefährlich auf einem Bein, und Sean nutzte diesen unkonzentrierten Moment und beförderte sein Gegenüber auf die Theke. Die Kellnerinnen und Barkeeper flüchteten außer Reichweite und gesellten sich zu der gaffenden Menge, welche einen Halbkreis um die Auseinandersetzung gebildet hatte.
Als Toby sich auf wackeligen Armen aufstützen wollte und von der Bar rutschte, setzte Sean sich rittlings auf seinen Bauch und hielt die nach ihm schlagenden Fäuste weg. Er verrenkte sich halb den rechten Arm und stieß mit seinem spitzen Ellebogen gegen den schon anschwellenden Kiefer seines Kumpels. Dieser stöhnte vor Schmerzen auf und ließ die schweren Lider sinken.
Kraftlos richtete Sean sich auf und sah zu Chris hinab. Dieser hatte sich schon halb wieder aufgestützt und blickte auf seinen ohnmächtigen Kumpel. Hilfsbereit streckte Sean ihm seine schwitzige, jedoch völlig ruhige Hand hin und zog ihn hoch, nachdem dieser sie dankbar angenommen hatte. Chris’ linkes Auge schwellte schon an und schützend legte er eine Hand darüber. Sofort bot ihm eine der Kellnerinnen Eis und Chris lächelte sie an, während er sein Augenlid kühlte.
Sean blickte trüb den bewusstlosen Toby an und hockte sich dann neben ihn. Professionell tastete er den anschwellenden Kiefer und die gesamte rechte Gesichtshälfte von dem auf dem Boden liegenden Mann ab. Es waren echt harte Schläge gewesen, dass musste Sean gestehen. Solche Kraft wendete er eigentlich nur in den Kämpfen im Fightklub an. Schuldbewusst legte er seine starken Hände auf das Gesicht seines Freundes und betrachtet ihn. Toby hatte Augenringe unter den geschlossenen Lidern, seine Wangen waren leicht eingefallen und so ruhig wirkte er beinahe friedlich.
Vorsichtig schob Sean seine kräftigen, breiten Arme unter den schlaffen Körper und hob ihn mühsam hoch. Seine Muskeln zeichneten sich hart unter der goldbraunen Haut ab. Einige Frauen im Klub ließen ein seliges Seufzen erklingen und Sean wurde wieder bewusst, was für eine Ausstrahlung er auf das andere Geschlecht hatte. Er selbst konnte sie nicht im Mindesten verstehen. Mit einem viel sagenden Blick auf den nun aufgerichteten Chris, verließen sie wortlos und mit gesengtem Blick den Klub, nachdem Chris einen Hunderter auf den Tresen abgelegt hatte.
Seite an Seite traten sie in die kalte Nacht hinaus und stapften über die Straße. Seans Atem hinterließ Spuren in der Luft und seine Füße tiefe Abdrücke im Knöchel hohen Schnee. Sie ließen Chris’ Wagen, wo er war, und machten sich zur nächstgelegenen Wohnung. Als sie vor dem großen Hochhaus zum stehen kamen, blickte Chris bittend zu seinem Freund. Dieser winkte nur abweisend mit der Hand, oder versuchte es zumindest unter der schweren Last, die er trug, und forderte seinen Kumpel auf, die Haustürschlüssel aus seiner Hosentasche zu holen. Nachdem sie sich in die eisige Wohnung geschleppt hatten, legte Sean Toby auf seine schwarzen Ledercouch und deckte in mit einer gleichfarbigen Decke zu. Danach richtete er sich erleichtert auf und deutete auf die Heizung. Kommentarlos schlenderte Chris hinüber und nur wenige Sekunden später vernahm Sean das rauschende Geräusch des fließenden Stroms. Ein wohliges Gefühl erwärmte sein Herz. Zu Hause. Wie wunderbar. Nach einem so anstrengenden Tag, hatte er keinen sehnlichsten Wunsch, sich einfach ins Bett fallen zu lassen, und dort auch für mindestens eine Woche zu bleiben. Doch erst musste er noch etwas erledigen. Er legte eine Hand auf die vom grellen Licht brennenden Augen und erforschte den Blick seines Freundes. Chris sah sich schüchtern um. Er wusste genauso gut, wie Sean, dass es sonst keine Schlafplätze in dieser spärlich bestückten Wohnung gab, und es machte ihn nervös. Doch sie beide wussten auch, dass Elli ihn niemals betrunken ins Haus lassen würde. Das war eine der Nachteile an ihr. Sie verabscheute Drogen, Zigaretten, wie auch Alkohol. Das Rauchen hatte Chris sich ihretwegen schon abgewöhnt, doch von einer Sauftour mit seinen Kumpels, hatte er gesagt, würde selbst sie ihn nicht abbringen. Kleinlaut räusperte Sean sich und Chris und er sahen sich beschämt in die Augen.
„Also, ähm, ich habe keine Schlafmöglichkeit mehr. Aber wenn es dir nicht zu peinlich wäre, dann könnten wir uns auch mein Bett teilen. Es ist groß genug für uns beide.“ Die Pein erweckte eine schreckliche Stille. Und erst, nachdem Chris wider Willen in Seans Schlafzimmer wanderte, wurde sie aufgehoben. Er lächelte seinen Freund träge an. Und Sean wusste, dass Chris sich genauso elend fühlte, wie er. Und doch eine entspannende Verbundenheit durch die Luft schwebte. Sie ließen sich voll bekleidet ins Bett fallen und streiften sich synchron die Schuhe von den Füßen. Mit einer entspannten Miene, aber einem beschämenden Gefühl, schlossen sie die müden Augen. Sean versuchte angestrengt, einzuschlafen und lauschte dem immer ruhiger werdenden Atmen seines Freundes. Und irgendwann wurde er dann auch in das paradiesische Reich der Träume eingelassen.




Trügerische Sehnsucht




Jillien hielt sich krampfhaft an ihrem Bettgestell fest. Heute nicht. Heute Nacht nicht. Sie verlagerte ihr Gewicht so, dass ihre angespannten Arme in einem bequemen Winkel gestreckt waren. Auch wenn das in dieser Lage völlig gleichgültig war. Ein innerer Zwang drängte sie, sich vom großen Bett zu erheben und in die neue Novembernacht zuflüchten. Doch ihr eiserner Wille hielt sie fest, hielt sie in ihrer Wohnung, in ihrem Bett. Nicht noch einmal würde sie sich der Begierde nach ihm unterwerfen. Nicht so wie gestern. Und vorgestern. Und die ganzen anderen Nächte davor. Heute würde sie siegen. Sie musste. Noch einmal vor diesem alten Gebäude zu stehen, würde ihr Herz in noch mehr kleinere Einzelteile zersplittern lassen. Und das schaffte sie nicht mehr. Brachte sie nicht mehr über sich. Über ihr einsames und sehnsüchtiges Herz. Mit einem Schlucken erneuerte sie ihren schweißnassen Griff um das robuste Holz. Hitze entstieg ihrem geschändeten Körper und Tränen brannten in ihren Augen. Ihre roten Haare klebten an ihrer Kopfhaut und den Schultern, so verschwitzt war sie. Ihre Sehnen zeichneten sich haarscharf an ihren dürren Handgelenken ab.
Wann hatte sie das letzte Mal gemordet? Ein anderer Begriff viel ihr für dass abscheuliche erneuern der Kräfte nicht ein.
Mit einem trostlosen Seufzen blickte sie an sich hinab. Ihr vorher so straffer und schöner Bauch war eingefallen, ihre zuvor schlanken und wunderschönen langen Beine, ein Knochengestellen mit einer dünnen Schicht, nun blasser, Haut. Und wenn sie sich an ihr Abbild vorige Nacht im Spiegel erinnerte, dann wusste sie, dass ihr bezauberndes, makelloses Gesicht entstellt war. Ihre hohlen Wangen und die hohen Wangenknochen betonten ihre in die Höhlen eingefallenen Augen. Und ihre dunkle Iris war nun nicht mehr, als ein grauer Fleck, der sich nur schwach vom weißen abzeichnete.
Sie wollte schlafen. Fühlte sich das erste Mal in ihrem gesamten, langen Leben müde. Und sie wollte träumen. Hatte es zuvor noch nie ausprobiert. Doch nun wollte sie die Süße der grenzenlosen Fantasie selber mal schmecken, und nicht anderen diesen Wohlgefallen bieten. Sie zitterte am ganzen Körper, während sie vorsichtig die faltigen Lider schloss und versuchte, sich zu entspannen. Geängstigt ließ sie ganz langsam das Bettgestell los und sank in die weichen Kissen zurück. Die laute, lodernde Stimme in ihrem Inneren schrie, sie solle ihn endlich finden. Die Bestie machte sich mit durchgängigem Bauchknurren und stechenden Kopfschmerzen bekannt. Doch Jillien übertönte sie beide mit ihren Wünschen. Sie murmelte sie vor sich hin, alle Träume, die sie als Kind und auch als junge Frau je gehabt hatte. Sie zählte sie reihengemäß auf.

Sie wollte schon immer ihr eigenes, kleines Pony haben und es Tiffy nennen.
Sie wollte sich schon immer mal mit einem Papagei unterhalten.
Sie wollte wie eine Prinzessin leben.
Sie wollte Schokoladeneis mit Käse und Majonaise essen.
Sie wollte ihren ersten Kuss haben, ohne dass dabei jemand sein Leben gab.
Sie wollte eine Freundin, die sie verstand.
Sie wollte eine Traumhochzeit mit der Liebe ihres Lebens.
Sie wollte wie ein normaler Mensch behandelt werden, nicht wie eine Gottheit.
Und sie wollte ihn.

Bei dem letzten Wunsch stockte sie. Ja, das war ihr sehnlichster. Er. Er alleine. Nur er könnte sie wieder glücklich machen. Und doch konnte sie nie dieses Glück finden Es war zu riskant. Sie würde ihn vernichten. Diese Erkenntnis wurde ihr schmerzlich bewusst, und sie konnte nichts gegen die aufsteigenden Tränen machen.
In die Stille hinein lauschte sie ihren leisen Schluchzern und ihrer heiseren Stimme, die immer und immer wieder seinen Namen flüsterte. Ihr Körper wurde schlaffer. Immer matter. Gab seinen Widerstand auf. Und sie fiel. Fiel endlos tief ins Nichts. Und nur der Gedanke an ihn stoppte sie vor einem harten Aufschlag und ließ sie vorsichtig zu Boden schweben. Er war bei ihr.
Sean.



Jillien öffnete zögerlich ihre Lider. Sie lag auf dem Rücken. Etwas Starkes drückte auf ihre Wirbelsäule und gegen die Kniekehlen. Arme. Seine Arme. Erschöpft schloss sie wieder die Augen. Schnupperte in der Luft und fing einen atemberaubenden Geruch auf. Waldboden. Frischer Tau. Regen. Wind. Eine Kombination aus all diesen vier Düften legte sich sacht in ihre Nase und verweilte dort. Ein genießerisches Seufzen erklang aus ihrer Kehle. Und im Gegensatz zu vorhin, war ihr Mund nicht mehr ausgetrocknet und ihre Stimmbänder rostig. Sie war wieder sie. Doch noch nicht überzeugt legte sie eine zierliche Hand auf ihren straffen Bauch, fuhr auf und ab. Lächelte selig. Dann fasste sie sich mit geschlossenen Lidern ins Gesicht und betastete ihre weiche Haut über sinnlichen Wangen. Sanft strichelte sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand über ein Augelid und dann über ihre gerade Nase abwärts zu ihrem vollkommenen Mund und den verführerischen, fein geschwungenen Lippen. Mit beiden Händen befasste Jillien fasziniert ihre vollen, voluminösen Feuerlocken und konnte nicht genug von dem seidigen, weichem Gefühl bekommen, die Haarsträhnen durch die Finger gleiten zu lassen.
Jillien wollte ihren wieder hergestellten Körper betrachten, und so öffnete sie ihre Augen und blickte an sich herab. Streckte zaghaft ihre langen, wunderschönen Beine. Und spürte wieder die schützenden Arme unter sich. Beschämt sah sie an den Muskelsträngen unter der goldigen Haut hinauf. Folgte einer ausgeprägten Sehne, welche von den breiten Schultern zum kräftigen Hals weiter verlief. Und dann betrachtete sie einen kantigen Kiefer, einen vollen, sinnlichen Mund, eine gerade Nase. Und wunderschöne, faszinierende, sinnliche, kristallklare blaue Augen.
„Sean...“ Sein Name allein jagte ihr schon eine Gänsehaut über den gesamten Körper. Ließ es unter ihrer Haut kribbeln. Und schenkte ihr ein seliges Lächeln auf die Lippen.
Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. Doch sein Blick teilte dieses Gefühl nicht. In ihnen spiegelte sich Begehren, Sehnsucht, Trauer und… Liebe. Sie verzehrte sich nach seinen Lippen, seiner weichen Haut und seinen liebkosenden Händen.
Sie hob mühsam eine Hand und legte sie zärtlich auf seine Wange. Er schmiegte sich hinein und schloss selig die Augen. Genießerisch seufzte er und sie streichelte ihm übers Gesicht. Zeichnete seine leicht geschwungenen Augenbrauen nach, fuhr über die weichen Lider und die wunderschöne Nase, den hohen Wangenknochen entlang, wieder zurück zu seiner Wange. Dann streichelte sie über sein scharfes Kinn und legte ihren Daumen auf seine Unterlippe. Urplötzlich spannte er sich an. Er strahlte eine ungeheure Hitze aus du sog tief die von ihrem frischen Duft erfüllte Luft in seine gierigen Lungen. Er öffnete die strahlenden Augen und in ihnen stand unendlich viel Liebe. Er liebte sie.
Jillien schmiegte ihre Wange an seine harte Brust und Sean wiegte sie, wie ein kleines, zerbrechliches Baby. Und sie fühlte sich geborgen, und er war ihr Behüter.
Sean murmelte unverständliche Worte und as sie zu ihm aufsah, blickte geradewegs auf ihr zärtliches Gesicht. Er streichelte ihr sanft durch das seidige, feuerrote Haar. Sie öffnete zaghaft ihre Lippen und aus ihrem Mund erklangen gehauchte Worte.
„Was ist los, Sean?“ Sein Blick trübte sich und er sah ihr fest in die Augen.
„Darf ich wissen, wie du heißt?“ Seine Stimme war zögerlich, als rechne er mit einer Widersetzung. Seine Augen weiteten sich deshalb erschrocken, als die Antwort zärtlich erklang.
„Jillien.“ Sean stieß einen Luftstoß aus. Dem Atem beraubt von ihrem Vertrauen in ihn. Wieder und wieder wisperte er ihren klangvollen Namen in die liebkosenden Winde, welche aufkamen und ihre Haut streichelten. Fasziniert musterte sie seine feinzügigen Gesichtskonturen. Studierte die Formen und Wölbungen seiner Lippen. Inspizierte seine Meeresbauen Augen mit einem hingerissenen Blick. Sie speicherte jede kleinste Vollkommenheit in ihrem gierigen Gedächtnis, prägte sich seinen scharkantigen Kiefer ein, merkte sich seinen vor Liebe nur so strahlenden Blick. Ihre Gier nach ihm war unersättlich.
Langsam beuge Sean sich zu ihr hinab. Erschrocken versteifte sich Jilliens Körper in seinen Armen. Doch anstatt sie zu küssen, hauchte er ihr nur ins Ohr. Sein Atem kitzelte sie. Seine Lippen so nah an ihrer Haut machten sie nervös. Doch dann flüsterte er ihr nur die wunderbarsten Worte ins Ohr, die es auf der Welt gab.
„Ich habe dich nie vergessen, Jillien. So wie du es wolltest… Ich habe immer auf dich gewartet… Ich konnte nur noch von dir Träumen… Ich liebte dich.“ Die Vergangenheitsform versetzte ihr einen Stich im Herzen. Doch er setzte wieder zum Sprechen an, unterbrache die aufgekommene Stille. Und ein wohliger Schauder überzog ihre Haut. „Und ich liebe dich noch immer, meine Jillien.“
Ein dicker, warmer Pelzmantel legte sich um ihr zuvor zerbrochenes und eisiges Herz. Erwärmte es mit Liebe. Sie lächelte selig in sich hinein und schloss zufrieden ihre Augen. Wie ein kleines Kind, kuschelte sie sich in seine Umarmung, und er hielt sie fest, wie etwas, dass bei dem kleinsten Missgeschick in tausend Stücke zerbrechen würde. Sie genoss seine schützenden Arme unter sich und den heißen Atem auf ihrem Hals.
Nach einer wundervollen Ewigkeit schlug sie erneut die Augen auf und blickte ihn an. Ein aromatischer Duft hing in der Luft und sie schnappte ihn sehnsüchtig auf. Eine Mischung aus ihnen beiden, und noch etwas… ihre Liebe. Sean hatte ihn auch bemerkt und strahlte sie überglücklich an. Nach endlosem Schweigen, regte sie sich, und erst da viel ihr wieder ein, dass er sie die ganze Zeit trug. Anscheinend hatte er ihre Frage in ihren Augen gelesen und antwortete leise: „Du bist keine Last, nicht im Geringsten. So leicht, wie eine Feder.“ Sein Lächeln überzeugte sie, und trotzdem wand sie sich vorsichtig aus seinem Griff und stand auf ihren eigenen Füßen. Enttäuschung spiegelte sich in seinem Blick und sie zog ihn wieder näher an sich heran, bis ihre Oberkörper sich berührten. Ihr Blick sprach Bände, und doch lag ihr nur ein Satz auf der Zunge. Zögerlich öffnete sie ihre Lippen und stieß warme Luft aus, ehe sie sich ans Herz fasste und ihre Gefühle aussprach. „Ich liebe dich auch, Sean. Habe es schon immer gemacht und werde es ach bis in die Ewigkeit tun.“ Gerührt lächelte er sie an und zog sie in seine Arme. Sie presste sich an seine harte, warme Brust, spürte den Baumwollstoff seines Hemdes an ihrer Wange und nahm seinen sinnlichen Duft in sich auf. Er roch köstlich. Ein genießerisches Seufzen ihrerseits war zu vernehmen.
Langsam löste Sean die Umarmung und blickte gierig auf sie hinab. Auf ihre Lippen. Welche sich zu einem dünnen Strich verzogen, als Jillien der Grund klar wurde. Nein, gab sie ihm mit einem vor Entschlossenheit festen Blick. Und wortlos erwiderten seine nachtblauen Augen, Warum? Darauf hatte sie keine Antwort. Sie war, auch wenn sie ihm mehr, als jedem anderen Menschen auf der Welt jemals vertraute, noch nicht bereit, ihm ihr Geheimnis anzuvertrauen. Jillien blickte beschämt weg, und ihre Wangen röteten sich.
„Warum nicht, Jillien?“ Sean strahlte eine ungeheure Hitze aus, und dennoch erreichte diese sie nicht. Jillien war eiskalt, als würde sie langsam von ihnen her gefrieren. Und es war eine so große Qual, dass sie sich wünschte, einfach in Seans Umarmung zu versinken, und nie wieder befreit zu werden. Doch einem Instinkt folgend ließ sie es.
„Ich… ich will darüber nicht sprechen.“ Sein Blick füllte sich mit Mitleid. Jedoch ließ sie es kalt, sie wollte es nicht. Ihre Fingerspitzen wurden taub und träge schaute sie au ihre bleichen Hände hinab. Sie hatten die Farbe einer Leiche. Und dieses unheimliche blaugrau beängstigte sie noch mehr, als die Kälte in ihrem Inneren.
Eine schwere Hand legte sich sacht auf ihre dünnen Schultern. Gegenüber Sean fühlte sie sich so zerbrechlich, wie sie sich noch nie gefühlt hatte.
„Warum nicht, Liebste?“ Seine Stimme war ein so leises Flüstern, wie der leichte Wind, der Jilliens nackten Arme streifte, seine Ton so weich, wie das gedämpfte Licht, das aus keiner genauen Quelle auf sie beide traf.
„Warum?“, wiederholte Sean dieses Mal deutlich energischer. Tränen sammelten sich in ihren Augen, und sofort alarmiert beugte er sich zu ihr hinunter und starrte ihr in die Augen. Wortlos schüttete sie den Kopf und drehte sich weg. Doch er fasste sie an den Schultern und drehte sie wieder zu sich um. Mit einer ehrlich gemeinten Entschuldigung im Blick, kam sein großes Gesicht ihrem immer näher. Sein heißer Atem streifte ihre bleiche Haut und hinterließ nicht einmal das schöne Gefühl von Wärme. Ihr Blick verschleierte sich. Ihre Beine gab unter ihrem gewicht nach und sie fiel. Seine kraftvollen Arme fingen sie auf und hoben sie hoch. Sein Gesicht blickte sorgenvoll auf sie hinab. Sie versuchte ein Lächeln. Es misslang. Ein unheimliches Gefühl beschlich sie. Ihr Traum würde nicht ewig anhalten. Bald würde es vorbei sein. Trost suchend, rückte sie näher an ihn heran. Er umschlang sie fester und drückte sie an seine Brust.
„Ich will nicht, dass wir so auseinander gehen. Tröste mich, spende mir Wärme… Bitte…“ Ihre verzweifelten Worte blieben in der Luft hängen. Mit einem versprechenden Nicken antwortete Sean ihr. Und nu, als hätte ihr gefrorener Körper sich geöffnet, floss Seans starke und wohlige Wärme in sie hinein. Und mit einem seligen Seufzer schloss sie die müden Augen. Lauschte seinem ruhigen Atem. Und ließ die annahende Schwärze über sie herfallen. Widersetzte sich ihr nicht. Nahm alles in sich auf. Bis sie nichts mehr füllte. Nicht Seans Körper. Nicht seine Starken Arme unter ihr. Nicht seinen sie streifenden Atem. Einfach nur noch von Schwärze umhüllt war und die stärkende Wärme Seans in sie hineinströmte.




Träge öffnete Jillien ihre schwachen Lider. So schön. So schön war der Traum gewesen. Sie hatte Seans Anwesenheit genossen. Sich wieder emotional gestärkt und fühlte sich wieder lebendig. Ihre Seele war schwerelos und frei. Kraftvoll. Wie auch ihr Körper. Ihr war warm. Und ihre vorher verblasste Haut hatte wieder ihren normalen Goldton zurück, merkte sie, als sie eine Hand hob. Aufgeregt sprang sie aus dem Bett und lief ins Badezimmer. Gespannt betrachtete sie ihr Spiegelbild über dem Mamorwaschbecken. Ihre Schönheit war zurückgekehrt. Ihre flammenden Locken fielen ihr sacht über die Schultern. Rauchgraue Augen starren ihr entgegen. Rosige Lippen öffneten sich erstaunt einen Spalt breit. Sean. Er hatte sie wahrhaftig gerettet.
Völlig verwirrt raufte sie sich die Haare. Wie hatte das nur möglich sein können? Sie hatte doch niemandes Leben genommen. Spürte nicht den früheren Energieschub, wenn sie ihre Kräfte neu gestärkt hatten. Spürte nicht das lodernde Feuer in ihrem Körper, das sich langsam an dem neuen Lebenssaft ergötzte. Sie war einfach nur wieder hergestellt. Und sie wusste nicht, wie das geschehen konnte. Wusste nicht, wie lange es andauern würde.
Plötzlich erschlich sich ihr ein grauenvoller Gedanke. Ging es Sean noch gut? Vielleicht hatte sie ihn, wie die anderen Lebensquellen vor ihm, unabsichtlich umgebracht.
Verzweifelt massierte Jillien ihre Schläfen und tigerte im dunklen Badezimmer auf und ab. Dann blickte sie wieder in den riesigen Spiegel über dem schwarzen Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ihre erhitzte Haut verspürte ein Prickeln, als die eisigen Wellen darüber schwemmten. Doch die Kälte kühlte ihr Gesicht nicht annähernd lange genug ab, als erhofft. Schnell entkleidete sie sich und sprang unter die Dusche. Sie umschloss den Hahn mit einer zittrigen Hand und schrie erschrocken auf, als sie der eiskalte Strahl an den Schultern, dem Kopf und dem Rücken traf. Dann aber entrang sich ihrer ein genießerisches Seufzen und sie sank in sich zusammen. Ihre große, verglaste Luxusdusche bot viel Platz. Jillien sank mit dem gebeugten Rücken gegen die verdunkelte Wand und hielt sich die dünnen Hände vor das Gesicht. Ihre gesalzten Tränen vermischten sich mit dem kühlen Chlorwasser.
Was mache ich nur, wenn es schon zu spät für ihn ist?

Montagmorgen. Sean ging zielstrebig mit der Schuldirektorin - Eileen - an seiner Seite zu seiner neuen Klasse.
„Mr Referty, ihre neue Klasse ist eine ruhige und gut arbeitende. Ich denke, mit ihnen sollten sie klarkommen. Sie werden jetzt gleich Englisch zwei Stunden unterrichten und dort in der sechsten Stunde Geschichte lehren. Und, Mr Referty“, Eileen zwinkerte ihm zu, „danach kommen sie zu mir ins Büro. Wir haben noch etwas zu besprechen.“ Sie betonte jedes Wort einzeln. Die elektrische Spannung hinterließ ein warmes Kribbeln auf seiner Haut. Augenblicklich erinnerte er sich wieder an seinen Traum letzte Nacht und ein Stromschlag durchfuhr seinen Körper. Er sackte kraftlos in sich zusammen. Die erschrockene Stimme Eileens wurde zu einem leisen Murmeln im Hintergrund. Angestrengt versuchte Sean sich daran zu erinnern, was er geträumt hatte. Was war das nur gewesen? Er drückte sich die rauen Hände gegen den hämmernden Schädel und verspürte immer mehr harte, kleine Stoße durch seinen Körper fahren.
Mit einem hilflosen Stöhnen nahm er Eileens schützende Hände an seinen Schultern wahr und starrte sie mit glasigen Augen an. Langsam verebbten die Schmerzen und auch ihre Stimme schallte in seinen gereizten Ohren wieder. „Mr Referty? Sean? Sean! Was ist los?“ Verwirrt schüttelte er den Kopf und stützte sich beim Aufstehen auf ihren starken schultern ab. Seine Kehle brannte beim Sprechen und auch seine Stimme war rau und kehlig. „Mir geht es gut. Alles in Ordnung.“ Mit einer beschwichtigenden Handbewegung löste er sich von der skeptischen Frau. Mit hochgezogenen Brauen blickte sie den Flur entlang, wo sich nun langsam die Schüler versammelten. „Wenn sie Glück haben, hat niemand außer uns beiden, den Vorfall mitbekommen. Ansonsten …“ Sie blieb ihm die Vollendung des Satzes schuldig, doch an ihrem harten Blick konnte er das Ende sich denken. Er stand auf wackeligen Beinen da und hielt sich hilflos an der Wand fest. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ließ auf ihr Bedenken deuten. Mit einem stöhnen beugte er sich zu ihr und flüsterte in ihr Ohr: „Sie haben mir ihr Wort gegeben. Lassen sie mir die Chance. Ich reiß mich auch zusammen.“ Stur zeigte sie mit der ausgestreckten Hand auf eine strahlend orange Tür. „Nach der sechsten Stunde, in meinem Büro.“ Sie drehte sich ohne ein weiteres Wort um und stolzierte den Flur hinunter. Alle machten ihr respektvoll Platz und folgten ihren Bewegungen mit den Blicken. Sie war wirklich eine Respekt abverlangende Frau. Und er fand sie auf unerklärliche Art und Weise anziehend. Ein amüsiertes Lächeln erschien auf seinem Gesicht und er ging wieder kraftvoll auf das Klassenzimmer zu.

Die Klasse war wirklich nett, ruhig und lernfähig. Und sie mochten ihn. Auch wenn es am Anfang eine kleine Komplikation gab. Ein draufgängerischer Junge namens Morris hatte den Zwischenfall auf dem Flur mitbekommen und große Töne gespuckt. Doch mit geschickten Aussagen und Gegenargumenten hatte er die Situation schneller unter Kontroller, als erwartet. Und so schlecht war es gar nicht, ein bisschen Abwechslung in den Alltag zu befördern.
Sean lief nun gerade zum Direktorenbüro und blieb stumm im Sekretariat stehen. Susanne – die schwärmerische Schreibtischfrau – streifte sich den weißen Stoffmantel über und lächelte ihm zu. Sie deutete mit einem viel sagenden Blick auf die Tür, die zu Eileen führte, und mit einem leisen „Tschüss“ verabschiedeten sie sich.
Tief atmete Sean ein und schritt auf die Tür zu. Er klopfte höfflich an und nach einem „Herein“ öffnete er sie. Er blieb zögerlich im Türrahmen stehen und musterte neugierig die Direktorin.
Eileen J. Norde war eine temperamentvolle Blondine. Ihre Haare waren modisch in einem Kurzhaarschnitt gestuft, sodass ihre vielen, dünnen Strähnen voluminös am Kopf anlagen. Zwischen dem naturellen Goldton waren auch helle, fast weiße und dunkelblonde Strähnchen gefärbt. Ihre goldbraunen, kleinen Augen hinter der randlosen Brille waren ihre eigene, ganz spezielle Waffe. Ihre Gesichtszüge waren fein und symmetrisch geschnitten. Die fein geschwungenen Augenbrauen, die kleine, spitze Nase und die hohen Wangenknochen verliehen ihr einen harten Ausdruck, doch das gefiel Sean. Ihre durchschnittlich schmalen Lippen waren immer hellrot geschminkt, und außer einem leichten hellbraun auf den Lidern trug sie kein Make-up. Und das brauchte sie auch nicht. Sie war hübsch. Man konnte sie sogar schon fast schön nennen. Sie war sportlich, stark, kein Stück zimperlich und konnte sich, wie man an der Schule sah, sehr gut durchsetzten. Ohne Schwierigkeiten leitete sie die begehrteste Highschool von Brooklyn. Die Schüler respektierten und mochten sie gleichzeitig auch noch sehr. Sie war wirklich eine Klasse für sich. Immer trug sie nur maßgeschneiderte Hosenanzüge in neutralen Farben, und hatte nie ein Makel vorzuweisen.
Nun saß sie hinter ihrem Schreibtisch und studierte Formulare und neue Anmeldungen. Sie hob nicht ihren Blick, als er geräuschvoll eintrat und die Tür wider hinter sich schloss. Mit der rechten Hand deutete sie auf den Sessel ihr gegenüber. Wortlos setzte Sean sich und blickte sie erwartungsvoll an. Nachdem sie auf drei weitere Formulare ihre saubere und feine Unterschrift signiert hatte, sah sie auf und schob mit der Hand die Brille wieder gerade.
„Nun, Mrs Mullier sagte, sie hätten ihre Arbeit als Englischlehrer sehr gut gemacht. Und auch Mr Ponier hatte an ihrem Geschichtsunterricht nichts auszusetzen.“ Mrs Mullier war eine der gefragtesten Englisch- und Sportlehrerinnen und hatte heute seine Lehrerqualitäten überprüft. Auch Mr Ponier war einer der besten Lehrer und lehrte Geschichte und Mathematik. Er hatte vorhin zwar mindestens jeden fünften Satz von Sean kommentiert, doch er war trotzdem nett und höfflich, wohingegen Mrs Mullier nur noch unter nervig gezählt werden konnte, da sie, wie viele andere Lehrerinnen auch, ihm durchgängig zulächelte und zu flirten begann. Selbst die Schüler hatten es bemerkt. Mit lang andauernden Lachanfällen hatten sie sich über die Frau lustig gemacht und ihm mitleidige Gesichter geschenkt. Und auch einige Schülerinnen seiner zehnten Klasse schmachteten ihn an, was ihm ein mulmiges Gefühl in der Magengegend brachte.
„So wie es scheint, sind sie tauglich und gut für unsere Schule.“ Eileen fuhr sich durch das strähnige Haar. Eine Geste, die ihm von vielen gestressten Frauen bekannt war. Sein Blick streifte über ihr Abbild. Heute trug sie eine dunkelbraune Stoffhose und eine strahlend weiße Seidenbluse, die gerade eben über ihre spitzen Ellenbogen reichte. Ein Knopf zu viel war oben offen gelassen worden, sodass der Blick frei auf ihren Ausschnitt war. Die Bluse war in die Hose gestopft worden und straffte sich an ihren runden, vielleicht ein wenig zu kleinen Brüsten. Sie trug keine Kette, Armband oder Ohrringe. Nie besaß sie Schmuck am Körper. Ihre goldenen Augen musterten ihn abschätzend. Neugierig beugte sie sich über den Tisch und stützte sich auf die Ellenbogen ab.
„Mr Referty, sind sie sich sicher, dass sie diesen Job annehmen wollen?“ Er nickte ohne zu zögern. Zu antworten hätte er gar nicht gewagt, denn er hätte nur stoßweise Luft hervorgebracht. Eileen bewegte sich nicht, musterte ihn nur eingehend. Und er erwiderte ihren Blick. Dann öffnete sie ihre Lippen und ihrer entrang sich ein gutheißendes Seufzen. „Gut. Ich hätte sie ungern verloren.“ Dieses Geständnis brachte ihn kurze Zeit aus der Fassung. Ihr amüsiertes Lachen, als sie es bemerkte, ließ ihn sich wieder fassen. Emotionslos hörte er sich sagen: „Was für ein schönes Kompliment, Mrs Norde. Ich muss mich bedanken.“ Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen und sie starrten sich unbewegt an. Dann: „Warum wollen sie mich nicht verlieren?“ Sein neckender Unterton war das einzige Geräusch im Raum. Beide hielten den Atem an, ehe sie erwiderte: „Sie sind anscheinend ein guter Lehrer.“
„Ach, kommen sie schon. Das ist doch nicht der einzige Grund.“ Sie lachte theatralisch auf.
„Doch!“, verteidigte sie sich gewollt sarkastisch. Ihre Stimme war nun eine Oktave höher. Wissend grinste Sean sie an. „Nein, sie lügen.“ Sie zog hörbar scharf die Luft ein und versuchte, ihre Amüsiertheit zu verbergen. „Wie können sie nur so etwas behaupten?“ Er kam ihr über den Tisch näher und ihre Gesichter waren nur noch Zentimeter von einander entfernt. „Ich weiß nicht. Wie konnte ich nur?“
„Ja, wie konnten sie nur?“ Dann lachten sie synchron auf und dabei berührten sich ihre Nasenspitzen. Leicht zuckten sie bei der Berührung zurück, ehe sie sich wieder näher kamen.
„Mrs Norde …“
„Eileen“, unterbrach sie ihn schnell.
„Okay, Eileen. Sagen sie, mögen sie mich?“ Sie lächelte charmant. Sie blieb still. Er wollte schon wiederholt fragen, als sie zögerlich nickte. „Ja. Ja ich glaube, ich mag sie.“ Er lächelte freudig. Sie schüttelte lächelnd den Kopf und lehnte sich langsam zurück. „Was sage ich da nur. Ich muss mich wie ein Kind anhören. Tut mir Leid …“ Er unterbrach sie, indem er über die Papierstapel hinweg den Arm ausstreckte und nach ihren angenehm warmen Händen griff. Sie holte hörbar Luft, entzog sich ihm aber nicht. Ihre vor Erstaunen geweiteten Augen starrten ihn mit unverhohlener Verwirrung an. Er lächelte verschmitzt. Erst jetzt merkte er, wie unvorsichtig diese Geste war. Jetzt gibt’s kein Zurück mehr. Sean strich mit seinem Daumen über ihren Handrücken, spürte die warme, pulsierende Haut und hörte ihr laut schlagendes Herz. Ihr Atem wurde schneller und kam stockend aus ihren Lungen. Innerlich amüsierte ihn ihre Reaktion auf seine Berührung. „Eileen. Entschuldigen sie sich nicht. Ich mag sie nämlich auch.“ Mit den Fingern suchte er nach einem Ehering an ihren Händen, doch da war nichts. Er entspannte sich merklich und hörte nicht auf, sie intensiv anzublicken. Langsam erschlafften ihre harten Züge und ihr Körper wurde ruhiger. Er umkreiste mit den Zeigefingern ihre Hauptadern an den Handgelenken und fuhr die leichten Stränge nach. Sie folgte mit den nun gold strahlenden Augen seinen eleganten Bewegungen. Als er sie an den Händen näher zog, wehrte sie sich nicht.
Sean machte ein amüsiertes Gesicht, doch es entging ihr. Ihre Aufmerksamkeit war voll und ganz auf seine flinken Finger gerichtet. Geschmeidig stand er auf und immer noch starrte sie unverwandt seine Hände an. Er ging langsam um den Tisch herum, streifte mit der Hüfte die harte Kante, reagierte jedoch nicht auf das kurze, schmerzliche Stechen.
Er umfasste mit den Händen Eileens Oberarme und zog sie auf die Füße. Mit glasigem Blick blickte sie zu ihm auf. Ihre Lippen zuckten leicht hoch zu einem Lächeln und sie reckte sich ihm entgegen. Er ging einen Schritt zurück, als sie ihm näher kam. Spielerisch grinste er sie an und sie reagierte, indem sie nach seinem Hemdkragen griff und zu sich zurückzog. Er ließ sie gewähren und strich sanft über ihre Schultern. Unter dem dünnen Stoff versteifte sich ihr Körper und sie hielt erwartungsvoll die Luft an. Doch es kam nichts. Er streichelte einfach nur weiter ihr Schlüsselbein. Die helle Bluse fühlte sich fehl am Platz an, doch er machte keine Anstalten, sie ihr abzustreifen.
Eileen stöhnte ungeduldig auf und er sah sich forschend im Raum um. Es gab kein Nebenzimmer, kein Sofa oder ähnliches. Das hier war der falsche Ort für ihrer beider Begierde.
Sie umfasste hart Seans Kinn, fuhr über die rauen Bartstoppeln und drehte seinen Kopf wieder ihr zu. „Sean …“ Er lächelte und umfasste ihre Hüften. Sie stellte sich gierig auf Zehenspitzen, doch er wich ihr aus. Er seufzte hörbar unglücklich auf und schob sie vorsichtig von sich weg. Sie machte Anstallten, sich ihm zu widersetzen, doch sein Griff war eisern.
„Eileen … Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich habe doch selber diese Gefühle. Aber es ist falsch. Es ist der falsche Ort, die falsche Zeit, die falsche Situation.“ Ihre Augen verdunkelten sich und ihre Züge wurden ausdruckslos und verschlossen. „Ich wusste nicht, dass du so denkst, Sean. Es tut mir Leid, dass ich …“ Blitzschnell beugte er sich hinab, drückte sie gegen seine Brust und umfasste unsanft ihre Hüften. Er presste seine Lippen hart auf ihren Mund. Erst nachdem sie seinen leidenschaftlichen Kuss erwiderte, wurde sein Griff sanfter und seine Lippen schmeckten zärtlicher die ihren. Ihnen beiden entrang sich ein genießerisches Stöhnen. Widerwillig löste er sich von ihr. Sie wollte ihn zurückhalten, doch er ging stur einen Schritt zurück. Seine Gesichtzüge waren hart, doch sein Blick, der auf sie allein gerichtet war, war weich. Sie leckte sich enttäuscht mit der Zunge seinen Geschmack von den Lippen und blickte dann ihn an.
„Eileen, hast du heute Abend etwas vor?“ Erstaunen spiegelte sich auf ihrem Gesicht, während seine Stimme emotionslos widerhallte. Sie schüttelte rasch den zierlichen Kopf. „Um neun hohl ich dich ab.“ Ohne auf eine Erwiderung zu warten, wandte er sich ab. Schon hatte er die eiskalte Klinke ergriffen, da drehte er ihr den Kopf noch einmal zu. „Zieh dir etwas Schönes an, ich führe dich aus.“ Sie starrte ihm hinterher und antwortete nicht. Er drückte die Tür auf und trat in das kühle Sekretariat. Schnurstracks ging er auch aus diesem Zimmer und schritt über den Schülerbevölkerten Flur. Endlich aus dem stickigen Gebäude raus, peitschte ihm ein kalter Novemberwind ins Gesicht. Stur stapfte er durch die Schneedecke zu seinem Mercedes und stieg ein. Er fuhr auf die Straße und starrte ausdruckslos auf die anderen Autos.
Währenddessen brannte es in seinem Inneren. Der Kuss war schnell und leidenschaftlich gewesen. Er hatte ihn tief berührt. Doch da war auch noch etwas gewesen. Ein Gefühl der Erinnerung. Sean hatte das Gefühl, da gäbe es noch jemanden gab, mit dem er auch solche Gefühle verbunden hatte, wie mit Eileen. Doch wer dieser geheimnisvolle Jemand war, vermochte er nicht zu sagen. Das Stechen, das ihn am Morgen schon heimgesucht hatte, trat wieder ein. Sean wechselte mit einer scharfen Wendung auf den Standstreifen und hielt den Wagen an. Er fasste sich an den pochenden Kopf und überlegte, versuchte, die Schmerzen auszuschalten oder zu ignorieren.
Wer steht mir so nahe?
Was oder von wem habe ich letzte Nacht geträumt?
Was ist nur mit mir los?
Verdammt, Sean, du bist verrückt! Da gibt es niemanden! Dein Traum war unbedeutend, nur deshalb hast du ihn vergessen! Du wirst langsam, aber sicher, verrückt, wenn du denkst, es gäbe jemanden auf dieser Welt, der es dir verübeln würde, Eileen hinterher zuschmachten! Sie ist hübsch und du allein. Du wirst heute Abend mit ihr Essen gehen und sie danach zu dir in die Wohnung bringen. Und Morgen früh wird sie neben dir aufwachen und ihr werdet euch beide krank melden. Werdet es noch einmal tun. Und du wirst keinen unsinnigen Gedanken mehr an jemanden verschwenden, den es nicht gibt!



Bon prix exzellente




Eileen J. Norde versuchte sich gerade an dem schwarzen Mascara. Mit zittriger Hand trug sie die Tusche auf die fein geschwungenen Wimpern auf.
Und rutschte ab. Die mit klebriger Paste beschmierte Bürste stach in ihr Auge. Schmerzend presste sie das Lid zu und fluchte leise auf. Die Tuschebürste fiel lautlos auf den weiß gefliesten Badezimmerboden und ihre Hand tastete nach dem kühlen Wasserhahn. Als endlich das beruhigende Geräusch des fließenden Wassers ertönte, seufzte sie heiser auf. Unsinniger Weise versuchte sie, sich mit der klaren Flüssigkeit das Auge auszuwaschen, verschmierte das Öl jedoch nur noch mehr. Mit einem gewaltigen Luftstoß entlud sie sich wörtlich ihrer Emotionen und drehte genervt das Wasser ab. Sie suchte mit geschlossenen Lidern nach dem rosa Handtuch neben dem Waschbecken und ertastete nach längerem Stöbern den weichen Stoff. Sie trocknete sich ab und stellte nach einem skeptischen Blick in den Spiegel fest, dass ihr Gesicht schrecklich entstellt war. Geärgert von ihrer Tollpatschigkeit, säuberte sie ihre vom Make-up dunklen Augen. Danach trug sie hellroten Lippenstift auf die spröden Lippen auf und ließ mit einem verächtlichen Blick die restliche Schminke liegen.
Entnervt betrachtete sie ihr volles Erscheinungsbild im mannshohen Spiegel und musterte sich selbst skeptisch von Kopf bis Fuß. Eileens Haare waren leicht aufgeplustert und umschmeichelten voluminös ihr symmetrisches Gesicht mit den harten, unweiblichen Zügen. Ihr Blick wanderte weiter zu ihren kleinen Brüsten unter dem hautengen, dunkelroten Cocktailkleid. Ein wenig unwohl fühlte sie sich ja schon, aber sie wollte Sean doch wenigstens etwas mehr bieten, als die langen, Haut bedeckenden Anzüge, die sie sonst immer modisch trug. Dann sah sie auf ihre, im Gegensatz zum Oberkörper, kurzen Beine und auf die schwarzen Stilettos an ihren Füßen. Noch nie war sie auf so hohen Schuhen gelaufen und hatte ja so ihre Zweifel. Doch für Sean würde sie das hier durchziehen.
Er war einfach perfekt. In seiner Gegenwart war sie anders. Dort fühlte sie sich freier und gelassener. Und heute Morgen hatte sie so ein heißes Verlangen nach ihm und seinem Körper verspürt, dass sie selbst vor tausenden von Menschen ihm am liebsten die Kleider vom Leib gerissen hätte.
Noch einmal schaute Eileen auf ihr Spiegelbild, und studierte dann anschließend die große Uhr in der Küche genauer.
Zwei vor neun.
Ihr aufgeregtes Herz machte einen Sprung, als sie an das bevorstehende Treffen mit ihrer Verabredung dachte. Und genau in diesem Moment klingelte es an der Tür. Erschrocken fuhr sie zusammen, nur um wenige Sekunden später wie ein aufgeschrecktes Huhn durch die kleine Wohnung zu hetzen. Mit einem Ruck öffnete sie weit die harte Holztür und stand Sean gegenüber.
Seine Gelassenheit war an der lockeren Haltung der breiten Schultern und dem coolen Grinsen zu erkennen. Doch seine Ruhe übertrug sich keinesfalls, wie erhofft, auf sie. Unruhig und mit zuckenden Mundwinkeln versuchte Eileen zu lächeln, es misslang. Doch entweder war es ihm entfallen, oder er ignorierte es höfflich. Sie hoffte ja, auf die erste Möglichkeit, denn das würde bedeuten, dass ihm ihre Unruhe nicht auffiel. Doch mit ihrem Glück lachte er sich innerlich schon über sie schlapp. Freundlich, doch sonst emotionslos, musterte er sie von den blonden Strähnen, bis hin zu den schwarzen, hochhakigen Stilettos.
„Du siehst hübsch aus, Eileen.“ Sie lächelte bei der Schmeichelei beschämt und griff hastig nach ihrer dunklen Handtasche. Bewaffnet mit Handy, Geldbeutel und Autoschlüssel fragte sie in der Eile ein wenig zu schnell: „Wollen wir?“ Ungeduldig trat sie auf den leeren Flur hinaus zu ihm. Mit einem freundlichen Nicken hielt er ihr höfflich den Arm hin. Dankbar hackte sie sich bei ihm unter und schritt mit ihm durch die Gänge der weiteren elf Stockwerke hinunter zu Ausgang. Auf den Weg dahin konnte sie die alten Omis, kleinen Kinder und ihre müden Eltern schon über sie reden hören.
„Schau nur, Ingritt. Selbst die verklemmte Direktorin hat endlich eine Verabredung. Ich war schon der festen Überzeugung, sie würde ihr Glück und einen Mann nicht mehr vor meinem Tod finden.“
„Susi, Susi, guck mal. Eileen von neben an geht mit einem fremden Mann weg. Mami, Mami, was machen die denn jetzt?“ – „Süße, das erkläre ich dir ein andern Mal, okay?“
„Schatz, sieh her. Unsere nette Nachbarin hat heute Abend auch endlich mal etwas anderes vor, als zu arbeiten.“
Ein zufriedenes Lächeln lag auf Eileens Lippen, als sie durch die aufgehaltene Tür in Seans Mercedes stieg. Die Autofahrt über sprachen sie nur selten ein Wort. Doch es gefiel ihr. Endlich entspannte sie sich einmal. Mit Sean an ihrer Seite, fühlte sie sich geborgen, und genoss wie nur so selten, die ihr allzu bekannte Ruhe.
Als sie auf einen dunklen Parkplatz hielten, zog sie beim Anblick des riesigen Restaurants scharf die Luft ein. „Das Bon prix exzellente“, hauchte sie fassungslos. Sean schaute sie, amüsiert von ihrer Reaktion, lächelnd an. „Richtig.“
„Aber es ist doch schrecklich teuer da“, protestierte sie atemlos. Er nickte erneut und stieg geschmeidig, wie ein schwarzer Panter, aus. Wortlos hielt er ihr die Tür auf und half ihr beim Aussteigen. Zusammen schritten sie auf den Eingang des Gebäudes zu und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Das Bon prix exzellente war das teuerste, beliebteste und beste Restaurant Brooklyns, ja sogar ganz New Yorks. Nie hätte sie sich erträumen lassen, hierhin einmal in ihrem sterilen Leben ausgeführt zu werden. Besonders nicht von so einem gut aussehenden Mann wie Sean Referty.
Mit einem heimlichen Seitenblick musterte sie ihre Verabredung für heute Abend genauer. Er trug seine seidigen Locken leicht in die Stirn fallend und der pechschwarze Anzug saß perfekt. Ebenso die Kobaltblaue Krawatte, die nur um einiges heller war, als seine klaren Augen, welche wie Meerkristalle, umrandet von dichten schwarzen Wimpern, aus dem kantigen Gesicht heraus stachen. Unter dem dunklen Jackett lugte ein gleichfarbiges Seidenhemd hervor, dessen oberster Knopf offen stand.
Und wieder überkam das gierige Verlangen nach seinem makellosen Körper ihren Geist und Willen. Nur schwer konnte sie ihre Arme daran hindern, ihn an sich zu reißen.
Plötzlich bemerkte sie die schwärmerischen Blicke der anderen anwesenden Frauen. Sie alle begehrten ihn maßlos und zeigten ihrer förmlichen Verabredung, welche Sean vernichtende Blicke zuwarfen, die kalte Schulter.
Brodelnde Wut stieg in Eileen auf und am liebsten hätte sie all diesen hochnäsigen Schnepfen eine verpasst. Noch nie war sie ein eifersüchtiger Typ gewesen, doch Sean rief in ihr Emotionen hoch, über die sie einfach keine Kontrolle mehr besaß. Sie war ebenfalls auch nie eine dieser theatralischen Tussis gewesen, die sich mit solch schrecklichen Problemen rumschlagen und ihre beste Freundin – von der sie selbst keine besaß – damit zutexteten.
„Sandy, mein Ralf ist heute wieder bei seiner schönen Chefin zum Meeting eingeladen. Was ist, wenn sie nicht nur über die Arbeit sprechen?“
„Melanie, ich weiß, dass du mit Mike geschlafen hast! Wie konntest du nur? Er ist mein Mann!“
„Bianca, Adam betrügt mich! Ich habe ihn mit einer anderen gesehen! Er denkt doch tatsächlich, mir das verschweigen zu können!“
In allen drei Fällen hätte Eileen dem Schuldigen eine aufs Maul gegeben. Damit wäre die Sache für sie geklärt gewesen. Noch nie hatte sie gut mit zugefügtem Schmerz, unaufhaltsamer Wut und unaufhörlicher Verzweiflung umgehen können. Weshalb sie die meisten Männer nach dem ersten Date mieden. Und genau dieses Fazit war es zu verdanken, dass Eileen J. Norde seit ganzen sechs Jahren keinen Freund mehr gehabt hatte. Weil sie einfach nicht der Zerbrechlichkeit der anderen Frauen gerecht wurde.
Angstschweiß bildete sich an ihren freien Schulterblättern. Was, wenn ich das Band zwischen Sean und mir genau mit diesem treffen ebenfalls zerstöre? Stur ballte sie die Hände zu Fäusten. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sie stolzierte zielstrebig auf die Empfangsdame zu. Die etwas rundlichere Frau starrte unabwegig auf den Ordner vor sich, beachtete Sean überhaupt nicht. Sie punktete bei Eileen in Thema Sympathie unaufhörlich.
Nach einem leisen Räuspern von dem Mann neben Eileen, blickte die Dame auf. Hatte Eileen gerade etwas Kränkung in seiner Stimme vernommen?
Die sympathische Frau musterte das Paar vor ihr abschätzend, ehe sie an Eileen gewand fragte: „Haben sie einen Tisch reserviert?“ Erwartungsvoll sah die angesprochene zu ihrem Partner auf. Dessen Blick hatte sich leicht verdunkelt, doch als er in ihre Augen schaute, wurde sein Gesichtsausdruck weicher. „Ja“, vernahm sie seine sanfte Stimme. Dann betrachtete sie wieder die andere Frau, die sie beide amüsiert musterte.
„Ihr Name, Mister?“
„Referty.“ Schnell durchforstete die kleine Frau den Ordner und wies dann mit einem leisen Lächeln auf einen der beschatteten Tische des Restaurants. Stumm führte Sean Eileen zu ihrem Platz. Er setzte sich ihr gegenüber und betrachtete sie hingerissen. Noch vor schätzungsweise zehn Minuten hatte er sie verwirrt und nicht ganz bei ihr angeblickt. Doch jetzt strahlte sein aufmerksamer Blick pure Verzückung aus.
Beschämt lächelte Eileen, während sie die lange Speisekarte überflog. Ihre Sicht verschwamm und immer öfter betrachtete sie sein Profil ais dem Augenwinkel. Ohne auch nur ein einziges Gericht gelesen zu haben, schloss sie das Menu und legte das Papier weg. Die Finger ineinander verschränkt sah sie sich um. Der große Raum war reich beschmückt mit weinroten und weißen Rosen, die Wände waren gold und rot gestrichen und eine dunkle Holzvertäfelung zog sich ab der Mitte hinab. In das Eichenholz waren alte Zeichen, Verschnörkelungen und anderweitige Muster eingraviert worden.
„Hast du schon deine Wahl getroffen.“ Seans sanfte Stimme riss sie aus dem Staunen und sie fuhr zu ihm herum. Wortlos nickte sie, die Augen ein wenig zu weit aufgerissen. Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, meinte er trocken: „Und was nimmst du.“ Hilfe suchend sah sie sich um, als auch schon die nette Dame vom Empfang zu ihnen schritt. Sie erhaschte Eileens dankbaren Blick und erwiderte ihn freundlich. Hatte sie sie etwa belauscht und wusste deshalb von ihrer Unwissenheit?
„Was darf ich ihnen zu trinken bringen?“ Sean betrachtete sie argwöhnisch und sah dann fragend zu seiner Partnerin hinüber. Sie zuckte mit den Achseln und vernahm dann die Kellnerin abermals. „Wie wäre es mit unserem Hauseigenen Rotwein? Oder doch lieber den köstlich trockenen Weißwein?“ Eileen nickte eifrig. „Ich fände den Rotwein exzellent, was meinst du?“, fragte sie an Sean gewandt. Er hob zustimmend die Hand und bestellte ihnen dann als Vorspeise leckere Miesmuscheln in Weißwein eingelegt. Als Hauptgericht nahm er das Wochenangebot, einen riesigen Fleischteller mit Süßkartoffeln und Sauce. Sie tat es ihm gleich und so warteten sie auf das Essen. Unbehaglich schaute sie sich um und mied seinen Blick.
„Eileen, schau mich an.“ Sie gehorchte widerwillig und blickte in zwei tiefe, unergründliche Ozeane. Seans Mundwinkel waren leicht verzogen, doch ein volles Lächeln trug er nicht. „Was ist mit dir los?“ Sie antwortete nicht und schaute wieder beschämt weg.
„Eileen“, erklang seine nun scharfe Stimme. Sie zuckte erschrocken zusammen und wandte ihm wieder den Kopf zu. „Was?“, zischte sie. Überrascht von ihrem zornigen Unterton setzte sie sich augenblicklich gerade hin und versuchte zu verstehen, woher die Wut kam.
Völlig irritiert musterte er sie. Dann wandte er seinen Blick gedemütigt und verletzt von ihrem Jähzorn ab. Schuldbewusst wollte sie die Hand nach ihm ausstrecken, doch da kam auch schon der schlaksige Kellner mit den Muscheln.
Elegant öffnete Sean eine nach der anderen und aß genüsslich das Fleisch. Währenddessen versuchte Eileen sich schwer daran, auch nur einmal das so köstlich beschriebene Gericht zu probieren. Mit einem Seufzer legte sie die Schale weg und säuberte sich die Hände mit der Servierte. Er musterte sie heimlich durch die Wimpern hindurch und fragte dann trocken: „Kannst du keine Muscheln essen?“ Eingeschüchtert schüttelte sie den Kopf. Amüsiert lachte er auf und stand geschmeidig auf. Schon dachte sie, er würde ohne ein weiteres Wort verschwinden, und konnte es ihm auch ehrlich gesagt nicht verdenken. Doch er setzte sich nur neben sie auf das Polster der weißen Ledercouch, welches kurz unter seinem Gewicht knarrte und ergriff zwei graue Muscheln. Locker lagen sie in seinen großen Händen. Schnell spaltete er die eine und griff mit der anderen hinein. Wie bei einer Zange, hielten die beiden Kanten der zweiten Schale das Fleisch der ersten fest und führten es zu ihrem Mund. Zögerlich öffnete sie die plötzlich rauen Lippen und schmeckte das leicht säuerliche Aroma des Meeres. Vorsichtig kaute sie und schluckte dann das Stückchen hinunter. Angenehm lag es in ihrem hungrigen Magen und sie nickte leicht mit dem Kopf.
„Es schmeckt wirklich so gut, wie alle sagen.“ Lächelnd schob Sean ihr ein weiteres Stück in den Mund. Das wiederholte sich eine Zeit lang, bis der Teller vor ihnen auf dem Tisch voller leerer Schalen war. Enttäuscht sah sie darauf hinab und blickte dann in Seans Gesicht. Er schien amüsiert über ihre Reaktion, wie so oft. Als sie auf seine Finger starrte, welche er gerade mit ihrer Servierte abputzte, wurde ihr erst wirklich bewusst, wie nah er ihr war. Wie nah seine Finger ihren Lippen gewesen waren.
Als er ihren Blick bemerkte, beugte er sich vorsichtig zu ihr und wollte ihr etwas ins Ohr flüstern, als auch schon ein anderer Kellner kam, beladen mit zwei großen Tabletts. Genervt fluchend stand Sean auf und setzte sich wieder ihr gegenüber. Amüsiert lachte sie auf und fasziniert betrachtete der Mann mit Schürze sie. Seine Augen wanderten von ihrem Gesicht abwärts, über ihren langen Hals und blieben an ihren runden Brüsten hängen. Mit geröteten Wangen nahm sie ihre Bestellung entgegen und schenkte ihm ein warmherziges Lächeln, das er freundlich erwiderte.
Währenddessen aß Sean mit zorniger Miene ein Stück Fleisch mit Sauce, ehe er das Besteck auf der Tisch knallte und gereizt fragte: „Willst du noch ein hübsches Bild von ihr, um es an dein Bett zu stellen, du Penner?“ Mit vor Angst geweiteten Augen und erschrockenem Blick drehte der Kellner sich um und flüchtete in die Küche. Skeptisch hob Eileen eine Braue. „Musstest du so grob sein?“ Ihre Stimme erklang tadelnd und scharf. Er sah sie zornig an, ehe seine Miene weicher wurde. Wortlos aß er weiter und mied ihren Blick. Sie achtete nicht im Mindesten auf die kleine Stimme in ihrem Inneren, die ihr sagte, sich entschuldigen zu müssen für diesen Kommentar. Nach der Hälfte des Essens hatte sie schon drei Gläser Rotwein gekippt. Ihre Sicht war schon benebelt und ihr Bauch voll.
Eileen schob den Teller von sich und lehnte sich zurück. Sie bewegte leicht die Hand, die das Glas hielt und schwenkt leicht die rote Flüssigkeit hin und her. Sean beobachtete sie fasziniert und stellte ebenfalls das Essen weg. Sie beugte sich vor, stellte das Glas ab und stützte sich auf die Ellenbogen. „Was machen wir jetzt, Sean? Über den Job reden?“ Er schüttelte den Kopf, sodass die schwarzen Locken leicht mitwippten.
Im Gegensatz zu ihr, hatte er keinen Schluck Wein getrunken, mit dem Argument: Ich muss uns doch nachher doch noch sicher nach Hause bringen. Sie hatte nur anzüglich gelacht und weiter an ihrem Glas genippt.
Nun grinste sie ihn an und setzte sich so, dass sein Blick an ihrem Ausschnitt hängen blieb. „Und was machen wir dann?“ Er schluckte schwer und riss seine Augen von ihrem Anblick los. Sie lächelte schwach und schlug die Beine so übereinander, dass das Geräusch von aufeinander reibender Haut entstand. Er fuhr sich nervös durch die Haare und blickte weg. Mit ausgestrecktem Arm ergriff sie seine Hand und zog sie aus den Locken. Sie hielt sie in ihrer und strich sich mit der anderen scheinbar unbewusst über das Decolté. Sein Blick verfolgte ihre Bewegung und seine Lippen öffneten sich einen Spalt breit. Seine Atmung wurde lauter und etwas schneller. Verzückt lächelte Eileen.
„Wollen wir gehen, Sean?“ Er nickte lautlos. Schnell ließ er einen Kellner mit Rechnung kommen und bezahlte. Bei ihm untergehackt schritten sie durch das Restaurant hinaus in die kühle Nachtluft. Zuvor hatte sie auf die Uhr gesehen. Es war kurz nach zwölf Uhr. Perfekt.
Eileen stieg in sein Auto ein und zusammen fuhren sie über schwach beleuchtete Straßen. Unruhig rutschte Sean auf seinem sitz hin und her. Sie lehnte sich an seine Schulter und gähnte herzhaft. „Sean?“
„Hmm?“, war alles, was er zustande brachte.
„Wie findest du mich?“ Völlig perplex drehte er sich zu ihr um und riss das Lenkrad um. Sie schlug mit dem Kopf gegen das Fenster und schloss ruckartig die Augen. Geschockt trat er auf die Bremse und brachte den Wagen schlagartig zum stehen. Seine Atmung ging schnell, glich einem Hecheln eines Hundes in der prallen Sommerhitze. Urplötzlich übermannte sie ein Lachanfall und er starrte sie fassungslos an. Eileen konnte nicht mehr aufhören laut zu lachen und immer zorniger musterte er sie. Dann rang er wieder um Fassung und startete den Motor. Doch er änderte die Richtung. Fuhr nicht mehr in die Innenstadt zu ihrer Wohnung. Sie verstummte.
„Wo fährst du hin? Hier geht es nicht zu mir!“, protestierte sie. Er nickte, während er das Lenkrad so fest umklammert hielt, dass seine Knöchel zu zerborsten drohten. „Genau, du gehst nicht zu dir. Du übernachtest heute Nacht bei mir. Du bist sturzbetrunken. Ich kann dich nicht dir selbst überlassen.“ Trotzig, wie ein kleines Kind, verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen.“ Er schüttelte den Kopf. „Das glaube ich kaum.“ Stur drehte sie sich weg und sah aus dem Fenster. Die strahlenden Lichter Brooklyns verschwanden im Rückspiegel und neue erschienen vor ihnen.
„Ich will nach Hause!“, jammerte sie plötzlich verzweifelt los. Immer wieder wiederholte sie diesen Satz. Immer mehr Schluchzer schoben sich zwischen die Worte, bis sie am weinen war und nicht mehr als ein Baby gleiches Brabbeln hervorbrachte. Sean fuhr auf den Standstreifen und hielt abermals den Wagen an. Zorn spiegelte sich in seinem Blick, als er sich ihr zudrehte. „Wir wäre gerade fast draufgegangen, Eileen! Und du hast gelacht!“ Von seiner schallenden Ohrfeige, die daraufhin folgte, überrascht, verstummte sie und kauerte sich zusammen. Sie zog die Füße auf den Sitz, presste sie an ihre Brust und hielt die kühle Hand an die brennende Wange.
Ohne sich zu entschuldigen, fuhr Sean wieder los und überließ sie ihrem Selbstmitleid.
Als sie vor einem Hochhaus auf der anderen Seite Brooklyns hielten, öffnete sie erst wieder die müden Augen. Sean stieg aus und hielt ihr gezwungen höfflich die Autotür auf. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging sie über einen schmalen Weg zu dem Eingang des großen Gebäudes. Sean schloss auf und zusammen nahmen sie Stufe um Stufe. Vor einer Holztür blieb er stehen und zog einen weiteren Schlüssel aus der Hosentasche. Als er das Licht in dem kleinen Zimmer dahinter anmachte, sah Eileen eine schwarze Ledercouch, einen kleinen Tisch davor und an der Wand einen Fernseher. Sean marschierte geradewegs in ein weiteres Zimmer und verschwand. Nach längerem Zögern folgte sie ihm und blieb lautlos im Türrahmen stehen.
Da stand er. Er hatte das Jackett ausgezogen und über einen Stuhl geworfen. Nun war er dabei, eine Decke zu beziehen. Die Ärmel des schwarzen Hemdes waren hochgekrempelt und ihr forschender Blick blieb an einem Tattoo an seinem Oberarm hängen. Interesse kam in ihr auf und leise schlich sie sich an ihn heran. „Du brauchst nicht so leise zu sein. Ich weiß, dass du da bist.“ Ihr Lächeln verschwand und sie richtete sich gerade auf. Normal ging sie weiter auf ihn zu und blieb an seiner Seite stehen. Als er auch noch den letzten Knopf zugemacht hatte, drehte er sich um und drückte ihr die dicke Decke in die Arme. Perplex nahm sie sie an und er ging wieder aus dem Zimmer. Verwirrt lief sie ihm hinterher, schmiss die Decke achtlos auf das Sofa und folgte ihm zum Fenster.
„Warum bist du so sauer auf mich?“ Er drehte sich ihr nicht zu, als er antwortete. „Ich fand dich immer so hinreißend. Doch jetzt weiß ich nicht, was ich von dir halten soll. Ich meine, vorhin habe ich uns fast umgebracht und du hast gelacht!“ Mitfühlend legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Ist schon okay. Ich verzeihe dir.“ Er fuhr fassungslos herum. „Du verzeihst mir? Es war deine schuld!“, schrie er. Eileen zuckte zurück mit vor Furcht aufgerissenen Augen und kleinen Pupillen. Er schritt auf sie zu und fasste sie grob an den Schultern. „Du hast es zu verantworten! Das alles!“ Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Nein!“ sie schluchzte, doch er achtete nicht darauf, dass sein Griff zu hart war.
„Doch, Eileen! Und ob!“ Nun wimmerte sie auf. Ihre linke Schulter knackte und sie schrie vor Schmerz auf. Erst jetzt wurde Sean bewusst, was er da tat. Ruckartig ließ er sie los und sie fiel zu Boden. Die kleinen Hände vors Gesicht geschlagen, weinte sie unaufhörlich.
Ohne ihn bemerkt zu haben, hatte er sie hochgehoben, als wäre sie leicht wie eine Feder, und in sein großes Bett getragen. Sie rollte sich auf dem dünnen Stoff zusammen und er strich ihr vorsichtig über die kurzen Haare. Sie öffnete ängstlich die Augen. Sein Blick war von Schmerz getrübt und benebelt von Schuldgefühlen. Er stand auf und wollte gehen, doch instinktiv griff sie nach seiner Hand und zog in zurück. Irritiert ließ er sich auf der Bettkante nieder und blickte auf sie hinab.
„Tut mir leid“, murmelte sie mit halb geschlossenem Mund. Er erwiderte ihren Blick unter schweren Lidern. „Nein, mir tut es leid. Das mit der Ohrfeige und deinen Schultern … Ich war zu grob zu dir. Das hast du nicht verdient.“ Schwerfällig stützte sie sich auf die Ellenbogen und drückte ihren Oberkörper hoch. Dann umfasste sie mit der linken Hand sein Kinn, trotz des Schmerzes in ihrer Schulter. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“, hauchte sie zögerlich. Sie bekam Angst, er würde wieder ausrasten, als sie ihn an vorhin erinnerte, doch sein Blick blieb weich. Dann senkte er den schweren Kopf zu ihr hinab und flüsterte in ihr Ohr: „Ich finde dich toll. Hübsch, stark, mutig, selbstbewusst. Ich mag dich.“ Seine zärtliche Antwort überraschte sie mehr, als dass er überhaupt noch ein Wort mit ihr wechselte. Sie lächelte ihn beschämt an und ließ sich dann, müde vom vielen Alkohol in ihren Adern, in die Kissen zurück sinken. Schweigend hielt sie seine Hand fest umklammert.
Irgendwann seufzte er schwerfällig auf. Sie schlug die Augen auf und blickte ihn fragend an. Er fing ihren Blick auf und lächelte gutmütig. „Mir fallen gleich die Augen zu“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. Augenblicklich rutschte sie etwas auf die andere Seite des Bettes, um ihm Platz zu machen. Dankend stand er auf und legte sich neben sie auf die Matratze. Er musterte sie einmal mehr von Kopf bis Fuß, ehe er näher an sie heran rückte. Sie schloss kurz die Lieder und als sie sie wieder öffnete lag sein Blick immer noch auf ihr.
„Du bist wirklich hübsch, Eileen.“ Obwohl sie schon mit einem Bein im Land des Schlafes stand, fragte sie dennoch mit fester Stimme: „Meinst du das ernst? Du findest mich nicht abstoßend?“ Er lachte kehlig auf und antwortete mit geschlossenen Augen: „Nein nicht abstoßend. Eher anziehend. Du bist einzigartig, auf deine eigene, sonderbare Art.“ Sie errötete und legte ihre zierliche Hand auf seine. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Sie wurde ruhiger, lauschte ihrer beiden immer langsamer werdenden Atmung und den zwei im Gleichtakt schlagenden Herzen. Sie schlief mit einem einzigen Gedanken ein, welcher ihr ganzes Denkvermögen einnahm.
Ich habe mich in Sean Referty verliebt.

Sean wurde von einem schrillen Klingeln geweckt. Überrascht schlug er die Augen auf und versuchte herauszufinden, woher das gellende Geräusch kam. Neben sich öffnete Eileen langsam ebenfalls die Lider. Er streichelte ihr über die Wange, ehe er wieder die Ohren spitzte.
Sein Handy. Schnell stand er vom Bett auf und lief ins Wohnzimmer, wo er es am vergangenen Abend hingelegt hatte. Er sah auf den Display. Ein unbekannter Anrufer. Mit gehobenen Brauen nahm er zögernd ab.
„Sean Referty?“
„Mr Referty! Na endlich!“, ertönte das aufgeregte Piepsen der Sekretärin der James-Steven-Highschool am anderen Ende der Leitung. Shit! Schnell räusperte er sich und antwortete mit brüchiger, rauer Stimme: „Hallo, Mrs Morley.“ Sie holte tief Luft.
„Was ist los, Mr Referty? Sind sie krank?“ Er nickte. Und erinnerte sich, wie blöd das war, sie sah ihn doch nicht. Leise murmelte er etwas wie ein Ja und wartete ihre Reaktion ab. Sie schrieb irgendetwas mit schneller Hand auf, Papier raschelte und sie redete mit einem Schüler. Dann: „Okay, Mr Referty. Ich werde mich darum kümmern. Wie schade. Sie haben gerade erst angefangen, da werden sie auch schon krank. Ich wird ihnen wohl eine Vertretung suchen müssen.“
„Danke, Sonja. Das ist sehr nett von ihnen.“ Sie hatte ihm mal angeboten, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen. Doch nie hatte er davon Gebrauch gemacht, jetzt war das erste Mal. Sie lachte freudig auf. „Gern geschehen, Mr Referty. Auf Wiedersehen und gute Besserung!“
„Auf Wiedersehen.“ Dann legte er mit einem Seufzen auf. Müde trottete er zurück in sein Schlafzimmer, wo Eileen ausgestreckt auf dem Bett lag. Den linken Arm hatte sie locker über den Bauch gelegt, um die Schulter nicht noch mehr zu belasten. Ihre eine Wange war geröteter als die andere. Schuldgefühle übermannten Sean. Was war ihm nur eingefallen. Nur weil sie eine starke Frau war, hieß das noch lange nicht, dass er sie so grob anfassen durfte.
Sein Blick wanderte über ihre verwuschelten Haare, über ihre sich beim Atmen hebende und senkende Brust, bedeckt mit dunkelrotem dünnen Stoff. Weiter hinunter zu ihren schmalen Hüften und der ausladenden Hüfte zu ihren Beinen. Er bemerkte, dass das kurze Kleid leicht hoch gerutscht war und erhaschte einen Blick auf ihren schwarzen Slip. Ein stechendes Verlangen durchfuhr seinen gewaltigen Körper und er schaute weg.
Plötzlich erklang ein kehliges Lachen und er drehte sich ihr wieder zu. Ihre Lider waren einen winzigen Spalt auf und sie belächelte ihn. Er ging auf sie zu und sie setzte sich auf, wobei ihr Ausschnitt etwas verrutschte. Als sie seinen gierigen Blick bemerkte, zupfte sie schnell die roten, dünnen Träger wieder zu Recht. Dann fuhr sie sich müde durchs blonde Haar und schaute ihn verschlafen an. Ihm wurde ein wenig unwohl unter ihrem intensiven Blick. „Hast du gut geschlafen?“, versuchte er ihr auszuweichen.
„Nein. Mein Kopf dröhnt, als würde ich mit dem Ohr an einem voll aufgedrehten Verstärker stehen. Und du?“ Er nickte leicht. „Na ja, ganz okay.“ Geschmeidig wie eine Katze stand sie auf und schritt auf ihn zu. Sein Körper spannte sich erartungsvoll an und ihr Blick hielt den seinen in fester Gefangenheit.
„Sean …“ Die Melodie, mit der sie seinen Namen aussprach, ließ sich seine Nackenhaare aufstellen. Dieses Gefühl von Zuneigung kannte er schon von einem anderen Menschen, an den er sich jedoch nicht erinnern konnte. Schon fast hätte er sich die Hand vor die Stirn geschlagen, als seine Augen in die ihren blickten und ihn wieder an sie erinnerten.
Eileen kam leichtfüßig, als würde sie schweben und nicht den Holzboden berühren, auf ihn zu. Sie streckte ihre zierliche Hand mit den langen Fingern aus und berührte schmetterlingsleicht seine Brust. All sein Gefühle, Emotionen und Stärken seines Gesamten Geistes wurden umgeleitet zu dieser einen, sanften Berührung. Sein Gehirn wurde ausgeschaltet und sein Körper zu neuem Leben erweckt.
Sean sehnte sich nach mehr dieser Schmetterlingsflügel auf seiner Haut, wollte sie darum bitten, ihn weiter zu berühren, konnte sich jedoch nicht rühren oder sprechen.
„Sean …“ Ihre leuchtend grünblauen Augen zeigten ihm ein Gefühlschaos, das er mit voller Gewissheit nachvollziehen konnte und selber beherbergte. „Sean … ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.“ Sie schloss schnell die Augen und errötete an den Wangen. Er sah ihr an, dass sie mit sich rang, dass sie sich wortlos einfach wieder umdrehen wollte. Vorsichtig streiften seine Fingerspitzen das leichte rot in ihrem Gesicht. Sie öffnete die Augen und er lächelte sie zögerlich an. Dann schmiegte sie sich wie eine verschmuste Katze an seine Handfläche und erwiderte seinen träumerischen Ausdruck. Ihre feinen Wimpern warfen dunkle Silhouetten auf ihre hohen Wangenknochen und ihre kleine Nase lag mit dem Rest ihrer rechten Gesichtshälfte im Schatten. Sie wirkte nicht mehr stur, kampflustig und auch nicht mehr so stark wie zuvor. Sie sah aus wie ein Kind, das er zu beschützen versuchte, es ihm jedoch nicht gelang, weil es sich ihm in den Weg stellte um in vor den anderen z verbergen. Sie war eine junge Frau, allein seit geraumer Zeit, die sich nach Wärme sehnte, die er ihr geben wollte.
Er war der, den sie mit Liebe zurückwies und mit Sehnsucht zu sich zog.
Er war der, den sie unabsichtlich kränkte und absichtlich tröstete.
Er war der, den sie nicht kannte und wollte.
Der war er. Und daran wollte er nichts ändern.
Sean zog sie mühelos an seine Brust. Wärmend lehnte sie sich an ihn. Er nahm ihr ihre Blickfreiheit und gab ihr seinen Körper. Sie nahm sein Herz und gab ihm ihre Liebe. Sie passten sich aneinander an, glichen sich aus, waren verliebt.
Sean legte seinen Kopf auf ihre heile rechte Schulter und nuschelte an ihren Hals unaufhörlich ihren Namen. Sie atmete an seinem Hemd und legte ihre Hände an den warmen Stoff. Minuten, Stunden, Tage standen sie so dar. Die Zeit verging schleppend, und doch so schnell wie ein einziger Wimpernschlag.
Vorsichtig löste sie sich von ihm und sah mit glänzenden Augen zu ihm auf. Sie weinte. Eine einzige, schimmernde Träne ran ihr Gesicht hinunter und blieb in ihrem Mundwinkel hängen. Er beugte sich vor, strich mit den Lippen die Salzspur entlang und fühlte die weiche, verletzliche Haut unter sich. An dem Trauertropfen angelangt, verharrte er. Dann küsste er ihn sanft weg. Schon wollte er sich wieder zurückziehen, da ergriff sie hastig seine Hände und drückte ihre Wange an seinen Mund. Sie schmeckte süß, wie eine Himbeere. Er fuhr zärtlich mit dem Finger ihre Ohrmuschel nach und dann zu ihrem Kiefer. Von dort über das Grübchen zwischen Kinn und Mund und kam dann zu ihrer Unterlippe. Sacht zeichnete er ihre Konturen nach mit der Fingerspitze. Dann nahm er den gleichen Weg mit den Lippen. Als er ihre Unterlippe berührte, öffnete sie erwartungsvoll ihren Mund. Vorsichtig und zurückhaltend legte er seine Lippen auf ihre und küsste sie sanft. Eileen erwiderte den Kuss. Nur Zärtlichkeit und Liebe stand zwischen ihnen. Ruhig berührten sie einander, verschränkten ihre Finger ineinander.
Die Zeit verging, doch die Nähe des anderen blieb. Zögerlich unterbrach Sean den Kuss und drückte leicht ihre Hand. „Eileen … Ich habe mich auch in dich verliebt.“ Bei seinem Geständnis lächelte sie. Dann stellte sie sich wieder auf die Zehenspitzen und legte sacht ihren Mund auf seine noch geöffneten Lippen. Er hob sie vorsichtig mit seinen muskulösen Armen hoch, sehr darauf bedacht, nicht ihre verletzte Schulter zu berühren. Er trug sie zu seinem Bett und setzte sie auf der schwarzen Decke ab. Er spürte sie lächeln und schloss genießerisch die Augen. Er beugte sich über sie und tastete mit den Händen ihren Rücken ab. Er fand den gesuchten Reißverschluss und öffnete ihn in aller Ruhe. Währenddessen öffnete sie Knopf für Knopf an seinem Hemd. Es fiel zu Boden und auch sie streifte den roten Stoff von ihrem Körper. Sie trug schwarze Unteräsche. Sie betastete die Muskelstränge an seiner Brust unter der goldbraunen Haut, er strich über ihren straffen, durchtrainierten Bauch und die ganze Zeit über hatten sie nicht einmal die Münder voneinander getrennt.
Nun legte sie sich auf den Rücken und zog ihn auf sich. Sean stützte sich ab um nicht sein volles Gewicht au sie zu legen. Sie hatte schon seine schwarze Stoffhose aufgeknöpft und zog sie ihm hinunter. Er striff sich die Schuhe ab und machte sich dann an ihren zu schaffen. Als auch ihre zierlichen Füße befreit waren, widmete er sich wieder voll und ganz ihrem wunderschönen Körper und schmeckte sie unaufhörlich.
So lagen sie da, küssten sich, liebten sich und die Zeit verstrich in diesem einen Moment und blieb dennoch stehen. Es gab nichts anderes mehr für sie beide, als den anderen. Sie gaben sich Wärme und unbegrenzte Liebe.
Das ging immer so weiter. Ihr Liebesspiel wurde von Liebe und Zärtlichkeit geleitet. Von der Streitsüchtigkeit, Verzweiflung und Wut des vorigen Abends war nichts mehr zu spüren. Nur noch sein Körper in ihrem und seine Lippen auf ihren.




Freier Fall




Jillien streifte unruhig durch Brooklyns Straßen. Ihr alter Chef, und stolzer Besitzer eines Nachtklubs namens Oleander, Mr Gimbs, hatte sie heute Morgen benachrichtigt. Er hatte erzählt, dass am Samstagabend zwei junge Männer nach ihr gefragt hatten. Einer von ihnen war ganz verrückt geworden, als er ihm erzählte, sie singe nicht mehr seit über neun Jahren bei ihm. Den Beschreibungen nach war der eine Sean gewesen und der andere ein Fremder.
Nun, Mr Gimbs war so nett gewesen, dem Fremden ihre Nummer zu hinterlassen.
Und vor nur einer halben Stunde rief dieser Fremde an und stellte sich als Christopher Stevens vor. Er klang höfflich und sympathisch, also hatte Jillien einem Treffen mit ihm zugesagt. Sie wollten sich im Oleander treffen und ein wenig reden.
Es fing langsam an zu nieseln und genervt sah Jillien sich um. Wo blieb dieser Christopher nur?
Wie aufs Stichwort kam er aus einem blauen BMW gehastet. Zumindest nahm sie an, das es sich um Christopher Stevens handelte, denn er rannte genau auf sie zu. Mit festem Blick betrachtete sie ihn genauer. Er war der Fremde. Er hatte die großen braunen Teddybäraugen und die blonde Löwenmähne, von der Mr Gimbs ihr erzählt hatte. Noch vor einigen Tagen wäre bei seiner Erscheinung die Bestie erwacht. Doch sie trat nicht zu Vorschein. Entweder war sie noch gesättigt von dem verstörenden Traum, oder der Mann vor ihr hatte schon seine große Liebe gefunden. Immer noch skeptisch verschränkte sie locker die Arme vor der Brust.
„Christopher Stevens, nehme ich an.“ Er nickte ihr beim Herannahen zu und ging ihr dann in den Klub hinterher. Zielstrebig schritt sie in den VIP-Bereich und setzte sich in die hinterste Nische, wo sie auch sonst immer gesessen hatte. Ihr gegenüber nahm Christopher Stevens Platz und musterte sie eingehend. Sie erwiderte seinen Blick.
„Nun, warum haben sie mich angerufen, Christopher?“ Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als ihre schneidende Stimme erklang. „Das wissen sie.“ Mit hochgezogenen Brauen blickte sie ihn erwartungsvoll an. Aber, so wie sie auch, sagte er kein Wort. Nur ihre Blicke trafen sich mit feurigen Waffen. Sein Wille war eisern und fest, erstmals unbesiegbar. Aber wie weit er gehen konnte, würde sich noch beweisen müssen. Erst einmal gab sie sich geschlagen und ließ sich zurückfallen, gegen die Polster der Bank. „Es geht um ihren Freund, stimmt’s?“ Christopher reagierte nicht. Was Jillien ein Unwohles Gefühl verspüren ließ. Plötzlich beugte er sich nach vorne. „Sagen sie seinen Namen.“ Seine Stimme war scharf wie ein Peitschenhieb, doch sie war nicht so leicht einzuschüchtern. „Was ist, wenn ich ihn nicht kenne?“ Christopher zischte leise wie eine gereizte Kobra, ehe er sich wieder lässig zurück lehnte. „Ich weiß, dass sie ihn kennen. Sie haben ihn danach in ihrem letzten Traum gefragt.“ Perplex riss sie die Augen auf. Woher wusste er von dem Traum. Und was da passiert war? Er hatte ihre Verwirrung gesehen und lächelte sie wissend an. Sie fühlte sich wie ein Hund im Zwinger, der einen Unbekannten auf dem Grundstück bemerkte. Sie konnte zwar knurren und bellen, doch etwas wirklich Wirkungsvolles gegen den Fremden konnte sie nicht tun. Trauer übermannte sie bei dem Gedanken an früher.
„Sean“, vernahm sie ihre gewisperte Antwort. Christopher lächelte siegessicher. „Genau um den geht’s. Er ist verrückt nach ihnen. Er erzählt rund um die Uhr nur von ihnen. Er liebt sie.“ Jillien presste die Lider fest zusammen. Sie wollte nicht an ihn denken. Das schmerzte sie einfach zu sehr. Doch dieser Christopher war erbarmungslos. „Sie haben ihn ebenfalls geliebt, das deute ich jetzt einfach mal blind heraus aus ihrer Reaktion. Und sie haben ihn einfach verlassen. Sie haben ein eiskaltes Herz und haben nicht einmal den Anstand ihm den Grund für ihre Zurückweisung zu nennen. Er gibt sich dafür die Schuld. Doch die Schuldträger sind sie ganz allein. Sie haben einfach nicht …“
„Halt die Klappe!“, unterbrach sie ihn wütend. Verwirrung spiegelte sich in seinen Augen. Er wollte mit seiner Rede fortsetzen, aber sie brachte ihn mit einem düsteren Blick zum Schweigen. „Ja, es stimmt. Ich habe Sean verlassen. Und ich habe ihn auch geliebt, tu es immer noch. Und ich sagte ihm auch nicht, warum ich ging.“ Christopher wusste nicht, was er erwidern sollte, außer: „Aber warum haben sie ihn überhaupt verlassen? Sagen sie mir, weswegen sie gingen. Gab es einen anderen?“ Sie hätte fast losgelacht, erinnerte sich aber wieder an die Situation, in der sie sich befand. Sie antwortete mit sachlicher Stimme.
„Nein. Es gab und gibt für mich niemanden, außer ihm. Doch ich werde nicht sagen, warum das zwischen uns nicht bestehen kann. Das geht sie nämlich nichts an.“ Für sie war die Unterhaltung damit beendet, weshalb sie auch aufstand.
Doch Christopher hielt sie mit eisernem Griff fest und zog sie wieder auf ihren Platz. Sie dachte daran, wie leicht es gewesen wäre, sich ihm zu entreißen. Doch sie wusste, wie ernst es ihm um seinen Freund stand, weswegen sie ihn gewähren ließ. Wieder auf der Bank und frei von Christophers Hand fragte sie: „Wie lange sind sie und Sean schon befreundet?“ Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Neuneinhalb Jahre.“ Sie pfiff kurz durch die Zähne und hob anerkennend die Brauen. „Sagen sie, hat er sich viel seit damals verändert?“ Argwöhnisch sah er sie durch Schlitze an. „Warum fragen sie ihn nicht einfach selbst?“ Jillien überlegte, ob sie gehen oder ihm antworten sollte. Sie entschied sich für Methode zwei. „Weil … weil ich gefährlich bin. Er könnte durch meine Hand sterben.“ Die Aussage reichte ihm anscheinend nicht, doch mehr Details über ihrer Selbst würde sie ihm nicht geben. Nach einer stillen Ewigkeit, flüsterte er leise: „Er hat sich fast nicht verändert. Er ist älter geworden. Und man könnte behaupten, er sähe nun besser aus. Er trainiert im Scooter’s Boxstudio und kämpft manchmal abends in einem geheimen Fightklub um Stress abzubauen.“ Sie schluckte schwer. Und wie aufs Stichwort beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. „Er gewinnt jedes Mal und kriegt nicht einen Kratzer ab.“ Sie atmete erleichtert auf und spürte Christophers skeptischen Blick auf sich. Ehe sie nachhaken konnte, meinte er: „Sie sorgen sich um ihn. Warum?“ Sie antwortete nicht, doch ihr rauchiger Blick reichte ihm. „Sie lieben ihn.“ Stumm und mit Tränen in den Augen nickte sie. Christopher beugte sich über den Tisch ihr entgegen. Eine warme Hand legte sich auf ihre eiskalte und drückte leicht zu. Sie blickte hinter einem Schleier zu ihm auf und erkannte Mitgefühl in seinen braunen Schokoaugen.
„Es tut mir leid.“
„Ja, mir auch. Sagen sie ihm das. Das es mir so schrecklich leid tut. Aber ich kann ihn nicht in meinem Leben haben. Er soll mich nie vergessen.“ Sie wollte schon gehen, als Christopher noch rief: „Er wird sie nie vergessen. Er hat sie immer bei sich.“ Fragend drehte sie sich ihm noch einmal zu. Eine Andeutung eines Lächelns lag auf seinen Lippen. „Ihr Talisman. Er trägt ihn immer bei sich.“ Nun schluchzte sie heftig auf. Mein Talisman. Er trägt ihn. Er hat mich nicht vergessen. Oh Himmel, Sean! Warum tust du mir das nur an? Du brichst mir mit deiner Liebe immer wieder neu das gerade verheilte Herz!
Nein, dachte sie wütend, er trägt keine Schuld, so wie Christopher schon sagte. Du bist diejenige, wegen der dein Herz bei jedem Gedanken an ihn in tausend Splitter zerspringt.
Verzweifelt, den Tränen erneut nahe und wütend über ihre Verletzlichkeit, drehte Jillien sich wortlos um und lief aus dem sich füllenden Klub. Christophers Stimme und die ihrer hinterher schauenden Blicke ignorierend rannte sie weiter. Sie sprang vor hupende Autos auf stark befahrenen Straßen und stieß mit anderen Menschen zusammen. Ließ sich von niemandem stoppen. Erst als sie auf einer Schnee bedeckten Wiese umknickte und fiel, hielt sie gezwungener Maßen an. Sie umfasste mit der Hand den schmerzenden Knöchel und ließ den Tränen freien Lauf.
Dann legte sie sich flach auf den Rücken, fühlte den kalten Schnee an ihren nackten Armen und dem Kopf, ignorierte jedoch die schmerzende Kälte auf ihrer Haut. Sie spürte es schneien, bemerkte die weißen Flocken auf ihrem Gesicht. Merkte, wie der Schnee immer heftiger fiel, bis ein kleiner Sturm aufkam. Doch sie stand nicht auf, um nach Hause zu laufen. Sie öffnete nicht die durch die Tränenflüssigkeit zugefrorenen Augen. Und sie machte nichts gegen die herannahende Dunkelheit, die sie zu verschlingen drohte. Sie warf sich in eine tiefe Schlucht, schrie mit dem peitschenden, ihr entgegenströmenden Wind um die Wette und schlug hart auf einem Boden auf. Der Sturz nahm ihr alle schrecklichen Gedanken, die Schmerzen und machte sie gefühllos. Sie dachte, sie stürbe, doch sie wusste nur zu gut, dass der gewünschte Tod noch Abermilliarden Meilen und hunderte von Morden von ihr entfernt lag. Doch für diesen Augenblick ließ sie sich in der Hoffnung schwelgen, dass dies hier ihr Ende war.

Eileen öffnete träge die Augen und starrte in zwei blaue Meereskugeln. Seans Blick war noch etwas glasig, doch sie konnte dennoch seine Freude in ihm erkennen. Mühsam rollte er sich von ihr hinunter und legte einen Unterarm auf die schmerzenden Augen. Sie stützte sich seitlich vom Bett auf und musterte ihn lächelnd von oben herab. Er spürte ihren intensiven Blick und verzog das Gesicht zu einem Grinsen.
„Das war schön“, hauchte sie atemlos. Sean nahm den Arm von den Augen und starrte sie selbstgefällig an. „Natürlich. Ich bin eben ein wahrer Meister.“ Ihre Mundwinkel zuckten und sie warf sich auf ihn. Er lachte kehlig auf und rollte sie beide mühelos herum. Sie lag wieder unten und schlang ihre dünnen Arme um seinen kräftigen Hals. Sie zog ihn zu sich hinunter und unterdrückte sein Lachen mit ihren Lippen. Sein Mund war weich. Seine Zunge gierig ihren Mund am erforschen. Mit geschlossenen Lidern seufzte sie, was durch ihn gedämpft wurde. Sie strich mit den Händen sacht über seinen starken Rücken, fuhr seine Wirbelsäule entlang und hielt ihn an seinen breiten Hüften fest. Währenddessen umfasste Sean ihre Brüste durch ihren schwarzen BH hindurch und massierte sie angenehm.
„Wie viel Uhr ist es?“, stöhnte sie kehlig aus. Mit einem schnellen Blick studierte er den Wecker neben seinem Bett. „Dreizehn Uhr vier.“ Sie lächelte selig. Er stützte sich wieder auf sie ab und strich mit seinen gierigen Lippen ihren langen Hals hinab. Sie lachte lustvoll und wurde schon wider am ganzen Körper heiß.
Sean hatte ihre Körpertemperatur gefühlt und verspürte nun dasselbe Verlangen nach ihr, was sie durch das schwere Gewicht seiner Lenden auf ihrem Oberschenkel erriet. Er murmelte etwas an ihren Hals, ehe er sich tiefer arbeitete. Er umkreiste mit dem Finger ihren kleinen Bauchnabel und küsste sich um den Rand des BH. Sein Mund wanderte weiter und hinterließ eine kribbelnde Spur. Er drückte seine Lippen auf ihre beiden Hüften, die Innenseiten ihrer Oberschenkel und dann auf ihren schwarzen Satinslip. Sie bäumte sich mit einem Stöhnen auf und auch er bog durch die Lust in die Knie gezwungen den Rücken durch.
Mit flinken Fingern nahm er den Bund ihrer Unterwäsche und rieb ihn. Das Geräusch verursachte einen Schauder, welcher über Eileens gesamten Körper jagte.
Sie wiederholten den Akt oft und öfter. Genauso, wie davor auch schon. Bis sie neben einander einschliefen und selige Träume vom jeweils anderen hatten. Ihre Verliebtheit machte sie blind für alles andere um sie herum, und so achteten sie auch nicht auf das Radio mit der schrecklichen Eilnachricht und ebenfalls nicht auf den unbeantworteten Anruf von Chris.

Christopher Stevens saß mit seiner Frau am Küchentisch und nahm sich gerade noch eine Portion Kartoffelpüree, als die Nachrichtensprecherin eine Eilnachricht ankündigte. Stumm machte er lauter. Solche Mitteilungen durfte er als Polizist nicht verpassen, auch wenn die Nachrichten meistens aus einer Fliege einen Elefanten machten.
Die panische Stimme der Moderatorin erklang heiser und fast unverständlich. „Eine junge, rothaarige Frau, geschätztes Alter Anfang zwanzig, stürzte sich vor weniger als einer Stunde von der Williamsburg Bridge. Sie tauchte Kopfüber ins circa minus fünf Grad kalte Wasser aus einer Höhe von einundvierzig Metern. Ein Augenzeuge versuchte sie daran zuhindern, doch sie ignorierte ihn. Zu ihrem Glück war der East River an der Stelle nirgends zugefroren. Polizisten holten die bewusstlose Frau per Rettungsboot aus dem Fluss. Angehörige werden gebeten, sofort ins Kings County Hospital zukommen …“ Chris starrte seine entsetzte Frau Ellinora fassungslos an. Sie sprang schon auf, holte seine Lederjacke und das Pistolenhalfter mit der Dienstwaffe, als er noch schnell das Handy aus der Hosentasche zog. Er tippte die nur allzu bekannte Nummer ein. Geh ran, geh ran! Die vertraute Stimme seines Freundes ertönte: „Bin gerade nicht erreichbar. Bitte hinterlassen sie eine Nachricht nach …“ Mit einem Knall legte Chris auf „Scheiße!“ Elli starrte ihn aus geweiteten Augen an. Entschuldigend küsste er sie auf beide Wangen und legte zum Abschied seine Hand auf ihren runden Bauch. „Mach dir keine Sorgen. Ich pass auf mich auf.“ Sie schnalzte skeptisch mit der Zunge, hinderte ihn aber nicht am Verlassen des Hauses.
„Rette sie. Und pass auf dich auf!“, rief sie ihm mit ängstlicher Stimme hinterher. Beim Einsteigen in seinen dunkelblauen BMW warf er ihr noch einen Handkuss zu, dann startete er geschockt den Motor. Mit panisch zitternden Fingern suchte er in seinem Mobiltelefon durch die vor Kurzem gewählten Nummern. Die einzige, die als Unbekannt festgehalten wurde, rief er an. Nach dem dritten Klingeln wollte er schon auflegen, als die Stimme eines Mannes am anderen Ende der Leitung ertönte.
„Hier ist Ted Dabey. Mit wem spreche ich?“
„Christopher Stevens. Was ist passiert?“, fragte er, während er die Richtung zum Kings County Hospital einschlug.
„Woher, zum Teufel, haben sie die Nummer unseres Selbstmordopfers?“, donnerte Cob Dabey.
„Ist sie etwa tot?“ Er ignorierte den Wutausbruch seines Chefs. Was ist, wenn die Namenlose nicht mehr am Leben ist? Was wird dann mit Se an sein?
„Sie ist nicht tot, wundersamer Weise. Aber, um Gottes Willen, wie, Mr Stevens, sind sie, verdammt noch mal, an ihre Handynummer gekommen?“ Chris machte eine scharfe Kurve und hielt dann abrupt vor dem riesigen Gebäude des Krankenhauses.
„Ich bin hier. Bis gleich.“ Der andere Polizist schrie Wut entbrannt und im Hintergrund hörte man beschwichtigende Worte, die den Zorn jedoch nicht zu lindern schienen.
„Mr Stevens, sagen sie mir augenblicklich …“ Chris legte auf. Er sprang aus dem Auto und schloss es nur notgedrungen zu. Er rannte auf den Eingang zu und durch die geöffneten Türen. Überall hasteten panische Ärzte, Krankenschwestern und Kranke herum. Die Presse hatte sich um Assistenzärzte gescharrt, die ängstlich von einem Paparazzi zum nächsten schauten. Die Polizei verriegelte Räume, versuchte, die Nachrichtensprecher loszuwerden. Es herrschte ein riesen Chaos. Chris lief mitten durch und kam vor einer von zwei Cobs versperrten Tür zum Stehen. Der eine zog fragend eine Augenbraue hoch. Schnell zog Chris seine Dienstmarke hervor und der andere nickte dem ersten zustimmend zu. Sie ließen ihn ein. Zögernd trat er in einen sterilen weißen Raum. Überall standen Maschinen, Geräte, ahnungslose Ärzte und mürrische Polizisten.
Chris marschierte zielstrebig auf eine getönte Glasscheibe zu, vor der alle sich versammelt hatten. Doch bevor einen Blick auf das, was sich dahinter befand, erhaschen konnte, stellte ihm sich jemand in den Weg. Ein riesiger Mann, mindestens zwei Meter groß und mit breiten Schultern, stand breitbeinig vor ihm. Er trug einen kurzen Stoppelschnitt und verschieden farbige Augen. Eines war hellblau und das andere dunkelbraun. Chris wäre ihm nicht gerne im Dunkeln begegnet, zumindest nicht, wenn er ihn nicht gekannt hätte. Doch Ted Dabey war sein Chef und gleichzeitig guter Saufkumpel, hinter Toby, Charlie, Jake und Sean.
Dem Gesichtsausdruck nach zuurteilen, hatte Ted schlechte Laune. „Stevens!“, schrie er, „Was machen sie hier?“ Chris war nicht im Mindesten eingeschüchtert. Also trat er an den großen Kerl heran und meinte stur nach oben: „Meine Arbeit.“ Der Cob schien von seinem Mut nicht im Geringsten überrascht zu sein. Doch auch Chris’ freundschaftlicher Schulterboxer stimmte ihn nicht gut. „Und warum haben sie die Handynummer von unserem Opfer, verflixt noch mal?“ Er schrie. Er schrie immer. Doch noch nie hatte Christopher seinen Chef so wütend erlebt, außer als seine Frau sich von ihm scheiden ließ.
„Ted“, sagte er beschwichtigend, „beruhige dich erst einmal. Ich kann alles aufklären. Doch erst mal musst du runterkommen.“ Cob Dabeys Kopf lief rot an, doch er sagte nichts. Chris führte ihn zu einem Stuhl und drückte ihn sacht, aber bestimmt, darauf.
Nachdem der Wutausbruch abgeklungen war, holte Chris tief Luft. „Wie geht es ihr?“ Ted antwortete nicht. Er starrte nur weit weg, auf einen Punkt, der Christopher verborgen blieb. Eine junge Ärztin kam zu ihnen hinüber und meinte: „Sie liegt im Koma. Ihr Körper versucht sich aufzuwärmen und ihr Blutdruck sinkt langsam aber sicher wieder. Doch ob sie je wieder aufwachen wird, wissen wir nicht. Man kann nur hoffen. Jetzt in diesem Moment aber müssen wir aufpassen, dass ihr Herz weiter schlägt und nicht plötzlich verstummt …“ Wie aufs Stichwort ertönte ein schrilles Piepsen. Chris hielt sich erschrocken die Ohren zu, die Ärztin wirbelte panisch herum und lief zwischen die Meute von Polizisten und Doktoren. Ted wurde von dem schrecklichen Geräusch wieder in die Realität zurück katapultiert und rief seine Teammitglieder mit einem Bellen zusammen. In einer Schar stampften sie aus dem Raum. Doch Chris folgte ihnen nicht. Reglos stand er da. Schon oft hatte er diesen Laut vernommen und wusste des halb leider ziemlich genau, was passiert war.
Ihr Herz hat aufgehört, zuschlagen! Shit!
Chris versuchte, sich zusammeln und beobachtete mit schmerzendem Kopf und aufgewirbelten Gedanken, wie die Ärzte unkontrolliert durcheinander liefen und die junge Frau, die ihn gerade eben noch aufgeklärt hatte, führte eine Herzmassage durch, während ein anderer die Namenlose mit Elektroschocks zurückholen wollte.
Doch an den Gesichtausdrücken, Mimiken und dem unaufhörlichen Schrillen, wusste Chris ebenso gut, wie die Doktoren, dass es zu spät war. Trauer befiel ihn. Die Namenlose war wirklich hübsch gewesen, doch ihre zuvor strahlende Haut erbleichte immer schneller. Ihre voluminösen Locken verloren immer mehr an Haltkraft. Und ihr straffer Körper fiel in sich zusammen. Die Sekunden verrannen. Und Chris wurde schemenhaft bewusst, dass das kostbare Leben wie eine Sanduhr war. Wenn sie unberührt stehen blieb, fielen die Körner träge. Doch wenn sich das Leben verändert und das gläserne Gefäß hin- und hergeschwenkt wird, dann strömten die Körner in einem rasenden Strom abwärts. Und egal, wie schnell der Sand fällt, irgendwann ist das Glas leer und das Leben erlischt.
Mit schmerzendem Herzen denkt er an das Leben der jungen Frau. Er wusste nicht sonderlich fiel über sie. Aber zwei sehr entscheidende Punkte wusste er.
Sie war gefährlich. Sie hatte es ihm gesagt. Und er hatte es gespürt.
Und sie liebte Sean mehr als alles auf der Erde. Auch das hatte sie ihm gesagt. Und er hatte es in ihren rauchgrauen Augen gesehen.
Wütend stürzte er auf die getönte Glasscheibe zu. Wenn du jetzt stirbst, Namenlose, dann … Ja, was dann?
Verzweifelt drückte er sein Gesicht gegen den durchsichtigen, jedoch harten Vorhang und starrte auf sie hinab. Die Ärzte sahen fassungslos einander an und marschierten dann in Reih und Glied hintereinander her hinaus. Teds Stimme drang zu Chris vor, doch er beachtete ihn nicht. Er blickte nur mit trüben Augen in den Raum vor ihm.
Da lag sie. Tot.
Und hier stand er und konnte all das nicht verstehen.
Blindlings schritt er durch die noch offene Tür zu ihr ins Zimmer, dicht gefolgt von Ted. Dieser legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Chris, woher kanntest du sie?“, erklang seine sanfte Stimme, als würde er mit einem kleinen Jungen sprechen, der seine Eltern im Einkaufszentrum verloren hatte. „Ich habe sie nur einmal gesehen. Heute. Doch ich kannte sie schon fast mein Leben lang.“ Sein Chef wirkte verwirrt. Doch er erwiderte nichts.
So standen sie weiterhin neben einander und blickten sie an. Die Ärzte verließen schweigend den Vorraum und alles lag in schrecklich ruhiger Stille.
Chris musterte ihr makelloses Gesicht. Er hätte schwören können, gerade eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Ted schien nichts bemerkt zuhaben, sondern starrte nur unbewegt auf ihren vollkommenen Körper. Chris studierte ihre Züge weiter.
Da! Da war etwas.
Forschend beugte er sich zu ihr hinunter.
Und fuhr erschrocken wieder hoch. Zwei mitternachtsschwarze Augen musterten ihn und eine rote Zunge fuhr sich über die blauen Lippen. Ihr Blick schweifte weiter zu Ted, welcher sie fassungslos betrachtete. Dann veränderte sich der Ausdruck in seinen bunten Augen. War das etwa Anbetung.
Langsam setzte die Namenlose sich auf. Erschrocken wich Chris rückwärts und stieß nach mehreren Schritten hart gegen die weiße Wand. Währenddessen ging der andere Mann immer näher auf die eigentlich tote Frau zu. Diese bleckte die Zähne und strich ihm verführerisch über die Arme. Ohne langes Vorspiel zog sie ihn an sich. „Küss mich“, vernahm Chris sie. Ihre Stimme war belegt und verführerisch. Sie jagte ihm einen Schauder über den Rücken und ihm brach der Schweiß am ganzen Körper aus. Doch ohne jegliche Angst beugte Ted sich vor und legte seine Lippen gierig auf den Mund der Schönheit. „Nein!“, schrie Christopher schrill.
Sie lachte verzückt auf, als sie wieder von dem Polizisten abließ.
Furcht breitete sich in seinen nun geweiteten Augen aus und er öffnete den Mund zum Schrei.
Doch es erklang kein Geräusch. Verwirrt starrte Chris auf das sich ihm bietende Schauspiel. Flammen, so rot, wie ihr Haar, züngelten dem panischen Mann aus jeder Pore. Er brannte. Dass lodernde Feuer breitete sich lautlos aus. Das grelle Licht blendete ihn und das einzige, was Chris vernehmen konnte, war das schreckliche Lachen der Frau und sein eigener rasselnder Atem.
Als Ted vollends verschlungen

Stummes Wissen




Sean setzte gerade Kaffe auf, um achtzehn Uhr neunundzwanzig, wohlgemerkt. Dabei wurde er eingehend von Eileen beobachtet. Sie trug seinen schwarzen Morgenmantel, den er noch nie angehabt hatte. Aber er war ein Geschenk seiner alten Mutter, weshalb er ihn auch nicht wegschmeißen konnte.
Ihre Haare waren leicht zerzaust und die grünblauen Augen schläfrig. Erst vor zehn Minuten hatten sie sich dazu überwinden können, aus dem warmen Bett zu steigen. Sie belächelte ihn seitdem selig und er konnte ihre Glücksgefühle nur teilen. So geborgen, wie in ihrer Gegenwart, hatte er sich seit langem nicht mehr gefühlt. Genau genommen seit fast … zehn Jahren. Das letzte Mal war an seinem fünfzehnten Geburtstag gewesen.
Stechende Kopfschmerzen überfielen ihn schlagartig bei den Gedanken an die Vergangenheit, und er sackte, plötzlich kraftlos, in sich zusammen. Mit einem Schreckensschrei kniete Eileen sich eilig neben ihn und umklammerte seine Hand. Er stöhnte auf und unterdrückte mühsam ein annahendes Würgen. Ein raues Gurgeln trat aus seiner Kehle.
Was verband sich nur Geheimnisvolles mit diesen Schmerzen? Auch als er gestern Morgen versucht hatte, sich an etwas zu erinnern, waren sie aufgetreten.
Nur nicht so stark wie heute.
Eileens panische Stimme drang, blechern und übertönt von dem Rauschen seines Blutes in seinen Ohren, zu ihm durch: „Sean! Was ist nur los mit dir? Diese Anfälle sind schrecklich! Hörst du mich überhaupt?“ Schwach nickte er und sie zog ihn hoch. Angestrengt schleppte sie sie beide durch das spärlich eingerichtete Wohnzimmer und in sein dunkles Schlafzimmer. Schwerfällig ließ er sich auf die unter seinem Gewicht knarrende Matratze fallen. Eileen drückte ihn liebevoll, aber bestimmt in die Kissen zurück und deckte ihn zu. Dann setzte sie sich vorsichtig auf die Bettkante neben ihn und hielt seine Hand fest in ihrer. Er blickte sie unter schweren Lidern an und versuchte sich an einem amüsierten Grinsen.
Es glich eher einer Fratze. Höfflich lächelte sie ihm zu. Doch ihre Augen waren von blinder Panik verzehrt und aus Verzweiflung geweitet. Sie murmelte leise Beruhigungen. Ob sie nun ihm galten, oder ihr selbst, war nicht zu wissen. Doch sie halfen. Eileen entspannte sich merklich und zerquetschte nicht mehr sein Finger. Und auch Sean wurde ruhiger. Ihm fielen vor Erschöpfung die Augen zu. Er wollte wach bleiben und sie trösten, beruhigen, ihr sagen, mit ihm sei alles in Ordnung.
Doch das stimmte nicht. Mit ihm war nichts in Ordnung. Er konnte sich nicht mehr deutlich an die längst vergangenen Zeiten erinnern. Und seine Versuche, etwas daran zu ändern, brachten ihm schmerzende Migräne und sofortige Müdigkeit. Er sollte eigentlich seinen Hausarzt aufsuchen.
Doch ob dieser ihm wirklich helfen konnte, vermochte er nicht zu sagen.

Jillien konnte ihre Glieder nicht mehr spüren. Ihre Augen fühlten sich an, als wären sie zugefroren. Es gelang ihr nicht, sie zu heben, so sehr sie es auch versuchte. Ihre Finger waren von den Kuppen bis hin zur Handfläche steif und taub. Eine eisige Kälte zog sich von den kalten Fingerspitzen über die schmalen Handgelenke, zu den rauen Ellbogen und dann kribbelnd hinauf zu ihren Schultern, wo sie sich mit dem unterkühlten Blut staute. Während ihr gesamter Körper sich anfühlte, als wäre sie in einem Schneeberg begraben, erhitzte ihre Stirn und die Wangen brannten förmlich. Mühsam versuchte sie die Lippen zu öffnen, doch sie waren wie zugeschweißt und fest getuckert. Sie musste notgedrungen durch die entzündete Nase atmen, doch der Sauerstoff kam nur teilweise durch die sich schwerfällig aufblähenden Nasenflügel.
Das einzige Geräusch, das sie neben ihrem schweren Atem vernahm, war ihr rasender Herzschlag. Doch, nein, dass stimmte nicht. Da war noch etwas anderes. Eine, nein zwei Stimmen unterhielten sich flüchtig mit einander. Die eine gehörte Christopher und die andere einer fremden Frau. „Schatz, ich weiß, dass du krumme Dinge nicht ausstehen kannst, aber …“
„Kein aber. Sie kann hier nicht bleiben. Sie wird gesucht! Für tot gehalten! Deine Kollegen werden irgendwann auf deine Fährte stoßen und dann könntest du in den Bau kommen! Ich könnte doch niemals unser Kind ohne dich aufziehen! Und was sollte ich ihm bitte schön sagen, wenn er nach dir fragt? ‚Schatz, dein Daddy ist im Gefängnis, weil er einer Leiche zur Flucht verholfen hat’? Das ist doch verrü-“ Ein Geräusch sich treffender Lippen ertönte und ein heiseres Seufzen entrang sich der fremden Frau. Jillien hörte Stoff rascheln und das Streifen auf einander reibender Haut. Am liebsten hätte sie ihre Beine in die Hand genommen und wäre geflüchtet, doch noch immer hielt die Gefühllosigkeit ihren angespannten Körper in Gefangenschaft. Die Kälte und Hitze in ihren Gliedmaßen bekriegte sich unaufhörlich und setzte ihr eine schwere Last vor Füßen.
Die Frau nuschelte einige Worte und Christopher erwiderte eine heitere Entgegnung. Dann erklangen die drei unwiderstehlichsten Worte. „Ich liebe dich.“ Sie waren aus seinem Munde gekommen, wurde von seinen Lippen getragen und von seinen Stimmbändern produziert. Seine Geliebte lachte leise auf, ehe sie seufzte: „Ich dich auch. Doch die Frau kann trotzdem nicht bleiben.“ Ein genervtes Grollen kam von Christopher, ehe ein Sofa knarrte und Stoff über Haut gezogen wurde. Sie hörte Schritte, welche sich ihr langsam näherten. Sie wurde nervös und hätte am liebsten vor Panik laut geschrieen. Sie spürte eine warme Hand über ihr weiches haar fahren und merkte heißen Atem an ihrem Decolté. Dann das schwirrende Geräusch von einer hand und Christopher fuhr erschrocken zurück. „Wirst du wohl deine Finger von ihr lassen?“ Verzweifelte Wut und unaufhaltsame Eifersucht sprachen aus ihrer Reaktion und den bitter betonten Worten.
Jillien wäre am liebsten im Erdboden versunken. Sie litt unter Schuldgefühlen. Was, wenn sie nun Christophers Leben auch noch zerstörte? Doch dieser lachte nur freudig auf. „Was denn? Bist du etwa eifersüchtig?“ Ein verachtendes Schnalzen mit der Zunge ihrerseits erklang, dann sich schnell fortbewegende Schritte. Seine schweren Füße liefen ihr eilig über das Parkett hinterher und sie hörte ihn abrupt stoppen, so wie sie auch. „Christopher Stevens, ich habe dich aus Liebe geheiratet. Und nun erwarte ich ein Kind von dir. Und alles, was ich von dir entgegnet bekomme, ist eine fremde Frau, um die ich mich sorgen soll? Dazu auch noch eine hübsche Frau? Ich weiß nicht, was ich von deiner Leistung als mein Mann halten soll. Während du so oft weg auf Einsätzen bist, muss ich hier zu Hause alleine bleiben, genügend schlafen und mir rund um die Uhr Sorgen um dein Wohlergehen machen. Ich weiß nicht, wie ich unter dem Druck leben soll, unter der Einsamkeit, …“
„Mit ihr bist du nicht …“
„… aber das bedeutet nicht, dass ich die Krankenschwester für ein Selbstmordopfer spielen muss. Ich kann mir nicht noch mehr Gedanken machen. Den ganzen lieben langen Tag denke ich darüber nach, was ich tun würde, wenn du durch einen dieser Psychopaten umkommen solltest. Oder was mit uns passiert, wenn ich das Kind verliere. Dann kommt da noch die Tatsache dazu, dass meine Mutter Krebs hat, und nur noch wenige Monate zu leben hat. Und dann soll ich, ganz nebenbei, auch noch um eine Verrückte sorgen?“ Nach ihrer Rede verstummte Christopher und Jilliens Herz setzte für einige Sekunden aus. Dann überflutete sie Mitgefühl und Trauer für die arme Frau. Auch er schien von Schuldgefühlen geplagt, denn sie vernahm eine traurige Entschuldigung und ein gedämpftes Schluchzen an seinem Shirt von ihr. Hätte Jillien weinen können, so wäre sie in tränen ausgebrochen. Doch noch immer war ihr Körper taub für jegliche Regung.
Das Weinen verklang allmählich und die Frau ließ sich laut auf das Sofa fallen. Ebenso Christopher. Nach eisigem, lang andauerndem Schweigen durchbrach die klägliche Stimme ihrer die Stille. „Chris, was ist überhaupt mit ihr los? Ich weiß, dass sie in den East River gesprungen ist, doch warum ist sie nicht tot?“ Er ließ sich Zeit mit der Antwort. Überlegte anscheinen, was er sagen sollte. „Sie lag für sehr kurze Zeit im Koma, zumindest meinten das die Ärzte. Dann wachte sie urplötzlich auf und war hellwach.“ Er unterbrach sich. Wird er seiner Frau auch die Sache mit seinem Freund erzählen? Sie machte sich schon einmal auf die Panikattacke der Frau gefasst. Doch sie wurde eines Besseren belehrt. „Dann hat sie mich gebeten, ihr zu helfen“, log er, denn sie hatte nie ein Wort nach ihrem Erwachen gewechselt. „Auf der Autofahrt hierhin wurde sie bewusstlos und nun liegt sie hier. Ich weiß nicht, was mit ihr ist. Ich dachte …“ Er verstummte.
„Du dachtest, dass ich ihr als ehemalige und bald wieder in Kraft tretende Ärztin ihr helfen könnte“, vollendete sie sachlich den Satz ihres Manns. Jillien rutschte das Herz in die Hose. Eine Ärztin! Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Die Doktorin erhob sich leise stöhnend und trat zu Jillien. Diese wollte nicht ihrem Blick begegnen. Auch wenn sie die Lider geschlossen hatte, konnte sie doch mit neunundneunzig Protzentiger Zuversicht sagen, dass sich in ihren Augen Härte und Hass schimmerten.
Doch wieder hatte sie sich getäuscht.
Abermals strich eine, dieses Mal etwas kleinere, leichtere, jedoch auch warme, Hand über ihre Locken und spielten mit einer roten Strähne. Das Gefühl war angenehm und völlig unbekannt für sie. Dann zeichneten weiche Fingerspitzen ihren Kieferknochen nach und blieben an ihrem Hals liegen. Eine zweite Hand wurde forschend dazu geholt und massierte die kühle Haut, unmittelbar unter ihrem Kiefer. „Ihre Drüsen sind nicht geschwollen“, kam die Antwort zu ihrem Unternehmen. Sie ließ Jilliens Hals los und griff nach einem ihrer schmalen Handgelenke und legte die Finger auf den Puls. Nach längerem Zögern, meinte sie“ „Der Puls ist etwas langsam, aber das wird sich wieder normalisieren, sobald sie genesen ist.“ Tastende Hände legten sich auf die heiße Stirn. Die fachliche Ärztin zog scharf die Luft ein und befühlte rasch auch die brennenden Wangen ihrer Patientin. „Sie hat hohes Fieber, …“, sie befühlte Jilliens Arme, den straffen Bauch unter ihrem Krankenkittel und die nackten Füße. „… während der restliche Körper völlig unterkühlt ist. Eine Nebenwirkung des Schocks und dem plötzlichen Zusammentreffen des eiskalten Wassers. Sie muss unwiderruflich gewärmt werden.“ Schnelle Schritte hasteten durch den Raum und Christopher sprang eilig vom Sofa auf. Starke Arme schoben sich unter Jilliens zierlichen, schwachen Körper und trugen sie durch die Luft. Männliche Körperwärme strahlte auf sie hinab, doch ihr Körper lehnte sie stur ab. Sie hätte laut geflucht, wäre sie dazu noch in der Lage gewesen.
Sacht wurde sie auf einer weichen Matratze gebettet und in mindestens drei Wolldecken, einen dicken Pullover und eine wärmende Jogginghose gesteckt. Ihre kalten Füße wurden in vier Paaren Wollsocken eingewickelt und auf die Stirn bekam sie einen kalten, nassen Waschlappen gelegt. Zwei Gewichte setzten sich auf jeweils eine ihrer Seiten und flankierten sie sorgenvoll. Dann beugte sich, anscheinend Christopher, zu anderen Seite und flüsterte: „Danke. Du bist die beste.“ Ein leises, schnippisches Schnaufen ertönte. Doch seine Frau stand nicht auf und ging. Sie drückte ihrem Mann einen zarten Kuss auf die Lippen, von dem Jillien wusste, dass Christopher ihn überrascht und rührselig erwiderte. Dann streckte sich eine kleine Hand aus und umklammerte vorsichtig ihre langen Finger.
Ein wohliges Glücksgefühl überkam Jillien. Noch nie hatte sich jemand so liebevoll um sie gekümmert. Nicht einmal ihre Mutter. Ihre spröden, trockenen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Leicht drückten die Finger der Frau ihre hand zur Bestätigung, dass sie bei ihr bleiben würde. „Ich sorge um sie, Chris. Versprochen. Sie braucht meine Hilfe und ich kann nicht dabei stehen und sehen, wie sie kränklich um Hilfe fleht. Nicht einmal eine so bezaubernde Männerliebhaberin und Konkurrentin werde ich schutzlos sich selbst überlassen, wenn ich ihr auch helfen kann.“ Sie hörte ein Lächeln aus Christophers Stimme heraus, als er versprach: „Sie kann dir nicht einmal annähernd das Wasser reichen. Für mich wird es immer nur dich geben. Ich liebe dich über alles, Elli.“ Die Ärztin – Elli – lachte beschämt. „Das hoffe ich doch.“ Ein enttäuschtes Seufzen von Chris ertönte, weswegen Elli mit einem Kichern hinzufügte: „Ich liebe dich auch.“ Damit erhob Chris sich, ging ums Bett herum, küsste sie leidenschaftlich und stolzierte dann schweren Schrittes aus dem Zimmer. Er zog versuchsweise leise die Tür hinter sich zu und Jillien wusste, dass auf dem Gesicht der Frau ein verliebtes Lächeln lag. Und sie konnte es ihr nicht verdenken.

Ellinora Stevens blickte auf die dunkle Tür, durch die gerade eben ihr geliebter Mann verschwunden war. Dann schweifte ihr Blick durch das mickrige Gästezimmer, in dem sie sich befanden. Der Boden war mit Orientteppichen ausgelegt. An den schokobraun gestrichenen Wänden standen dunkle Holzkommoden und ein großer, schmaler Schrank. An den Wänden hingen von ihr selbst gemalte Ölgemälde von Landschaften und Städten. Eine weitere Tür führte zu einem winzigen weißen Badezimmer mit Toilette, Waschbecken, Spiegel und Dusche. Nur sehr selten wurde dieses Zimmer genutzt, sie bekamen fast nie Besuch. Weswegen die Zeit, die Elli hier verbrachte und sich Urlaub nannte, immer trostlos und langweilig war. Sie stand morgens früh mit ihrem Mann auf, setzte Kaffe auf, machte Frühstück und ging dann duschen. Danach tat sie fast nichts, außer lesen. Sie liebte Bücher über alles. Wollte immer mehr lernen und studieren, strebte durchgängig nach noch mehr Wissen.
Nun betrachtete sie ihre Hände und dann die kranke Frau. Ihren Namen kannte sie nicht, Christopher hatte ihn nicht erwähnt oder lag bei ihm in Unwissenheit. Die Namenlose war überaus hübsch. Selbst mit der unnatürlichen Blässe und den stark geröteten Wangen. Ihre lockigen Haare erinnerten Elli an ein loderndes Flammenmeer, bestehend aus gierigen Feuerzungen. Sie lagen ausgebreitet über dem hellblauen Kopfkissen und säumten mit ihrer Pracht ebenfalls noch ihre makellose, glatte Haut. Mit ihren langen dunkelbraunen, dünnen Wellen, kam Elli sich hässlich gegenüber der Schönheit vor. Sie war immer schon stolz auf ihr gesundes Haar gewesen, doch nun wurde sie von der betörenden Dame auf dem Bett in den Schatten gestellt. Es war das aller erste Mal, wo sie an Christophers Worten zweifelte. Sie würde daran zerstören, doch sie könnte ihn auch verstehen, wenn er sich in das junge Mädchen verliebte. Es konnte nicht älter sein, als Anfang zwanzig, so wie die Nachrichten schon erwähnten. Sie selbst war dreißig. Ein Jahr jünger als ihr Mann. Und sie dachte, dass sie schön war. Mit ihren ausdrucksstarken dunkelblauen Augen hatte sie, so sagte Christopher, ihren Mann schon vom ersten Moment an in bezaubernde Gefangenschaft. Er hatte sich sofort in sie verliebt und sprach von Liebe auf den ersten Blick. Sie selbst hatte ihn anfangs nicht einmal wahrgenommen. Sie war zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen.
Eines Tages dann, sie kam gerade aus dem OP, stand er plötzlich mit einem Strauß Sonnenblumen vor ihr. Sie liebte Sonnenblumen, sie erinnerten sie immer an Wärme. Woher er ihre Zuneigung zu den Blumen wusste, verriet er ihr bis heute nicht. Doch das hatte sie der Weilen auch nicht interessiert. Sondern der Vorschlag zu einer Verabredung. Überzeugt von seinen treuen Teddybäraugen hatte sie zugesagt und am Abend trafen sie sich im Park. Es war ruhig und romantisch gewesen. Er hatte Champagner mitgebracht und zwei Gläser. Ihm zu Liebe trank sie ihr erstes Glas Alkohol und ging danach sturzbetrunken mit ihm zu sich in die Wohnung. Mit ihm zusammen hatte sie auch ihr erstes Mal. Sie war damals fünfundzwanzig und hatte durch die Schule, das Studium und nachher die Arbeit nie Zeit für einen Freund gehabt. Doch Chris kam damit klar und er wartete jeden Abend Stunden lang vor ihrer Tür, damit sie sich noch sahen. Das rührte sie so sehr, dass sie nach einem Monat vorschlug, zusammen zuziehen. Und weitere fünf Monate später machte er ihr nach einem langen, stressigen Arbeitstag einen Antrag. Sie nahm Freude strahlend an und warf sich ihm um den Hals. Die Hochzeit verlief im kleinen Kreis. Seine und ihre Familien, ihre paar Freunde und seine vier besten Kumpels. Der Trauzeuge war der junge, nette Sean, der beste Freund ihres Mannes. Seit schätzungsweise einem Jahr versuchten sie nun schon, ein Kind zu bekommen. Und vor sechs Monaten war es endlich passiert. Sie hatte sich dem heranwachsenden Baby zu Liebe nach dem ersten Monat Urlaub genommen und wartete seit dem brav zu Hause auf ihren Christopher, so wie er es auch Monate lang für sie getan hatte. Doch im Gegensatz zu ihm, hielt sie die Stille und Einsamkeit im großen Haus nicht mehr lange aus. Sie musste etwas tun. Und diese Frau kam ihr eigentlich ganz gelegen.
Wenn sie doch nur nicht so hübsch wäre.
Plötzlich regte sich etwas in dem vollkommenen Gesicht und bekam Ellis volle Aufmerksamkeit. Taubengraue Augen öffneten sich. Sie schrie erschrocken auf, fasste sich jedoch augenblicklich wieder. Sie hoffte, dass Chris schon aus dem Haus war und nicht sofort mit gezückter Waffe hierein gestürzt kam. Sie wartete wenige Minuten, während der stetige Blick der Fremden auf ihr ruhte. Als die Tür nicht ruckartig aufgerissen wurde, drehte Elli ihren Kopf wieder der hinreißenden Frau zu. Deren Augen waren ruhig, als schiene sie schon von ihrem Beisein gewusst zuhaben. Elli räusperte sich und redete mit betont leiser Stimme. „Ich bin Ellinora Stevens, Christophers Frau.“ Die Schönheit nickte und sie atmete stockend aus. Dann griff sie nach der Hand der Schönen und drückte leicht die langen Finger. Ihre Nägel waren etwas länger, sorgfältig gefeilt und mit Klarlack überstrichen worden. Sie waren bezaubernd.
Was rede ich da? Wie können Fingernägel bezaubernd sein? Sie wusste darauf keine sinnige Antwort, doch so war es. Verwirrt starrte sie weiterhin auf die Hände der anderen Frau und sah langsam über den langen Arm, auf das Decolté, den langen Hals hinauf und dann in die grauen Augen. Es war kein lebloses Grau von Toten, sondern ein sehr lebendiges, fröhliches, glückliches, strahlendes Grau, das von Freiheit, Lebensfreude und etwas Besserem berichtete. Es schien nicht von dieser Welt, genauso wenig wie seine Besitzerin. Sie war so viel anders als alle anderen Frauen dieser Erde, und doch glich sie ihnen unabwegig.
Ein Lächeln legte sich auf ihre rosigen Lippen und Elli erwiderte es warmherzig. Auch wenn sie es nur ungern zugab: Diese Fremde hatte sie in ihrem Bann gefangen genommen. Sie war perfekt, nett, sympathisch, und sie mochte sie, ohne sie wirklich zu kennen.
„Darf ich fragen, wie sie heißen?“, fragte sie zaghaft. Das junge Mädchen zögerte erst. Doch dann öffnete sie vorsichtig ihren ausgetrockneten Mund und sprach flüsternd ihren Namen aus. „Jillien.“
„Okay, Jillien. Also, wie schon gesagt, ich bin Ellinora, aber bitte nennen sie mich Elli, das hört sich fröhlicher an.“ Ein amüsiertes Lächeln huschte über Jilliens Gesicht, doch es verschwand augenblicklich wieder und Verwirrung nahm seinen Platz ein. „Elli, es tut mir leid.“ Ihr Stimme war nicht mehr als das Ausstoßen von überflüssiger Luft, doch Elli vernahm dennoch die leisen Worte. Sie hob fragend eine dunkle Braue und musterte sie skeptisch. „Was tut ihnen leid?“ Jillien legte sich leicht auf die Seite um sich nicht den Hals verbiegen zu müssen, wenn sie die andere Frau betrachtete. „Das ich ihnen zur Last falle. Ich habe sie mit Christopher darüber sprechen hören. Und ich verspreche ihnen, dass wenn ich wieder stehen und laufen kann, sofort verschwunden bin …“
„Moment Mal“, unterbrach Elli sie, „Wollen sie mir gerade sagen, dass sie mich gehört haben, während sie bewusstlos waren?“ Stumm nickte das Mädchen und blickte sie verwirrt an. Elli rückte näher zu ihr und legte ihre kleine Hand an die heiße Wange der Kranken. „Sie haben mich wirklich verstanden?“ Wieder ein Nicken. Sie zog scharf die Luft ein. „Das sieht man nicht alle Tage. So etwa ist sehr selten, wissen sie das?“ Ein Kopfschütteln und Elli verzog leicht die Mundwinkel. „Na ja, jetzt wissen sie es. Okay, kann ich ihnen irgendetwas bringen? Einen Tee, Kaffe, heiße Schokolade?“
„Heiße Schokolade. Bitte“, stöhnte Jillien schwerfällig. Elli nahm den jetzt warmen und trockenen Lappen von ihrer Stirn und benässte ihn noch einmal mit eisigem Wasser. Dann schritt sie die Stufen hinunter in die Küche und kochte Milch auf. Dann löffelte sie noch zwei Löffel Kakaopulver hinzu und verrührte alles. Als sie wieder oben im stickigen Zimmer ankam, übergab sie Jillien die heiße Tasse und öffnete das Fenster einen Spalt breit. Zu dem Glück des jungen Mädchens lebten Elli und Christopher etwas von der Stadt abgeschieden und so war es draußen still und kühle Luft erfrischte den Raum. Nachdem sie ihre gierigen Lungen mit reichhaltigem Sauerstoff gefüllt hatte, trat sie zum Bett und sah auf die Kranke glücklich hinab. „Möchten sie noch irgendetwas? Ich hätte Bücher, wenn ihnen langweilig wird. Filme jedoch leider nicht. Wenn ihnen kalt werden sollte, können sie mir Bescheid sagen, ich …“
„Danke.“ Verblüfft starrte Elli sie an, dann stahl sich ein Grinsen auf ihr Gesicht. „Gerne doch. Es freut mich, ihnen zu helfen.“ Sie drehte sich um und setzte sich in einen Ohrensessel in der ecke am geöffneten Fenster, wo die Luft von draußen sie traf.
Sie blickte die Frau in dem blau bezogenen Bett lange an. Diese schlief, nachdem sie ihre Tasse brav geleert hatten ein. Dann holte Elli sich eines ihrer Bücher. Ihr Liebling war groß und schwer. Große Erwartungen von Charles Dickens. Es war ein Meisterwerk und sie verehrte es schon fast. Sie hatte es bis jetzt schon mehr als zehn Mal gelesen und war dennoch immer darüber überrascht, wie alles seine Wendungen nahm und mit welcher Kunst er schrieb. Sie las, machte sich, als die Nacht hereinbrach, die Lampe auf dem kleinen, runden Holztisch neben sich an und schlief nachher mit dem aufgeschlagen Buch auf dem Schoß ein.
Die Menschen sind manchmal so geizig und unberechenbar, wie Dickens schon sagte. Doch nicht alle entsprechen seinen grausamen Vorstellungen.
Und Elli hoffte inständige, zu diesen Wenigen zu zählen.

Christopher trat in das heruntergekommene Gebäude der Mordkommission. Schnurstracks schritt er auf das Büro seines alten Chefs zu. Nachdem er die Tür vorsichtig geöffnet hatte, entgegnete ihm heiße Schwüle und der Gestank nach verschiedenen, verschwitzten Männerkörpern und der panische Angst einiger weniger Frauen. Er setzte zögerlich einen schweren Fuß vor den anderen. Alle Köpfe im Raum wandten sich ihm zu und mehr als zwanzig Augenpaare starrten ihn unverblümt an. Dann trat seine Kollegin und Partnerin bei der Mordkommission Emily Gilbert vor. Ihre satten hellbraunen, hüftlangen Wellen, hatte sie zu einem modischen Dutt hochgesteckt und einige Strähnen heraus gelassen, welche sanft ihr neutrales Gesicht mit den feinen, weichen Zügen, umschmeichelten. Ihre grüngelben Augen fesselten die seinen. Eine ihrer langgliedrigen Hände legte sie sacht auf seine breite Schulter. „Hey, Chrissy.“ Er belächelte sie warmherzig. Emily war, neben Sean, die Einzige, der er vollends vertraute. Er würde seine Leben in ihre Hände geben und sicher sein, dass sie es mit allen Mitteln behüten würde. Weswegen sie auch so ein perfektes Team waren. Sie vertrauten einander maßlos. Und deshalb war sie auch einer der wenigen Menschen, die er wirklich mochte, es grenzte schon fast an Liebe. Zumindest geschwisterlich betrachtet.
„Hey, Em. Was gibt’s?“ Als wenn er das nicht wüsste! Trauer legte sich in ihren Blick und winzige Tränen stiegen auf. „Ted ist weg! Er ist wie vom Erdboden verschluckt! Alles was übrig geblieben ist, waren ein Rußfleck und seine Dienstarke!“ Ihre Stimme war erstickt und besorgt musterte Chris sie.
Seine Partnerin war normalerweise kein sentimentaler Mensch. Sie war knallhart, sagte, was sie dachte und ließ sich nicht einschüchtern. Bei Befragungen war sie immer der böse und er selbst der gute Cob. Weshalb ihn ihre jetzige Verletzlichkeit einen Schock versetzte. Ohne jegliches Zögern schloss er sie in die Arme und warf den anderen Polizisten düstere Blicke zu, nach dem Motto: Ein Wort und ich bringe euch um! Sie verstanden es und drehten sich murmelnd um. Emily schluchzte unerbittlich an seiner muskulösen Brust und wurde von Wellen der Verzweifelung überrollt. Er hielt ihren zuckenden Körper fest, bis sie sich beruhigt hatte. Dann stellte sie sich wieder gerade hin und spannte demonstrativ die Schultern an. Sie wischte sich eilig mit dem Ärmel über die Augen und belächelte ihn dann schwerfällig. Er legte seine große Hand auf ihren Nacken und drückte sie sich schützend an den Oberkörper. Diese instinktive Reaktion hatte etwas abartiges, und doch tat sie gut. Emily strahlte und lehnte sich erschöpft mit dem Rücken an ihn. Dann besah sie die tuschelnde Meute vor sich und hob verächtlich eine Braue. Ein schriller Pfiff ertönte. Alle fuhren zusammen, doch nicht Chris. Er hatte ihre Handlung voraus geahnt und sich auf das hohe Geräusch vorbereitet.
„Schluss mit dem Kaffeekränzchen!“, bellte Emily ihr Kommando. Die erschrockenen Blicke wurden ängstlich auf die große, schlanke Frau gerichtet und musterten ihren harten Blick.
„Ted ist verschwunden“, fing sie an. In ihrer Stimme waren keine Gefühle und Emotionen herauszuhören. Doch Chris kannte seine Partnerin schon fast besser, als sich selbst. Er wusste genau, wie es in ihrem inneren aussah. Trostlos und Einsam. „Ich denke, dass müsstet ihr alle schon bemerkt haben. Doch nicht nur er ist weg, sondern auch die Leiche eines unserer Selbstmordopfer.“ Unauffällig zuckte er zusammen, fasste sich jedoch rasch wieder, bevor einer davon Wind bekam.
Ein Chris unbekannter Polizist rief aus: „Wo ist er denn? Ich meine, was kann er denn schon mit einer Leiche anfangen? Wofür braucht er die?“ Eine junge Frau erwiderte sachlich: „Ich denke nicht, dass er sie verschleppt hat. Für mich sieht es eher nach einer Entführung der beiden aus, was meinst du, Emily?“ Die Angesprochene nickte bedächtig. „Ja. Ja das könnte gut möglich sein. Wer war als letztes bei Ted?“ Unruhe breitete sich im Zimmer aus und Chris’ Körper versteifte sich. Noch bevor ein anderer antworten konnte, setzte er mit brüchiger Stimme an: „Ich.“ Alle starrten ihn fassungslos an und blitzschnell drehte Emily sich zu ihrem Partner um. „Du?“ Ihr Mund klappte verwirrt auf und zu, wie bei einem Fisch. Ihrem skeptischen Blick ausweichend nickte er. Sie fasste sich redlich schnell wieder und rückte von ihm ab. Sie suchte seinen Blickkontakt und ließ ihn nicht mehr aus den Augen. „Was habt ihr gemacht?“ Er fühlte sich sichtlich unwohl und spielte an seiner breiten Uhr herum. „Na ja, wir standen beim Opfer und dann …“ Sollte er die wundersame Auferstehung der eigentlich toten Jillien erwähnen? Er belehrte sich eines Besseren und fuhr mit festem Ton und aufrichtigem Augenkontakt zu seiner Kollegin fort: „… dann ging ich durch den Hinterausgang. Meine Frau hatte mich angerufen und gemeint, es gäbe ein kleines Problem. Sie ist schwanger, falls du dich daran erinnern kannst. Ich dachte mir nichts dabei, schließlich war ja nichts Auffälliges geschehen. Na ja, ich rannte eben zu meinem Wagen und beeilte mich, zu meiner Frau zu kommen.“
„Das stimmt. Er ist echt wie ein Rennfahrer vom Krankenhausparkplatz gerast“, vernahm Chris die tiefe Stimme eines bald in den Ruhestand gehenden Cobs. Und er liebte ihn dafür.
Ein glückliches, erleichtertes Grinsen breitete sich auf Emilys Gesicht auf. Sie atmete laut auf und sagte dann mit tiefer Erleichterung: „Na Gott sei Dank. Ich hatte schon Schiss, du bist in irgendein krummes Ding hineingerutscht.“ Sie drehte sich ruckartig um und ihr Tonfall verhärtete sich wieder. „Nun, da wir immer noch nicht mehr wissen, als vorher, denke ich, sollte wir eine Suchaktion starten. Befragt Augenzeugen, Patienten, Ärzte, Schwestern, alle nur erdenklichen Leute, die sich an dem Zeitpunkt auf dem Gelände des Krankenhauses befanden.“ Leise stöhnend trotteten die Polizisten aus dem eigentlich kleinen Büro. Kommentarlos schloss Emily den Raum hinter der Meute und war mit Chris alleine.
Unbehagen breitete sich in seinem steifen Körper aus. Sie schritt lautlos und anmutig durch das Zimmer und setzte sich auf Teds alten Lederstuhl. Sie lehnte sich zurück und musterte Chris eingehend. Dann presste sie die Lippen zu einem geraden Strich aufeinander. Irgendetwas passte ihr nicht. Diese Reaktion tat sie nur, wenn etwas nicht ihren Vorstellungen entsprach. „So, Chrissy, und jetzt noch mal. Was ist da passiert?“ Geschockt starrte er sie an. So dumm, zu glauben, sie belügen zu können, hätte er nicht sein dürfen. Doch ihr nun die Wahrheit zu gestehen, das kam auf gar keinen Fall, unter gar keinen Umständen, infrage. Er tat, als wüsste er nicht, wovon sie redete. Fragend blickte er sie an.
Lässig saß sie zurückgelehnt auf dem Drehsessel, hatte das linke, lange Bein über das andere geschlagen und die Finger locker auf dem Bauch verschränkt. Sie trug ein sehr eng anliegendes schwarzes Top mit breiten Trägern und tiefen Ausschnitt. Sie hatte pralle, runde Brüste, die unter dem Shirt gut zu Blick kamen. Ihre Schultern waren frei, ebenso die starken Arme. Ihr Bauch war straff und glatt. Ihre Beine steckten in einer grauen, an der Hüfte engen, dann an den Oberschenkel und Waden breiten, und an den Fußknöcheln wieder enge Hose. Der Stoff war robust und ähnelte den Exemplaren vom Schnitt her, wie denen bei der Armee. Sie trug schwarze, feste Schuhe und ihre Lederjacke hing über der Stuhllehne. Wann hat sie die da eigentlich abgelegt? Er wusste es nicht. Ihre Dienstwaffe hing an der einen Seite, der linken, Emily war Linkshänderin, und die Handschellen mit der Dienstmarke auf der anderen ihres Gürtels. Die lockere Hochsteckfrisur passt nicht ganz in das Bild hinein, jedoch ihre harten grüngelben Augen.
Sie studierte ihn stumm, doch er ließ sich nicht von ihr einschüchtern. „Sag mal, Chris, du weißt schon, dass du mich nicht belügen kannst, oder?“ Er nickte mit einem schweren Runterschlucken der aufkommenden Angst. Und diese Furcht war verständlich, zumindest seiner Ansicht nach, denn Emily war eine der besten Scharfschützen und könnte ihn mit einem schnellen, raffinierten Griff zu Boden drücken. Auch wenn er sich wehren würde, oder überhaupt könnte, wusste er dennoch nicht, ob ihm das weiterhülfe.
Seine Partnerin spannte die Oberarmmuskeln an und entspannte sie wieder. Anspannen, entspannen, anspannen, entspannen. Sie präsentierte ihm unweigerlich ihre Macht. Ihm brach der Schweiß am Rücken aus, doch er blieb stur.
Dann veränderte sich der Ausdruck in ihren starren Augen und sie ließ locker. „Na gut. Du willst also nicht mit mir reden? Fein. Ich komme damit klar. Auf meine eigene Art und Weise. Ob du das auch tust, ist deine Sache. Aber nur damit du es weißt: Du kannst mir alles erzählen. Ich verrate niemanden etwas, wenn du es nicht willst.“ Sie stand geschmeidig auf und trat bedrohlich nah neben ihn. Sie strich mit ihren Fingern seinen Arm hinauf, zu seiner Schulter und blieb dann an seiner Kehle liegen. Sie übte einen leichten Druck aus und hielt seinen ängstlichen Blick mit dem ihren gefangen. Ihre Augen schienen ihn zu hypnotisieren. Er blinzelte rasch und vermied den Blick auf ihren ausgestreckten Arm. „Du kannst mir vertrauen. Ich fühle ich beleidigt, wenn du Geheimnisse vor mir hast.“ Er stöhnte kurz auf, dann ließ sie ihn los. Er taumelte gegen den Schreibtisch seines alten Chefs und sah ihr hinterher. Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, marschierte sie erhobenen Hauptes aus dem Büro und schritt auf den Flur. Hinter ihr fiel die schwere Tür mit einem lauten Knall zu und Chris war alleine.
Was war das denn gerade? So hatte er Emily noch nie erlebt. Zumindest nicht ihm gegenüber. Er stützte sich mühsam von dem Holz ab und blickte auf seine große Uhr, an seinem dicken Handgelenk, hinab. Es war einundzwanzig Uhr sieben. Höchste Zeit, nach Hause zu fahren.
Wer wusste, was ihn da noch erwarten würde?

Eileen saß schweigend auf der Bettkante und musterte den armen Mann im Bett neben ihr. Sean litt unter starken Kopfschmerzen, lang andauernden Schweißausbrüchen und seine Haut stand förmlich in Flammen. Eine glühende Hitze wurde von seinem schmerzenden Körper abgestrahlt. Und, obwohl er tief im Schlaf versunken war, verzog er die Miene nicht zu einem Lächeln. Seine sonst glatte Stirn lag in tiefen Falten und Augenringe bildeten sich nach und nach.
Ruhte sein schlechtes Befinden vielleicht auf ihrer Anwesenheit? Diese nagende Frage schlich sich wieder und wieder in ihr Unterbewusst sein und ohne es bemerkt zu haben, hatte sie an ihren Fingernägel gekaut.
Jetzt gerade schwirrte abermals der schreckliche Gedanke durch ihr Gehirn. Sachte löste sie ihre Hand aus seinem festen Griff und erhob sich vorsichtig. Wie ein kleines Baby schrie er plötzlich los, jammerte, wimmerte. Ruckartig ließ sie sich wieder auf die weiche Matratze fallen und streichelte seine Wange.
Das Klagen verstummte. Er nuschelte Worte, einen Namen. Doch sie verstand die Reihenfolge der Buchstaben nicht. In dem Durcheinander kam ein i auf und Eileen hoffte inständig, dass er von ihr träumte.
Sie fuhr immer weiter zärtlich über seine Züge und zeichnete seine scharfen Konturen nach. Die Fugen in der Stirn. Die zusammengezogenen dunklen Augenbrauen. Die fest geschlossenen Lider. Seine gerade Nase mit den aufgeblähten Nasenlöchern. Der zu einem Strich zusammengepresste Mund. Der malende Kiefer.
Er schien beunruhigt, zornig, traurig.
Wovon seine Träume wohl handeln? Was zeigt ihm seine Fantasie, dass in ihm so viele unterschiedliche Emotionen hochkommen?
Es interessierte Eileen brennend.
Und dennoch, was, wenn es nicht um sie ginge? Wenn er sich in dem Glauben wiegte, eine andere, schönere Frau wäre bei ihm? Ein schneller Stich durchfuhr ihr geängstigtes Herz. Und obgleich das Stechen nur eine winzige Sekunde durch ihr lebenswichtiges Organ jagte, der wehmütige Schmerz blieb. Sie wusste, sie könnte es nicht ertragen, von einem anderen femininen Wesen ersetzt zu werden. Sie würde daran zerbrechen.
Ohne es wahrgenommen zu haben, hatte sie beinahe, vor verzweifelter Wut, Seans Hand zermalmt. Sie lockerte ihren stählernen Griff und raufte sich das Haar. Warum nur war sie so paranoid? Sean war ein Mann von Würde. Er hatte zu viel Stolz, als sie zu betrügen. Das musste sie endlich verstehen.
Von unerwarteter Mattigkeit überrumpelt, kuschelte sie sich unter die Bettdecke und an seinen Körper. Wieder murmelte er Worte. Einen Satz.
Von Neugierde gepackte lauschte sie angestrengter. Schon war sie dabei, die Buchstaben ordentlich aneinander zufügen, als der Schlaf sie übermannte und ruckartig in seine Traumwelten zog.



Sean tauchte in einem goldenen Licht wieder auf. Es war überall um ihn herum. Nur der fahle Schein und dichte, rauchige Wolken umgaben ihn. Sein Körper spürte die helle Wärme und nahm sie gierig in sich auf. Seine Haut fühlte den dampfenden Nebel und fing an zu kribbeln. Es war ein wohliges Gefühl von Einsamkeit, das ihn umgab. Er war hier ganz allein.
Ohne jegliches weiteres Zögern setzte er einen Fuß vor den anderen. Immer schneller und schneller bewegten sich seine Beine. Er steuerte geradeaus, lenkte irgendwo ins Nirgendwo. Überall war alles gleich. Und das gefiel ihm. Diese Gemeinsamkeit faszinierte ihn. Wie konnten an verschiedenen Orten der Einfall des Lichtes so exakt symmetrisch sein und die unregelmäßige Form jeder einzelnen Wolke so ebenmäßig? Sean studierte genauestens die Umgebung und gleichzeitig konzentrierte er sich nur stets auf seine rhythmischen Bewegungen. Auch er selbst war gleich. Das Tempo blieb im selben stetigen Takt. Seine Atmung verlief nie schneller oder langsamer, leichter oder schwerer, sie war ewig identisch. Er war entsprechend einheitlich. Und es gefiel ihm.
Unverhofft taten sich die Nebelwolken vor ihm auf, wie ein unterirdischer Durchgang erschien es. Ein Tunnel, umhüllt von Rauch. Ein kurzer Gedanke des Unbehagens durchfuhr seine Seele, doch noch immer behielt sein Körper die korporative Geschwindigkeit bei. Die Zweifel breiteten sich immer mehr aus. Er raste auf etwas zu, vor dem sein Gehirn ihn warnte, mit klopfender Migräne, und sein verräterischer Körper begehrte. Sich zwischen Vernunft und Gier zu entscheiden, war zwecklos. Wenngleich seine Intelligenz gegen das Unbekannte war, besaß doch der verzückte Geist die Oberhand über seine Seele. Was genau vor ihm lag, war Sean schier fremd. Dennoch ließ er seinem Willen frei Hand, unterwarf sich den schnellen Bewegungen seiner nicht ermüdenden Beine und versagte die machtlose Abwehr gegen das sich Nähernde.
Wenn auch die Luft vor weniger als einem Herzschlag rein und frei von Gerüchen gewesen war, so lag jetzt ein frischer Glanz in ihr. Er erinnerte an warme Herbsttage, an die grün strahlenden Blätter der wachsenden Bäume, versprach von lieblichem Sonnenschein und köstlichen, überreifen Johannesbeeren. Diese zum träumen verleiteten Düfte ergaben einen einzigen, unverkennbaren.
Seans Körper reagierte postwendend auf die Erkennung. Er spannte sich an und verzehrte sich umgehend noch mehr nach dem Fremden. Doch das Gehirn und das Wissen in ihm, verrieten ihm nicht im Mindesten, weshalb der Geruch so eine stark euphorische Auswirkung auf ihn hatte. Er verstand es nicht.
Nicht nur die Luft hatte sich von der Symmetrie entfremdet. Der Boden hier war nicht weiß und von dichtem Nebel bedeckt. Sean lief über Laubboden, gerade erst gefallene, bunte Blätter und war von riesigen, Abermillionen Bäumen umgeben. Er befand sich in einem hell erleuchteten Wald. Selbst das zuvor matte, goldglänzende Licht war mit gewandelt. Nun beschienen ihn grellgelbe, blendende Sonnenstrahlen und erwärmten seine Haut.
Mit einem Mal befand er die vorherige Gleichheit als trostlos und öde. Das sie ihn zuvor fasziniert und er an ihr Belieben gefunden hatte, kam ihm absurd und geradezu grotesk vor. Diese jetzige, Freiheit liebende Umgebung erschien ihm fröhlicher, heiterer und vor allem lieblicher. Er fühlte sich ungebunden, wie ein fliegender Vogel.
Doch was hatte es mit der Lage der Dinge gemeinsam? Wonach lechzte sein Körper immer noch? Schließlich war er der Symmetrie doch schon entflohen. Also, wohin lief er, das ihn mehr lockte als Freiheit?
Ein dunkler, aromatischer Duft entfuhr Sean, während er dem unbekannten Objekt immer näher kam. Er hatte keine Herrschaft mehr über seinen unkontrollierten Körper, die rasenden Beine und den unverkennbaren Duft der Begierde.
Augenblicklich tat sich eine Feuerwand vor ihm auf. Sie war noch gut zweihundert Meter von ihm entfernt. Es war winzig und trug noch keine Zerstörung mit sich. Doch wie sich alles ändern konnte.
Sean wollte seine Füße zum Halt bewegen, wollte fliehen. Niemals hätte er erhofft, dass genau dieses lodernde Flammenmeer, welches unerbittlich auf ihn zugeströmt kam, nach seiner Aufmerksamkeit strebte. Er steuerte geradewegs darauf zu.
Schon war er der festen Überzeugung, seinem nahenden Tod ins rauchende Auge zusehen, da hielten seine Beine so abrupt, dass er vorn überfiel. Nur mit wenig Gleichgewichtssinn und viel Glück, fand er wieder festen Boden unter den Füßen. Langsam blickte er auf …
Da war sie. Sein Herz machte tausende von Luftsprüngen bei ihrem Wiedersehen. Es fing unerklärlicher Weise plötzlich an, schnell und unregelmäßig zu schlagen, ganz anders, als noch vor wenigen Sekunden. Und auch seine Ausgeglichenheit beim Atmen verflüchtigte sich wortlos und er musste sich schwer Luft holend auf die Knie abstützen, um Sauerstoff in die gierigen Lungen gefüllt zubekommen.
Ein heiseres Lachen ließ ihn sich wieder an die unbekannte Schönheit vor ihm erinnern. Das lodernde Flammenmeer, das er erblickt hatte, waren ihre im Wind wehenden langen, prachtvollen roten Locken. Und das Auge im Rauch, welches ihm den Tod vor Gesicht geführt hatte, das waren ihre taubengrauen Iris.
Schwerfällig sah er auf. Sie schritt lautlos über die trockenen Blätter, als würde sie schweben, so leichtfüßig war ihr Gang, und blieb erwartungsvoll vor ihm stehen. Sein Körper sehnte sich nach ihren hinreißenden Berührungen, ihrer weichen Haut, die an seiner rieb und ihrem frischen Duft, der in seiner Nase kitzelte und vorerst dort heften bleiben würde. Sie öffnete die Lippen, schloss die Lider, versuchte zu sprechen, doch er kam ihr zuvor. „Wer sind sie?“ Ruckartig riss sie die Rauchaugen auf und starrte ihn voller Entsetzen an. Nach einer erschreckend eisigen Stille, vernahm er ihre gehauchte, brüchige Stimme. „Du erinnerst dich nicht mehr an mich? Du hast mich vergessen?“ Was redete sie da. Skeptisch hob er eine Braue. „Ich habe sie nie gekannt. Wie also soll ich mich dann an sie erinnern?“ Sie zog scharf die Luft ein. Ein peitschender Wind war aufgekommen und schlug ihr dicke Strähnen ihrer Haare ins Gesicht. Es interessierte sie nicht. Sie hatte nur noch Augen für ihn. „Aber natürlich kennst du mich, oder zumindest tatest du das einmal. Weißt du nicht mehr? Ich kam nachts in deine Träume, habe dich getröstet …“
„Ich hatte nie von ihnen oder sonst jemandem Besuch in meinen Träumen. An eine Frau, wie sie, hätte ich mich erinnert.“ Traurig schüttelte sie den Kopf, die roten Locken wippten bei jeder Bewegung hin und her. Er hörte sie leise schluchzen, doch er sah keine Tränen. „Aber das stimmt nicht. Ich war bei dir. Erinnerst du dich wirklich nicht mehr? Ich war doch in der Nacht deines fünfzehnten Geburtstages bei dir!“ Er kniff die Augen zusammen, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. Angestrengt dachte er an seine Geburtstagsnacht zurück.
Augenblicklich setzten diese nervtötenden Schmerzen wieder ein. Er schrie lauthals los und ließ sich mit einem Stöhnen fallen. Er fiel in ihre Arme, brüllte bis ihm die Lungen versagten.
Und dann verstummte er. Nicht einmal eine Sekunde hatte er geschrieen, als er in ihrer Umarmung lag. Sie hielt ihn fest, drückte ihn an ihre Brust und murmelte leise etwas. Der Schmerz verglomm von einem Moment auf den anderen und was zurückblieb, war wohlige Wärme. Sie weinte, Tränen liefen ihr stumm über die Wangen und tropften kühlend auf seine plötzlich heiße Stirn hinab. Sie trauerte, seinetwegen. Von irgendwoher wusste er es, tief in seinem Herz lauerte die Antwort auf seine Frage.
Woher kannte er sie?
Denn das er sie kannte, lag auf der Hand. Auch wenn sein Verstand sich nicht mehr an ihre Schönheit und Anmut erinnern konnte, so tat es dennoch sein Körper. Dieser verzehrte sich schmerzlich nach ihrer Gegenwart und auch sie verriet ihm durch ihre aufgekommene Trauer die Wahrheit. Warum auch immer er sich nicht mehr entsinnen kann, sie jemals getroffen zu haben, so wusste er doch um die Realität.
Nun wurde ihre Stimme lauter, verständlicher. Die salzigen Tränen versiegten und zurück blieben rot unterlaufene Augen und rosige, fleckige Wangen. Sacht legte sie eine Hand mit schönen, langen Fingern auf sein erhitztes Gesicht und kühlte ihn. Ein genießerisches Seufzen erklang tief aus seinem Inneren und er schloss die Augen. Zart strichen ihre Fingerspitzen über sein welliges, schwarzes Haar, zeichneten seine Konturen nach. Er hatte seine Stirn immer noch in Falten gelegt, doch mit ihren Berührungen verloren die Sorgen und die Skepsis an Kraft, bis schließlich nur noch liebliche Wärme in seinem Gesicht schlummerte.
„Ich kenne dich. Doch ich erinnere mich nicht mehr an dich.“ Sein Ton war sachlich, doch in seinem Herzen wüsteten Verzweiflung, Kummer und Zorn. Sie stoppte ihre Bewegung mit der Hand und ließ einen Laut der Enttäuschung ertönen. Langsam schlug er die Augen auf.
Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, Trauer lag in ihm. Sacht hob Sean seine Hand und legte sie auf ihren Hals. Erschrocken und ängstlich fuhr sie zu ihm herum, der Mund war leicht geöffnet. Er belächelte sie und legte leicht einen Finger auf ihre Unterlippe. Sofort schloss sie den Mund. „Ich erinnere mich nicht, aber ich weiß, dass ich dich kenne“, wiederholte er. „Wir mochten uns, habe ich recht?“ Bedächtig nickte sie. Ihre Vorsicht ließ ihn genauer forschen. „Wie sehr mochten wir uns?“ Sie blickte wieder weg. Beim Sprechen teilten sich ihre Lippen nur wenig und ihre Worte waren nicht mehr, als ein Luftstoß, doch er verstand. „Es war Liebe. Bei uns beiden … Deshalb verließ ich dich.“ Er fuhr zurück. Was hatte das, bitteschön, für eine Logik? Er wollte nachfragen, doch an ihrem starren Ausdruck in der Miene, konnte er nicht auf eine Antwort hoffen.
Daher griff er nach ihrer Hand und drückte sie leicht. Er wollte mit ihr sprechen. Noch mal ihre wundersame, liebliche, himmlische Stimme vernehmen …
Sie verblasste.
Er schrie entsetzt auf und sie richtete ihre Aufmerksamkeit erschrocken wieder ihm zu. „Was?“
„Du verschwindest! Löst dich in Luft auf!“ Sie sah an sich hinab. Doch was sie da vorfand, schockierte sie nicht im Mindesten. Immer noch murmelte sie durchgängig etwas vor sich hin.
Er sprang auf und auch sie erhob sich. Er sah sie fassungslos an, was sie mit einem geheimnisvollen Lächeln bedachte. „Warum erschrickt dich mein Verlassen?“ Er konnte nichts erwidern. Starrte gebannt auf das Geschehende. Sie trat vor und streifte mit ihren Lippen sanft seine Wange. Er errötete und blickte weg. Sie umfasste mit den Fingern sein markantes Kinn und drehte seinen Kopf sich wieder zu. Ihr Blick fesselte seinen. Er war gefangen.
Sie gab ihn mit einem Seufzen wieder frei und wandte sich ab. Doch nach zwei Schritten drehte sie sich wieder blitzschnell um und fasste ihm unters Shirt. Erregt erstarrte er. Doch anstatt ihm den Gefallen auf Erlösung zu geben, holte sie nur ein goldenes Amulett mit einem kleinen Rubin in der Mitte hervor. Der Talisman war ungeschmückt. Bestand nur aus Gold, in das klitzekleine Zeichen eingraviert waren, und dem Edelstein. Erstaunt betrachtete sie es. „Ich habe es gewusst. Er sagte die Wahrheit. Du hast mich nie vergessen!“ Sie strahlte über das ganze Gesicht. Sie verblasste währenddessen immer mehr. Dann sagte sie etwas Wunderbares. Es fühlte sich richtig und gut an.
„Ich liebe dich, Sean.“
Dann löste sie sich vollends in Luft auf und wurde vom sanften Wind davon getragen.
Er blieb alleine zurück. Wieder einmal.



Sternentänzer




Eine Woche später

Jillien setzte sich träge an den Küchentisch. Chris hatte seinen Platz ihr gegenüber schon lange eingenommen und durchblätterte nun die New York Times. Gebannt las er und verzog skeptisch die Augenbrauen. Elli bereitete währenddessen Rührei, Speck und Toast zu. Lächelnd bedeckte sie seinen Teller damit und küsste ihn liebevoll auf die Wange.
Jillien bedachte das junge Glück mit einem charmanten Lächeln und wandte sich dann ihrem Essen zu. „Hey, Jill, wir hatten uns gedacht, wir könnten zusammen in den Park gehen und picknicken …“
„Wir finden, du musst an die frische Luft“, unterbrach Ellinora ihren Mann. Ein leises Lächeln huschte über Jillien Lippen ehe sie dankend aufblickte. Sie strich sich eine dicke rote Strähne hinters Ohr und bedachte ihre beiden neuen Freunde mit einem breiten Grinsen. „Danke. Ich glaube, ich habe Zivilisation dringend nötig.“
Und so marschierten sie um dreizehn Uhr aus dem kleinen Häuschen und zusammen in den wunderschönen Park. Die Bäume waren bedeckt mit blütenweißen Schneedecken und die im Sommer strahlend grünen Wiesen schliefen unter einer glitzernden Frostschicht. Es wirkte kühl und wunderschön. Die Sonne beschien den glänzenden Tau und wärmte Jilliens Gesicht. Sie regte sich der leuchtenden Feuerkugel entgegen und grinste dann ihre beiden Gefährten an. Beschämt schweifte Ellis Blick über die verschneite Landschaft und sie stellte mit geröteten Wangen, ob nun vom kalten Wind oder einer Peinlichkeit, den Korb ab. „Irgendwie ist es ja schon komisch, im Winter, Anfang Dezember, ein Picknick zu machen. Denkt ihr nicht?“ Mit einem breiten Grinsen umfasste Chris ihre Taille und zog sie sich an die Seite. Er zeigte mit ausgestrecktem Arm über die Umgebung und senkte sich dann zu ihr hinab. „Schatz, darin besteht doch die Sonderheit. Das wir die einzigen hier sind.“ Sie blickte zu ihm auf. Während er um die eins achtzig war, so erreichte sie nur die Größe von einem Meter sechzig. Dennoch passten die beiden so gut zusammen. Jillien beneidete sie um ihr Glück.
Elli holte die bunte Decke aus dem braunen Flechtenkorb und breitete sie auf dem Traum aus Weiß aus. Die drei Freunde ließen sich nieder und betrachteten sich gegenseitig. Dann wandte einer nach dem anderen den Blick am und schaute auf den spiegelnden Teich vor ihren Füßen. Das dunkelblaue, klare Wasser mit der zarten Eisschicht erinnerte sie mit unangenehmer Trauer an seine Augen. Dieses mysteriöse Nachtblau spiegelte sich in dem Gewässer und wurde von der hellen Sonne träumerisch bestrahlt. Sie blickte weg. Den aufkommenden Schmerz versuchsweise verdrängend, schaute sie sich um. Paare, Familien mit kleinen Kindern und ältere Rentner spazierten über den Kieselweg. Kleine Schneeflocken verfingen sich in Jilliens Wimpern und ließ die Situation noch märchenhafter erscheinen.
Mit gespanntem Interesse musterte sie die Fußgänger, die sie mit verstörten Blicken bedachten. Sie wusste, dass diese Reaktion allein von ihrem Erscheinungsbild hervorgerufen wurde. Doch sie achtete nicht auf die anderen Augen. Eine junge Frau mit kurzen, blonden Haaren, gehüllt in einen karamellfarbenen Mantel, stand erhobenen Hauptes vor einem Süßigkeitenstand. Ein glückliches Lächeln bedeckte ihre Lippen. Sie studierte das Abbild der Anderen genauestens. Ihre zierliche, kleine Hand lag in der eines Mannes. Doch sein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Nur den dunkelgrauen Mantel und die schwarzen Haare. Sie versteifte sich, als sich der Geliebte zu seiner Freundin umdrehte und ihr ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift „Ich liebe dich, mein Schatz!“ übergab. Stürmisch küssten sich die beiden. Lodernde Wut brannte sich durch Jilliens Körper.
Sean.

Sean empfand den unerwarteten Kuss als pure Leidenschaft, größte Liebesgestehung, die er je vollbracht hatte – und auch die Einzige – und verspürte dennoch den zwanghaften Drang, sich von ihr zu lösen und sich nach einer anderen Person umzusehen. Verstört von diesen drängenden Gefühlen und Gedanken, löste er sich sacht von Eileen und lächelte sanft zu ihr hinab. Sie strahlte, ihre Sicht verschwamm vor aufsteigenden Tränen und sie warf sich ihm um den Hals. „Sean, ich liebe dich auch! Mehr als ich sonst jemanden je geliebt habe.“ Er hielt sie fest in den Armen, war jedoch mit seinem Geist nicht bei ihr. Er suchte unwissend, wonach, die Umgebung ab. Sein Blick blieb an einer Gruppe, bestehend aus drei Freunden hängen. Chris lag lässig, seine Frau Ellinora im Arm, auf einer bunt gesprenkelten Picknickdecke. Seine Augen waren verschlossen, doch sein Mund bewegte sich. Elli lächelte freudig und blinzelte ihren Mann liebevoll an. Sie beugte sich sacht über ihn und streifte mit ihrem Mund seine Lippen. Neben ihnen, etwas abgeschieden, saß eine junge, wunderschöne Frau. Sie hatte ein hinreißendes Gesicht, atemberaubende Locken, die leicht im Wind wehten, und taubengraue Augen, welche ihn hasserfüllt musterten.
Nein, sie sah nicht ihn an. Sondern Eileen, die immer noch in seiner Umarmung schwenkte. Er suchte mit den Augen ihren zornigen Blick. Und als sie ihn anschaute, wurde ihre Miene weicher, zärtlicher, trauriger. Eine einzelne, einsame Träne rollte über ihre Wange. Und augenblicklich übermannte ihn der Wille, sie zu umarmen und zu trösten. Was natürlich irrational war, denn er kannte sie nicht.
Oder etwa doch?
Ein stechendes Hämmern erfüllte seinen Kopf. Er blinzelte schmerzerfüllt und massierte seine Schläfen. Eileen löste sich von ihm und betrachtete ihn besorgt. „Wieder diese Kopfschmerzen?“ Er nickte stumm, nahm aber nicht seinen Blick von der unbekannten Schönheit. Die Grazie stand geschmeidig, wie eine rote Katze, von dem Stoff auf und stellte sich vor ihre beiden Begleiter. Sean konnte ihre Worte nicht verstehen. Doch er sah Ellis verwirrten blick, Chris’ verstehende und mitleidige Augen und sie, wie sie immer wieder aus dem Augenwinkel zu ihm herüber schielte.
Eileen bemerkte seinen Blick, und ehe sie etwas unternehmen konnte, griff er schon nach ihrer behandschuhten Hand und zog sie zu seinen Freunden. Als die Fremde ihn erneut erblickte, wie er auf sie zu rannte, verstummte sie augenblicklich und ihre Augen weiteten sich beim Anblick von seiner Hand in Eileens. Einem ungehinderten Instinkt folgend, entwand er sich seiner Freundin, die ihn besorgt, verzweifelt, eifersüchtig und zornig hinterher sah.
Chris stand träge und mit einem Lächeln bestückt auf, und klopfte ihm auf die Schulter. „Hey, Sean. Wie geht’s dir? Wer ist deine Begleitung?“ In seiner Stimme lag Vorsicht, Erstaunen und Verwirrung. Er starrte auf die blonde, zurückgebliebene Frau. Die kam angeschlendert und würdigte die Rothaarige nicht eines Blickes.
Sean jedoch hatte nur Augen für sie. Sie stand da, ein weißer Stoffmantel umhüllte ihren schlanken, wunderschönen Körper. Ein schlichter, gleichfarbiger Schal war locker um ihren langen Hals geschlungen, ihre Beine waren bedeckt von einer grauen Jeans, welche den selben Ton hatte, wie ihre hinreißenden Augen und ihre Füße steckten in hohen Stiefeln. Sie passte perfekt zur umgebenden Landschaft, die im selben reinen Glanz strahlte. Doch ihre feuerroten Haare ließen sie herausstechen. Sie gingen ihr bis zur Brust und ergossenen sich in dicken, lockigen Strähnen über ihren geraden Rücken und die makellosen Schultern. Sie strahlte wie ein flammender Engel mit ihrer Schönheit.
Eileen hatte ihre Vollkommenheit ebenfalls bemerkt und starrte sie eifersüchtig an. Doch Sean nahm sie einfach nicht wahr. Seine Augen waren allein auf ihr Abbild gerichtet, sein Körper reagierte auf ihre kleinsten Bewegungen. Er war wie gebannt von ihr.
„Wie heißen sie?“, fragte er trocken, mit rauer Stimme. Ein Trauerfunken erschien in ihren Augen und sie blickte weg. „Jillien“, kam die Antwort. Doch sie war nicht von ihr ausgesprochen worden. Elli hatte sich schützend neben sie gestellt und musterte abschätzend die wutentbrannte Eileen. Diese hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und presste die Lippen aufeinander.
Jillien hob wieder die Sicht und lächelte ihre Freundin an. Dann trat auch Chris an ihre andere Seite und musterte Sean verwirrt. „Aber, du kennst sie doch. Warum fragst du dann nach …“
„Er kennt mich nicht“, unterbrach Jillien ihn mit fester Stimme. Dann stiegen in ihren grauen Augen Tränen auf. „Zumindest … zumindest erinnert er sich nicht mehr!“ Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und erbarmungslose Schluchzer ließen ihren Körper erschaudern.
Perplex starrte Sean auf das Geschehen und verstand nichts. Er kannte diese wundervolle Frau doch überhaupt nicht! Woher auch? Wenn er sie schon mal erblickt hätte, würde er sich doch an ihre Makellosigkeit erinnern, oder etwa doch nicht?
Eileen nahm in an der Hand und zog in zu sich zurück. „Sean, was soll das?“ Er war zu überrascht um zu antworten. Er stand einfach nur da, rührte sich nicht, war taub, gelähmt. Und betrachtete die junge, weinende Frau. Elli hatte sie in die Arme geschlossen und Chris strich ihr mitfühlend über den Arm, während er seinem Freund böse und gleichzeitig verwirrte Seitenblicke zuwarf. Eine ungeheure Eifersucht suchte Sean heim. Er wollte mit aller Kraft seinen Kumpel von ihr stoßen und sie aus Ellinoras Umarmung zerren, um selbst ihr Tröster zu sein. Er hielt sich nur schwer unter Kontrolle und an seinem Platz, während er loslaufen wollte, jedoch nicht konnte. Intelligenz kämpfte gegen seinen Körper. Noch hatte sein Gehirn die Herrschaft über seine Handlungen, doch die Beinkraft war daran, sie zu stürzen.
Unerwartet riss Jillien sich los und rannte davon. Chris, Ellinora und Sean wollten ihr hinterher rennen. Das Paar tauschte wissende Blicke miteinander, packten dann in rasender Geschwindigkeit ein und liefen über den Kiesweg nach Hause, versucht, ihre Freundin einzuholen.
Auch er wollte sie verfolgen. Doch Eileen griff mit eisernem Griff nach seiner Hand und zerrte ihn zu sich herum. Stürmisch und voller Verzweiflung presste sie ihre Lippen auf seine. Das hier ist falsch, so falsch! Doch er stieß sie nicht von sich. Er umklammerte ihre Schultern, hielt sich an ihr fest, um nicht irgendetwas Dummes zutun. Er erwiderte ihren Kuss.
Doch nicht mit der Liebe, die er zuvor bei ihr verspürt hatte.
Nur aus reiner Schuld.

Jillien stürzte in den Klub Oleander. Sie marschierte geradewegs über die Tanzfläche auf die Bar zu. Urplötzlich entflammte in ihrem Inneren ein loderndes Feuer. Schmerzen rannen ihre Kehle hinauf und gelangten durch ein Stöhnen ihrerseits an die Oberfläche. Die Bestie breitete sich erbarmungslos in ihr aus und forderte sie auf, einen jungen Mann zu finden. Sie nahm ihr ihre volle Kontrolle und verdunkelte ihre Augen. Jillien spürte, wie ihre Augen sich schwarz verfärbten, ein dunkler Nebel legte sich auf ihre Sicht und sie nahm aberhunderte Gerüche in sich auf.
Einer stach mit seinem verführerischen Duft heraus.
Sie steuerte auf ihn zu. Er saß an der Theke und musterte sie interessiert. So wie alle anderen in dem Klub. Auch wenn es erst halb zwei nachmittags war, war das Oleander doch voll bis zum Rand mit Schnöseln, die eine Pause vom Geldverdienen einlegten. Der Mann war Ende zwanzig, hatte dunkelbraune, schulterlange Haare, die hinten zu einem Zopf zusammengebunden waren, und braungrüne, matte Augen. Und diese Augen starrten sie unaufhörlich an. Sie trat zu ihm und wickelte sich eine dicke Strähne um den kleinen Finger, so wie sie ihn dann später den Kopf verdrehen würde. Sie regte verführerisch den Hals und schnurrte wie eine zufriedene Katze. „Hallo, junger Mann.“ Er stotterte eine Entgegnung und das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde immer breiter. Und obgleich ihre Mimik nur allein von Vollkommenheit und Glanz deutete, verbarg sich in ihrem tiefen Inneren eine Bestie und ein kleines Mädchen, das sich vor dem düsteren und mordenden Monster verstecken wollte, doch immer wieder gefunden und missbraucht wurde. Sie war mit ihrem noch so makellosen Körper nicht mehr als eine leere, seelenlose Hülle, die als Werkzeug für Anderer Mittel abgenutzt wurde. Ihr gebrochener Geist war nichts, im Vergleich mit dem brutalen Willen des Bösen in ihr.
Der fremde Mann, verführt von ihrer Schönheit, bot sich ohne Zwang und Schutz der Bestie zum Opfer. Bettelte geradewegs um den bald geschehenden Tod.
Jillien streifte mit ihrer Hand über seinen Arm, welcher sich unter ihrer fließenden Berührung anspannte und stählerne Muskeln präsentierte. Sie kam ihm immer näher und setzte sich rittlings auf seinen Schoß. Der abstoßende Gestank nach Angst und der aufregende Duft von Erregung, drangen in ihre Lungen, ersetzten den mangelnden Sauerstoff und ließ sie scharf Luft holen. Ein arrogantes Grinsen lag auf seinen Lippen. „Wie heißt du, Mensch?“ Seine Augen strahlten nur so vor Lust. „Tom Jameson. Und wie ist ihr Name, meine Schöne?“ Sie winkte abfällig ab. „Das ist nicht von Belang.“ Mit leicht ausgeübtem Druck, strich sie über sein zerknittertes Hemd und hielt ihn gefangen. Doch er versuchte sich nicht einmal zu retten. Er legte gierig seine Hände auf ihren zierlichen Rücken und drängte sie näher an seinen großen Körper. „Ach, komm schon, Süße. Ich finde dich toll. Du hast einen umwerfenden Körper. Und ich weiß nicht, wie weit meine traumhaften Fantasien in nächster Zeit in die Realität umgesetzt werden. Also kannst du mir wenigstens deinen Namen nennen.“ Sie lächelte verzückt, würdigte ihn aber keines Blickes. Sie machte sich an dem breiten Knopf an seinem Hosenbund zu schaffen und wollte gerade den Reißverschluss öffnen, als Tom ihre flinken Handgelenke umklammerte und sie zurückhielt. „Schnecke, wollen wir das nicht woanders machen?“ Sie schaute immer noch nicht auf, dennoch spürte sie seinen gierigen Blick und hörte die schwer unterdrückte Lust in seiner heiseren Stimme heraus. „Nein, hier ist es doch perfekt.“ Dennoch hob er sie mühelos hoch und trug sie über die Tanzfläche. Sie ignorierte die verblüfften Blicke der Anderen.
Auf den Toiletten war es seelenlos und wie leergefegt. Perfekt, so würde niemand etwas mitbekommen. Die Bestie in ihr stellte sich schon belustigt den Hauptgang vor, während die verzweifelte Jillien nichts gegen sie ausrichten konnte. Er brachte sie beide in eine Kabine, schloss ruckartig ab und drückte sie auch schon hart gegen die Wand. Sie stöhnte verzückt auf, als sein großer Körper sich schwer an ihren drängte. Mit ungeduldigen Fingern fummelte er an ihrer Hose rum und öffnete sie dann mit einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Sie musterte ihn nicht, hatte nur den ersten und einzigen Blick auf ihn geworfen, als sie ihn entdeckt hatte. Sie starrte unverwandt auf die sterile weiße Tür hinter seinem Rücken und dachte an das Geschehene vor nur wenigen Minuten. Verzweiflung übermannte sie, als sie an den ahnungslosen Blick in Seans blauen Augen dachte. Und wallender Zorn flammte mit lodernder Kraft in ihr auf, als sie an die ineinander verschlungenen Finger von ihm und der Unbekannten dachte. Sie hatte den eifersüchtigen Ausdruck auf der Fremden Miene sofort bemerkt. Und teuflischer Weise hatte es sie erfreut, dass man in ihr eine ernsthafte Bedrohung sah. Doch sie hatte auch das Band zwischen den beiden gespürt. Und das hatte ihre Euphorie augenblicklich gestürzt. Niemals würde sie die jenige sein, die man an seiner Seite musterte. Nie könnte sie ihn so küssen, wie die Frau es getan hatte. Und auf gar keinen Umständen würde sie ihn wieder sehen. Sie würde es nicht ertragen, sein Abbild vor sich zu haben. Denn selbst wenn die Andere nicht bei ihm wäre, so würde Jillien doch nie ihre gemeinsame Erscheinung aus dem Kopf bekommen.
Sie spürte, wie Toms harter Körper sich an ihrem rieb. Ohne es gemerkt zu haben, hatte er sie beide entkleidet, zumindest unter der Gürtellinie. Mit einer einzigen, ungeduldigen Bewegung zog sie ihn am Kragen gepackt an sich und presste unnachgiebig ihren Mund auf seinen. Er stöhnte überrascht auf. Sie ließ ihn los und stieß ihn von sich, drehte sich weg. Dennoch hörte sie die züngelnden Flammen und seinen erstickten Schrei.
Jillien spürte, wie seine Macht in ihren Körper schoss und sie zu neuem Leben erwachte. Doch im Gegensatz zu den vorherigen Malen, deprimierte ihr Mord sie nicht. Sie war gelähmt. Wusste, dass sie Schuldgefühle verspüren müsste. Doch da war nichts. Mit der Taubheit kam auch die Gefühllosigkeit. Schnell bekleidete sie sich wieder und warf seine abgelegte Kleidung in das brennende Feuer. Dann lief sie aus den Männertoiletten, raus aus dem Klub und geradewegs zu dem Haus von Ellinora und Christopher. Von einem drängenden Instinkt gezwungen, wurde sie den Weg entlang getrieben. Sie wusste, die beiden verstanden sie. Und sie vermutete ebenfalls, dass die beiden Freunde sich Sorgen um sie machten, schließlich hatte sie schon einmal den Versuch begangen, sich umzubringen.
Doch auf unerklärliche Art und Weise interessierte sie der Tod nicht mehr. Sie wusste, sie würde für immer auf dieser Welt bleiben. Solange, bis Sean verstarb und noch länger. So lange, wie ihr zerbrochenes Herz sie quälte, und noch weiter in die Unendlichkeit. Bis die Menschen ihr eigenes Zuhause und ihren geschändeten Planeten vollends zerstörten und die Erde unterging.
Und noch länger danach hinaus.



Sean lag auf einer weichen Wiese, die Augen geschlossen. Kurze Grashalme kitzelten seine Wangen und seine Locken fielen ihm leicht in die Stirn. Er atmete tief ein und aus. Einmal, zweimal, dreimal …
Der Moment kam ihm unendlich lang vor. Schließlich schlug er die Lider einen Spalt breit auf und musterte den hellblauen, fast wolkenlosen Himmel. Er sah feine Nebelschwaden herüberziehen und wünschte sich, er könnte mit ihnen fortwandern.
Er dachte an Eileen. Sie war wirklich eine wunderbare Frau. Realistisches Denken lag in ihrer Natur, da war kein Platz für kindische Fantasien. Auch wenn er selbst eine Art kleiner Künstler war und gerne mit träumerischen Gedanken, Pinsel und Farbe Bilder auf die Leinwände zauberte, so hatte sie ihm dennoch die Augen geöffnet. Das hier war das Leben, die Wirklichkeit, seine Existenz; keine fantasievoll beflügelte Traumillusion. Er sollte einen Schritt nach vorne machen, weg von seiner Traumwelt und noch näher an die Realität und somit an Eileen heran.
Doch er konnte nicht. Etwas hielt ihn fest, ließ ihn nicht gehen. Fast sah er schon die gespenstigen Hände die nach ihm griffen und ihn bei sich behielten. Und wenn er ehrlich darüber nachdachte, so wollte er sie auch nicht davon abhalten. Sein Geist gehörte voll und ganz seinen Träumen und der unendlich weit reichenden Kunst. Er wollte malen, zeichnen, seine nie ausgesprochenen Gedanken, Gefühle, Wünsche auf eine riesige Leinwand und doch auf ein winziges Stückchen Papier bringen. So groß, das es jedermann sehen konnte und ihn kennen würde; so klein, dass er es vor der ganzen Welt verstecken und verbergen wollte.
Wie von einem Luftstoß getragen, stand er auf und blickte sich um. Er befand sich auf einer vom Sonnenlicht beschienen Lichtung, umrandet von dunklen Büschen und dichten Blätterkronen. In ihrer grünen Mitte befand sich ein großer grauer Stein.
Sean lief auf ihn zu. Mit den Armen zog er sich hinauf, das Gestein war warm und die Oberfläche angenehm rau.
Breitbeinig stand er da, blickte in die Ferne, in die Dunkelheit hinaus. Auch wenn der Wald noch so finster war, die Lichtung war hell und lebendig, wenngleich er das einzige Lebewesen zu sein schien. Sie war ein Platz der Ruhe. Geschmeidig, mit einem heimischen Lächeln, ließ er sich nieder.
Urplötzlich stand neben ihm auf dem waagerechten Fels ein kleiner Farbkasten. Er war nicht reich bestückt mit wundervollen Farben, wie Sean feststellen musste, doch er sollte reichen. Ebenfalls ein Wasserglas und eine Leinwand lagen da. Ohne weitere Gedanken nahm er, was ihm dargelegt worden war und fing an zumalen. Fing an, sein Talent, sein Element frei zu lassen. Fing an, aus sich heraus zukommen und zeitlos zu werden.
Fing an, zu träumen.
Er malte jeden kleinsten Grashalm, der ihn zuvor noch gekitzelt hatte. Zeigte Lichteinfälle und Strukturen ihrem wahren Gemüt fast ebenwürdig. Hielt die kleinsten Bewegungen der Nebelstreifen fest und den hellen Schein der Sonne am Himmel.
Er war schon fast fertig mit dem Bild, da riss ihn eine liebliche Stimme aus den Gedanken. „Sean.“ Er schrak hoch, der Pinsel zitterte in seiner Hand. Hektisch sah er sich um.
Hatte er sich etwa geirrt?
Mit einem verwirrten Kopfschütteln blickte er auf sein Werk hinab. Es war wundervoll geworden. Er studierte jeden noch so feinen Strich und die gleichmäßigen Kurven. Als ihm plötzlich etwas auffiel.
Die Lichtung war nicht vollends umschlossen vom Wald in dem Bild. Dort war ein breiter Durchgang, direkt geradeaus, der in die Ferne, ins Nichts führte.
Und davor war das Abbild einer Göttin.
Sie schien zu schweben. Ihre Füße berührten keineswegs die Wiese, sie flog, obgleich sie keine Flügel besaß. Ein weißes Kleid, trägerlos und am Oberkörper eng anliegend, umschloss ihre zierliche Gestalt. Ab der Hüfte abwärts wurde es freier, wirbelte nach hinten, ungeachtet der Tatsache, dass es keine weiteren Anzeichen im Bild für Wind gab, und zeigte ihre makellosen langen Beine. Die Füße waren nackt. Sie trug keinerlei Schmuck, außer einer silbernen, langen Kette. Sein interessierter Blick wanderte weiter hinauf, ihren grazilen Hals hoch zum leicht abgerundeten Kinn, weiter über die Wangenknochen zu ihren grauen Augen. Sie waren dunkel mit hellen, fast weißen Lichtspiegelungen. Ihre Haut besaß den gleichen reinen Goldton, wie die seine.
Und aus den schlichten Farben stach ein flammendes Rot. Die satten Locken fielen über ihre Schultern, manche den Rücken hinab, und noch einmal wenige andere, dünnere Strähnen wehten ihr im selben Takt wie das zarte Gewand hinterher.
Wahrhaftig, sie war göttlich. Das Schönste, was er jemals erblicken durfte. Bezaubernder, als das von Gott geschaffene Paradies. Wundervoller, als alles Gold und Geld der Erdbevölkerung. Strahlender, als Rubine im Schein der Sonne. Sie war das Bild für Vollkommenheit, Schönheit und Magie.
Abermals sah er auf. Doch wie auf dem Bild es war, so gab es vor ihm keine Waldöffnung. Und so auch nicht diese wundersame Frau im weißen Kleid. Er vermochte es nicht zu verstehen. Die ganze Zeit hatte er gedacht, mit Konzentration und Aufmerksamkeit gemalt zu haben. Doch das konnte nicht der Fall gewesen sein, er hielt den Beweis für das Gegenteil in seinen Händen.
Wieder musterte er die Grazie. Sie schien von einem eigenen Licht, aus sich selbst heraus, beleuchtet und hervorgehoben zu werden. Sie war ein Meisterwerk, sein Meisterwerk. Er hatte sie beständig gemacht, sie auf die Leinwand gebracht.
Doch noch immer konnte er nicht glauben, sie allein aus seiner Fantasie heraus gemalt zuhaben. So etwas konnte nicht geschehen. Für solche Feinheit und Präzision benötigte es einer Mouse.
Aber konnte es sein, dass es irgendwo auf dieser Welt, vielleicht sogar in New York, eine Frau wie sie gab?
Stur schüttelte er den Kopf. Nein, nicht einmal Gott könnte so eine Schönheit erschaffen.
Plötzlich striff ihn ein warmer Luftzug, nur ein einzelner. Und mit ihm kam eine Stimme, die Sean ein wohliges Gefühl erbrachte.
„Sean …“ Sie zog seinen Namen in die Länge. Er sah auf, davon überzeugt, sich den lieblichen Singsang dieses Mal nicht nur eingebildet zu haben.
Doch wieder war da nichts. Er lauschte genauer. Die Melodie kam von rechts, von links, vom Himmel und aus seinem Herzen. „Du hast mich vergessen, Sean. Warum?“ Er konnte nicht antworten, es war ihm nicht vor her bestimmt. Er wusste, er sollte nur hören, nicht sprechen. Also schärfte er bedächtig seinen Verstand und vernahm wieder Windstöße. „Du hast mich vergessen und sie an meiner Statt gewählt. Warum?“ Die Frage war tadelnd hervorgebracht worden. Lange Zeit kam nichts, er dachte schon, seine Fantasie hätte ihn doch nur ein weiteres Mal ausgetrickst. Doch so recht glauben konnte er das nicht.
„Ich will von dir nicht hören, du würdest mich nicht kennen, du würdest mich nie getroffen haben, du würdest mich nicht lieben. Das ist alles nur eine lügenhafte Behauptung und eine täuschende Verleugnung. Ich verlange auch nicht nach einer Antwort für deine schmerzenden Gefühle für sie. Ich würde dich eh nicht verstehen. Wonach ich strebe, bist du. Ich möchte dich. Und auch wenn ich dich niemals als Mein bezeichnen werden kann, träume ich davon-“
„Träume sind zum Verwirklichen da“, unterbrach er sie gedankenlos. Sie verstummte und er fuhr fort: „Sie sind nicht mehr, als eine Illusion, wenn wir sie für uns behalten. Die Fantasie ist nicht wahrhaftig real, doch das kann man ändern. Wünsche sind zum Ausleben gedacht, Gedanken zum Aufschreiben und Gefühle zum Festhalten. Wenn ihr, wer ihr auch seid, euch ein Traumbild immer wieder vor Augen führt und daran zerbrecht, dann ist dies ein Zeichen der Wirklichkeit für die Erfüllung eurer Wünsche. Geht der Aufforderung nach und ihr werdet auf Frieden treffen. Solange, bis ihr in eine neue Traumwelt geratet. Macht es mir gleich. Bringt euer Selbst und die Fantasie eures Herzens zum Vorschein, gebt ihr Gestalt, ein Leben und Aufmerksamkeit. Haltet sie fest und verändert die Welt um euch herum.“ Es war alles leise, als er endete. Schon dachte er, die wundersame Frauenstimme wäre fort, da bewegte sich vor ihm etwas.
Die Bäume teilten sich, gaben einen zuvor verborgenen Weg frei in die Weite hinaus.
Und über ihn schwebte sie.
Im gleißenden Licht der Sonne, den langsam dämmernden Abendhimmel im Rücken, schritt sie durch die Luft auf ihn zu. Erstarrt hielt er die Luft an. Er musste keinen Blick auf das Gemälde in seinem Schoß werfen, um zu wissen, dass es seine Kulisse war, die er vor sie sah. Die Göttin näherte sich ihm elegant, das weiße Gewand flatternd hinter sich herwehend. Und selbst die einzelnen grellen Locken flogen im Takt des Schrittes.
Alles genau wie auf seinem Bild.
Das hier waren seine Fantasie, sein Traum und sein Wunsch. Indem er ihnen eine Gestalt, ein Leben und Aufmerksamkeit durch dieses feine Festhalten mit Pinsel und Farbe geschenkt hatte, hatte er diesen einzigartigen Moment hervorgerufen.
Die Zeit der Verwirklichung.
Zitternd stand er auf. Nur noch die Höhe des Steins erstreckte sich zwischen ihrer beider Leiber. Sie überwand die Bürde mit einem leichten Sprung, als würde der Wind sie zu ihm hinauf tragen, und befand sich nun vor ihm. Er konnte die von ihr ausstrahlende Wärme spüren, fühlte die elektrische Spannung zwischen ihnen und sah sie in ihrer vollen Güte. Die Wangen waren leicht gerötet und gaben ihr einen leichten Ton von Menschlichkeit zurück. Anders so ihr wunderschöner Körper. Dieser schien so fremdartig, so perfekt, dass sie niemals in seinen Augen etwas anderes als einer Göttin, einem übermächtigen Wesen des Himmels, entsprechen konnte.
Er zog scharf die Luft ein, als sie ihren Arm ausstreckte, um ihn zu berühren. Doch er merkte keine zärtliche, ersehnte Berührung. Sie hatte nur die Leinwand seinem festen Griff entwendet.
Aufmerksam studierte sie die schwungvollen Striche und die perfekt eingesetzten Farben. Sie musterte das Abbild ihrer Selbst.
Ein magisches Lächeln zauberte sich auf ihre rosigen Lippen und ließ sein Herz einen Luftsprung vollführen. Wenngleich Mona Lisa als geheimnisvolle Schönheit bezeichnet wurde, so verurteilte er alle Kritiker, die dies bestätigten. Sie war nur eine weitere Mouse, die das Aufsehen aller Fantasielosen auf sich zog. Doch die wundersame Illusion von einer Göttin vor ihm erzählte von einem ganz anderen Geheimnis, anderen verborgenen Wünschen und von magischen Träumen. Er hätte sie für den Rest seines Lebens ansehen können und wäre nie auf die Idee gekommen, damit aufzuhören.
„Ich verstehe, was du meinst, Sean. Ich bin eine Verwirklichung einer deiner Träume.“ Er rührte sich bei ihren Worten keinen Zentimeter. Aufmerksam betrachtete er sie. Die Frau im weißen Kleid bemerkte unwillkürlich seinen Blick und schaute auf. In ihren dunkelgrauen Augen hatten sich helle Sprenkel verirrt, die sie umso mehr strahlen ließen. Mit einem leichtfüßigen Schritt trat sie an ihn heran. Luft anhaltend starrte er sie aus weit geöffneten Augen an.
„Bin ich ein ungewollter Traum oder ein ersehnter Wunsch?“ Die Frage kam so plötzlich, dass Sean nur perplex weiterstieren konnte. Die Fremde drängte sich noch näher an ihn heran. Eine fein geschwungene Augenbraue leicht hochgezogen, musterte sie ihn von unten. Ihm wurde unbehaglich von ihrer Nähe, doch zurückzuweichen würde ihm nicht einmal im Traum vorkommen. Im Gegenteil, eigentlich wollte er sie an sich drücken und nicht mehr loslassen.
Mit einer zierlichen Hand und langen, dünnen Fingern legte sie das Gemälde zu Boden. Dann richtete sie sich wieder auf, wobei ihr eine dicke Strähne vor die Augen fiel. Bevor sie reagieren konnte, hatte er sie schon ergriffen und steckte sie ihr hinters Ohr. Ihre Blicke verschmolzen ineinander, seine Hand ruhte an ihrer erhitzten Wange und die Sonne ging über ihnen unter.
So standen sie da, befreit von Raum und Zeit. Allein die Nähe des anderen, die sehnsüchtigen Augen des Gegenübers und die leise Berührung von Haut und Haut zählten. Sie genossen den Moment, nichts könnte ihn zerstören, nicht einmal eine Explosion genau neben ihnen, der Weltuntergang oder sogar Eileen.
„Wie heißt du?“, flüsterte er in die Stille hinein. Sie hauchte ihren Namen und er lächelte entzückt. „Jillien … Was für eine schöne Melodie. Einer Göttin würdig.“ Sie lachte beschämt auf. „Sean, ich bin doch keine Göttin. Wie kommst du darauf?“ Er schüttelte leicht den Kopf, blieb ihr jedoch die Antwort schuldig.
Wieder war die Zeit vergangen, war davon geronnen wie die kleinen Körnchen einer Sanduhr. Doch selbst mit der untergegangenen roten Sonne und dem zum Himmel hinaufgestiegenen silbern schimmernden Mond war das Zeitgefühl nicht zurückgekehrt. Und immer noch standen sie wie zuvor.
Vorsichtig streckte Sean auch die andere Hand aus und verschränkte ihre Finger miteinander. Sie lächelte wieder so mysteriös, was ihm ein wunderschönes Kribbeln auf dem ganzen Körper erbrachte. Sie lehnte sich ihm entgegen und legte ihre freie Wange an seine harte Brust. Er streichelte ihr feines Gesicht, den schlanken Hals, die schmalen Schultern und den Stoff ihres dünnen Kleides. Die Nacht brach über sie hinein, Sterne funkelten am dunkelblauen Himmel. Es war eine stille Vollmondnacht.
Bei diesem Anblick entstand in Seans Kopf eine romantische Idee. Er zog sie zärtlich in die Arme und hob sie sacht hoch. Mit einem erschreckten Laut ließ sie sich von ihm halten, schlang genießerisch ihre dünnen Arme um seinen breiten Hals. Voller Vertrauen schloss sie die Augen und wusste, er würde sie niemals fallen lassen. Zögernd machte er einen Schritt vorwärts und noch einen, bis er an die Kante des Steins kam. Da er nicht wirklich sehr hoch war, beugte er kurz die Knie und landete fest auf dem Boden. Ein kurzes Stechen fuhr von seinen Fußsohlen hinauf durch seine Beine, doch er verdrängte den Schmerz, vom Kämpfen im Fight-Klub war er viel Härteres gewöhnt. Er trug Jillien über die dunkelgrüne Wiese und kniete sich an einer schönen Stelle im Gras nieder. Sanft legte er sie auf den weichen Boden und sah sie an. Mit geschlossenen Lidern, das lange Kleid um die makellosen Beine gewickelt und einem leisen Lächeln im bezaubernden Gesicht schien sie nur wie eine Illusion. Das Mondlicht ließ ihre Haut glitzern und ihr üppiges Haar kupfernd schimmern. Das weiße Gewand umschmeichelte ihre perfekte Figur und die weichen Gesichtszüge brachten ihren Teil zu ihrer vollkommenen Schönheit bei.
Er legte sich neben sie, ein Arm ruhte unter ihrem Nacken als Kissen. Wie ein kleines, verschmustes Kätzchen kuschelte sie sich in seine Armbeuge und hob langsam die Lider. Sie belächelte ihn kurz, dann schaute sie zum Sternenhimmel empor. Er folgte ihrem sehnsüchtigen Blick und musterte die hell leuchtenden Funken. Dann wandte er seinen Kopf wieder ihr zu und flüsterte: „Eine Sternentänzerin.“ Fragend blickte sie ihm wieder in die Augen. Als Antwort auf ihre unausgesprochene Frage, sprach er: „Meine Mutter hat meinem jüngeren Bruder Richard abends immer eine Geschichte erzählt. Ich habe mich dann auf den Flur geschlichen und an seiner Tür gelauscht, da mir selber nie eine Gute-Nacht-Erzählung gegönnt wurde. Und meistens erzählte sie von den Sternentänzern.“ Jillien drehte sich auf die Seite und legte ihre Wange auf seinen Arm, um ihn besser ansehen zu können. „Erzähl sie mir“, forderte sie ihn auf. Zaghaft senkte er die Lider, zögerte. „Bitte …“ Er atmete tief durch. Dann schlug er wieder die Augen auf und sah zu einem Stern hinauf, der heller funkelte als alle anderen. Völlig von dem Abbild gefangen, begann er zu erzählen.
„In einem fernen Reich, hinter dem uns bekannten Horizont, gibt es noch andere Welten, andere Lebewesen, manche uns sehr ähnlich. Das Volk des Planeten Stellasaltata, was übersetzt Sternentanz bedeutet, war eine gutmütige und fröhliche Schar von Tänzern. So wie ihr Name schon sagt, tanzten sie auf Sternen. In ihrer Welt war jeder Tag ein Feiertag. Es gab keinen Krieg, keine Traurigkeit; alles wurde allein von Rhythmus, Musik und geschmeidigen Bewegungen geleitet. Abends sprangen sie von Stern zu Stern und hinterließen bei ihrem gleichmäßigen Tanz Funken, wir nennen sie Sternschnuppen. Ihr König Scintilla unterschied sich jedoch von den warmherzigen Bürgern in einem entscheidenden Punkt: Er wollte nicht nur Spaß und Musik in seinem Reich, er wollte Macht, Mord und Opfer. Im Gegensatz zu seinem Vater lechzte er nach anderen Welten. Wollte diese bekriegen, besiegen, erobern, unterwerfen. Er konnte den Wunsch, Herr über alle Reichtümer des Universums zu sein, nicht verwerfen. Und so stellte er Truppen seiner Sternentänzer zusammen und trainierte sie für den Kampf. Doch sie waren nicht in ihrem Element. Sie konnten niemandem den Todesstoß versetzen, konnten keine Gleichgesinnten verletzen und mit der Schuld an vielen Morden leben. Sie hörten auf zu tanzen und verkrochen sich stattdessen in Angst vor ihrem blutrünstigen König in ihren Häusern. Wer sich ihm widersetzte und nicht in den Krieg zog, wurde skrupellos ermordet. Familien bangen um ihre Kinder. Frauen und Mädchen wurden in die Küchen versklavt und die Männer und Jungen zu Soldaten geschmiedet. Selten, sogar nur ein einziges Mal, kam ein feminines Wesen unter die Krieger. Ihr Name war Mélodie. Sie war die Tochter von Scintilla und wurde somit bevorzugt. Sie verhasste ebenfalls ihren Vater für seine Grausamkeit. Doch sie hatte einen Plan. Nachdem auch die Sternentänze verendet waren, hatte sie beschlossen, Maßnahmen zu ergreifen. Sie stiftete die Bürger Stellasaltatas wieder zum Tanzen an. Nach und nach schlossen sich mehr der Proteste an. Doch eines Tages stürmte Scintilla die abendlichen Feste und mordete mit seinen Gefolgsleuten jeden Rebellen, außer seine Tochter. Diese sperrte er im Kerker ein, bis sie versterben oder zur Vernunft kommen sollte. Tag für Tag, Nacht für Nacht dachte Mélodie an die früheren, besseren Zeiten zurück und wünschte sich nichts sehnlicher als wieder den wundersamen Frieden. Eines Nachts, der Vollmond war gerade aufgegangen, kamen Rebellen in den Kerker hinab gestürzt und besiegten Scintillas Soldaten. Sie befreiten Mélodie und zusammen stellten sie sich ihrem Vater im Kampf. Stellasaltata wurde zu einem neuen Kampfplatz. Einige Sternentänzer blieben mutig und ehrenvoll an Mélodies Seite und kämpften. Andere wiederum flüchteten auf fremde Planeten. Nachdem das Schlachtfeld von Leichen und Blut gesäumt und der alte König gestürzt worden war, erlosch alles Leben auf Stellasaltata. Von tausenden von Soldaten überlebten nur eine Handvoll. Und noch weniger tanzten auf den Sternen, bevor sie starben. Mélodie gehörte zu den Wenigen. Sie tanzte von Stern zu Stern, versprühte mehr Funken und somit Wünsche und Träume, als jemals zuvor. Sie tanzte sich in den Tod, so wie die anderen Sternentänzer auch. Ihnen gebührt eine ungeheure Ehre und überwältigender Ruhm, sie starben für das Leben anderer, fremder Welten.
Die Sternentänzer wurden immer als warmherziges, gütiges und fröhliches Volk bezeichnet. Ihre Eleganz und Präzision im Tanz zeichneten sie aus. Und ihre Sternengleiche Schönheit. Sie waren einzelne, mysteriöse und gleichzeitig wunderschöne Lichter am Nachthimmel. Und nichts konnte sie besiegen, nicht einmal der Tod. Sie hinterließen Kinder, entstanden durch Funken die zu Boden fielen. Und auch auf unserer Welt wuchsen schließlich Sternentänzer auf.“ Jillien starrte mit großen Augen in den Sternenüberfluteten Himmel. „Glaubst du wirklich, dass es diese Sternentänzer gibt?“ Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Doch das brauchte er auch nicht. Sie drängte sich wieder an ihn, atmete in sein Shirt und senkte mit einem geheimnisvollen Lächeln die müden Lider. Er schlang seine kräftigen Arme um ihren zierlichen Körper und legte seinen Kopf an ihren Hals. Sein Gesicht verbarg er in ihren weichen, üppigen Locken. Der funkelnde Stern, der so intensiv über ihnen strahlte, hielt er in Gedanken fest und verglich seine Vollkommenheit mit ihrer. Er führte sich abermals ihr Abbild vor Augen. Das lange, fließende Seidenkleid, die feurigen Haare, die silbern schimmernden Augen, dem Vollmond in dieser Nacht so gleich. Auch er schloss seine Augen und versank in der Dunkelheit der Nacht, getragen von wachenden Sternen.
„Ja, Jillien, es gibt Sternentänzer.“



Sean wachte in seiner Wohnung, in seinem Schlafzimmer, in seinem Bett wieder auf. Flüchtig sah er neben sich, in der Hoffnung, jemand anderes läge dort. Doch es war nur Eileen. Was heißt hier eigentlich nur? Ist sie dir etwa nicht genug? Wen hast du denn erwartet? Für seine innere Stimme hatte er keine Antwort parat, also ließ er sich wieder zurück in die Kissen sinken. Immer wieder legte er sich anders, verlagerte sein Gewicht mal auf die eine Seite, dann mal auf die andere. Er fand einfach keine bequeme Position, etwas stach ihm in den Rücken. Genervt setzte er sich auf und schmiss das Kissen vom riesigen Bett.
Zum Vorschein kam ein Gemälde.
Überrascht beugte er sich zu der Leinwand hinab und studierte die sauberen Pinselstriche. Ein göttliches Wesen war darauf zu sehen; eine Frau mit feuerndem Haar, von bezaubernder Gestalt und magischer Anmut. Sie blickte ihm genau entgegen. Und sie lächelte. Belächelte ihn selig.
Eine einzige Erinnerung, ein kristallscharfes Bild durchfuhr stechend seinen Verstand.
Er selbst, in seinen Armen diese fremde Schönheit, sein Blick auf einen klaren, sternenübersäten Nachthimmel gerichtet. Schwingende, wohlige Gefühle schwanken mit dieser Szene mit, und ein einziges Wort: Sternentänzer.
Doch so schnell wie die Illusion gekommen war, verschwand sie auch wieder. Was zurückblieb war einsame Verständnislosigkeit. Verwirrt kopfschüttelnd stand er von der weichen Matratze auf, wanderte träge durch das Zimmer und bückte sich nach dem zerknautschten Kissen auf dem Dielenboden. Mühsam und mit einem wagen Quälen richtete er sich wieder auf und marschierte zu Eileen ins Bett zurück. Er erstreckte sich auf dem dünnen Stoff der Decke und schloss die Augen, versuchte zu schlafen. Doch es misslang. Dieser eine kurze Moment von ihm und der Göttin hinderte ihn an der Ruhe. Also lag er einfach nur da und bekämpfte erfolglos die Ruhelosigkeit. Eine kleine Frage, ganz hinten versteckt in seinem Gehirn, ließ nicht mehr von ihm ab, auch wenn er noch so über ihre Lösung rätselte.
Was hat dieses wundersame Gemälde nur für eine emotionale Bedeutung?



Höhenflug




Ein Jahr später

Der zweiundzwanzigste November. Eileen rief sich das Datum zum wiederholten Male vor Augen. Sie wusste nur zu gut, welcher Tag heute war. Sie öffnete einen Spalt breit die Augen und schielte nach links zum Wecker. Es war halb acht. Zu ihrem Glück schlief Sean länger als sie, und es war Samstag. Wäre heute Morgen Schule angesagt, wäre ihr Plan niemals in Erfüllung gegangen. Doch das Schicksal spielte auf ihrer Seite. Jetzt lag es nur noch an, diesen Tag wunderbar zu machen.
Schnell spähte sie zu dem Mann neben ihr. Er war von großer Statur, Muskelstränge zeichneten sich unter der reinen Haut ab, schwarze Locken fielen ihm in die Stirn. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie standhaft an dem Glauben festgehalten, Sean käme aus dem Himmel, ein gefallener Engel oder ein übermütiger Gott. Noch immer konnte sie es nicht glauben, aber es stimmte. Heute war sie schon fast ein ganzes Jahr mit diesem wundervollen Jungen zusammen.
Rasch stieg sie aus dem hohen Bett und schlich aus dem Zimmer. Bei der Badezimmertür griff sie nach ihrem schwarzen Morgenmantel. Beim Berühren des leichten Stoffes verspürte sie ein Gefühl von Glückseligkeit. Sean hatte ihn ihr geschenkt, nachdem sie rund eine Wochen zusammen gewesen waren. Er selbst hätte ihn ja noch nie getragen und er stände ihr perfekt. Von diesen Schmeicheleien überzeugt und blind vor Liebe hatte sie das Geschenk lächelnd entgegen genommen und trug den Mantel nun Morgen für Morgen. Sie putzte sich rasch die Zähne, raufte sich das knotige Haar und kämmte es unsanft durch. Seid den zwölf Monaten war es länger geworden, es ging ihr nun bis zu den Schulter. Es war immer noch stufig geschnitten, doch es gab dort keine hellen Strähnchen mehr zu finden. Ihrer Meinung nach hätte der Friseur schon längst eintreffen sollen und ein Ganz-Umstyling machen müssen. Doch Sean fand es attraktiv, meinte, es ließe sie wieder jünger und graziöser aussehen. Also ließ sie den Friseursalon unangerufen. Ebenfalls ihre Figur hatte sich durch ihn verändert. Sie hatte ihrem Geschmack zu Folge zu viel auf den Hüften, sie wirkten so ausladend und rund. Aber auch diesen Missgefallen kommentierte er mit Schmeicheleien. Er hatte sie vollends zu einer anderen Person gemacht. Doch reklamieren wollte sie diese Wandlung nicht. Irgendwie gefiel ihr das neue Aussehen, der neue Charakter. Das zeigte sich auch in der Schule. Mehr Schüler kamen mit ihren Problemen zu ihr, mehr Kollegen aßen mit ihr zu Mittag. Natürlich hatte sie all diese Vorzüge auch schon vor Sean verspürt, doch nun wirkten die Menschen um sie herum freier, wiesen immer noch den gleichen Respekt vor ihr auf, doch dazu neuerdings auch noch Freude, Vertrauen und allem voran Zuneigung.
Eileen setzte Kaffee auf und spurtete dann auch schon wieder ins Schlafzimmer. Im Dunkel tapste sie über die Dielen auf den Kleiderschrank zu. Durch die Erfahrung kannte sie jede noch so kleinste Stolperfalle und kam gesund und leise am Kleiderschrank an. Vorsichtig öffnete sie die Holztür. Ein lautes Quietschen war zu vernehmen. Erschrocken biss sie sich hart auf die Unterlippe und zuckte zusammen. Zaghaft sah sie zum Bett herüber. Der riesige Körper ihres Freundes wälzte sich unruhig im Schlaf. Mit leichter Furcht, er könnte aufwachen, wartete sie, bis er sich wieder beruhigt hatte und genüsslich weiterschlief. Sie nahm sich die obersten Sachen und schlich mit der Beute aus dem Raum. Hinter sich schloss sie lautlos die Tür und lehnte sich an die Wand, atmete tief aus. Dann betrachtete sie ihren Fang. Perfekt! Genau die richtige Kleidung gegriffen.
Schnell zog sie sich um und marschierte ins Badezimmer. Vor dem Spiegel musterte sie sich eingehend. Das rote Kleid saß locker und angenehm. Es war um die Taille etwas enger geschnitten und wurde von zwei dünnen Trägern gehalten. Ihr Erscheinungsbild erwies sich als ganz passabel.
Nach noch einem schnellen Blick in den Spiegel, wandte sie sich ab und schritt hinüber zur Küche. Sie stellte Eier an, steckte Brot in den Toaster und machte sich am Herd zu schaffen. Nach der Vollendung des Frühstücks, um viertel nach acht, stand auf einem Tablett ein Teller mit Toastbrot und Spiegelei, in einer extra Schüssel waren Cornflakes mit Milch vorzufinden, eine Tasse Kaffee mit viel Milch und Zucker war daneben und eine brennende Kerze erleuchtete mit ihrem hellen Schein das Abbild. Stolz auf ihr Werk ging sie behutsam durch die Wohnung, darauf bedacht, nichts zu verschütten. Sie stieß mit ihrem Fuß leicht die Tür auf und trug das Essen zu dem Nachttisch an Seans Betthälfte. Dort stellte sie es ab und setzte sich auf die Bettkante. Er lag auf dem Rücken, die Augen ruhig verschlossen und ein leicht angedeutetes Lächeln auf dem Gesicht. Sie beugte sich zu ihm hinab und verharrte nur wenige Zentimeter vor seinen Lippen. „Wach auf, Sean“, flüsterte sie und hauchte ihm einen Schmetterlingskuss auf den Mund. Seine Lider flatterten und sie zog sich grinsend zurück. Als er sie dann aus müden Augen belächelte, fing sie an zu singen. „Happy birthday to you, happy birthday to you. Happy birthday dear Sean, happy birthday to you!“ Er stützte sich leicht auf die Ellebogen und zeigte freudig die Zähne. Eileen beugte sich abermals zu ihm und küsste ihn noch mal. Er erwiderte den Kuss mit bittersüßer Leidenschaft. Jedoch beendete sie den Mundkontakt, ehe die Lust weiter angefacht wurde, und überreichte ihm glücklich das voll bedeckte Tablett. Strahlend nahm er es entgegen und musterte das viele Essen. „Danke, Eileen. Wie nett.“ Sie errötete und dachte an ihren Geburtstag zurück. Nur sie und Sean. Er hatte sie mit in den Park genommen und ihr ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift „Ich liebe dich, mein Schatz!“ geschenkt. Es war einer der wunderbarsten Momente ihres Lebens gewesen, wahrscheinlich sogar der schönste. Jedoch hatte die andere, bildhübsche Freundin von Chris und Ellinora alles Glück zunichte gemacht. Mit ihrem Antlitz hatte sie Sean seines Verstandes beraubt und ihn erblindet. Er hatte nur noch Augen für sie besessen und sie auch nur für ihn. Dennoch war sie nachher fortgelaufen, geflohen, wortwörtlich. Sean hatte ihr am Morgen darauf eine wunderschöne Silberkette, an der ein grünblauer Stein hing, gleich ihrer Augenfarbe, geschenkt und sich wahrhaftig für seine Achtlosigkeit entschuldigt. Danach konnte sie ihm nicht mehr böse sein. Nein, sie konnte ihn sogar verstehen. Die Frau war wirklich das grazilste Geschöpf, das sie selbst je erblicken durfte.
Nun erhob Eileen sich leichtfüßig vom Bett und schritt zum Kleiderschrank, während Sean sein Frühstück aß. Sie öffnete abermals die quietschende Tür und fasste dieses Mal jedoch in seine Hälfte des Schrankes. Sie zog ein nachtschwarzes Hemd mit Knöpfen und eine dunkle Jeans hinaus. Rasch zog er alles über und schlüpfte in ausgetretene schwarze Turnschuhe mit grell weißer Sohle. Er sah schick und gleichzeitig lässig aus. Mit einem leichten Kuss auf die Wange, nahm Eileen ihm das dargebotene leere Tablett aus den Händen und marschierte geradewegs in die Küche. Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Die Zeiger zeigten acht Uhr dreiundvierzig. Sie hatten noch ganze sieben Minuten.
Wie sollten sie denn bloß die viele Zeit totschlagen?
Ein erfreutes Lächeln deutete sich in ihren Mundwinkeln an. Skeptisch und mit einem leichten auch von Spott hob Sean fragend eine Braue. „Was ist, Schatz, warum grinst du so?“ Sie schüttelte nur geheimnisvoll den Kopf und trat zur schwarzen Ledercouch. Schwungvoll ließ sie sich nieder und legte die Beine angewinkelt auf den rauen Stoff. Misstrauisch lachend setzte er sich weniger gelassen neben mich. „Eileen, was hast du vor?“ Sie grinste noch mehr.
„Was erwartest du denn?“
„Ich erwarte nichts. Ich hatte gedacht, wir machen uns einen gemütlichen Tag, oder so …“ Sie sah ihm nicht ins Gesicht, sie konnte sich schon so ein spöttisches Kichern schwer verkneifen, und ein Blick seiner intensiven Augen hätte die Situation nicht wirklich verbessert.
„Tja, mein Lieber. So einfach wird es dann doch nicht für dich.“ Bevor er sie mit noch mehr Fragen löchern konnte, schnappte sie sich die Fernbedienung, oder besser gesagt versuchte sie es. Leider war Sean schneller und hatte sie schon in einer seiner großen Hände. Mit einem schrillen, quengelndem Ton in der Stimme jammerte sie mit Kulleraugen: „Hey, gib mir die Fernbedienung! Ich wollte sie!“ Sie hörte sich an wie ein kleines Kind, was ihn zum Lachen brachte. Das nutzte sie aus und warf sich rittlings auf ihn drauf. Zusammen fielen sie zurück auf die Kissen und rangen spielerisch um das winzige Gerät.
Schließlich kullerte Eileen vom Sofa, das Plastikstück Besitz ergreifend an die Brust gedrückt. Schwer atmend musterte sie ihren Freund. Im Gegensatz zu ihr schien er nicht im Mindesten angestrengt. Seine Atmung verlief gleichmäßig, keine einzigen Schweißperlen hatten sich auf seine Stirn verirrt und selbst die Wangen waren nur leicht rosa angehaucht. Einzig und allein die zerwuschelten Locken und die zerknitterte Kleidung ließ darauf schließen, dass er etwas anderes als locker einen Film anzuschauen gemacht hatte. Derweilen schweifte sein belustigter Blick über ihren zierlichen, großen Körper. Dieser verharrte an ihrem Decolté und den kurzen Beinen. Sie besah sich und musste überrascht feststellen, dass ihr wunderschönes Kleid verrutscht war. Die dünnen Träger waren heruntergestreift, der Ausschnitt gab eine freie Sicht auf den geriffelten Rand ihres einfachen weißen BH und der kurze Saum des Kleides war bis zur Hüfte hochgezogen. Mit perlendroten Wangen raffte sie alles wieder an seinen Platz und stand peinlich berührt auf. Sean folgte ihr.
Sie wollte sich beschämt umdrehen, da ergriff er ihre dürren Handgelenke und starrte ihr liebevoll in die Augen. Er streifte sacht mit seinen sinnlichen Lippen ihren leicht geöffneten Mund. Der Kuss wurde süßer, reifer und Millionen Mal leidenschaftlicher. Er fing an, Feuer zu fangen und ließ ihrer beider Körper heiß lodern. Kräftig fasste er sie um die Hüften und hob sie ohne Mühe hoch. Sie schlang sich ihm um den Hals, lockerte nicht im Geringsten ihren festen Griff. Ihr Verstand war vernebelt von einer ungeheuren Lust und tiefen Verlangen. Dann jedoch, sie standen schon im Rahmen seines Schlafzimmers, fiel ihr wieder ein, was sie eigentlich vorhatte. Vorsichtig löste sie ihre Arme von seinem breiten Hals und schob auch die eifrigen Finger seinerseits beiseite. Enttäuscht, einem kleinen Welpen gleich, blickte er zu ihr hinab. Sie schüttelte stur den Kopf und marschierte an ihm vorbei. Er hielt sie am Arm fest. Sie drehte sich um, hauchte liebevoll einen Kuss auf seinen Hals und meinte flüsternd: „Ich weiß, mir geht es nicht anders. Aber wir müssen jetzt los, wenn wir pünktlich sein wollen.“
„Pünktlichkeit ist was für Neerds“, gab er schnurrend zurück. Sie lachte kurz amüsiert auf, doch dann entwand sie sich seinem halbherzigen Griff. Den Mantel über die Schulter gestreift öffnete sie die Tür und trat auf den Flur hinaus. „Kommst du, Sean?“, rief sie noch, ehe sie die wenigen Treppen des Hochhauses hinunter lief. Sie hörte die Haustür ins Schloss fallen und wartete, bis er sie eingeholt hatte. Dann ergriff sie seine warme Hand und drückte sie liebevoll.

Sean saß locker auf dem Beifahrersitz, während Eileen vorschriftlich auf den Straßen Brooklyns fuhr. Prüfend tastete er in seine Hosentasche. Wo auch immer sie hinführen, es wäre der richtige Ort, die richtige Zeit.
Bei diesem Gedanken krampfte sich etwas in seinem Herzen zusammen. So, als hätte er irgendetwas vergessen. Oder irgendjemanden. Aber das war natürlich irrsinnig, da es niemanden sonst in seinem Leben gab, für den er so fühlte, wie für Eileen. Als er Jake davon erzählt hatte, von diesem komischen Gefühl, hatte dieser ihn skeptisch angeschaut. Danach jedoch sofort ein Grinsen aufgesetzt und Sean gegen die Schulter geboxt, mit dem Kommentar „Wenn sie’s ist, dann hol sie dir!“. Seitdem ignorierte er einfach das unangenehme Gefühl.
Mit einem zufriedenen Lächeln schloss er die Augen und dachte an die letzten Monate, die liebevollsten Momente, die glücklichsten Erinnerungen. Er wollte dieses Gefühl von Freiheit für immer in seinem Herzen verschließen, verbergen vor aller Menschenseele. Wann er auf diese Idee gekommen war, wusste er selbst nicht mehr, dennoch war sie nun ein wichtiger Bestandsteil seines Lebens. Er rief sich ihr wunderschönes Abbild nochmals vor Augen Er hatte sie stundenlang gemalt, ihre feinen, symmetrischen Gesichtszüge schwungvoll auf weißem Papier verewigt und die satten Konturen für immer mit Öl festgehalten. Jedes kleinste Detail, alle noch so winzigen Veränderungen waren ihm aufgefallen. Und jede einzelne ließ sie ihm nur noch schöner vorkommen. Alle Bilder, ob nun auf Papier oder Leinwand, alle Portraits wurden sorgfältig aufgehoben und aufgehängt. Nach allen Vollendungen der Werke lächelte Eileen ihn beschämt an und diese leichte, wunderschöne Röte inspirierte ihn weiter und leitete ihn zu neuen Erschaffungen. Sie war sein Traum.
Plötzlich, er hatte sich gerade alle Zeichnungen reihenweise vor Augen geführt, schob sich ein anderes Gemälde in den Vordergrund. Die Göttin, so hatte er es genannt. Ironischerweise ähnelte die hinreißende Frau des Bildes haargenau der schönen Jillien, der besten Freundin Chris’ und Ellis. Heimlich hatte er es in einer Kiste mit Aufschrift „Sonstiges“ in seinem Schrank versteckt. Eileen hielt es für alte, unwichtige Geschenke von seiner Mutter und hatte somit nie einen Finger daran gelegt.
Der Wagen hielt ruckartig an, der Gang wurde umgelegt und sie fuhren rückwärts. Wieder in die Realität zurückgeholt öffnete Sean die Augen und blickte sich um. Rechts neben ihnen lag das große Haus von Christopher und Ellinora Stevens. Er konnte sich gut vorstellen, vorauf das hinauslief. Grinsend stand er auf und stieg mit Eileen untergehakt die drei Treppen zur Eingangstür hinauf. Sie klingelte einmal, zweimal. Beim dritten Mal öffnete Elli mit müden Augen. Sie ließ sie rein und schlürfte in die Küche. Sie wies die beiden Gäste an, im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Strahlend und mit raschem Schritt folgte Sean der Anweisung und zog seine Freundin hinter sich her. Er schloss erwartungsvoll die Augen und trat in den großen Raum.
Wartete.
Als nichts geschrieen wurde wie „Herzlichen Glückwunsch!“, öffnete er zaghaft die Augen. Eileen hatte es sich schon auf dem Sofa gemütlich gemacht und musterte ihn mit gehobenen Brauen. Kopfschüttelnd und beschämt lächelnd setzte er sich neben sie. Enttäuschung breitete sich in ihm aus. Also doch keine Überraschungsparty. Wieso kam ich bloß auf diesen Gedan-
„Happy birthday!“ Schrie es aus allen Ecken und zigtausende Menschen kamen aus allen Räumen gestürmt, ihnen voran sein bester Freund Chris. Dieser umschloss ihn breit grinsend mit den mächtigen Armen und drückte ihn fest. „Alles Gute zum Geburtstag, Kleiner“, flüsterte er ihm ins Ohr. Sean errötete und klopfte ihm überglücklich auf den Rücken. Er sah aus dem Augenwinkel Eileen neben sich. Sie hatte die Hände wie ein kleines Mädchen hinterm Rücken verschränkt und musterte ihn gerührt. Er löste sich von seinem Kumpel und wollte sich eigentlich ihr zuwenden, da schritt auch schon Toby dazwischen. Auch er nahm Sean in den Arm und wünschte ihm alles Gute. Genauso wie Jake, Charlie und noch viele andere ebenfalls. Schließlich war er mit den Umarmungen und Glückwünschen fertig, ihm war heiß und sein Gesicht rot.
Er suchte in der Menge nach Eileen. Sie stand locker an die Wand gelehnt, die Brüste sinnlich vorgeschoben, die Arme auf dem Rücken. Sie mustert ihn geheimnisvoll lächelnd und wies ihn mit einem stillen Blick an, zu ihr zu kommen. Grinsend wie ein Honigkuchenpferd suchte er sich seinen Weg durch die Menschenmasse und tauchte dann vor ihr aus dem feiernden Meer auf. Sie schloss zaghaft die Augen und wartete, sagte keinen Ton. Alles, was sie machte, war mit den Fingerknöcheln den Rhythmus des Liedes an der Wand mit zu klopfen. Er trat ganz nah an sie heran. Als hätte sie seine Nähe gespürt, öffnete sie die Lider und blinzelte ihn an. Ein ungeheures Strahlen lag in ihrem intensiven Blick.
Urplötzlich schlang sie ihre langen Arme um seinen Hals und lehnte sich an ihn. Sie streifte mit dem Mund seinen Hemdkragen und verbarg das Gesicht in dem dunklen Stoff. Er legte sein Kinn genießerisch auf ihren Haaransatz und sie bewegten sich zusammen im Takt des ruhigen Liedes. Sie murmelte etwas in seine Kleidung. Dann blickte sie zu ihm hoch, legte eine langfingrige Hand an seine erhitzte Wange und spielte mit einer kleinen Locke seiner pechschwarzen Haare. Er vernahm ein sinnliches Flüstern ihrerseits. „Ich liebe dich, Sean.“ Er spürte es, fühlte es in seinem Herzen. Jetzt war die Zeit gekommen, nun war der Moment der Wahrheit da.
Ruckartig fasste er sie um die Hüften, ignorierte ihren erschreckten Aufschrei und trug sie in die Mitte des Raumes. Er wies die tanzenden Paare an, Platz zu machen, drängelte sich durch und setzte sie genau vor seinen Füßen ab. Die Musik verstummte, die Gespräche wurden beendet, alle Blicke waren allein auf sie beide gerichtet. Rasch strich er mit den Fingerspitzen über seine Hosentasche. Das harte Material, das er durch den Stoff hindurch berührte, beruhigte ihn und gab ihm neue Kraft. Mühsam und mit wackeligen Beinen kniete er sich vor ihr nieder. In ihren wunderschönen Augen stand Schock, Verwirrung und Liebe. Sean schluckte schwer, der Schweiß bedeckte seine Stirn und es war, als würde er brennen, so heiß war ihm.
„Eileen, ich habe das hier zuvor noch nie gemacht, also sein mir nicht böse, wenn ich es nicht perfekt meistere.“
Abermals fasste er sich in die Hosentasche und zog ein kleines schwarzes Kästchen daraus hervor. Alle herumstehenden Gäste holten tief Luft.
„Eileen Jasmine Norde, willst du meine Frau werden?“ Perplex starrte sie ihn an. Panik breitete sich in ihm aus. Was, wenn sie nein sagte. Die aufgekommene Stille brachte ihn beinahe um. Die Menschenmenge, wie auch er warteten einzig und allein auf ihre Stimme, auf ihre sein Leben verändernde Antwort. Plötzlich stiegen Tränen in ihren Augen auf. Sie fiel vor ihm auf die Knie und schluchzte. Jeder im Haus hielt angespannt die Luft an. Er wollte sie trösten, war jedoch dazu viel zu überrascht. Was hatte er falsch gemacht?
Dann stürzte sie ihm plötzlich in die Arme und flüsterte: „Ja, ja ich will deine Frau werden!“ Es war so still im Zimmer gewesen, dass alle ihre noch so leise Stimme vernommen hatte. Überglücklich schloss er sie in die Arme und presste sie an seine Brust. Jubelschreie und Glückwünsche wurden durcheinander gerufen, doch Sean schaltete all seine Sinne ab.
Sie hatte ja gesagt. Sie hatte wirklich ja gesagt!
Widerwillig lösten sie sich von einander und mit zittriger Hand steckte er ihr den goldenen Ring mit dem einen, kleinen grünblauen Stein auf den Finger. Dann küssten sie sich stürmisch und alles um sie herum erlosch.
Nun galt einzig und allein ihre Liebe.

Die Menge klatschte, sie jubelte, sie schrie. Alles bewegte sich, ein rauschender Menschenfluss, der alles dafür gab, dass glückliche, neu verlobte Paar zu betrachten, alle Details zu sehen. Jillien jedoch hatte eine perfekte Sicht, und hätte sie so gern beschattetet von einem Hinterkopf eines Fremden. Sie sah alles, jeden Glücksfunken in Seans Augen, jede Schmetterlingsberührung Eileens, jede leidenschaftliche Bewegung ihrer verschlungenen Münder. Während sich Jilliens Umfeld bewegte, lachte, glücklich war, so stand sie still wie eine Salzsäule an Ort und Stelle, blieb lautlos und wurde innerlich von Schmerz zerfressen. Alles, sie hatte wirklich alles ausgehalten. Jeden Kuss, jede zärtliche Berührung, alle Nächte von Sean und Eileen hatte sie wortlos hingenommen, von Trauer gequält, doch nichts war diesem Moment gleich, nicht einmal annähernd. Jetzt war ihr Todesurteil besiegelt. Es gab nichts mehr, als das Wissen, dass sie ihn nun vollends für immer und Ewig verloren hatte. Das mächtigste Siegel der Liebe wurde von ihm ausgesprochen und ließ sie mehr und mehr sterben. Doch nicht der Seelentod versetzte sie ihn Schockzustand. Nein, den fürchtete sie nicht. Aber die Erkenntnis mit der geistlichen Vernichtung weiterleben zu müssen, innerlich weiter zu sterben und dennoch immer auf dieser nun trostlosen Welt zu verweilen als leere Hülle, das brachte sie um.
Sekunden, Minuten, die Zeit war schneller verstrichen, als bemerkt. Jillien war nach hinten gedrängt worden von der fröhlichen Menschenmasse, und nahm es ihr nicht übel. Sie forderte ihre Beine auf, zu fliehen, sie von diesem Ort des Schmerzes und der Trauer fortzubringen. Schnellen Schrittes eilte sie durch das Gästemeer und kämpfte sich einen Weg zur Haustür frei. Plötzlich faste sie etwas um den Arm. Blitzschnell drehte sie sich um und öffnete schon den Mund zu einer wütenden Bemerkung.
Als ihr Sean gegenüber stand.
„Jillien, wo willst du denn hin? Die Feier hat doch gerade erst begonnen.“ Sie sah bekümmert weg, Tränen bildeten sich in ihren Augen. Aus dem Seitenwinkel sah sie Eileens Hand in seiner und ein kurzer Stich Jähzorns blitzte in ihrem Herzen auf. Dann jedoch schüttelte sie schwer schluckend den müden Kopf und meinte mit erstickter Stimme: „Es tut mir leid, aber ich hatte einen dringenden Anruf. Mein Chef rief an und ließ mich kurzfristig für eine Kollegin einspringen. Ich muss noch Koffer packen, heute Abend geht mein Flieger.“ Seine dunklen Augenbrauen zogen sich missbilligend zusammen. „Wo arbeiten sie denn?“ Seine wunderschöne Stimme klang misstrauisch. Hinter ihm blinzelte seine Verlobte schelmisch über seine breite Schulter. Mit einem giftigen Blick wandte Jillien sich wieder Sean zu. „Bei einer Firma, die Produkte Auslands verkauft“, log sie. Mehr fiel ihr nicht ein.
Abermals drehte sie sich dem Ausgang zu, doch er ließ nicht locker, ließ sie nicht gehen. „Jillien, würdest du wenigstens mit etwas Freude gehen, wenn ich, ich meine wir, dich zu unserer Hochzeit einladen?“ Sie zuckte merklich zusammen. Sie schüttelte energisch denn Kopf, in dem sich alles dreht und wirbelte. Nach kurzer Bedenkzeit flüsterte sie dann: „Nein, nein das würde nichts an meiner Stimmung ändern.“ Er schüttelte leicht an ihrem Arm und zog sie zu sich herum. Seine dunklen Augen starrten in ihre, suchten nach Anhaltspunkten für ihre Verdrossenheit. Sie verwehrte ihm den Blick. Mit gesenkten Lider gab sie deutlicher zurück: „Ich denke nicht, dass meine Anwesenheit erwünscht ist“, sie deutete leicht mit dem Kinn auf die verschreckte Eileen. „Außerdem“, fuhr sie fort, „ich weiß nicht, wann ich von der Geschäftsreise wiederkomme. Nein, verschenken sie die Einladung lieber an jemanden, der ihnen beiden mehr am Herzen liegt, als ich.“ Er schüttelte stur den Kopf, die Locken wippten schwungvoll hin und her.
Das Verblüffende jedoch war, das die wörtliche Reaktion nicht von ihm, sondern von Eileen selbst kam. „Jillien, ich bitte sie. Kommen sie zu unserer Hochzeit. Wir würden uns freuen, wir beide. Tun sie uns einfach den Gefallen, ja?“ Überrascht konnte sie nicht anders, als zu nicken. Lächelnd ließ Sean sie los, hauchte seiner Verlobten einen Kuss auf die Wange und wandte sich mit einer Verabschiedung wieder seinen Gästen zu. Eileen streifte ihre Schulter noch mal mit der feinen Hand, ehe auch sie in dem Menschenmeer verschwand. Wer zurückblieb, war Jillien. Sprachlos und geschockt. Dann drehte sie sich steif um und drückte die schwere Klinke der Haustür runter.
An der frischen Luft atmete sie tief durch und stolperte ungeschickt über die matschigen, vom Wasser, Schnee und Dreck verschmutzten Gehwege zu ihrem Haus, nur zwei Blocks entfernt.
Wage erinnerte sie sich an den Sturz von der Williamsburg Bridge und an das eisige, kalte Wasser, das sie nach dem Fall auffing, gefangen hielt, erstarren ließ. Der aufgekommene Schmerz, die unterkühlten, schrecklichen Stiche am ganzen Körper und das gleichzeitig taube und sterbende Gefühl waren nicht im Vergleich zu dem Moment, indem Eileen sie einlud. Noch nie zuvor hatten sie ein Wort miteinander gewechselt. Immer nur vor Gift sprießende Blicke. Und nun hatte sie sie allen Ernstes zu ihrer eigenen Hochzeit eingeladen.
Jillien konnte es nicht glauben. Eileen hatte das nicht aus Höfflichkeit oder Freundschaft getan. Einzig und allein für Sean. Einzig und allein aus Liebe.
Sie liebte ihn wirklich, so sehr, wie ein Mensch nur lieben konnte.



Verzweifeltes Geständnis




Zwei Wochen später

Eine Auszeit, so hatte Jillien ihren spontanen und flüchtigen Urlaub nach Spanien genannt, Christopher und Ellinora kannten ihn nur als „Ich muss mich selber wieder finden und dabei entspannen, deshalb fliege ich noch heute Abend. Nicht, weil derjenige, den ich von ganzem Herzen liebe, demnächst heiraten wird und mich zu seiner Hochzeit eingeladen hat“ und Sean und Eileen waren immer noch in dem Glauben gefangen, sie würde bei einer wichtigen und sehr geschäftigen Firma arbeiten und müsste im Ausland teure Markensachen verkaufen. Doch leider war diese „Auszeit“, oder wie man sie auch immer nennen will, nun vorbei. Eine Nachrichtenflut teils von Chris und Elli, teils aber auch von Sean übermannte sie. Doch erst die letzte Mitteilung ließ sie den schwierigen Schritt in den Flieger zurück nach Brooklyn machen. Eine SMS von Eileen. In ihr waren nicht viele bewegende oder annähernd rührende Worte enthalten. Nur ein knallharter Satz, den Jillien mindestens vier Mal wiederholt gelesen hatte und bei jedem Enden abermals scharf die Luft einzog und überrascht die Augen zusammen kniff.

Jillien, wenn du nicht zu meiner Hochzeit kommst, dann mache ich dir das Leben schwer.

Da die Nummer eine unbekannte gewesen war, und es sich um „ihre“ Hochzeit handelte, konnte die Nachricht nur von Eileen stammen.
Weniger als drei Stunden später hatte Jillien im Flieger gesessen und das Abbild der anderen Frau nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Niemals. Niemals hätte sie der Verlobten ihrer Liebe zugetraut, sie selbst, die bisher größte und verhasste Konkurrenz, einzuladen zu dem Tag, wo sie sich trauen lassen.
Durch ein zwanzig Sekunden andauerndes Telefonat mit Chris hatte sie das Datum, die Uhrzeit und den Treffpunkt der Heirat herausgefunden. Nun war sie auf dem Weg dahin.
Jillien hielt mit ihrem strahlend weißen BMW-Cabriolet vor einer kleinen, ihr unbekannten, evangelischen Kirche. Durch einen kurzen Blick in den Rückspiegel musterte sie ihr Erscheinungsbild.
Die satten Locken hatte sie modisch hochgesteckt und mit silberweißen Klammern verziert. Außer leicht aufgetragener Wimperntusche und wenig schwarzem Kajal, der ihre mausgrauen Augen betonte, trug sie keine Schminke zur Schau. Ihre Lippen teilten sich und entblößten makellose Zähne. Dann sah sie an sich hinab. Ihr Körper war in ein schlichtes weißes Seidenkleid gehüllt, an der Brust und Taille eng anliegend und ab der Hüfte abwärts bis zu den Knien locker hinabfallend. Sie hatte ihre Wahl sorgfältig ausgesucht, schließlich wollte sie dem armen, kleinen Mauerblümchen, das sich heute trauen ließ ja nicht die Schau stehlen. Von wegen.
Ein hinterlistiges Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht. Und obwohl sie normaler Weise ein friedvolles Wesen in sich barg, so wollte sie heute nichts anderes, als endlich mal alle Wut, alle Verzweiflung aus sich heraus zulassen und bösartige Blitze auf Eileen zu schleudern.
Anmutig und überaus selbstbewusst schritt sie zu einem kleinen Zelt, in dem sich die Trauzeugen, Brautjungfern und die Braut selbst üblicher Weise aufhielten, bevor das Fest begann.
Jillien vernahm ein leises, unverständliches Schluchzen aus dem Inneren. Perplex zog sie vorsichtig den Eingang auf und spähte hinein. Sie holte scharf Luft.
Auf dem gemähten Gras saß in sich zusammengesunken eine magere, große Gestalt mit blonden Haaren. Einzelne Tropfen fielen auf ein weißes Rüschenkleid, welches auf dem Schoß der Frau zusammengeknüllt lag. Mit zittrigen Händen befasste Eileen den rauen Stoff und schmiss ihn achtlos beiseite.
Von plötzlichem Mitleid und Sorge gepackt, eilte Jillien zu dem traurigen Geschöpf und kniete sich mit in Falten geleckter Stirn daneben. „Eileen, was ist denn los?“ Von Schminke verschmierte und rot unterlaufene Augen starrten zu ihr empor und weiteten sich bei ihrer makellosen Erscheinung zu runden Kugeln. Noch mehr Tränen strömten über die fleckigen Wangen und rannen ihren langen Hals hinab. Schluchzer schüttelten ihren gesamten Körper.
Mütterlich umschlang Jillien sie mit den Armen und legten den Kopf auf ihre Schulter. Dankbar verbarg Eileen ihr ruiniertes Gesicht in der Kuhle zwischen Hals und Schulter von ihr. Mit zärtlichen Bewegungen fuhr sie ihr über den gebeugten Rücken und tröstete sie mit leisem Gemurmel. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass in ihr immer noch das mitfühlende, hilfsbereite, kleine Mädchen schlummerte und sie dennoch den Gefühlen zu Sean Eileen in diesem unscheinbar schrecklichen Moment fast schon mochte.
Nach einiger Zeit verstummte das Weinen und sie löste sich von der verblüfften Jillien. Diese musterte besorgt den zerknüllten Stoff. Mit einem fragenden Blick sah sie wieder zu der anderen. Diese rieb sich über die Augen und verschmierte das schwarz verfärbte Tränenwasser nur umso mehr. „Was ist passiert, Eileen?“, fragte sie abermals. Mit verschwommener Sicht, antwortete die Angesprochene: „Meine erste Brautjungfer hat abgesagt, weil sie kurzfristig zu ihrer erkrankten Mutter fahren musste, meine Cousine ersten Grades, meine zweite und einzig übrig gebliebene Brautjungfer, musste eine Überschicht im Krankenhaus einsetzen, weil sie sich noch um einige Patienten kümmern muss, und als ich das Kleid meiner Mutter anzog, verhang es sich und nun ziert ein langer Riss die rechte Seite. Ich habe keine Brautjungfern mehr, mein Hochzeitskleid ist ruiniert und der eigentlich schönste Tag meines Lebens ist eine einzige Katastrophe!“ Mit Mitleid erfülltem Blick hob Jillien den weißen Rüschenstoff auf. Wirklich, der Riss war riesig und nicht zu übersehen.
Sie ließ das schwere Gewand zu Boden sinken und half Eileen schwerfällig auf die Füße. Mit einem Arm um ihre Schultern gelegt, führte sie sie zu einem kleinen Stuhl, welcher vor einem Tischchen mit Schminke und Spiegel platziert war. Vorsichtig, jedoch bestimmt drückte sie sie darauf nieder und kramte in den Utensilien herum. Heraus zog sie eine Schachtel feuchte Tücher.
Behutsam legte sie Eileens Kopf in den Nacken und säuberte zaghaft das verschmierte Gesicht. Mit jeder einzelnen Bewegung des sanften Stoffes entspannte sie sich beide mehr. Jillien studierte eingehend die harten Gesichtszüge und bildete sich im Kopfe ein weicheres, strahlendes und viel offeneres Abbild der jungen Frau.
Sie machte sich an die Arbeit, schattierte die große Nase, die hohen Wangenknochen und den Kiefer. Sie hob mit leichten Rosatönen, weißem Kajal und tiefschwarzer Wimperntusche die wunderschönen grünblauen Augen hervor und ließ die dünnen Lippen mit Lippliner und Lipgloss voll und verführerisch wirken. Danach fasste sie abermals auf den überfüllten Tisch, griff um den Stiel einer breiten Haarbürste und kämmte die wüste Haarmähne. Dann flocht sie einen französischen Kranz mit den sorgfältig aufgeteilten Strähnen und bestückte ihr Werk mit den Haarnadeln aus ihren eigenen Locken.
Nachdem sie geendet hatte, hob sie sacht das Kinn Eileens an und blickte ihr in die dankbaren Augen. Mit einem freundlichen Lächeln wies sie mit einer feingliedrigen Hand auf den großen Spiegel auf dem Tischchen und blickte in ihr gemeinsames Spiegelbild. Eileen tat es ihr gleich. Ihre Lippen teilten sich und bildeten ein rundes O, ein warmer, fassungsloser Luftstoß verließ ihren geöffneten Mund. Überrascht fasste sie sich behutsam an den Kopf, drehte interessiert den Kopf hin und her und studierte ihr Erscheinungsbild haarklein.
Ihr gefiel, was sie vor sich sah, das war nicht zu übersehen. Doch obgleich sie überglücklich über ihre Verschönerung war, so bildeten sich doch Sorgenfalten auf ihrer Stirn. „Was ist?“, fragte Jillien perplex. Eileen drehte sich zu ihr um, ergriff ihre warmen Hände und flüsterte: „Danke. Ich weiß nicht, womit ich deine Aufmerksamkeit und Hilfe verdient habe, aber dennoch heißt das nicht, dass ich dir dafür nicht dankbar bin. Jedoch war deine Mühe ganz umsonst. Ich kann heute unmöglich heiraten. Ich meine, wie sollte das denn gehen, ich habe doch kein Kleid!“ Erneut kündigte sich ein Tränenfluss an, doch Jillien griff hastig nach einem weiteren Tuch und tupfte sorgsam jedes einzelne Tröpfchen weg. Dann verzog sie kurz nachdenklich den Mund und dachte scharf nach. Dann sah sie sich im Zelt um. Dann blieb ihr Blick an der Figur der großen Frau hängen. „Welche Größe haben sie, Eileen?“ Überrascht öffnete diese den Mund. „Achtunddreißig, warum?“ Die andere fasste sich an den Saum ihres leichten Kleides und schob ihn bis zur Hüfte hoch, entblößte ihre langen, grazilen Beine. „Ich trage zwar sechsunddreißig, aber ich denke, dass sie in mein Kleid hineinpassen sollten. Es ist schlicht und weiß, und das einzige, was uns zur Verfügung steht. Außerdem beginnt in etwa einer Viertelstunde die Trauung, und bis dahin sollten sie fertig sein.“ Sie wurde mit erstaunten Augen angeblickt. Mit genervtem Tonfall entgegnete sie einen Tick zu scharf: „Ich will ihnen helfen, also ziehen sie endlich diese triste Freizeitkleidung aus und das hier an!“ Sie wedelte ungeduldig mit dem flatternden Stoff. Mit eifrigem Nicken und erstickter Stimme zog Eileen sich bis auf die Unterwäsche aus und tauschte sich mit Jillien aus.
Nachdem sie sich beide umgezogen hatten, sie Eileens Haare abermals zurechtgezupft hatten und das Kleid ihren langen Körper wunderbar umschmeichelte, traten auch schon Chris und Jake ins Zelt, Seans Trauzeugen. Geschockt musterten sie das lächelnde Frauenpaar und wunderten sich über das Aussehen. Doch was in ihren Augen stand brachten sie nicht zu Wort. Was für ein Glück für sie beide.
Jillien wandte sich zum Gehen, hatte den Zelteingang schon gefasst, da rief Eileen ihr noch hinterher: „Warte! Ich habe immer noch keine Brautjungfer! Möchtest du meine sein?“ Fassungslos schnellte sie zu der bezaubernden Braut herum. Dann legte sich ein erfreutes Lächeln auf ihr Gesicht und sie nickte überglücklich.
Zu viert verließen sie strahlend das Zelt und schritten zur riesigen Flügeltür der Kirche. Die Tore öffneten sich weit und Eileen schritt anmutig in den gefüllten Raum. Einzelne Jubelschreie, Orgelmusik und staunende Blicke begrüßten sie. Der Tradition gemäß, folgte Jillien ihr und musterte eingehend die Gästeschar. Eine etwas ältere Frau wischte sich notgedrungen Tränen vom Gesicht, ein breit grinsender Junge schlang liebevoll einen Arm um ihre Schultern. Daneben saßen zwei Zwillinge und eine Großmutter, sie alle erfreuten sich über die Szene auf ihre eigene Art und Weise. Eileens Vater stolzierte ebenso stolz wie der Rest seiner Familie neben seiner Tochter her und führte sie zum Altar, wo Sean auf sie wartete.
Jillien wurden skeptische Blicke zugeworfen, doch sie ignorierte sie. Ein derzeitiges Glücksgefühl vernebelte ihr die Sicht. Leichtfüßig traten sie zu ihrem angewiesenen Platz, ihr gegenüber der grinsende Jake und der ebenso freudige Chris.
Ein kleiner, rundlicher Pastor ergriff mit fester Stimme das Wort, sagte das Übliche schwungvoll auf und mit jeder Silbe, mit all seinen Tonlagen erfasste sie mehr ein mulmiges Gefühl.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass das hier eigentlich der schlimmste Tag ihres Lebens sein sollte. Normalerweise dürfte sie sich nicht für die beiden freuen. Sie sollte nicht Lachen, im Gegenteil, sie sollte in Tränen ausbrechen, denn wenn Sean und Eileen sich heute ihr Jawort gaben, so war er ganz für sie gestorben. Niemals könnte sie ihm wieder in die Augen sehen, ohne das ihr geschändetes Herz abermals in unzählige Splitter zerbrach und es wieder Jahre dauern würde, bis es halbwegs verheilt war.
Geschockt spannten sich ihre Schultermuskeln an, ihr Nacken versteifte sich und ihr Kiefer bebte.
Des Pastors Worte halten durch den von festen Mauern umhüllten Raum: „Sollte jemand etwas gegen diese Ehe einzuwenden haben, so erhebe er sich jetzt und spreche oder schweige für immer!“
Mit einem kräftigen, unbedachten Schritt trat Jillien vor und erhob das Kinn. Alle Anwesenden richteten ihre Aufmerksamkeit auf sie, einschüchternde Blicke ließen ihre Haut kribbeln. Erwartungsvoll öffnete sie den Mund. Eileen zog scharf die Luft ein und unterdrückte einen Schreckenslaut. Doch es kam nichts. Sie brachte nicht mehr hervor, als einen warmen Luftstoß.
Auf wackeligen Beinen drehte sie sich Sean zu, dessen Mund offen stand und stockenden Atem hervorbrachte. Sie musste schwer schlucken, sprach dann aber mit flüsternden und zittrigen Worten. „Sean, ich weiß, du liebst sie. Und sie erwidert deine Gefühle. Ich will euch nicht eures Glücks berauben, das würde ich nie übers Herz bringen.
Doch wenn ich sehe, wie sie dich anlächelt, so voller Liebe und Freude, dann bemerke ich auch mit traurigem Herzen, dass deine Augen durch dieses kleine Liebesgeständnis heller strahlen, als die Sonne es je vermögen mag. Dann würde ich mich am liebsten von euch abwenden und euer liebliches Abbild aus meinem Kopf verbannen, doch ich kann nicht. Jedes Mal sind meine Augen an den schrecklichen Anblick gefesselt. Nur wegen dir kam ich zurück. Und nur wegen dir kann ich es ertragen, heute hier zu sein. Sie macht dich glücklich, und deshalb ist es meine Pflicht, dich gehen zulassen, loszulassen. Auch wenn es mich umbringt.
Doch ich will nicht gehen ohne dir meine Gefühle zugestanden zu haben.
Ich liebe dich. Mehr als ich jemals einen anderen Menschen lieben werde.“
In dem Gotteshaus war eine einsame Stille entstanden, es war so leise, dass selbst die Gäste in der hintersten Reihe jedes ihrer Worte vernommen hatte.
Tränen standen in ihren Augen. Schluchzer brannten sich ihre Kehle hinauf. Schweren Herzens rannte sie den Gang entlang, sich sehr wohl bewusst, dass alle Blicke auf ihrer davonlaufenden Gestalt hafteten. Erbarmungslos wurde ihr der Atem genommen und sie verringerte dennoch nicht ihr Tempo. Wo die Kirche vor Anfang der Trauung noch klein und gemütlich gewirkt hatte, so kam sie ihr jetzt vor wie eine unendlich weit reichende, brennende Hölle, die nur darauf wartete, dass sie stolperte und ein loderndes Flammenmeer sie verschlucken konnte, ihr ein qualvollen Tod zu bereiten vermochte.
Ein erstickter Laut schallte von den Wänden ab in jeder Manns Ohr hinein. Er kam von Eileen. Weshalb jedoch vermochte Jillien nicht zu sagen, ihr Gehirn war abgeschaltet. Einzig und allein galt es, zu fliehen.
Vor ihm, ihrer großen Liebe.

Eileen wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Ihr flogen unzählige schmerzende, verwirrende und unsinnige Gedanken und Emotionen durch den Kopf.
Musste sie das sagen und somit mir die Hochzeit verderben?
Sie trägt noch meine Kleidung am Körper! und
Ich wusste um ihre Gefühle zu ihm, warum nur schockiert mich ihr Geständnis dann jetzt so?
Auf all dies kannte sie eine Antwort. Doch die letzte versetzte ihr einen tiefen Schlag in die Magengrube: Weil du auch weißt, dass er ihre Liebe erwidert.
Es war, als würde sich alles um sie herum drehen, sie vernahm ein teuflisches Lachen, schrill und beängstigend. Und die Blicke aller Anwesenden verwandelten sich in schillernde grüne Katzenaugen, angriffslustig zu Schlitzen verzogen, schwarz glänzende Dämonen, welche ein mordlüsternes Lächeln auf den spröden Lippen trugen, und andere, verhängnisvolle Unwesen, die nur geboren worden waren, um zu töten.
Des Pastors Mund stand sperrangelweit offen. Auch er fand keine passenden Worte.
Verwirrt den Kopf schüttelnd wandte sie sich zu ihrem Bräutigam um. Doch anstatt auf einen ebenso perplexen jungen Mann zu stoßen, befand sich vor ihr ein veränderter, immer noch gleich aussehender Sean. Doch auf seinem Gesicht prangte ein liebliches Lächeln. Mit verträumten Augen sah er der längstverschwundenen Frau hinterher.
In seinen Augen schimmerte es, helle Funken, leuchtenden Nachtsternen gleich, erhellten das Ozeanblau. Die dichten Wimpern warfen zackige Schatten auf die Wangenknochen, die Lippen waren einen Spaltbreit geöffnet. Die schwitzigen Hände vergrub er in den Jackettaschen und mit angespannten Rücken hob und senkte sich seine Brust unregelmäßig.
Dicke Tropfen strömten aus ihren Augen bei seinem faszinierten Anblick. Sie schlug schluchzend die Hände vors Gesicht.
Alles war totenstill, einzig und allein sie war zu vernehmen. Plötzlich legten sich zwei schwere Hände sorgsam auf ihre unbedeckten Schultern. „Eileen …“ Seine Stimme war so leise und nah an ihrem Ohr, dass sie alleine schon fast ihren Namen nicht verstand. Die Melodie klang betörend nach.
„Eileen, es tut mir leid …“ Zögernd schlug sie die Lider auf und nahm die Handflächen vom Gesicht. Rasch wischte sie das meiste Salzwasser mit dem Unterarm ab, dann blickte sie ihm noch mal in die treuen Augen.
In ihnen stand Leid, Einsamkeit, Trauer, Enttäuschung über sich selbst. Doch dahinter, schwer zu sehen, aber doch da, verbarg sich Liebe, unendlich große Liebe. Doch sie galt nicht ihr.
Schwer schluckend hob sie den Zeigefinger und fuhr seinen maskulinen Kiefer nach. Wie so oft schon bemerkte sie seine ruhelose Vollkommenheit. Und das sie nicht im Mindesten seiner Klasse entsprach. Jillien jedoch, die überaus perfekte, makellose, wundersam magische Jillien passte ausgesprochen gut an seine Seite. Sie war eine Verdeutlichung seiner Schönheit und Präzision.
Und das spürte er, sie beide.
Von Entschlossenheit gepackt, kniff sie kurz die Augen zusammen und flüsterte: „Geh, geh zu ihr. Ich liebe dich. Und ich möchte, dass du glücklich bist. Und leider, so weh es mir auch tut, liegt dein Glück allein bei ihr.“ Als sie die Augen wieder öffnete war sein Mund lautlos vor Erstaunen geweitet, die Pupillen ganz groß. Mit einem leicht kindischen Lächeln, nur in den Mundwinkeln angedeutet, schob sie ihn behutsam nach vorne. Er stolperte ein paar Schritte über die eigenen Füße, ehe er sich noch einmal umdrehte. Wortlos formte er mir den Lippen „Danke“, ehe er aus dem Gotteshaus eilte.
Ein allgemeines Raunen ging durch die Menge. Nachdem sich die Türen vollends hinter seinem Haupt schlossen, verkündete sie mit fester Stimme: „Die Hochzeit ist abgesagt.“ Damit drehte sie sich um, schritt zum Altar und fiel davor auf die Knie. Die Gäste verließen in einer riesigen Schar die kleine Kirche, nur ihre Familie blieb. Diese kniete sich neben sie nieder.
Die Lider verschlossen dachte sie nicht mehr an das Vorgefallene. Sie machte sich keine Gedanken über die Vergangenheit oder Zukunft. Sie spürte nur die Nähe ihrer Familie, die ihr beiseite stand, sie stützte, wenn sie fiel, und sie begleitete in die Schlucht der Verzweiflung.
Die zittrigen Hände legte sie, die Finger ineinander verschränkt, über ihr Herz und murmelte Psalm dreiundzwanzig vor sich her.
„Der Herr ist mein Hirte, mit wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
Und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicke meine Seele.
Er führe mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstersten Tal,
so fürchte ich kein Unglück,
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest mir einen Tisch im Antlitz meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen ein Leben lang.
Und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar“, versprach sie deutlicher, als alle anderen Worte vorweg.
Sie blieb noch lange, während sie dieses Gebet wiederholte, Mal für Mal. Und mit jedem neuen Anfang wuchs auch die Hoffnung, dass Gott sie anhörte.
Eileen war nie gläubig erzogen worden und hatte nur aus Tradition kirchlich heiraten wollen.
Doch nun, in diesem Augenblick sorgte sie sich nicht mehr darum, dass es keinen Gott dort oben im Himmel gab, der sich um all seine Kinder kümmerte, sie zweifelte nicht mehr an seiner Existenz.
Denn ob er nun wahrhaftig existierte, oder nur einer Illusion entsprach; in ihrem Herzen gab es einen Teil, der nur durch ihn lebte, nur für ihn am Leben festhielt.
Und so gab es für sie in diesem stillen Moment einen Gott, der über sie wachte und das Leben ihrer wieder neu erbaute.

Sean lief über die saftigen Wiesen, die die Kirche prachtvoll umgaben. Er rannte immer weiter, den Blick verschwommen, die Sicht nur auf ein einziges Lebewesen geschärft. Links von ihm, hinter einem Busch, vernahm er etwas Rotes. Eine einzelne, dicke Lockensträhne wirbelte einen Trauertanz im heftigen Wind und peitschte hin und her.
Eiligen Schrittes marschierte er zu dem Feuerlöckchen hinüber und spähte hinter das Gestrüpp. Zusammengekauert, mit Tränenverschmiertem Gesicht saß Jillien da und weinte stumm in sich hinein. Tröstend legte er eine Hand auf ihre Schulter. Erschrocken zuckte sie weg und starrte verängstigt zu ihm hinauf, gegen die Sonne.
Ihr Gesicht lag im Schatten, dennoch konnte er die geweiteten Pupillen erkennen. Sie stammelte unverständliche Worte vor sich hin.
Mit einer tiefen Sorgenfalte auf der Stirn kniete er sich neben sie und legte zwei warme Fingerspitzen an ihre nasse Wange. Sie wollte abermals zurückweichen, doch er versperrte ihr den Weg. Mit einem seligen Lächeln strich er beruhigend ihre Gesichtszüge nach. Doch sie entspannte sich keineswegs.
Mit einem tiefen Seufzen flüsterte er: „Warum vertraust du mir nicht?“ Sie antwortete nicht, blickte nur verstört drein und schüttelte unaufhörlich den Kopf. Schließlich hielt er ihre Nervosität nicht mehr aus, drückte behutsam gegen ihre schmalen Schultern und sie somit ins Gras zurück. Schutzlos lag sie vor ihm, die Augen schmerzlich zusammengekniffen. Mit einem kehligen Auflachen zeichnete er ihren zitternden Kiefer nach, bis dieser die unruhigen Bewegungen einstellte, streichelte ihren Hals auf und ab, bis sie wieder freiwillig schluckte, fuhr über das leicht angedeutete Brustbein, bis sie wieder regelmäßig Luft holte. Er liebkoste auf eine einsame Art und Weise ihren nervösen Körper, bis sich ihr Geist vollkommen beruhigt hatte.
Schließlich stellte er seine Berührungen ein. Enttäuscht schlug sie die Lider auf und blickte ihn aus wunderschönen grauen Augen an. Dann hob sie zaghaft die Hand an seinen Hemdkragen. Vorsichtig öffnete sie ihn, doch anstatt ihn ebenso zu berühren wie er sie, zog sie nur einen einfachen Anhänger hervor, in dessen Mitte ein kleiner Rubin prangte.
Sie umschloss ihn mit ihren langen, dünnen Fingern und beugte sich dann hoch, das Gewicht auf den Ellbogen gestützt. Behutsam hielt sie das Amulett in der Hand und legte sanft ihre Lippen darauf.
Diese Geste erwärmte sein Herz bis in den kleinsten Winkel hinein. Er hatte nie gewusst woher der Talisman stammte, nur gefühlt, dass er mit etwas sehr Wichtigem verbunden war. Und Jilliens Wissen über ihn und die Liebe, die er in ihren Augen las, ließen ihn ein Gefühl von Glückseligkeit verspüren und er wusste, dass das Geschenk nur von ihr allein kommen konnte.
Mühsam ließ sie sich wieder zurückfallen und blickte ihm ins Gesicht. Von der Sonne beschienen lächelte sie ihn an und er konnte die Spannung zwischen ihnen spüren.
Verträumt beugte er sich zu ihr hinab, wickelte eine dicke Strähne ihrer Lockenpracht um seinen Zeigefinger und verweilte mit den restlichen Fingerspitzen an ihrer Wange. Sie schmiegte sich wie ein Kätzchen in seine Hand. Von einem unsichtbaren Band geführt, senkte er seinen Kopf zu ihrem Gesicht hinunter. Sein heißer Atem flüsterte über ihre bebenden Lippen. Nach der leisen Vorwarnung öffnete sich sein Mund leicht und legte sich sacht auf den ihren. Sie verschmolzen in weniger als einer Sekunde miteinander, teilten die Gedanken, Emotionen, Berührungen.
Der Kuss bestand aus nicht mehr als Liebe. Es war keine Leidenschaft im Spiel, keine Trauer, Einsamkeit, Wut oder Verzweiflung. Nur das, was sie für einander empfanden explodierte in Abermillionen kleinen Funken. Sie schossen in Feuerkugeln dem Himmel entgegen und versprühten ihre bittersüße Energie Meilen weit.
Mit der Vereinigung traf sie auch die Illusion.
Und der Traum begann …



Zusammen ineinander verschlungen fielen sie zu Boden. Unter ihnen befand sich Staub, Erde und Sand. Verwirrt lösten sie sich von einander und sahen sich irritiert um. Nichts außer heißer Hitze umgab sie. Die Finger ängstlich mit denen des anderen verschränkt, marschierten sie unwissend voraus.
Jilliens Blick zeigte von ihrer Angst und Unwissenheit. Sie flüsterte verirrte Sätze schnell und durcheinander, sodass Sean überwiegend nichts verstand. Jedoch wenige Silben und Buchstaben, Wörter: „Sean … Kuss … warum? … tot …“
Er wusste nichts darauf zu erwidern, also ließ er sie alleine in ihren geschockten Gedanken schweifen. Um ihr wenigstens etwas zu helfen, legte er einen starken Arm um ihre Hüfte und stützte sie, bewahrte sie vor einem schmerzhaften Fall.
Sie wanderten weit und weiter, ohne eine Ahnung ihrer derzeitigen Lage zu haben oder einen genauen Zielort zu wissen.
Doch nach unzähligen gemeinsamen Schritten, fing eine Barriere sie auf, hielt sie fest an Ort und Stelle. Ohne großen Widerstand zu leisten, entschieden sie sich, nach links weiter zugehen. Jillien strich mit einer Hand an der unsichtbaren Mauer entlang, wartete geduldig auf einen Riss oder ein Schlupfloch.
Nachdem sie weitere unzählige Fußstapfen in den Sand gesetzt hatten, sahen sie vor sich die anderen.
Ein Kreis, sie befanden sich in einem Kreis.
Mit schweren Füßen und müden Beinen marschierten sie stur weiter, bis Jillien der Kampfeswille verließ und ihre Knie nachgaben unter ihrem Gewicht. Mühsam hob Sean ihren schwachen Körper auf die Arme und trug sie weiter den endlosen Weg entlang.
Nachdem sie ihren Spuren ein weiteres Mal ganz herum gefolgt waren, verringerte sich auch seine Kraft. Seine Beine wackelten, und auch er ließ sich mit ihr in den Armen zu Boden fallen.
Ein Schweißfilm benetzte ihrer beider Stirn. Trotz der Wärme kuschelte sie sich in seine schützende Umarmung und suchte Halt am Leben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit verließ auch der letzte Funken Energie ihre Körper. In sich zusammengesunken waren ihre Seelen das Einzige, was noch existierte. Doch dem Wassermangel und der Hitze nach, würden auch sie nicht mehr lange überleben. Mit schrecklicher Angst hofften sie wortlos, dass ihre Geister nicht vom Irrsinn bezwungen würden.
Leise murmelte Sean ein Gebet für sie beide. Doch nachdem auch dies nichts half, verstummte er vollends und lauschte in die Stille hinein.
Aus dem Himmel heraus entging eine ruhige Melodie. Sie beide lauschten genauer.
Nach geringer Zeit summten sie leise den sich wiederholende Rhythmus mit. Die grelle Sonne strahlte noch heller, nahm ihnen nun ganz die Sicht und übernahm alle Stücke des Horizonts.
Aus der Melodie wurde ein Singsang, dem einer Sirene gleich, wenn sie alte Bootsmänner in den Tode sangen.
Einzelne Worte waren zu verstehen. Mit neuer Hoffnung hörten sie noch genauer hin und vernahmen eine betörende Stimme: „Eure Liebe wird durch einen Fluch bedroht. Brecht ihr ihn nicht, so werdet ihr daran verderben.
Eilet zum fließenden Horizont, seht kindlich und greift nach den Sternen. Ordnet sie neu an und lest aus ihnen. Ihr werdet ein altes, weises Buch vor euch finden, das seine und Anderer Geheimnisse birgt. Das Orakel kann nicht lügen, so kann es aber einer Lüge unter fallen worden sein. Es wird euch mit seiner Tücke nicht nur das Lüften der ungewissen Vergangenheit erschweren, sondern auch den Weg, der zum Brechen des Fluches führt. Es wird euch Fallen stellen und die Wahrheit so darstellen, dass ihr getäuscht, jedoch nicht belogen werdet.“ Die Melodie endete und mit ihr die Worte.
Sean und Jillien erfasste neuer Mut und von Energie nur so strotzend, standen sie gleichzeitig auf. Noch während ihre Füße für Sekunden in der Luft verweilten, öffneten sie erneut ihre Lider und wachten auf …



Sie lagen schwitzend neben einander auf der Wiese. Verwirrt starrten sie sich gegenseitig an. Dann blickten sie umher, nur um wenig später an sich selbst hinab zu schauen. Synchron schnappten sie nach Luft.
Auf ihrer beider Arme zeichneten sich auf der Haut helle, gewundene Muster ab. Eins nach dem anderen verdunkelte sich; was zuvor noch durchsichtig schien, bedeckte nun jeden Zentimeter Haut mit schwarzer Tinte.
Sean runzelte die Stirn. Was hat es damit nur auf sich? Er fuhr zurückhaltend mit einer Fingerspitze die Kurven und Ränder nach. Da waren Sterne, viele Sterne, große und kleine. Und darüber prangte er Auge mit lieblichem Blick.
Fassungslos wandte er sich Jillien zu, welche mit demselben verstörten Ausdruck in den Augen ihre Unterarme musterte. Er setzte sich auf die Knie und rutschte zu ihr herüber. Zaghaft fasste er sie an der Schulter. Erschrocken zuckte sie zusammen und verlor die Aufmerksamkeit für die Zeichen. Mit zittrigen Fingern fuhr sie über sein Gesicht, starrte ihn aus geweiteten Augen an. „Du lebst, du
lebst …“, stammelte sie verstört. Er zog fragend die Brauen zusammen. Doch noch ehe er nachfragen konnte, flatterten ihre Lider, ihre Augen rollten und ihr Körper erschlaffte.
Kraftlos sackte sie in sich zusammen. Geschockt fing er sie auf, ihr Gesicht fiel auf seine Schultern, seine kräftigen Arme hielten ihre schwache Gestalt fest umschlossen.
Mit wackeligen Beinen stand er auf, die bewusstlose Jillien auf den Armen. Er vernahm laut grölende Menschen, eine kleine Gästeschar strömte aus der nahe liegenden Kirche. Einem Instinkt folgend rannte er los zu seinem Auto.
Bloß schnell weg von hier.



Teil 2




Vergessenes




Unser Gedächtnis gleicht einem Sieb,
dessen Löcher, anfangs klein, wenig durchfallen lassen,
jedoch immer größer werden
und endlich so groß sind,
dass das Hineingeworfene fast alles durchfällt.



Arthur Schopenhauer





Verborgenes




Eine alte, sehr alte Frau stand schwerfällig vor einer großen, vergoldeten Truhe. In ihren faltigen, krummen Fingern lag ein rostiger Schlüssel. Ihre weißsilbrigen Haare fielen in dünnen Strähnen über die gekrümmten Schultern und den gebogenen Katzenbuckel.
Die verblassten, einst strahlend violetten Augen waren auf das Kupfer in ihren verschrumpelten Händen gerichtet. Die spröden Lippen waren hart zu einem Strich zusammengepresst. Verbissenheit sprach aus ihrem Gesicht.
Mit zittrigen Armen schob sie den Schlüssel dem Goldschloss der Truhe entgegen. Doch wenige Zentimeter davor verharrte sie. Mit Schmerz in den Augen ließ sie den Arm sinken. Schwach fiel ihr Kopf nach vorne.
Mit müden Schritten wanderte sie zu einem breiten, sehr antiken Stuhl und ließ sich darauf nieder. Ihre Hände legte sie sorgfältig auf das morsche Holz der Armlehnen. Ihr krummer Rücken drückte gegen den harten Stoff, welcher als Polsterung diente.
Die Lider sanken über die kraftlosen Augen und in einer fremden Sprache murmelte sie ein leises Gebet.
Dann hob sie abermals die Arme, legte den Schlüssel in ein kleines goldenes Kätzchen auf einem Tisch, welches innen mit rotem Satin verziert war. Königlich lag er da, eine Versuchung, der sie nur schwer widerstehen konnte, doch auch eine Blockade, die sie vor dem schützte, was sich im Inneren der großen Truhe verbarg.
Mit starren Fingern suchte sie nach einer runden Kristallkugel, gehalten von verschlungenen, braungrünen Wurzelsträngen. Hinter dem Glas schimmerte ein Silberhauch von Nebel. Die schrumpligen Hände um das Kristall gefaltet, strömte neue Energie in ihren alten Körper. Mir geschlossenen Augen blickte sie tiefer in ihre Seele hinein und sah vor sich die vergoldete Truhe und den Schlüssel im Schloss stecken. Wie von selbst drehte er sich um, ein leises Knacken erklang.
Ruckartig schlug sie die Lider wieder auf, ein leises Stöhnen entrann ihrer Kehle. Ihre Finger zitterten unkontrolliert, ihr Atem ging unregelmäßig. Mit geschockter Grimasse zog sie schnell die Hände wieder zurück und starrte gebannt auf die Glaskugel vor sich. Sie hatte allein die Zukunft sehen wollen, doch wie immer hatte diese sich vor ihr verschlossen und zeigte nur ihre eigenen, tief reichenden Wünsche.
Doch ob etwas nun einem Traum oder der Fantasie entsprach, sagte doch nichts darüber aus, ob es auch etwas Gutes versprach.
Und sie wusste, dass der Inhalt der Truhe dem Bösen gehörte.



Chris verließ als Letzter die Kirche und sah als Erster den davon fahrenden Sean mit einer zierlichen Gestalt auf dem Beifahrersitz. Auch wenn er sein bester Freund war, so konnte er die Aktion bei der Hochzeit nicht ein Stückchen weit nachvollziehen. Mit Jake im Schlepptau marschierte er zu seinem blauen BMW, Zorn im Blick.
Im Gegensatz zu ihm hatte Jacob Smith ein Strahlen auf dem Gesicht.
Zusammen stiegen sie ins Auto und Chris startete den Motor. Nach schätzungsweise fünf Minuten rasender Fahrt, drehte er sich ruckartig zu seinem Beifahrer um und schrie: „Kannst du auch mal aufhören zu grinsen?“ Der andere deutete nur seelenruhig zurück auf die Straße. Verbissen wendete Chris sich wieder den anderen Autos zu, ehe Jake fröhlich meinte: „Ich hätte genauso gehandelt.“ Mit gehobenen Brauen fuhr er weiter. Eine Antwort auf seine unausgesprochene Frage ertönte nur Sekunden später. „Ich meine, Eileen ist nicht sonderbar hübsch, Jillien dagegen eine Bombe. Außerdem mochte ich sie noch nie. Sie ist so hart, verdrossen, ordentlich, unweiblich-“
„Sie ist einfach nur realistisch“, brachte Chris scharf ein. „Und außerdem, selbst wenn Sean sie nicht mehr liebt, dass hätte er ihr das doch schon früher sagen können. Er hätte ihr dann erst gar keinen Antrag machen dürfen!“ Stille.
„Aber was ist, wenn er erst in diesem einen, kurzen Moment, als sie ihm sagte, sie liebe ihn, was ist, wenn er erst da gespürt hat, dass er genau dasselbe empfindet?“ Stille.
„Warum bist du plötzlich so sentimental?“ Stille.
„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich kann ich ihn einfach nur aus ganzem Herzen verstehen. Weißt du, wenn man seine wahre Liebe noch nicht gefunden hat, dann kann man Liebesbrüche besser nachvollziehen und tolerieren als Liebende.“ Chris wusste nichts darauf zu antworten.
Schließlich atmete er tief durch und verringerte sein Tempo. Aus irgendeinem Grund tat ihm sein Kumpel leid. Neben Sean stand er ihm am nächsten. Und es machte ihm zu schaffen, dass er selbst eine glückliche Frau zu Hause hatte, seid einem halben Jahr Vater war, und Jake ab und an mal einen One-night-stand genießen durfte.
Schweren Herzens murmelte er: „Jake, ich muss eben noch einmal aufs Revier. Meine Partnerin und ich hatten in letzter Zeit ein bisschen viel Streit. Ich muss das wieder gerade kriegen. Und ehrlich gesagt, würde mir eine stützende Hand und ein treuer, überaus kräftiger Freund und Anwalt dabei gut behilflich sein.“ Mit Unwissen in der Stimme, fragte er: „Warum? Ich meine, sie ist eine Frau und du ein ausgewachsener Mann. So schwer kann das schon nicht werden …“
„Du kennst Emily nicht. Wenn sie wütend ist, dann muss man Angst vor ihr haben.“ Mit einem amüsierten Lachen strahlte Jacob ihn an. Dann fuhren sie zusammen zur Polizeiwache. Doch auch dort konnte er nicht mehr aufhören belustigt zu grinsen.
Stur marschierte Chris in das heruntergekommene Gebäude und versuchte, den glücklichen, kleinen Jungen neben ihm zu ignorieren. Er scheiterte.
Seit diesem viel zu langem Jahr hatte sich vieles geändert. Emily war zu dem Posten der Führerin der Mordkommission aufgestiegen und er ihr Vertreter. Trotz ihrer Auseinandersetzungen hatte sie doch ihn für diese Beförderung gewählt. Außerdem hatten sie beide zwei Schützlinge, neue Detektivs, die meinten, hart genug für diesen Job zu sein. Seine Partnerin und er hatten nun die ehrenvolle, nervige Aufgabe, sie vor dem frühzeitigen Sterben zu bewahren, ihre Fehler auszusitzen und selbst am Leben zu bleiben. Einer der beiden, sein Opfer May, kam auf ihn zu. Ihre schwarzen, glatten Haare hatte sie hinten locker zu einem hohen Zopf zusammen gebunden. Ihre mandelförmigen dunkelbraunen Augen musterten sorgfältig ihr Umfeld. Ihre zierliche, kleine Gestalt war in ein schwarzes Top mit breiten Trägern und eine gleichfarbige eng anliegende Hüfthose gehüllt. An einem schmalen Gürtel um ihre Hüfte hing eine glänzende Marke, die sie als die auswies, die sie war und was sie tat, und eine dunkle Pistole, die sie natürlich nur im Notfall anwenden durfte.
Nachdem sie Chris erblickt hatte, eilte sie auf ihn zu, beachtete den charmant lächelnden Jacob überhaupt nicht. In ihren Augen stand blanke Panik. Beruhigend legte Chris ihr die Hände auf die steifen Schultern. „May, was ist los? Du bist doch sonst nicht aus der Ruhe zu bringen. Was ist passiert?“ Mit zitternden Händen zog sie ihn den Gang entlang, während sie abgehackt stammelte: „Jeremy … Emily hält ihn in ihrem Büro fest … ich hab nur noch Schreie gehört … Sachen wurden zu Boden geworfen …“ Alarmiert lief er rasch weiter. „May, beruhige dich. Was haben Jeremy und du heute für Aufträge gehabt? Was solltet ihr machen, als ich nicht da war? Und was hat Jeremy mal wieder angestellt?“ Jake lachte kurz auf, doch nachdem niemand mit einstimmte, verstummte er peinlich berührt.
„Wir sollten Verdächtige in ihrem Haus verhören. Alles klappte prima. Aber du kennst doch Jeremy. Er hat die Frau so lange angeflirtet, bis der Mann ausgerastet ist. Er fand die Situation wie gewöhnlich witzig, doch die Familie anscheinend nicht. Der Typ ist auf ihn losgestürmt wie ein wild gewordener Stier. Und er hat die Einladung angenommen. Glaube mir, es ist nicht so einfach, zwei ausgewachsene Männer von einander zutrennen. Schließlich hatte Jeremy ein blaues Auge. Doch die Nase des Mannes war gebrochen, sein Kiefer leicht angeknackst und das Wohnzimmer ein einziger Trümmerhaufen …“
Missbilligend pfiff Chris durch die Zähne. „Der Junge wird es nie kapieren, oder? Das bringt uns eine Heiden Scheiße ein. Und Emily muss dafür gerade stehen. Kein Wunder, dass sie ausgerastet ist.“ Mit einer großen Hand ergriff Chris die Klinke einer großen Holztür am Ende des Ganges. Schwungvoll stieß er sie auf.
Vor ihm lag ein unübersichtliches Chaos. Papiere, Aktenordner, Blumentöpfe und sogar Stühle lagen verstreut auf dem Boden. Ein schrilles Brüllen ging durch das Büro. Emily stand angespannt da, Jeremys Kragen gepackt und hob den Jungen bedrohlich vom Boden hoch. Dessen Rücken war gegen die Wand gepresst, die braunen Augen panisch geweitet.
Chris konnte Emily nur schräg von der Seite sehen, doch er hätte wetten können, dass ihre Augen vor Wut funkelten.
Er stürmte quer durch den Raum, sprang über einen gefallenen Stuhl und stieß gegen Emily. Diese schrie zornig auf. Zusammen fielen sie zu Boden und rissen Jeremy mit.
Mit langen Fingernägeln kratzte sie über Chris’ Arme und das Gesicht. Stur griff er um ihre Handgelenke und zog ihre Arme über ihren Kopf. Wild wandte sie sich unter seinem mächtigen Körper, bis sie die Augen öffnete und ihn erkannte. „Chris?“ Ihre Stimme klang erstickt.
Nachdem sie die Überraschung vollends von sich abgeschüttelt hatte, keifte sie ihn an: „Gehst du wohl von mir runter! Augenblicklich!“ Nach kurzem Zögern ließ er von ihr ab und stand auf. Nur wenige Sekunden später sprang sie geschmeidig auf ihre hochhackigen Lederstiefel. Mit einer durchgängigen Handbewegung kämmte sie ihre langen Haare, glättete das knappe schwarze Shirt und die dunkle Hose.
Mit peinlich berührtem Blick sah er auf die geschlossene Tür und zu May, welche neben dem geschockten Jake stand. Doch dessen Augen waren nicht auf das Chaos oder auf den zu Boden liegenden Jeremy gerichtet. Nein, sie verweilten allein auf der wütenden Emily. Und in ihnen stand keine Angst, sie zeigten nur Faszination.
Überrascht zog Chris die Lippen kraus. Dann wandte er sich ab und dem Opfer namens Jeremy zu.
Urplötzlich traf ihn ein Schlag im Gesicht. Er holte perplex scharf Luft, ehe er sich dem Täter zudrehte. Emily stand breitbeinig vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. Mit zischenden Worten züngelte sie bedrohlich: „Wenn du ihn auch nur anfasst, dann schneid’ ich dir jeden Finger einzeln ab!“ Erschrocken zuckte er zurück. Noch nie, wirklich noch nie, selbst wenn sie sich noch so gestritten hatten, wurde sie handgreiflich. Gedroht, ja, gedroht hatte sie ihm schon des Öfteren, doch ihm eine Ohrfeige gegeben, das hatte sie noch nie gewagt. Ein leiser Aufschrei seitens May hallte durch den Raum.
Chris war schlau genug um den Wink zu verstehen. Beschwichtigend hob er die Hände und machte wenige Schritte auf seine Partnerin zu. „Emily, beruhige dich. Der Junge hat Mist gebaut, ja, aber ihn fast bewusstlos schlagen, das musst du nicht.“ Zornig presste sie ihre Lippen zu einem graden Strich zusammen und blickte beiseite. Dann murmelte sie jede Silbe scharf betonend: „Weißt du eigentlich, wie nervig er ist? Fast bei jeder Aufgabe, die ich ihm gebe, macht er irgendetwas falsch und ich muss seine Fehler nachher ausbaden. Ich habe so viele Probleme am Hals, und dann auch noch ihn!“ Mit einem angedeuteten Lächeln legte er sacht seine Hände auf ihre kräftigen Schultern.

Jacob betrachtete die Szenerie vor ihm. Komischerweise passte es ihm gar nicht, wie nah Chris und Emily beieinander standen.
Er besah sich ihr Abbild genauer. Sie war eine Schönheit. Ihr welliges, sattes braunes Haar fiel ihr locker bis zur Hüfte. Die schimmernd grünen Augen beobachteten seinen Freund abschätzend. Ihre große, schlanke Gestalt war in eng anliegende schwarze Kleidung gehüllt, mit den hochhakigen Lederstiefeln stand sie fest auf dem Boden. Ihre Erscheinung war bemerkenswert. Forderte gerade zu dazu auf, sie anzustarren.
Dann schweifte ihr Blick zu Jake. In ihm lag ein Hauch von Hass. Das traf ihn wie ein Schlag in die Magengegend, doch er ließ sich nichts anmerken.
Mit einem charmanten Lächeln schritt er auf die beiden Streithähne zu. Er klopfte seinem Kumpel beruhigend auf die Schulter. Dieser wandte sich mit einem Lächeln ab und ging auf die verstört dreinblickende May zu.
Währenddessen kniete Jake sich neben den angeschlagenen Jungen. Während er sich Jeremy anschaute, sagte er höflich: „Ich bin Jacob Smith. Und mit wem habe ich es zutun, Gnädigste?“
„Emily Gilbert“, erwiderte sie scharf wie ein gewetztes Jagdmesser. Ohne mit der Wimper zu zuckten stand er wieder auf und streckte ihr die Hand entgegen. „Nett sie kennen zulernen.“ Misstrauisch musterte sie ihn von Kopf bis Fuß. Den schwerfällig stöhnenden Jeremy nicht beachtend, fragte sie abschätzend: „Sind sie so ein versnobter Büromensch, oder was wollen sie von mir?“
„Ich bin Anwalt, falls es sie interessiert. Und außerdem ein sehr guter Freund von Christopher. Stehen sie beide sich nah?“
„Wir sind Partner“, antwortete sie knapp. Er grinste breit. Seine Heiterkeit tat sie mit einem verächtlichen Schnauben ab.
Sie hockte sich neben den Jungen und fuhr ihm sanft über die Haare.
Für einen Augenblick lang schien es, als sehe sie ihn mit vor Liebe strahlenden Augen an. Doch dieser Moment verflog so schnell wieder, dass es Jake so vorkam, als hätte er es sich nur eingebildet.
Unsanft zog sie Jeremy auf die Füße und hielt ihm am Kragen gepackt. Seine Lider flatterten unkontrolliert, bis er die einschüchternde Frau ängstlich ansah. Mit einem eiskalten Lächeln flüsterte sie bedrohlich an seinem Ohr: „Du weißt, dass du Mist gebaut hast, oder?“ Ein energisches Nicken des Jungen.
„Gut. Und dir ist sehr wohl bewusst, dass es beim nächsten Mal keine ehrenvollen Retter mehr für dich gibt, oder?“ Abermals ein Nicken.
„Und noch etwas“, sie zog ihn näher an sich, „Es wird kein nächstes Mal geben, verstanden?“ Erneut nickte er.
Angstschweiß war ihm am ganzen Körper ausgebrochen, das war nicht zu übersehen. Achtlos ließ sie ihn los. Stürmisch rannte er aus dem Büro. Erst jetzt fiel Jacob auf, dass Chris und May das Zimmer längst verlassen hatten. Er war mit Emily alleine.
Diese besah sich berechnend den verwüsteten Raum. Dann setzte sie sich schwungvoll auf einen ledernen, breiten Drehsessel, welcher als einziges Möbelstück unversehrt geblieben war, und ließ das Chaos außer Acht.
Ihre langen Finger griffen nach einem großen, bunten Zauberwürfel. Mit leichtem Desinteresse drehte sie die Kästchen hin und her. Ihre rechte Hand steckte in einem Halbhandschuh aus Leder. Ihm kam es vor, als würde sie nichts lieber als diesen rauen, robusten Stoff und dunkles Schwarz tragen. Das gefiel ihm, sie war eine Frau mit Mut, Kraft und Respekt verdienenden Ehrgeiz; einfach einzigartig.
Lautlos stand er da, das Abbild einer Berglöwin vor sich. Sie war eine wunderschöne Frau, die sich nicht mit unnützem Schnickschnack abgab wie Schuhe und Handtaschen. Ihr Erscheinungsbild zeigte ihre Skrupellosigkeit, die Macht und was für eine Bombe sie war.
Sie sah wirklich sexy in der eng anliegenden Hüfthose aus; durch sie kamen ihre langen, dünnen Beine umso mehr zur Geltung. Das Shirt passte sich perfekt ihrer Figur an und betonte ihre wohlgeformten Brüste. Was er dafür geben würde, sie ohne diesen Fetzen Stoff zu Gesicht zubekommen.
„Gefällt ihnen meine Kleidung? Ich hab sie aus der Mall, wenn’s sie interessiert.“ Ihre scharfe Stimme ließ ihn zusammenzucken. Ertappt.
Unruhig schweifte sein Blick durch das unordentliche Zimmer, nach dem Motto: Ich weiß nicht, was sie meinen. Ach, die Tapete ist ja so reizend! Doch er wusste, dass sie nicht auf dieses Geplänkel eingehen würde, dazu war sie zu realistisch.
Obwohl er es hartnäckig versuchte, zog sie doch wieder seine Aufmerksamkeit auf sich. Seine Augen gierten nach ihrer dunklen Schönheit. Sie erschien ihm nicht annähernd göttlich, nein, sie hatte viel Menschliches an sich. Aber die Magie, die sie auf ihn ausübte; sie war nicht von dieser Welt.
Mit einem missbilligenden Schnauben erhob sie das Kinn und funkelte ihn mit einem leichten Hauch von Gereiztheit an. „Darf ich wissen, warum sie noch hier sind und mich nerven?“
In ruhigem und sachlichen Tonfall erwiderte er: „Definieren sie nerven. Ich erinnere mich nicht, sie angesprochen zu haben.“ Ein knurrendes Geräusch entrang sich ihrer Kehle, doch das schüchterte ihn nicht im Mindesten ein.
Im Gegenteil, es amüsierte ihn. Mit einem kindischen Lächeln in den Mundwinkeln angedeutet, hob er einen Stapel Papiere auf, legte sie ordentlich übereinander auf den verwüsteten Schreibtisch und verharrte dort an Ort und Stelle. Er stützte sich mit den stahlharten Armen auf das harte Holz, ließ die Muskeln unter seinem Shirt angeberisch spielen und suchte ihren Blick.
Emilys Augen kniffen sich zu Schlitzen zusammen, ähnelten denen einer Katze. „Sagen sie“, flüsterte er tief, „warum nervt sie meine Anwesenheit so? Ich verstehe es nicht. Ich sage keinen Ton, räume ihr Büro auf und sie sind dennoch von mir gereizt. Das ergibt für mich keinen Sinn.“
„Ich hasse gute Laune und Höfflichkeit, das ist alles.“ Verständnislos schüttelte er den Kopf, seine braunen Haare fielen ihm verspielt in die Stirn. „Und trotzdem sind sie die Partnerin von Christopher? Dem fröhlichsten Mann ganz New Yorks?“
Ein leiser Pfiff erklang. „Sie haben wirklich keine Scheu, oder? Ihr Überlebensinstinkt setzt völlig aus, nicht? Normalerweise fordert man mich nicht so schnell heraus“, überlegte sie laut. Ihr Blick schweifte ab.
Fest entgegnete Jake: „Ich bin Anwalt. Es ist mein Job, immer die Ruhe zu bewahren und alles nachzufragen.“ Sie lächelte leicht belustigt.
Sein Herz erwärmte sich für einen kurzen Augenblick. „Sie sind verrückt, wissen sie das? Ich mag sie ihrer Heiterkeit wegen nicht, aber meinen Respekt haben sie trotzdem.“ Das Kompliment ließ ihn breit Grinsen.
Diese jungenhafte Art ignorierend, stand sie auf und marschierte durch das Büro. Ruckartig riss sie die Tür auf. Erschrocken drehte er sich um, ihre Miene zeigte nicht mehr die leiseste Spur von Freude.
Ihre Stimme bellte schroff durch den Raum: „Und jetzt, raus!“
Mit hängendem Kopf, die traurigen Augen eines Welpen auf den Boden gerichtet, ging er aus dem angeschlagenen Zimmer. Auf dem Flur drehte er sich noch einmal um. „Es würde mich freuen …“ Die Tür wurde laut zugeschlagen. „… wenn wir uns mal wieder sehen würden“, flüsterte er enttäuscht zu sich selbst.
Mit gebeugten Schultern lief Jacob den Gang hinunter auf den Parkplatz. Schnell entschied er, an dem silbernen Mercedes auf seinen Kumpel zu warten.
Und versuchte, sich die wütende, verführerische Frau aus dem Kopf zu schlagen.

„Toby, das ist nicht normal. Ich habe mir schon einmal ein Tattoo stechen lassen,“, Sean wies auf die verschlungenen Linien und Kreise auf seinem linken Oberarm, „ich weiß, wie lange solche Gravuren dauern und wie schmerzhaft es ist. Aber diese hier, sie sind einfach plötzlich da gewesen, aus dem Nichts gekommen. Ich lüge nicht, und selbst wenn ich’s täte; sie hat die Male auch.“ Er musterte vorwurfsvoll seinen Kumpel.
Tobias schritt zu dem kleinen Sofa hinüber, hob vorsichtig Jilliens Arme und begutachtete die auf ihrer Haut strahlende schwarze Tinte. Ein missbilligendes Schnalzen von Toby forderte ihn auf, zu ihnen zu treten. Sein Freund legte die schlaksigen Arme der schlafenden Frau wieder auf das weiche Leder und starrte in die Ferne. Dann seine abwesende Stimme: „Sean …“
Die kleine Lilly kam ins Zimmer gestürzt und klammerte sich an das Hosenbein ihres Vaters. „Papi, Papi, der Nachbarsjunge hat mich mit dem Wasserschlauch nass gespritzt!“, jammerte sie mit einem erfreuten Kichern. Der Ernst wich augenblicklich aus den Gesichtern der Männer. Spielerisch hob Toby seine Wasser triefende Tochter hoch und wirbelte sie durch die Luft. „Das sieht man, Süße. Du tropfst.“ Die Kleine lachte offenherzig und strahlte ihren Dad überglücklich an. „Tja, Papi, dann mach’ dich mal an die Arbeit und mach’ das sauber!“ Sean musste amüsiert auflachen. Gespieltes Missbilligen spiegelte sich in Tobias Gesicht. „Sean, wenn du das so lustig findest, will ich dir nicht im Wege stehen; Mopp und Eimer stehen in der Abstellkammer.“
Während die drei belustigt grinsten, setzte Toby Lilly ab. Deren Blick schweifte durch den Raum und blieb an einem Punkt hängen. Laut fragte sie: „Hallo! Wer bist du?“ Leicht irritiert wandten die beiden Freunde sich ebenfalls um.
Und sahen sich Jillien gegenüber. Sie hatte sich schwerfällig aufgesetzt und sie aufmerksam beobachtet. Nun lagen ihre Augen auf der Kleinen. Ihre samtweiche Stimme schallte durch das Zimmer. „Hey. Ich bin Jillien. Und wie heißt du?“ Lächelnd lief Lilly auf sie zu und blieb abrupt vor dem Sofa stehen. Ein erfreutes Quietschen entrang sich ihr. „Lilly!“ Jillien streckte vertrauenswürdig die Arme nach dem kleinen Kind aus und zog sie mühelos auf ihren Schoß. Obgleich sie zerbrechlich wie Porzellan wirkte; ihre Bewegungen waren geschmeidig und bestimmt. „So, Lilly. Das ist aber ein schöner Name.“ Das Mädchen errötete leicht, ehe sie verträumt erwiderte: „Jillien klingt aber auch toll.“ Die Frau lachte geschmeichelt auf. „Danke.“
„Der Name passt zu dir“, flüsterte Lilly ehrfürchtig. Sie wickelte sich eine dicke Lockensträhne um die zierlichen Fingerchen. In ihrem Blick lag pure Faszination. „Er ist hübsch. Genau wie du.“ Jilliens Augen zeigten ihre Gerührtheit, ebenso ihre verführerischen rosigen Wangen. Einmal mehr verzauberte ihr Abbild Sean; hielt ihn in einem unbrechbarem Bann gefangen. Und er würde sich nicht zu befreien versuchen. Niemals.
Das zärtliche „Danke“ von ihr, erbrachte ihm einen wohligen Schauder. Mit einem Schlag dachte er wieder an ihren Kuss zurück. In diesem einen kurzen Moment, waren unendlich viele Gefühle aufeinander gestoßen. Liebe. Leidenschaft. Wut. Verzweiflung. Hilflosigkeit. Verbundenheit. Vertrautheit. Zärtlichkeit. Es war ein bittersüßer Rausch gewesen, der eine endlose Ewigkeit hätte anhalten sollen. Es war nur eine Lippenberührung gewesen. Doch sie hatte alles verändert. Vereinfacht und erschwert. Sie war so leicht gewesen, wie das Gefühl, auf Wolken zu tanzen; und schwer, wie ohne Inspiration ein Gedicht zu schreiben. Unendlich wertvoll.
Jillien hatte seinen verträumten Blick bemerkt und lächelte ihn zögerlich an. In ihren Augen las er ihre Gewissheit über seine Emotionen. Dann sah sie wieder auf das kleine Mädchen hinab. Lilly hatte schon ihre zierlichen Händchen in der dichten Lockenpracht vergraben, als ihr Vater gespielt tadelnd ausrief: „Lilly, sei nicht so unhöfflich. Lass die arme Frau doch erst einmal in Ruhe wach werden.“ Doch die Tochter hörte nur mit halbem Ohr zu und erwiderte nuschelnd mit einem abwesendem Blick: „Ja ja, Daddy.“ Sean und Jillien verkniffen sich, amüsiert über den Gehorsam der Kleinen, ein herzhaftes Auflachen.
Mit einem tiefen seufzen drehte Tobias sich zu seinem Kumpel um und fing dessen Blick auf. Seine Augen sagten ein einziges, alles erklärendes Wort. „Später“. Zustimmend nickte Sean und ging zu den beiden anderen. Lilly sah ihn frech grinsend an und reckte sich zu ihm hoch. Die ausgestreckten Arme schlang sie um seinen kräftigen Hals und zog sich in seine Umarmung. Er hielt sie fest und drehte sich lachend im Kreis. Das kleine Mädchen kreischte lauthals und warf sich in den Schwung mit. Sie waren ein schwankender Wirbelsturm. Lass Quieken der Kleinen hörte nicht auf, wurde immer lauter, freudiger, glücklicher. Sie drehten sich weiter, bis Sean schwindelig wurde und er fast samt Kind zu Boden stürzte. Und selbst als er das Kreiseln stoppte, kicherte Lilly ungestört weiter.
Schwerfällig ließ er sich neben Jillien auf Sofa fallen. Die Kleine klammerte sich an ihn, krallte sich mit den winzigen Fingerchen in sein Hemd und ließ den schweren Kopf plötzlich erschöpft auf seine Schulter fallen. Jilliens Lächeln galt allein Lilly. Ihre Augen strahlten, silberne Funken tanzten in ihrem Blick; sie war wunderschön. Mal wieder verlor er sich in ihrem Anblick, schenkte ihr sein hingerissenes Herz.
Ein zaghaftes Gähnen erklang und alle Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf das Mädchen. Dieses versuchte die plötzlich aufkommende Müdigkeit zu unterdrücken. Vergeblich. Liebevoll wiegte Sean sie in den Armen hin und her. Die schwachen Lider senkten sich immer mehr, wurden immer schwerer und schwerer, bis die Erschöpfung siegte und Lillys Atem ruhig aus dem leicht geöffneten Mund stieß. Ein ersticktes Seufzen erklang. Mit neugierigem Blick sah er auf und starrte in ein graues Wolkenmeer. Emotionen spiegelten sich darin und tanzten Arm in Arm miteinander. Erst dachte Sean, diese Gefühle galten der schlafenden Lilly, bis ein verliebtes Lächeln Jilliens Lippen schmückte. Er erwiderte es und rutschte etwas näher an sie heran. Ihre Seelen verfingen sich in ihrem Augenkontakt und der Moment schien perfekt.
Ein schüchternes Räuspern ließ den Augenblick verfliegen und die beiden sahen Tobias an. Dieser fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Stumm ging er auf das Sofa zu, nahm seine Tochter aus dem Arm seines Freundes und schenkte der verträumten Frau ein freundliches Nicken. „Ich bin Tobias Colnis. Sie sind also die Unbekannte, die Sean den Kopf verdreht hat.“ Die Worte sprach er mit einem neckenden Unterton aus. Jillien lachte amüsiert und schielte geheimnisvoll zu Sean herüber. Der wäre am liebsten im Erdboden versunken. Und würde seinem Kumpel liebend gerne den Kopf abreißen. Doch bevor ein Gegenargument entgegnen konnte, kam Jillien ihm zuvor. „Jillien. Es freut mich sie kennen zu lernen.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. Umständlich versuchte Toby seine unter seiner Tochter hervorzuholen, doch die junge Frau winkte mit einem beschämten Ausdruck ab.
Sean fing den Blick seines Freundes auf. Er signalisierte stark was er von diesem stillen Gespräch hielt. Belustigt grinsend meinte der Angesprochene: „Ich glaube, ich bringe Lilly in ihr Bett und lasse euch beide alleine. Es war schön, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Jillien.“
„Die Freude ist ganz meinerseits“, antwortete sie abwesend. Der Mann nickte den beiden noch einmal verabschiedend zu, dann machte er kehrt und verließ das Zimmer. Sie blickten ihm noch einen Augenblick hinterher, ehe Sean nach ihrer Hand griff. Sie war eiskalt. Erschrocken zuckte Jillien kurz zusammen, bevor sie ihm in die Augen sah. Sie öffnete den Mund zum Sprechen, doch kein Laut verließ ihn. Vorsichtig hob er seinen anderen Arm und strich mit den Fingerspitzen ihre Wange entlang. Worte waren überflüssig. Sprechen zwecklos. Atmen nutzlos. Di e zeit schien stehen zubleiben. Sie betrachteten allein ihr Gegenüber. Sie strahlten nur so vor Glück und Liebe.
Dann sagte Sean doch etwas. Sein Flüstern erfüllte den ganzen Raum. „Jillien … ich weiß nicht …“ Er brach ab und musterte verzweifelt suchend nach der Sprache das Zimmer. Schließlich beugte er sich zaghaft zu ihr herüber. Doch anstatt sich ihm ebenfalls zu nähern, wich sie zurück. Irritiert zog er die Augenbrauen zusammen und kniff die Augen zu Schlitzen. „Was ist los?“ Sie hob ausweichend die feingliedrigen Hände und sah weg. Er fasste ihr Kinn und drehte sich ihren Kopf wieder herum. „Sprich mit mir“, forderte er. Stille. Stumm erwiderte sie seinen festen Blick. Sie blieb ihm die Antwort schuldig. Nach einer endlos scheinenden Ruhe ließ er sie wieder frei. Sofort wandte sie sich von ihm ab. Verletzt zog er sich zurück.
Als sie merkte, dass sich das Gewicht auf dem Sofa entfernte, schnellte sie herum und blickte ihn an. Leicht zitternd streckte sie die Arme aus und fasste ihn an den Händen. „Bleib“ war alles, was sie sagte. Augenblicklich hielt er inne und betrachtete ihre Schönheit. Zögernd kam sie ihm näher; ihr Gesicht war wenige Zentimeter nur von seinem entfernt. Es wäre so leicht, sie jetzt einfach zuküssen, überlegte Sean. Doch er befürchtete, dass sie sich dann abermals zurückziehen würde, also blieb er reglos. Er sah sie einfach nur an, verlor sich in ihrem Blick, ihrer Anmut. Mit dem Daumen rieb sie verträumt über seinen Handrücken, ehe sie sich auf ihre Knie stützte und von oben auf ihn herab sah. Ihre Lippen bewegten sich auf die seinen zu. Doch noch bevor er sie ersehnte Berührung fühlte, wich sie aus und flüsterte stattdessen an seinem Ohr: „Es wäre so leicht, aber danach so schwer.“ Verwirrt drehte er ihr das Gesicht zu. Sie gab ihm einen sanften Schmetterlingskuss auf die Wange, der seine Haut kribbeln ließ, ehe sie aufstand und sich im Zimmer umsah. Aus ihren Worten nicht schlau werdend, stellte er die Füße auf den Boden und hievte sich von dem Sofa. Schüchtern gesellte er sich zu Jillien. So standen sie still da, genossen die Anwesenheit des anderen.
Nach unzähligen Gelegenheiten ergriff Sean endlich die Initiative und tastete nach ihrer Hand. Liebevoll drückte sie seine Finger und drehte sich ihm zu. Schmerz und Sehnsucht spiegelten sich in ihrem Blick. Er verdrängte die Neugierde und lächelte sie stattdessen an. Dann zog er sie vorsichtig näher zu sich heran. Eine Hand legte er auf ihre Schulter und vergrub sie halb in ihren satten Locken. Ihre kühle Handfläche lag an seiner Wange. Die Kälte war beruhigend auf seiner hitzigen Haut.
Seine Augen tasteten jede Stelle ihres vollkommenen Körpers ab. Als sein Blick an ihren schwarzen Malen an den Unterarmen hängen blieb, verkrampfte sich sein Herz. Sie bemerkte seine Stimmungsschwankung und blickte ebenfalls herab. Schock trat in ihr Gesicht, als sie die eingebrannte Tinte bemerkte. Schuldgefühle breiteten sich in ihm aus. Entschuldigend umfasste er ihren Kopf mit den Händen und zwang sie, ihn anzusehen. „Keine Angst. Ich bin bei dir.“ Tränen füllten ihre Augen und Schmerz verzerrte ihre sanftmütigen Züge. Sie schlang die Arme um seinen kräftigen Hals und drückte sich gegen seine harte Brust. Mit den muskulösen Armen umklammerte er ihren zerbrechlichen Körper und hielt sie aufrecht. Wäre er nicht gewesen, wäre sie zusammengebrochen.
Er hob sie einige Zentimeter vom Fußboden hoch und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Leise Schluchzer entrangen sich ihrer. Stumm ließ er sie weinen, hielt sie einfach nur fest. Er senkte sein Kinn und berührte mit der Nase ihre Ohrmuschel. Sein Atem blies lautlos in ihre Haare, als er sprach. „Ich liebe dich.“



Kinderauge




Jillien trat aufgewühlt in die Küche. Nachdem sie mit tränenden Augen in Seans Umarmung eingeschlafen war, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Erst geraume Zeit später war sie in einem kleinen Raum aufgewacht und wusste nicht, wo sie war. Dann war sie in einem ziemlich großen, unbekannten Haus herumgeirrt, bis sie jetzt hier angelangte. Die Tapete war in einem beruhigenden Hellrot. Eine Anrichte mit Holzsachränken und Schubladen verkleidete eine lange Wand. Daneben war ein Herd platziert und ein schwarzer Kühlschrank. Mitten im Raum stand ein runder Tisch mit vier Stühlen drum herum. Daran saß eine junge Frau und neben ihr ein Mädchen. Sie beide ähnelten der kleinen Lilly sehr. Sie hatten lange braune Haare und blaue Augen. Die Mutter der Kleinen hatte eine große Statur, dass sah man ihr an. Gerade warf sie mit einer Hand einzelne Strähnen über der Schulter nach hinten, als sie Jillien bemerkte.
„Ich fragte mich schon, wann sie endlich mal aufstehen.“ Grob, missbilligend, so war ihre Stimme. Und ihre Augen strahlten dieselbe Härte aus. Jillien musste an sich halten, um nicht zurückzuweichen. Mit tollpatschigen Schritten taumelte sie auf den Esstisch zu. Sie streckte der Frau die Hand entgegen. „Ich bin Jillien. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ Ein verzweifelt netter Ausdruck stand in ihren Augen. Abschätzend musterte sie die andere von Kopf bis Fuß. „Penelope“, kam die knappe Antwort. Penelope wandte sich wieder ab und sprach leise mit ihrer Tochter. Diese nickte und verließ dann eilig den Raum. Ihre Mama lächelte ihr selig hinterher, ehe sie den Blick wieder auf die eingeschüchterte Jillien richtete. Eine Handgeste wies auf den vorgezogen Stuhl, wo das Kind noch vor wenigen Sekunden saß. Verunsichert folgte sie der Anweisung und sah sich der zornig dreinschauenden Mutter entgegen. „Was machen sie hier?“ Die Angesprochene brauchte einen Moment um ihre Gedanken zuordnen. „Ich weiß es nicht.“
„Sie wissen es nicht?“, durchschnitt die missbilligende Stimme den Raum. Jillien zuckte zusammen. Penelope hob spöttisch eine Augenbraue. „Was wollen sie hier?“
„Ich weiß es nicht.“ Die Antwort kam leise und schüchtern. Die entnervte Frau warf die Arme in die Luft. „Herrje, wissen sie denn überhaupt irgendetwas?“ Jillien wich zurück. Diese Penelope schrie so laut, dass es ihr in den Ohren wehtat. Was hatte die denn bloß?
Plötzlich stürzte Sean in die Küche und blickte sich alarmiert im Raum um. Als sie seinen gehetzten Blick auffing, schenkte sie ihm ein dankbares Lächeln. Er erwiderte es kurz. Noch bevor er Fragen stellen konnte, zischte Penelope: „Sean, gehört diese Fremde hier zu dir?“ Die ausgestreckte Hand wies au die eingeschüchterte junge Frau vor ihr. Er nickte stumm und schritt auf das Duo zu. Er stellte sich schützend neben die Rothaarige. „Warum fragst du, Penelope?“ Sein Ton besaß die gleiche Härte wie ihrer. Die beiden tauschten mehrere Blicke aus, bis sie schließlich aufgab und abwinkte. „Ist egal.“
Siegessicher grinsend wandte Sean sich Jillien zu. Er bot ihr die Hand an. Ohne zu zögern nahm sie sie und ließ sich von ihm hinausführen. Sein wütendes Murmeln entging ihr nicht. Beruhigend drückte sie seine Finger, woraufhin ein liebliches Lächeln auf seinem Gesicht erschien.
Nach nur wenigen Schritten gelangten sie zu einer verglasten Tür, welche zu einem kleinen Wintergarten führte. Sean schob sie auf und trat in hinein. Etwas unsicher folgte Jillien ihm. Er ließ sich auf einem gepolsterten Korbstuhl nieder und wies auf den neben ihm. Sie setzte sich und studierte ihn von der Seite. Seine Nase hatte einen kleinen Huckel auf dem Rücken, als sei sie schon einmal gebrochen gewesen. Seine Wimpern waren fein und lang, die Augen meeresblau und groß und die Wangenknochen hochgelegen. Seine Haut schimmerte in einem satten goldbraunen Ton und die etwas zu langen Haare umrahmten lockig sein Gesicht. Das markante Kinn war mit kleinen Bartstoppeln überzogen und die Unterlippe etwas voller als die obere. Er war perfekt. Seit diesen elf Jahren hatte er sich stark verändert, und doch war er immer noch derselbe Junge wie damals.
„Wieso starrst du mich so an?“ Von seiner Stimme aus den Gedanken gerissen, zuckte sie zusammen. Irritiert sah sie sich um, bis sie merkte, wie blöd das aus sehen musste. Peinlich berührt verschränkte sie die Finger zwischen ihren Knien und blickte auf ihre Hände hinab. Aus dem Augenwinkel erfasste sie eine Bewegung und spürte kurze Zeit später ein leichtes Gewicht auf ihrer Schulter. Seans warme Hand strich an ihrem Oberarm auf und ab. Diese hauchzarte Berührung verpasste ihr kaum spürbare Schocks. Sein Blick lag auf ihr. Als sie die Spannung zwischen ihnen nicht mehr aushielt, hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen. Sie strahlten von innen heraus und waren allein auf sie gerichtet. Jillien löste ihre Finger von einander und zeichnete seine Gesichtszüge nach, fuhr an seinem Kieferknochen entlang und strich über die kleinen Grübchen, die bei seinem Lächeln erschienen. Die Zärtlichkeit die sie ausübte verwandelte Raum und Zeit in eine Endlosschleife in welcher nicht mehr als das Hier und Jetzt zählte.
Träumend zog Sean den Sessel näher heran und legte seine Handflächen um ihr Gesicht. „So zerbrechlich, so schön.“ Die Worte waren leise und drangen wie eine betörende Melodie an ihr Ohr. Sie gab sich seiner hin und entspannte den gesamten Körper. Wie lange hatte sie auf diese Innigkeit zwischen ihnen gewartet? Sie wollte jetzt nicht zurückweichen. Wollte ihn nicht abweisen, nicht schon wieder. Sie wollte ihm einfach nur nahe sein. Niemals würde sie es wagen, diesen so wertvollen Moment zu zerstören.
Jillien hob leicht sein Kinn. Sie lächelte ihn verliebt an. Ihr eigenes Spiegelbild stand in seinem Blick. In Fantasien versunken, beugte sie sich vor und verharrte wenige Zentimeter vor seinen Mund mit dem ihren. Ein geheimnisvolles Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie merkte, wie sich in ihrem Innern etwas regte. Ihre Lippen prickelten begierig, ein Zischen kroch ihre Kehle hinauf.
Seans Blick veränderte sich schlagartig. Statt Liebe und Vertrauen zeigte er nun Angst und Verwirrung. Ihr Verstand setzte aus, es war nur noch das Verlangen nach ihm wichtig. Ihre Fingernägel krallten sich in seine Schultern, ihre Mundwinkel zuckten siegessicher in die Höhe. Er stemmte sich widerwillig gegen ihren Griff, doch eine unmenschliche Kraft behielt ihn an seinem Platz. Genießerisch schloss sie die Augen. Mit der Zunge fuhr sie sich noch einmal über die vor Hunger rauen Lippen, ehe sie ihm noch näher kam …
Jillien riss erschrocken die Augen auf. Sean heißer Atem stieß gegen ihren Mundwinkel. Geschockt starrte sie ihn an. Seine Miene deutete von Furcht, der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. Erstarrt verweilte sie vor ihm. Dann realisierte sie, was beinahe geschehen wäre und stieß sich ruckartig von ihm ab. Mit so viel Schwung, dass der Korbsessel hinter ihr umstürzte und sie einige Schritte rückwärts stolperte. „Ent … Entschuldigung!“ Sie schnellte herum und rannte aus dem Wintergarten.
Sean ließ sie einfach zurück.

Sean konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Einerseits gab es in seiner geliebten Jillien eine sinnliche Seite, die ihn vom Herzen heraus liebte. Doch dann war da jedoch auch noch etwas Böses, anders konnte er es nicht beschreiben. Dieses Böse wollte ihn, begehrt sein Wesen, und schreckte vor nichts zurück.
Die absurden Gedanken verdrängend, schüttelte er den Kopf. Langsam wirst du verrückt, Sean. Etwas Böses. Pahh, das ist deine Jillien und kein Monster! Aber trotzdem konnte er dieses Gefühl nicht verwerfen.
Verwirrung und sinnlose Wut brannten sich in ihm hoch. Verzweifelt suchte er etwas, wogegen er seine Faust hätte schlagen können. Doch die Möbelstücke sahen alle sehr teuer aus. Außerdem kannte er Penelope so gut, dass er ihr schnell überreagierendes Temperament respektierte und auch ein wenig fürchtete. Wenn man behauptete, sie sei eine besitzergreifende Person, dann untertrieb man maßlos.
Keinen anderen Ausweg sehend, stürmte er zur Haustür, schnappte sich seine Lederjacke vom Hacken und rannte hinaus. Er lief angespannt die Straßen entlang und hatte sein Ziel genau vor Augen. Dass ein klirrender Wind an seiner Kleidung zerrte und ihm ins Gesicht peitschte, interessierte ihn nicht. Der Schmerz spornte ihn eher an. Und so erhöhte er sein Tempo und hörte nur noch im Hintergrund seine Schuhe auf den Asphalt klatschen. Es erschien ihm, als würde er fliegen, so schnell rasten seine Füße. Ein betörendes Rauschen in seinen Ohren mahnte ihn vor dem Stoppen.
Als er schließlich vor einer alten, schmutzigen Stahltür stehen blieb, rasselte sein Atem und drang stoßweise aus seinen Lungen. Er ballte die Hände zu Fäusten und biss schmerzhaft die Zähne zusammen. Hinter diesen Pforten befanden sich die wahrscheinlich härtesten und brutalsten Jungs ganz New Yorks. Auch wenn man es der Außenfassade nicht ansah, der stolze Besitzer dieses Schuppens besaß wahrscheinlich mehr Kohle als Haare auf dem Kopf. Wahrscheinlich mehr, als ihm gut tat.
Endschlossen legte Sean eine Hand auf den Türgriff, drückte ihn nach unten und öffnete die quietschende Tür. Ein Geruch, bestehend aus Schweiß, Angst und Mann, schlug ihm entgegen. Stockend hielt er die Luft an. Wie lange war er nicht mehr hier gewesen?
„Referty! Endlich schaust du auch mal wieder vorbei!“ Sean wandte sich der rauen Stimme zu. Ein circa zwei Meter großer Afrikaner mit übermenschlich großen Muskeln trat auf ihn zu. Ein erfreutes Grinsen lag auf seinem Gesicht. Mit einer Faust, größer als der Kopf eines Babys, schlug er ihm gegen die Schulter. Sean wich nicht einen Millimeter zurück und versteifte sich. Der Schlag war hart gewesen, auch wenn der andere das nicht beabsichtigt hatte.
„Du hast dich echt lange versteckt. Wo bist du gewesen? Hattest du etwa Schiss?“, neckte ihn der Afrikaner, ihm bekannt als DoubleD. Ein durchtriebenes Zucken der Mundwinkel ließ Seans Augen böse funkeln. „Niemals.“
DoubleD erwiderte das Grinsen und legte ihm eine schwere Hand auf die breite Schulter. „Lust auf ‘nen kleinen Kampf? Nur du und ich. Lassen wir die Fäuste ein bisschen trommeln.“ Sean zögerte einen winzigen Augenblick, woraufhin der andere schon fast flehentlich hinterher hang: „Komm schon! Hier in diesem herunter gekommenen Laden gibt es niemanden, wirklich niemanden, der mir auch nur in geringster Weise ebenbürtig ist. Das sind alles Schwächlinge, die sich nicht trauen, ihr vorlautes Mundwerk von mir stopfen zulassen. Nur du. Du bist der einzige, mit dem das Kämpfen Spaß macht. Und fair ist.“ Arroganz trat in Seans Blick. „Also gut“, gab er sich geschlagen.
Mit DoubleD im Schlepptau, wie ein anhänglicher Welpe, ging er in die Umkleide und drehte am Zahlenschloss seines Schließfaches. Er hatte immer Trainingsklamotten darin, für einen Notfall wie diesen.
In aller Seelenruhe schlüpfte er aus seinen Schuhen, zog das Hemd aus der Hose und über den Kopf, öffnete die Schnalle seines Gürtels, riss den Reißverschluss hinunter und streifte die Jeans ab.
Er stand nur noch in Boxershorts da. Doch das war ihm nicht peinlich. Nicht hier. Nicht vor seinen Leuten. Sie hatten alle viel zu viel Respekt vor ihm und seinen Fäusten. Und die starke Freundschaft zu DoubleD tat auch ihren Teil dabei.
Lässig holte er eine dunkelgraue Shorts aus dem Fach und zog sie sich an. Seine Füße steckte er in ausgetretene weißschwarze Turnschuhe und schnürte die Bänder zu. Seinen Oberkörper ließ er unbedeckt und präsentierte seine stahlharten Brustmuskeln und den straffen Sixpack.
DoubleD ließ einen respektvollen Pfiff erklingen. „Ich hasse es, das sagen zu müssen, aber für so einen kleinen Mann hast du einen hammer Körper.“ Das Kompliment warf ihn ein bisschen aus der Bahn. Nicht die Bezeichnung klein bei seinen eins achtzig, sondern die Tatsache, dass sein so verschlossener Freund einmal seine Gedanken laut aussprach.
Verblüfft hob Sean die Brauen und starrte hinauf. „Was ist geschehen, während ich fort war? Was für ein Alien bist du und was hast du mit DoubleD gemacht?“ Sein sarkastischer Ton ließ den Braunhäutigen auflachen. Doch dann fasste er sich und sah mit einem verträumten Blick an ihm vorbei. Sean dämmerte es. Ein träges Seufzen erklang aus seiner Kehle, gefolgt von den wissenden Worten: „Eine Frau, hab ich Recht?“ Der andere nickte lächelnd.
Er wartete, bis DoubleD mit der Sprache herausrückte. „Sie heißt Katya. Sie hat kurze braune Haare und dunkle Augen. Sie ist liebreizend und feinfühlig. Sie hat mich vom ersten Augenblick an verzaubert, seit ich sie sah. Ich bin verrückt nach ihr, und sie auch nach mir. Wir ergänzen uns zu einem Ganzen, weißt du?“ Verstehend sah Sean ihn an. „Ich weiß genau, was du meinst.“ Er schlug ihm freundschaftlich gegen die Schulter. „Ich wünsch dir alles Gute, Kumpel. Wirklich. Aber wehe, du wirst jetzt zum Weichei im Ring. Denn dann, mein Lieber, ist sie echt nicht gut für dich.“ Ein tierisches Grinsen trat auf DoubleDs Gesicht und vertrieb den träumerischen Ausdruck. „Keines Wegs, Referty. Ich schlag dein Face zu Brei, wenn du’s drauf anlegst.“ Sie zwinkerten sich zu.
„Genau das wollte ich hörn“, flüsterte er leise. Seine Stimme versprach einen wilden, harten und scheiß brutalen Kampf.
Genau das, was er jetzt brauchte.

DoubleD musterte seinen Gegner von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Sean Referty war ein stahlharter, muskelbepackter Bastard, der vor nichts zurückschreckte. Er war brutal und durchtrieben. Seine hinterlistige Intelligenz und die tierische Härte machten ihn zu einem starken Kämpfer. Und obwohl er selbst ihn um geschätzte zwei Kopfe überragte, besaß er einen scheiß Respekt vor ihm.
Sean war kein normales Arschloch, welches sein armseliges Leben nicht auf die Reihe bekam, sich jeden Abend besaufte und dann auf die irrsinnige Idee kam, hier aufzukreuzen und sich umlegen zulassen. Nein er war erfolgreich als Lehrer, wie DoubleD gehört hatte. Er rasierte sich regelmäßig, wie man sah, seine Kleidung war nicht annähernd so schäbig, wie bei vielen anderen Pissern, und seine Manieren waren auch nicht von schlechten Eltern.
DoubleD hätte seine linke Hand verwettet, dass sein Gegner eine gute Ausbildung und einen muster Abschluss auf dem College hinter sich hatte. Und wie man munkelte, hatte er seinen eingerosteten blonden Teufel gegen einen verzaubernden, rothaarigen Racheengel getauscht. Die Leute hier erzählten, seine neue Freundin hätte etwas Magisches, Mystisches an sich. Sie sähe aus, wie eine adlige Königin oder glich sogar einer antiken Göttin. Sie sollte umwerfend und atemberaubend sein. Aber hier erzählte jeder viel. Und was der Wahrheit entsprach, konnte man nie vertrauenswürdig behaupten.
Eilig die Gedanken verscheuchend, schüttelte er den Kopf. Sein räuberischer Blick glitt wieder zurück zu Sean und studierte jede seiner ruhigen und geschmeidigen Bewegungen. Die meisten versoffenen Kämpfer in diesem Schuppen rannten wie ein wildgewordener Stier auf einen zu. Aber er hatte die Präzision eines Panthers und die logische Denkweise eines jagenden Löwes. Langsam schritten sie einen Kreis und prägten sich jeden Schwachpunkt ihres Gegners ein. Keiner wagte den ersten Schritt zu tun.
Doch dann, DoubleD hatte nicht einmal bemerkt, wie Sean sich an ihn herangepirscht hatte, schlug eine mächtige Faust gegen seine Schulter. Er schwankte und verlor kurzzeitig das Gleichgewicht, fing sich zum Glück jedoch wieder auf und stand schließlich abermals fest auf den Füßen. Er hob den Blick vom Boden und sah das amüsierte Grinsen seines Gegenübers. Von Euphorie gerissen, stürmte er auf seinen Kumpel zu und warf sich gegen diesen. Zusammen schlugen sie hart auf und rangen ununterbrochen weiter. Schläge trafen sie ihm Gesicht, Tritte in die Magengegend und Schreie der Wut hallten in ihren Ohren nach.
Schlussendlich rollte Sean sich auf DoubleD und hielt seinen Oberkörper und die Arme mit seinem Gewicht und den Knien am Boden. Ihr beider Atem rasselte aus ihren Lungen und sie waren blutverschmiert. Schweiß rann seine Stirn hinab und an den Wangenknochen hinunter, als Sean sich herunter beugte und mit den Händen den Kopf seines Gegners in den Nacken drückte. Seine Arme zitterten vor mangelnder Kraft, dennoch konnte der andere Kämpfer sich nicht bewegen. Beide hörten die jubelnden oder kreischenden Schreie der gaffenden Zuschauer. Manche klatschten, manche buhten. Doch keiner traute sich, die Kämpfer direkt anzureden und ihre Vorwürfe zu äußern.
Sean holte tief Luft und flüsterte dann zwischen zusammengebissenen Zähnen: „Alter, du lässt nach. Ich war wirklich viel zu lange weg. Dafür ringe ich dich einfach zu schnell zu Boden.“ Ein teuflisches Grinsen zuckte in seinen Mundwinkeln.
Er hob den Kopf. So gut es mit dem harten Griff um seiner Kehle ging, zischte DoubleD zurück: „Viel zu lange, stimmt. Da macht es fast gar keinen Spaß mehr, nicht?“ Vorwurfsvoll die Brauen hebend nickte er zustimmend.
Kraftlos ließ er den Hinterkopf wieder auf den Boden aufschlagen und schloss krampfartig die Augen. Er spürte, wie das Gewicht von seiner Brust verschwand und sog wie ein atemloser Irrer, der er nun einmal war, verzweifelt die Luft in seine Lungen.
Nachdem sich seine Atmung wieder einiger Maßen geregelt hatte, öffnete er seine Lider und starrte in ein amüsiert grinsendes Gesicht, welches dunkel im Schatten lag und von oben herab von der grell gelben Glühlampe beschienen wurde. Das Licht blendete ihn und nur schwer erkannte er Seans Hand, welche ihm ausgestreckt seine Hilfe anbot. DoubleD griff danach und setzte sich schwerfällig auf.
Er streckte die Beine gespreizt von sich und stützte sich mit den Händen auf die Knie, den Kopf und die Schultern nach vorne gebeugt. Die große Hand seines Freundes legte sich auf seinen Oberarm.
„Komm, Kumpel. Wir sollten unter die Dusche springen, denn so solltest du deiner Katya nachher nicht begegnen.“ Nach einem knappen Nicken, rappelte er sich auf die Beine und marschierte an staunenden Mengen vorbei. Es traf ihn schon hart, so verletzlich vor den anderen auszusehen. Nebenbei spürte er Seans Unbehagen, welches dennoch von Stolz geprägt war. Als DoubleD hinüber sah, erkannte er keine Emotionen im Gesicht seines Freundes, als interessierten ihn die armen Drecksschweine nicht. Und einmal mehr wünschte er sich, etwas von dieser Kälte zu besitzen. Er wirkte äußerlich immer taff und stark, doch innerlich traf ihn alles viel härter.
Doch das Schlimmste bei allem war, dass Sean der Einzige war, der ihn besiegen und ihm schaden konnte, auch der Einzige war, der alles über ihn wusste. Seine Vorgeschichte, die sträflichen Dinge seiner Jugend und den damit gekommenen Schmerz. Wirklich alles. Nur seinen echten Namen nicht. Und über dieses eine kleine Geheimnis war DoubleD stolzer, als über sein ganzes ruiniertes Leben.

Lilly strampelte sich die Decke von den Beinen und lag unruhig auf der Matratze ihres Bettes. Im Schlaf befand sie sich auf einem Berg, bedeckt mit einer strahlend grünen Wiese …



Staunend blickte sie zum Himmel auf. Funkelnde Sterne standen am schwarzen Horizont. Einer, größer als alle anderen, beschien ihr junges Haupt mit seinem wärmenden Licht.
Doch schon bald zogen dichte Wolken über ihrem Kopf hinüber. Sie überschwemmten den Mond, Sternensplitter und schlussendlich auch ihn. Die zu vorige Freude an diesem magischen Ort verwandelte sich in etwas Mächtiges, das Lilly mehr als alles andere fürchtete. Eisige Kälte kroch ihren Rücken hinauf. Ein beißender Wind fuhr durch ihr langes Haar und zerzauste es. Ängstlich blickte sie sich in der Dunkelheit um und erkannte nicht einmal Schatten. Tränen der Furcht stiegen in ihren Augen auf und sie rannte los. Rannte über die sich bewegenden Gräser, den Berg hinauf. Ihr Blut rauschte durch ihre Ohren. Oder war da noch etwas anderes?
Irritiert blieb sie stehen, zitterte am gesamten Körper und kniff die Lider aufeinander. Die Hände zu Fäusten geballt verschränkte sie die Arme vor der Brust, um auch nur ein bisschen Wärme bei sich zu behalten. Ihr Atem wurde ruhiger und immer stärker konzentrierte sie sich auf ihr Umfeld.
Ein Plätschern. Wasser. Hier in der Nähe musste ein Bach oder ein Fluss sein. Sie schlug die Augen auf und starrte abermals in die Schwärze. Stur und die Angst unterdrückend ging sie langsam weiter. Ihre Ohren lauschten in die Stille hinein, vernahmen aber kein Geräusch außer dem, auf welches sie zusteuerte.
Lilly gelangte an ein schmales Flussbett, über das sie um ein Leichtes hätte springen können. Doch die beiden Ufer entfernten sich immer weiter, wie es schien. Es herrschte nicht völlige Dunkelheit, weswegen sie auf die gegenüber liegende Seite blicken konnte. Doch ihr Blick reichte nicht weiter, als wenige Meter.
Urplötzlich trat eine umhüllte Gestalt in ihr Sichtfeld. Erschrocken quiekend machte sie einen Satz rückwärts. Ihr Herz klopfte so schnell und laut, dass sie ihr Blut durch die Adern schießen spürte. Sie beruhigte sich einiger Maßen, als sie die vertrauten Umrisse Seans erkannte. Neben ihm stand eine dünne Frau. Ihre Finger waren ineinander verschränkt. Zusammen blickten sie hinüber ans andere Ufer. Sie sahen Lilly an.
Diese trat bis ans Wasser heran und hüpfte erleichtert auf einer Stelle auf und ab.
„Sean!“, schrie sie. Steif nickte er. Tief beugte Lilly die Knie, bereit, hinüber zu springen. Doch noch bevor sie auch nur konnte, brachte er sie mit einem erstickten Schrei zum Innehalten. Verwirrt sah sie ihn an. Wissend wies er mit einer Hand auf den Bach. Er wurde größer, wurde zum Fluss. Das Wasser schien noch dunkler zu werden, als ginge der Grund nicht nur in die Breite sondern auch in die endlose Tiefe.
Wieder von der Furcht mitgerissen, wich sie vom Ufer zurück und fixierte aus panischen Augen die zwei Gestalten auf der anderen Seite. Die andere Gestalt, die mit den langen Haaren, trat vor und legte den Kopf in den Nacken. Lilly musterte sie scheu und befürchtete das Schlimmste.
Die Frau sah zu dem wolkenbehangenen Himmel auf und schloss die Augen. Ein Beben fuhr durch ihren Körper und ließ sie zittern. Ein eiskalter Wind peitschte ihr die Locken ins Gesicht. Lilly stierte ins Wasser, welches immer schneller vorwärts rauschte, nicht mehr den Berg hinab, sondern nun hinauf. Heller Schaum und Wellen schlugen gegen die Lehmufer und schwemmten ab und zu über die Wiese.
Geschockt studierte sie abermals die Frau, deren langes Gewand flatternd ihre Gestalt umhüllte. Im Gegensatz zu Lilly, sah sie in Seans Miene keinen Funken von Furcht. Nur Vertrauen. Von einem irrsinnigen Gedanken geleitet, entspannte Lilly sich zaghaft. Sean ist nicht dumm, und wenn er ihr vertraut, dann kann ich das auch. Zumindest hoffte sie das. Alle drei Augenpaare betrachteten angespannt den bewölkten Horizont.
Doch plötzlich rissen die Wolken in Fetzen auf und gaben die Sterne wieder frei. Wärme überflutete Lilly, als sie den einen Stern sah, dessen Schein heller war als der aller anderen. Der Vollmond gab sein weißes Licht und erhellte alles um die drei herum.
Freudig klatschte Lilly in die Hände und zog damit die Aufmerksamkeit der beiden anderen auf sich. Ihr Grinsen war so breit, dass sie die Augen zusammen kniff. Sie sah in das Gesicht der Frau, auf dem ein liebevolles Lächeln erschien. Und nun erkannte Lilly sie. Jillien! Es war die wunderschöne, nette Jillien! Alle Angst, die sie zuvor bei der fremden Gestalt verspürt hatte, verwehte auf einmal, als sie sie erkannte. Überglücklich schrie sie die zwei Namen ihrer Freunde und sprang abermals ans Wasser.
Doch schnell huschte das Bild des verkehrt fließenden Flusses durch ihren Kopf und sie sah panisch hinunter. Zu ihrer Überraschung war alles wieder normal. Die Wellen bewegten sich seicht und langsam flussabwärts voran und nicht einmal eine kleine Schicht Schaum bedeckte die klare Oberfläche. Und auch die Ufer lagen wie am Anfang nah beieinander.
Fragend blickte sie in Seans blaues Augenpaar. Er nickte und lockte sie mit einer ungeduldigen Handgeste zu sich. Sie Schritt zurück, nahm Anlauf und sprang in einer riesigen Satz von einer Seite zur anderen. Fest kam sie zum Stehen und hob amüsiert lächelnd den Kopf. Noch bevor Sean etwas sagen konnte, klammerte sie sich an seine Beine und schmiegte sich erleichtert an ihn. Endlich war sie nicht mehr allein.
Lachend hob er sie auf die Arme. Sie schlang ihre dünnen Ärmchen um seinen breiten Hals und legte den Kopf auf seine Schulter. Jilliens kichern drang an ihr Ohr und automatisch streckte sie die kleinen Fingerchen nach den roten Locken aus. Eine um den Zeigefinger gewickelt, musterte sie neugierig das Paar.
„Was macht ihr hier?“, platzte es aus ihr heraus. Die samtweiche Stimme der Frau antwortete ihr.
„Wir suchen etwas, wie einen fließenden Horizont.“ Bei den irrsinnigen Worten sah Lilly, wie sie errötete. Zaghaft legte sie eine kleine Hand an ihre Wange und starrte nachdenklich in den Himmel, auf ihren Stern.
Aber etwas stimmte nicht mit ihm. Irritiert zog sie die Augenbrauen zusammen. Er bewegte sich. So, wie das Wasser vorhin. Aufwärts.
Ihre Lippen formten ein erstauntes O, und plötzlich von Euphorie gepackt, riss Lilly den Arm in die Luft und winkte, forderte Sean und Jillien auf, ebenfalls hochzugucken. Synchron zogen diese scharf die Luft ein. Nicht nur der eine, sondern alle Sterne bewegten sich in eine Richtung.
Das kleine Mädchen sprang von seinen Armen und lief die Wiese hoch, dicht gefolgt von den zwei Erwachsenen. Sie blieb erst stehen, als sie an einen Abgrund kam. Ihre Lippen fingen an zu beben.
Große Hände packten ihre Schultern und zogen sie grob zurück. Sie schrie Protest, doch die starken Arme umschlossen sie und hielten sie fest. Sie zappelte und jammerte, doch erbarmungslos blieb der Griff stahlhart. Bedrohlich nah zischte Sean an ihrem Ohr: „Lilly Colnis. Hör auf! Sofort!“ Sie verharrte ängstlich. Noch nie hatte er sich so zornig angehört.
„Aber …“
„Kein Aber!“, beharrte er stur. Die Unterlippe schmollend vorgeschoben verschränkte sie die Arme vor der Brust. Jillien trat in ihr Sichtfeld und lächelte sie unsicher an. „Lilly, er meint das nicht böse“, versprach sie. „Aber stell dir doch nur einmal vor, du wärst da runtergefallen? Er hatte Angst um dich.“ Die Ernsthaftigkeit in ihrer verzweifelten Stimme ließ sie ihren Blick heben. Graue Augen sahen ihr entgegen, Leid und Furcht in ihnen.
Die plötzlichen Gefühle übermannten sie und Tränen stiegen in ihren Augen auf. „Tut mir leid“, jammerte sie schluchzend. Die Ärmchen ausgestreckt, umarmte sie Jillien. Diese hielt sie fest und entwand sie Seans festem Griff. Lilly legte erschöpft ihren Kopf auf die Schulter der Frau und kniff die Augen zusammen. Die Tränen nässten den zarten Stoff des Kleides und ihre zu Fäusten geballten Finger zerknitterten ihn noch.
Nach einer Weile bewegte Jillien sich und holte die Kleine aus ihrer Trance. Mit großen Augen blickte sie flehend in das Gesicht der Rothaarigen. „Jillien, ich möchte sehen, was dort unten ist.“ Erst zögerte die Schöne, sah fragend zu Sean und dann wieder zu dem Kind in ihren Armen. Ergeben seufzte sie und nickte steif. Ein breites Lächeln zierte Lillys Gesicht. Jillien trat an den Abgrund und spannte augenblicklich ihre Muskeln an und umklammerte das zierliche Mädchen auf ihren Armen. Dieses beugte sich neugierig vor und spähte hinüber. Sie zuckte erschrocken zusammen, als ein weiteres Paar starke Arme sich um sie und Jillien schloss, entspannte sich jedoch wieder bei dem Wissen, dass Sean sie beide halten würde.
Lilly sah über den Rand … und sah eine tobende Wassermenge. Nach einem schnellen Blick nach links bemerkte sie, dass riesige Wassermengen von hier oben tief bis nach da unten fielen. Dort wo sie auf die andere Wasseroberfläche trafen, bildete sich weißer Schaum, schlugen große Wellen in Kreisen fort und ein lautes Rauschen drang an ihr Gehör.
Sie wanderte mit dem Blick weiter und sah Büsche, Blattwedel, so groß, wie sie selbst, dicht beieinander wachsende Bäume. Und ein Strauch an der Felswand neben dem Wasserfall, an dem wunderschöne, sternförmige gelbe Blumen wuchsen. Fasziniert starrte sie die schimmernden Knospen an.
Plötzlich zitterten die Blüten und öffneten blitzschnell ihre Blätter. Die Ranken, an denen die Blumen hingen, bewegten sich langsam auseinander, bildeten so etwas, wie einen Durchgang …
Lilly drehte sich auf Jilliens Armen, um ihr und Sean zusagen, was sie da unten sah, was die Sternblumen da taten. Doch diese starrten nur zum Himmel empor. Sie tat es ihnen gleich. Sie suchte ihren Stern, als eine fremde Stimme ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. „Eilet zum fließenden Horizont, seht kindlich und greift nach den Sternen. Ordnet sie neu an und lest aus ihnen.“ Sie hatte keine Ahnung, was die Wort zu bedeuten hatten, Sean und Jillien dagegen anscheinend schon. Diese sahen sich wissend an. Sie wollte gerade nachfragen, als die Wolken wieder den Mond bedeckten, alles in Dunkelheit tauchten, und sie, nicht mehr gehalten von Jilliens Armen, in die endlose Tiefe des Abgrundes fiel …



Mit einem erstickten Schrei wachte Lilly auf und sah sich in ihrem Kinderzimmer panisch um. Sie tastete nach ihrem Kopf und kniff die Augen zusammen. Als sie sie wieder öffnete, war alles immer noch wie vorher. Es war nur ein Traum gewesen, nur ein Traum, sagte sie sich. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag wieder und sie senkte die Hände. Sie wartete darauf, dass ihre Tür knatschte, Mummy oder Daddy ins Zimmer trat, sie aus dem Bett hob und beruhigte. Als ob sie das nicht selber könnte. Als sei sie immer noch ein kleines Kind.
So wie sie es voraus gesagt hatte, geschah es eine halbe Minute später auch. Daddy kam in seinem grau karierten Pyjama und den Plüschpantoffeln in den Raum gestürmt, knipste das Licht an und betrachtete liebevoll seine Tochter. „Sch, Lilly, sch. Alles ist gut. Das war nur ein Traum, dir ist nichts passiert“, murmelte er, während seine Arme sie hoch hoben. Sie schmiegte ihre Wange an seine Brust und nickte, das Gesicht im Stoff seines Oberteils vergraben. Er wiegte sie hin und her, bis sie ganz still war und sich nicht mehr rührte.
Wie immer legte er sie in dem Glauben, sie würde tief und fest wieder schlafen, in ihr Bettchen zurück und verließ mit einem letzten kontrollierenden Blick und dem Ausschalten der Glühlampe das Kinderzimmer.
Lilly machte Daddy jedes Mal weiß, sie würde schlafen, damit er sich keine Sorgen machte. Sie wollte nicht, dass ihre Eltern wussten, dass sie nach den Albträumen nicht mehr einschlafen konnte vor Furcht, wieder so einen schlimmen Traum zu träumen.
Doch dieses Mal war es irgendwie anders. Bisher war sie immer allein in ihren Fantasien gewesen. Doch das Jillien und Sean dabei gewesen waren, veränderte alles. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Soll ich das Geschehene als mein eigenes kleines Geheimnis bewahren? Sie wusste es nicht.
Doch als sie dann plötzlich gähnte und von der Müdigkeit gepackt wurde, irritierte sie das so sehr, dass sie die Frage vergaß. Sonst war sie immer hellwach gewesen, doch jetzt wollten ihre Augen nicht mehr offen bleiben. Sie entschied sich doch noch einmal in einen tiefen Schlaf zu fallen.
Ob das eine gute Idee ist?, fragte sie sich noch, bevor sie vollends einschlief.



Anlauf genommen und los gerannt




Jillien schlug die Lider auf. Sie lag jetzt nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit in diesem Bett und langweilte sich. Sie hatte sich nicht die Mühe machen wollen, aufzustehen und nachzugucken, ob Sean wieder da. Sie wusste, er war noch fort. Nachdem sie ihn gestern wortlos stehen gelassen hatte, war er weg gewesen.
Rötliche Sonnenstrahlen schienen durch das Fenster und wärmten ihr Gesicht. Normalerweise liebte sie dieses Gefühl der Ruhe. Doch jetzt sorgte sie sich viel zu sehr um Sean. Was, wenn er sie nie wieder sehen wollte? Nach gestern kann ich es ihm nicht einmal verübeln, dachte Jillien entnervt und zog sich mit einem gequälten Seufzer die Decke über den Kopf.
Ein Quietschen, als würde das Fenster geöffnet werden. Ein Rumpeln. Erschrocken zuckten ihre Schultern nach oben. Schnell gesprochene Flüche, ein wütendes Flüstern. Ängstlich versteckte sie sich weiterhin.
Aber ihre Neugierde siegte. Zaghaft schob sie sich den kratzenden Stoff so weit vom Gesicht, dass sie über den Rand linsen könnte, schlüge sie nur die Augen auf. Doch die Furcht ließ sie genauso verharren. Ein überraschtes Schnappen nach Luft. Dann hörte sie, wie die kleine Kommode vor ihr über das Laminat geschoben wurde. Tief atmete sie durch die Nase ein und augenblickliche Stille trat ein, als warte der ungebetene Gast auf eine Reaktion ihrerseits. Doch sie blieb reglos.
Schritte. Langsam und gezügelt. Sie spürte einen Windhauch, als er das Fenster wieder schloss. Bleib ruhig, Jillien. Ganz ruhig. Vielleicht ignoriert er dich ja dann. Eigentlich müsste sie sich dem Einbrecher stellen. Aber sie hatte zu viel Angst, auch nur ein Lid zu heben.
Eine Berührung. Sie war so hauchzart an ihrem Haar, dass Jillien sie fast nicht gespürt hätte. Sie war so unerwartet, dass sie sich anstrengen musste, sich nicht zu bewegen. Fingerspitzen fuhren ihren Wangenknochen unterhalb der Wimpern nach und ließen es unter ihrer Haut wundervoll kribbeln. In diesen Liebkosungen lag so viel Wärme und Zuneigung, dass sie mit einem Schlag wusste, wer der Einbrecher war.
Zögerlich schlug sie die Lider auf und blickte in ein verträumtes blaues Augenpaar. Ein bezauberndes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Sie atmete seinen herben Duft ein. Er war so berauschend, wie sonst keiner. Lust wallte in ihr aus, die sie vergeblich zu unterdrücken versuchte. Was sie für eine Nacht mit ihm alles geben würde. Alles. Selbst wenn es ihren Tod bedeuten würde.
Jillien griff abwesend nach der Hand, die sie streichelte, und verschränkte ihre Finger miteinander. Sie hielt seinen Blick fest und fuhr mit dem Daumen über seinen Handrücken. Verführerisch funkelte sie ihn an und rutschte ein Stück zur Seite auf der Matratze. Er wollte ihrer Forderung schon folgen, da verharrte er und roch mit gehobenen Brauen an seinem Shirt. Mit gerümpfter Nase und einem verschmitzten Heben der Mundwinkel, flüsterte er: „Ich bin verschwitzt und stinke. Vielleicht sollten wir das auf ein andern Mal verschieben?“ Erst wollte sie enttäuscht nicken und ihn los lassen. Doch dann kam ihr eine Idee, als sie zur Tür sah, welche zum Gästebadezimmer führte.
„Ich habe eine bessere Idee“, versprach sie geheimnisvoll. Sie warf die Decke zurück und stieg geschmeidig vom Bett auf. Überrascht sah er zu ihr hinab. Er folgte mit dem Blick all ihren Bewegungen, als sie die Arme – als sie die Tätowierungen sah, zuckte sie innerlich zusammen – um seinen Hals legte und in den Kranken seines Shirts griff. Mit angespannten Muskeln musterte er sie und sah verwirrt drein. Sie hätte über sein Gesicht fast gelacht, konnte es sich aber noch rechtzeitig verkneifen.
Sie spürte seinen Nacken und weiche Locken, die ihre Finger streiften. Sie irritierte ihn mit ihren Liebkosungen, und es gefiel ihr. Aus plötzlicher Panik hielt sie inne und suchte nach Anzeichen der ungesättigten Bestie. Doch nichts. Rein gar nichts. Nur pure Lust.
Sie zeichnete seine Bauchmuskeln mit Faszination nach. Als sie nach dem Saum des Stoffes fasste, zuckte er kurz zusammen. Während sie ihn mit einem katzengleichen Schnurren beruhigte, zog sie das Kleidungsstück immer weiter hoch. Schließlich hob er die schweren Arme, ließ sie ihrem Willen folgen und studierte einfach nur ihr Gesicht. Sie errötete leicht, was ihm ein Kichern abverlangte. Fragend sah sie ihn und er erwiderte nur lässig: „Du machst mich mit deinen Berührungen fast verrückt, spielst genüsslich mit mir, und bist doch diejenige, die unter meinen Blicken errötet.“ Sie konnte nicht anders, als amüsiert zu lächeln, als sie die Ironie in seiner Stimme hörte.
Wortlos nahm sie die Hände von seinem Oberkörper. Er schnaufte protestierend. „Das sollte nicht heißen, dass du aufhören sollst!“, eilte er. Sie grinste ihn an.
„Spring schnell unter die Dusche. Ich warte hier auf dich.“ Erleichtert seufzte er. Sie wies auf die Badezimmertür und stemmte dann die Hand in die Hüfte. Gefügig folgte er ihrer Anweisung und marschierte ins Badezimmer. Wenige Sekunden später hörte sie das Quietschen, als die Duschtüren geöffnet und geschlossen wurden, und dann das Wasserrauschen.
Mit einem müden Seufzer fiel sie auf die Matratze. Ausgestreckt lag sie da. Es war zügig im Zimmer, zumindest kribbelte ihre Haut von der Kälte. Erschöpfte setzte sie sich auf, stützte die durchgestreckten Arme neben sich und sah sich gelangweilt im Zimmer um. Einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Als sie immer noch zitterte und fror, sah sie an sich hinab. Alles, was sie trug, war ein tief ausgeschnittenes und enges weißes Top mit breiten Trägern und eine sehr knappe rotschwarz karierte Shorts. Kein Wunder, dass sie ihn verrückt gemacht hatte. Sie errötete, als sie an seine gierigen Blicke dachte, und wie sie sie genossen hatte.
Um die Gedanken zu verdrängen, schüttelte sie den Kopf und strich sich in einer schnellen Bewegung die Haare aus der Stirn. Suchend sah sie sich im Raum um und bemerkte die kleine Tasche, die Penelope ihr gezwungener Maßen überlassen musste. Sie stand eilig auf und ging auf sie zu. Als sie das Wasserrauschen versiegen hörte, beschleunigte sie ihr Tempo.
Gehetzt wühlte sie die Kleidungsstücke durch, bis sie eine graue Strickjacke fand. Als sie sich gerade über die Schultern zog, öffnete sich auch schon die Badezimmertür. Panisch schnellte sie herum und hielt geschockt die Luft an, ihr zu voriges ungezügeltes Selbstvertrauen war mit einem Wisch fort und hinterließ ein prüdes, ahnungsloses, kleines Mädchen.
Da stand er, die Statur eines griechischen Gottes. Seine stählernen Muskeln wurden von einer goldgebräunten Haut überzogen. Seine nassen, pechschwarzen Locken umrahmten verspielt seinen markanten Kiefer und die hohen Wangenknochen betonten seine tiefblauen Augen, die von dichten, dunklen Wimpern geziert wurden. Seine Nase besaß einen kleinen Huckel, der ihn umso perfekter aussehen ließ. Und sein Mund, volle Lippen und zu einem amüsierten Grinsen verzogen. Sie hätte ihn Tage lang anstarren können und würde keine Langeweile bekommen.
Auf seinen hüften hing eine schwarzgrau karierte Boxershorts mit feinen blutroten Linien drin verstrickt. Um seine breiten Schultern lag ein schneeweißes Handtuch. Er fuhr sich noch einmal mit den Fingern durch die zerzausten Haare, ehe er auf sie zutrat.
Jillien leckte sich eilig mit der Zunge über die trockenen Lippen. Seine Augen folgten gierig diesem Vorhaben. Als er vor ihr zu Stehen kam, versteifte sie sich und blickte angespannt hinauf. Er legte liebevoll seine Hand an ihre Wange und strich mit dem Daumen über ihren Nasenflügel. Genießerisch schloss sie die Lider und atmete seinen Duft und den Geruch des Shampoos ein. Sie seufzte. Als sie die Augen wieder öffnete, lag ein verträumter Ausdruck auf seinem Gesicht. Sie lächelte ihn unsicher an. Sean hob nun auch den anderen Arm und umfasste ihr Gesicht. Sein Kopf senkte sich und seine Lippen teilten sich, bereit, sie zu küssen.
Doch sie wich ihm aus, sodass sein Mund nur ihre Wange streifte. Jillien kniff gequält die Augen zusammen und spürte seine Verwirrung. Sie schluckte den Klos ihn ihrer Kehle hinunter, ehe sie mit zitternder Stimme anfing zu sprechen. „Es tut mir leid, aber … ich kann nicht. Es geht nicht. Bitte versteh das.“ Das verzweifelte Flehen in ihrem Ton überraschte sie, doch das ließ sie sich nicht anmerken. Er blickte zur Seite und flüsterte nachdenklich: „Erst scheint es immer, als wollest du mich. Und dann weist du mich dich wieder ab. Jedes Mal. Immer.“ Sie hätte am liebsten angefangen zu weinen, als sie den Schmerz hörte.
Jillien schlang die Arme um seinen breiten Hals und verbarg das Gesicht an seiner Kehle. Und da waren sie. Die Tränen flossen ihr über die Wangen und nässten seine nackte Haut. Irritiert hielt er sie fest und drückte sie mit den Händen auf ihrem rücken näher an sich.
„Sean, ich will dich. Mehr, als alles andere. Aber ich bin nicht gut für dich.“ Sie spürte seine Anspannung und Ahnungslosigkeit. Doch anstatt sie wegzuschieben, wie sie befürchtet hatte, presste er sie nur umso dichter an sich. Er legte sein Kinn auf ihren Scheitel.
„Irgendwann, Jillien, da wird der Moment kommen, wo du mir dein Geheimnis erzählst. Und ich werde für dich da sein“, er holte tief Luft. Sie zitterte am ganzen Körper und wartete gespannt auf seine folgenden Worte.
„Für immer.“

Lilly sprang in ihrem blauen Pyjama aus dem Kinderbettchen und lief mit dem alten Teddybären in der Hand zur Tür. Sie reckte sich in die Höhe, griff um die Türklinke und zog diese hinunter. Stürmisch tänzelte sie aus dem Zimmer den langen Flur hinunter. Sie hüpfte in die Küche hinein, wo ihre drei Jahre ältere Schwester Michelle auf einem der Lederstühle saß und genüsslich ein Sandwich aß. Sie würdigte sie eines kurzen Blickes, ehe sie sich wieder dem Essen hingab.
Lilly umklammerte die Lehne eines anderen Stuhles und hievte ich hinauf. Ein genervtes Stöhnen Michelles erklang, welche zu Ende kaute, das Brot hinunterschluckte und den Oberkörper umdrehte. „Was willst du, Lilly?“ Die Kleine starrte das Sandwich, das sie in der Hand hielt, gierig an.
„Ich habe auch Hunger. Kann ich was von dir haben?“ Ihre Schwester klang entsetzt. „Nein! Das ist meins! Mach dir doch selber eins.“ Beleidigt schob sie die Unterlippe vor. Mit funkelndem Trotz in den Augen, rutschte sie vom Stuhl und legte den Teddybären beiseite. Dann griff sie mit den zierlichen Fingerchen um den Rand der Anrichte und versuchte, darüber zu sehen. Das Brot war aufgebrauchte, nur die leere Plastikverpackung war noch vorhanden. Knapp erblickte sie den Boden des hölzernen Hängeschranks, in dem sich Müsli befand. Das Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte die kurzen Ärmchen in die Höhe. Doch sie konnte mit den Händen den Griff nicht erhaschen.
Hilflos sprang sie hoch, doch sie war immer noch zu klein. „Michelle“, rief sie flehentlich nach ihrer Schwester. „Kannst du mir bitte helfen? Ich möchte mir Müsli machen.“
Doch Michelle machte nur eine wegwerfende Handbewegung und drehte sich nicht einmal um.
„Bitte!“ Ihre dürren Schultern spannten sich an. Sie stand auf, stellte den voll gekrümelten Teller ins Spülbecken und stemmte die Hände in die Hüften. Lilly sah bittend hinauf, doch die Miene ihrer Schwester war so hart und abweisend wie die ihrer Mutter. Zum fürchten!
„Lilly, ich werde dir ganz bestimmt nicht helfen. Ich habe Besseres zu tun, als deinen Babysitter zuspielen!“ Damit drehte sie ihr den Rücken zu und stolzierte aus der Küche.
Allein gelassen blickte Lilly ihr hinterher. Dann ging sie mit hängenden Schultern zum Tisch, nahm den Bären und drückte ihn ganz fest an ihre Brust. Leise, um bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zu richten und noch mehr angeschrien zu werden, schlich sie zum Türrahmen. Den Blick gesenkt trottete sie weiter, bis sie gegen etwas stieß. Erschrocken und Angst in den Augen, starrte sie hoch, schon das wütende Gesicht ihrer Mutter vor Augen, weil sie sich aus ihrem Bett geschlichen hatte.
Doch sie sah in das liebevolle und verschlafene Gesicht Seans. Erleichtert atmete sie auf. Er mochte sie. Er war ihr bester Freund. Nein, falsch. Zweit bester Freund. Noch netter war Jaki, der immer so viel mit ihr spielte.
Er lächelte sie müde an. „Na, Lill, was machst du denn schon so früh auf den Beinen?“
„Ich konnte nicht mehr schlafen“, antwortete sie grinsend. Er erwiderte ihren Blick und hob sie auf die Arme. Er schaute sie an. Sie sah kleine Bartstoppeln auf seinem Kinn und dunkle Ränder unter den Augen. „Hast du nicht gut geschlafen, Sean?“ Er schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Ich habe kein Auge zugemacht.“
„Hattest du einen Albtraum?“, fragte sie mit tiefen Furchen auf der Stirn. Er belächelte ihre Sorge. „Ich weiß es nicht, kleine Lill. Aber das ist unwichtig. Hast du Hunger?“ Kurz überlegte sie. Sollte sie ihm von ihrem Traum erzählen?
Stürmisch schüttelte sie den Kopf. „Nein. Ich weiß nur nicht, was ich machen soll. Es ist so langweilig! Und Michelle will bestimmt nicht mit mir spielen, die ist schlecht gelaunt.“ Nachdenklich betrachtete Sean sie. „Hmm … du könntest mit mir auf mein Zimmer kommen. Jillien ist auch da. Sie spielt bestimmt gerne mit dir. Du magst sie doch?“ Eifrig nickte sie. „Ja, Jillien ist nett!“
„Gut, na dann komm mit!“ Er ließ sie runter und schritt den Flur entlang. Fröhlich tänzelte sie neben ihm her.
Sean blieb vor einer Tür stehen und öffnete sie. Lilly sah in eines der Gästezimmer herein. Die lila Vorhänge waren zur Seite gezogen und die Sonne schien ins Zimmer hinein. Das Fenster war bis zu Hälfte hochgeschoben und kühler Wind wehte hinein. Die Wände waren weiß gestrichen und mit einem Meer aus violetten und rosa Blüten bemalt. Ein breites Doppelbett mit weißschwarzer Bettwäsche stand mitten im Raum. Ihm gegenüber nahm eine Kommode Stellung. Daneben führte eine einen Spalt weit geöffnete Tür in ein kleines Badezimmer.
Lilly sah wieder zurück zum Bett. Auf der Matratze lag ausgestreckt die junge Frau mit den schönen roten Haaren. Ihre Augen waren geöffnete und starrten zur Decke hinauf. Als sie die beiden hörte, trat ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht. Sie legte den Kopf auf die Seite und musterte die zwei.
„Wie ich sehe, hast du einen kleinen Poltergeist mitgebracht.“ Die Hände in die Hüften gestemmt, rief sie gespielt beleidigt: „Ich bin nicht klein!“ Jillien kicherte. „Natürlich nicht, Tut mir leid, Große.“ Das letzte Wort zog sie amüsiert in die Länge.
Schmunzelnd riss Sean Lilly von den Füßen und rannte mit ihr zum Bett. Er warf sich auf den Rücken und streckte die Arme in die Luft, wodurch er das lachende Kind in die Höhe hob. Dieses kicherte und strampelte freudig mit den Beinchen. Ihre Augen waren durch die Pausbäckchen zusammengekniffen und die kleinen Fingerchen umklammerten abstützend seine breiten Handgelenke.
Sean ließ sie auf die Matratze plumpsen, wo sie sich schwer atmend beruhigte und sich die Lachtränen aus den Augen wischte.
„Noch mal, noch mal!“, schrie sie. Doch er grinste nur amüsiert und schüttelte den Kopf. Er legte einen Finger an seine Lippen und zischte, das Lachen unterdrückend: „Psst, wir müssen leise sein. Deine Eltern schlafen noch.“ Sie schüttelte verstehend den Kopf und starrte ihn aus großen, glänzenden blauen Augen an. Dann drehte sie den Kopf, wobei ihre braunen glatten Haare über ihre Schulter flogen. Sie blickte in das bildschöne Gesicht Jilliens.
„Was machen wir denn dann jetzt?“, fragte sie. Die Frau sah über Lillys Kopf hinweg Sean an, dessen Stimme antwortete: „Ihr beide könnt ja irgendetwas spielen. Ich muss eben einmal in der Schule anrufen und mir eine Ausrede einfallen lassen, weswegen ich nicht zur Arbeit erscheinen kann.“ Ein trauriger Ausdruck trat in Jilliens grauen Blick und verwirrt sah die Kleine von einem zum anderen. Doch dann nickte die Rothaarige ihm zu, woraufhin Sean aufstand und aus dem Zimmer marschierte.
Lilly bemerkte, wie Jillien ihm nachblickte. „Was ist denn los? Habt ihr euch gestritten?“ Verwundert schaute sie das Mädchen an. „Uns gestritten? Um Gottes willen, nein. Es ist nur … ach, das ist unwichtig.“ Sie holte zitternd Luft und kniff die Augen zusammen.
„Was möchtest du machen, Lilly?“ Die Kleine überlegte kurz, während Jillien sich mit beiden Händen durch die zerzausten Locken fuhr. Dabei fielen ihr die schwarzen Linien auf den Unterarmen auf.
„Was ist das?“ Lilly hielt die Arme der Frau fest und starrte auf die Muster. Die Andere tat es ihr gleich. „Ähm, das ist so etwas wie ein Tatto.“ Als sie den fragenden Ausdruck im Gesicht der sechsjährigen sah, fügte sie hinzu: „Zeichnungen, die in die Haut eingestochen sind. Manche bezeichnen es als Kunst.“
Lilly zog die Augenbrauen zusammen. „Kunst? Das hört sich eher nach Schmerz an.“ Ein trauriges Kichern bebte durch Jilliens Körper. Das Mädchen studierte die Kunst genauer. Da war ein Auge, welches ihr unerschrocken entgegen starrte. Drumherum befanden sich Sterne. Sie erinnerten sie an ihren Traum, an die…
„Sternenblumen“, flüsterte sie ehrfürchtig. Jillien verspannte sich. „Was hast du gesagt?“ Ihre Stimme klang vorsichtig, als befürchte sie etwas Schlimmes. Lilly konnte die Augen nicht von den Blüten abwenden. „Ich sagte Sternenblumen. Die Sterne hier“, sie deutete auf die schwarzen Formen, „ich nenne sie Sternenblumen. Heute Nacht habe ich von ihnen geträumt.“
Jillien zog scharf die Luft ein. „Geträumt?“, hinterfragte sie irritiert. Eifrig nickte sie mit dem Kopf.
„Lilly, was hast du noch gesehen in deinem Traum?“ Das junge Mädchen schwieg. Jetzt hast du dich verraten. Toll gemacht, Lilly. Sie wusste nicht, was sie erwidern solle. Der Ton der Frau klang ungeduldig. „Lilly, sieh mich an. Sag es mir.“
Gehorsam blickte sie auf und blickte unsicher drein. „Ich … da war …“ Sie schluckte schwer den Kloß in ihrer Kehle hinunter. Ungeduld spiegelte sich in dem Grau der Augen der Rothaarigen. Die Worte kamen bebend und stockend aus ihrem Mund. „Ich war auf einem Berg, an einem Bach, es war dunkel. Der Himmel war wolkenverhangen und der Mond verdeckt. Ich rannte, bis ich dich und Sean am anderen Ufer sah. Doch plötzlich floss das Bachwasser nicht mehr bergab, sondern bergauf. Ein eiskalter Wind wehte und ließ mich frösteln.
Doch bei deinem Anblick zogen die dichten Wolken wieder weiter und das Mondlicht beschien uns, der Wind verstummte und das Wasser wurde abermals ruhig und floss hinunter. Ich sprang zu euch herüber. Dann sah ich zum Himmel und auf einen ganz bestimmten Stern. Dieser bewegte sich plötzlich und ich rannte ihm hinterher. Schließlich kam ich an einen schrecklich tiefen Abgrund. Ich sah hinunter. Neben mir fiel das Wasser des Flusses in die Tiefe. Ich sah auf deinen Armen hinab und bemerkte dichte Baumkronen, Büsche. Und diese Sternenblumen.
Eine Stimme sagte etwas von einem fließenden Horizont oder so. Und dann fiel ich, genau wie das Wasser, in die endlose Tiefe.“
Während ihres Berichts zitterte sie am ganzen Körper. Jillien sah sie entsetzt an. Stürmisch presste sie das kleine, verängstigte Mädchen gegen ihre Brust und strich beruhigend mit den Händen über ihren Rücken. Lilly hätte weinen können, hätte sie es sich zugestanden. Doch sie wollte stark bleiben, und keine Jammertante wie ihre ältere Schwester sein.
Als sich die Zimmertür öffnete, zuckten beide erschrocken zusammen. Sie drehten den Kopf und sahen den verwirrten Sean. Dieser trat bedächtig dreinschauend einen Schritt vor, schloss hinter sich die Tür, ehe er die Brauen zusammenzog und die beiden musterte. Lilly merkte, wie Jillien scher schluckte. Ängstlich sah sie sie von der Seite an. Das Gesicht der Rothaarigen war versteinert und hart, als sie ihn mit einem steifen Kopfnicken aufforderte, sich neben sie auf den Rand der Matratze zusetzen. Gehorsam folgte er der Aufforderung.
Lillys Aufmerksamkeit wurde abermals auf die verstörte Jillien gelenkt, welche sie fragend anblickte. „Lilly, kannst du Sean und mich vielleicht kurz alleine lassen? Geh doch noch mal ins dein Zimmer, leg dich ins Bett und versuche zu schlafen, ja?“ Trotzig schüttelte das Kind den Kopf. „Nein! Ich will nicht schlafen! Ich bleibe hier!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust, sah zur Seite und schob schmollend die Unterlippe vor. Ein erschöpftes Seufzen Jilliens sagte ihr, dass sie sich geschlagen gab.
Ihr Blick war weiterhin abgewandt, als die Frau anfing, mit Sean zu reden. „Lilly hatte heute Nacht einen Traum … Weißt du noch, nachdem du mich draußen vor der Kirche im Arm gehalten hast und … und mich geküsst hast, da fielen wir doch in eine Art Fantasiewelt, nicht?“ Sie verstummte peinlich berührt. Neugierig schielte die Kleine zu den beiden hinüber und sah ihn nachdenklich nicken.
Sie holte tief Luft und sprach dann weiter. „Eine körperlose Stimme sagte doch Eure Liebe wird durch einen Fluch bedroht. Brecht ihr ihn nicht, so werdet ihr daran verderben. Eilet zum fließenden Horizont, seht kindlich und greift nach den Sternen …“
„… Ordnet sie neu an und lest aus ihnen.“, vollendete er ihren Satz. Jillien nickte. „Genau. Nun ja, Lilly hat anscheinend diesen Ort – den fließenden Horizont – in ihrer Traumwelt entdeckt.“ Seans Augenbrauen hoben sich verwundert. „Ehrlich? Meinst du, das war damit gemeint? Seht kindlich. Glaubst du, Lilly ist dieses Kind?“
„Ja, genau das glaube ich.“ Sean stand auf und tigerte unruhig von einer Seite des Zimmers zur anderen. „ich weiß nicht“, murmelte er. „Das ist bestimmt nur Zufall, wie unser Traum.“
Jillien klang entsetzt. „Ist das hier deiner Meinung nach auch nur ein Zufall?!“, fauchte sie und hielt die Arme mit den Zeichnungen in die Höhe. Er starrte auf die schwarten Linien. „Das … Dafür gibt es bestimmt eine simple Antwort.“
„Und die wäre?“, fragte sie zickig. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich. „Ich habe keine Ahnung, Jillien. Keine. Aber glaubst du allen Ernstes, das, was wir geträumt haben? Dass ein Fluch auf uns liegt? Dass Lilly etwas damit zu tun hat? Willst du wirklich einer Illusion folgen und einen nicht bestehenden Ort suchen, für nichts?“ Er schrie. Es war das aller erste Mal, das Lilly Sean schreien hörte. Und es war beängstigend. Sein Kopf wurde rot vor Wut. Eine breite Ader zeichnete sich stark unter der Haut an seinem Hals ab. Und seine Augen waren so weit aufgerissen, dass es schien, als würden sie gleich aus den Augenhöhlen schießen.
Furcht breitete sich in Lilly aus. Erschrocken starrte sie zu der still gewordenen Jillien. Diese sah ihn verletzt an. „Du … du glaubst nicht daran?“
„Nein“, kam die harte Antwort. „Genauso wenig, wie an dich, deine Gefühle und an uns. Ich bin für dich nur ein Spielzeug. Nicht einmal küssen willst du mich!“ Die Worte trafen Jillien mit einer gewaltigen Wucht, das spürte Lilly. Sie war entsetzt darüber, dass Sean ihr so sehr weh getan hatte.
Zaghaft hob sie die Hand und legte sie Fingerspitzen an die Wange der Frau. „Jillien …“, flüsterte sie. Der traten Tränen in die Augen und Lilly fühlte sich hilfloser denn je.
„Du meinst, ich würde dich nicht lieben?“
„Ja, das meine ich.“ Jillien schluckte schwer. Dann stand sie ohne ein weiteres Wort auf, ballte die Hände zu Fäusten und schniefte. „Gut, wenn das deine Einstellung mir gegenüber ist“, ihre Stimme zitterte, „dann sollte ich jetzt gehen. Du hast recht, ich will dich nicht küssen.“ Zufrieden nickte Sean und verschränkte die Arme vor der Brust. Erstarrte betrachtete Lilly das Szenario.
„Aber“, fuhr Jillien fort, „Aber das aus einem ganz anderen Grund, als du denkst. Ich wollte dich immer nur beschützen.“ Sie stolzierte erhobenen Hauptes an ihm vorbei. In seiner Miene spiegelte sich leichte Unsicherheit. Sie riss die Tür auf, wollte schon hinausgehen, hielt jedoch inne und blickte noch einmal über die Schulter zurück. „Ich wollte dich beschützen …“, schluchzte sie mit Tränen in der Stimme, „weil ich dich liebe. Ich habe dich immer geliebt. Seit ganzen elf Jahren. Seit damals.“ Er hob überrascht die Brauen, öffnete den Mund zu einer Frage.
Doch sie verschwand und die Tür fiel leise hinter ihr zu. Sie war fort.

Jillien rannte den Flur hinunter und zur Haustür hinaus. Erst als sie draußen, irgendwo im weißen nirgendwo, stehen blieb und zu frösteln begann, merkte sie, dass sie immer noch die kurze Shorts, das Top und die Strickjacke trug. Mit klappernden Zähnen lief sie weiter den Gehweg entlang. Sie war überglücklich, dass ihre Füße wenigstens in abgetretenen Turnschuhen steckten.
Mit gesenktem Kopf ging sie gegen den Wind und die kleinen Schneeflocken, welche auf ihrer Haut schmolzen, an. Es gab nur einen einzigen Ort, an dem sie sich jetzt blicken lassen wollte, wo niemand sie finden würde.
Als Jillien vor den geschlossenen Türen des Oleanders ankam, war ihre Kleidung vom Schnee durchnässt, ihr Haar klebte feucht an ihrem Kopf und sie zitterte schnell und unkontrolliert. Neben den Geschäftstüren war eine Steintreppe, bestehend aus fünf Stufen, welche nach unten zu einer anderen, grünen Stahltür führte. Sie trat hinab und drückte lange auf die Klingel. Dabei bemerkte sie, dass ihre Finger rot blau verfärbt waren. Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich zur Ruhe.
Die Tür wurde von einem älteren, grauhaarigen Mann geöffnet. Er musste zweimal hinsehen und seine große Brille höher auf die Nase schieben, bis er erkannte, wer vor ihm stand. Seine buschigen Augenbrauen schossen in die Höhe. „Jillien? Jillien Medici? Bist du es wirklich?“ Zähneklappernd nickte sie. Ohne ein weiteres Wort ließ ihr Exchef Mr Gimbs sie in seine Wohnung hinein.
Er fuchtelte mit seinen Armen und Händen um sie herum und ehe sie sich versah, saß sie, eingewickelt in einer – nein falsch, zwei – Wolldecken, in einem großen Ohrensessel, die Füße in kuschelig warmen Wollsocken und eine heiße Tasse Tee im Schoß.
„Danke, Mr Gimbs. Wie immer sind sie überfreundlich zu mir. Selbst nach ganzen elf Jahren.“ Sie rang sich ein Lächeln ab, welches er warmherzig erwiderte. „Aber, aber, Kleine. Du bist mein Augenstern. Natürlich bist du bei mir herzlich willkommen.“ Er zog sich einen Klavierhocker herbei und setzte sich vor sie.
Trotz seines hohen Alters sah er immer noch gut aus, war gepflegt und so liebevoll zu ihr wie eh und je. Er war es gewesen, der sie beschäftigt, sie bei sich aufgenommen und sich um sie gesorgt hatte. Und dafür dankte sie ihm jeden Tag mehr, denn nur durch ihn war sie so geworden, wie sie jetzt war. Feinfühlig, liebevoll, warmherzig. Wenn sie sich an früher erinnerte, jagte ihr jedes Mal ein eiskalter schauder über den Rücken. Als Tochter eines mächtigen, großen und herrschenden Vaters war sie unbarmherzig, hart und emotionslos gewesen. Sie war glücklich über die positive Veränderung. Doch manchmal, in bestimmten Situationen, wünschte sie sich ihre Gefühlslosigkeit zurück. Wünschte sich, einfach einen Schalter umlegen zu können und frei zu sein.
Mr Gimbs spürte ihre Anspannung und legte verstehend eine faltige Hand auf ihren Oberschenkel. „Kleine Jillien. Trauer der Vergangenheit nicht hinterher. Nur wer an die Zukunft glaubt, hält an sich fest. Das waren deine Worte. Hast du sie denn schon vergessen?“ Sie lächelte ihn charmant an. „Ja, das hatte ich. Aber wie immer weisen sie mich auf den rechten Weg.“ Er zwinkerte ihr zu. „Na dann mach ich ja alles richtig.“ Synchron lachten sie.
Glücklich schlürfte sie an ihrem Tee. Es war Kamille, ihre Lieblingssorte. Sie hätte ihr gesamtes Vermögen dafür verwettet, dass das kein Glückstreffer sondern reines Wissen von Mr Gimbs gewesen war.
Während sie sich aufgewärmt hatte, war er in den nächst besten Modeladen gelaufen, hatte ein ganzes Outfit bezahlt und es ihr als Willkommensgeschenk überreicht. So gern sie es auch dankend abgelehnt hätte; in den durchnässten, kurzen Klamotten konnte sie nicht bleiben.
Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel. Sie trug heiße schwarzpinke Spitzenunterwäsche. Darüber eine hautenge dunkelblaue Hüftjeans, welche ihre langen Beine umschmeichelte und super sexy aussehen ließ. Dazu trug sie kniehohe Lederstiefel mit zehn Zentimeter Absätzen. Ein trägerloses dunkles Bustier, vorne mit Schnüren zusammen gehalten, welches ihr gerade mal über ihre Brüste reichte und ihren straffen Bauch entblößte, passte perfekt dazu. Es war oben so knapp, dass der Spitzen-BH hervor blitzte. Ihre Locken hatte sie zu einem hohen Zopf zusammengebunden und einzelne Strähnen verspielt heraus gezupft und sich ins Gesicht fallen lassen. Mit etwas schwarzem Lidschatten, Wimperntusche und Eyeliner zauberte sie sich mysteriöse Smokey eyes. Und silberne Ohrringe mit einem grauen Steinchen eingesetzt gaben allem den letzten Schliff.
Vorwurfsvoll schnellte sie zu ihrem alten Freund herum. „Mr Gimbs. Ich sehe aus wie eine Nutte!“ Er kicherte amüsiert. „Kleine, du siehst wie eine Sexbombe aus. Pardon, wie eine unerreichbare Sexbombe.“ Ein entrüstetes Schnaufen entrang sich ihr. „Mr Gimbs … Ich kenne sie. Was muss ich tun?“, frage sie ihn gerade heraus.
Lachfältchen ließen sein Gesicht älter aussehen. „Kleine Jillien, was würdest du davon halten, in meinem Klub mal wieder für richtig Stimmung zu sorgen? Seit Jahren fragen mich viele – und ich meine wirklich sehr viele – Männer, wo meine sexy Sängerin geblieben ist. Durch dich leben die Musik und die ganzen reichen Snobs auf. Willst du mir nicht helfen, an mehr Kohle zukommen?“ Sein flehender Ton brachte sie zum Lachen. Schnell hängte er noch hinterher: „Ich bezahle dir auch die Outfits und Auftritte. Wenn du singst, bekomme ich fast das Fünffache an vermögen rein, als ohne dich. Bitte.“ Sie presste sich die Hand auf den Bauch und bekam Seitenstiche. Seine verzweifelte Miene machte es ihr nicht leichter, sich zu fangen.
Nach einiger Zeit holte sie tief Luft und grinste ihn mit Lachtränen in den Augen an. „Natürlich, Mr Gimbs. Wenn sie mich so darum bitten, wie kann ich es ihnen dann ausschlagen? Außerdem brauche ich einen Unterschlupf für die nächsten Nächte.“ Seine Mundwinkel zuckten in die Höhe. Er legte seine Hände auf ihre freien Schultern. „Gut, Kleine. Dann werde ich jetzt gleich meine Männer beauftragen, durch die Straßen Brooklyns zu laufen und überall herumzuerzählen, dass die sexy Flammengöttin wieder im Rennen ist. Ich werde mir einen neuen Anzug kaufen, schließlich ist das eine Premiere und ich werde mich zeigen lassen müssen.“ Sie schüttelte über seinen schwarzen Humor nur den Kopf.

Jillien stand hinter der Theke und sprach mit Jonathan, der seine Blicke gar nicht von ihr nehmen konnte. Der gut aussehende Barkeeper mixte Cocktails und Drinks, während er mit seinen Augen die sexy Lady vor sich gierig abtastete. Männer tummelten sich in Scharen vor der Bar um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch sie ignorierte sie und sah nur ihn an.
Er hatte etwas an sich. Etwas Magisches. Genau wie sie. Sie waren gleich, besaßen dasselbe Geheimnis. Anscheinend hatte Mr Gimbs eine Schwäche für Wesen ihrer Spezies. Sie konnte über diese Ironie nur lächeln.
„Jonathan, sag mal, wie lange arbeitest du schon für Mr Gimbs?“ Ihre Stimme hallte zu ihm hinüber, unterstrichen von rhythmischen Beats und kreischenden Tänzern. Rap- und Popmusik schallte durch den überfüllten Nachtklub. Der dunkelblonde Mann mit dem irischen Akzent und den hellblauen Augen grinste sie an. „Seit fast zehn Jahren. Eigentlich war ich hierhergekommen, weil ein Kumpel von mir von der sexy Flammengöttin geschwärmt hatte und ich dich kennenlernen wollte. Nachdem ich hier aufgekreuzt war, bat der Chef mich auch schon sofort auszuhelfen. Er versprach mir gute Bezahlung und ich sagte zu.“ Er zuckte mit den Schultern und grinste sie an.
„Die sexy Flammengöttin, ja? Mr Gimbs hat echt miese Namensideen.“ Sie erwiderte sein Grinsen.
Die Musik verstummte, die wilden Lichter flackerten, bis sie ruhig auf die Bühne gerichtet waren. Dort trat Mr Gimbs in einem maßgeschneiderten Anzug von Gucci ins Rampenlicht und tippte auf das aufgestellte Mikrofon. Die tanzende Meute hielt inne und starrte erwartungsvoll hinauf. Er räusperte sich, bevor er sprach.
„Guten Abend, meine lieben Feiernden! Habt ihr Spaß?“ Ein riesiges Getümmel sagte lauthals zu.
„Betrinkt ihr euch bis zum Geht-nicht-mehr?“ Wieder ein kreischendes Zustimmen.
„Gut! Dann hab ich jetzt eine Überraschung für euch! Die sexy Flammengöttin ist zurückgekehrt und wird uns allen so richtig einheizen. Hab ich recht?“ Jubelnde Männer gaben ihr das Zeichen.
Jillien schenkte Jonathan noch ein Augenzwinkern, welches er mit einem breiten Grinsen beantwortete. Dann schritt sie hinauf zur Bühne, die Tanzenden machten vor ihr den Weg frei und gafften sie an. Anfangs fühlte sie sich unwohl. Bis sie auf der Bühne stand, nach dem Mikrofon griff und nicht mehr anders konnte als überglücklich zulächeln.
Mit dem Wissen, dass sie mit ihrem betörenden Auftreten jedem in diesem Raum den Kopf verdrehte, konnte sie sich einfach gehen lassen. „Hey, feiernde New Yorker! Ich bin wieder da. Und nun wird hier richtig Party gemacht! Wollt ihr Scharfes?“ Kreischende Männerstimmen forderten sie auf, loszulegen.
„Wollt ihr Heißes?“ Die Menschen drängten sich nach vorne und johlten Zustimmung.
„Wollt ihr mich?“, schrie sie herausfordernd. Die Leute rasteten aus. Kichernd stemmte sie eine Hand in die Seite und schob die Hüfte verführerisch vor. „Na gut, dann werde ich euch wohl geben müssen, was ihr wollt.“ Sie verstummte und überlegte kurz, bevor sie noch hinter hängte: „Und am Ende dieser Nacht werde ich für alle sturzbetrunkenen Tänzern eine Überraschung bescheren, also bleibt da, genießt die Show und freut euch auf nachher!“ Sie warf einen schnellen Blick auf Mr Gimbs, welcher sie fragend ansah. Sie zwinkerte ihm zu und sah dann auf die Meute Männer.
Die Musik fing an zu spielen, ein schneller, heißer Beat schallte aus den Boxen und sie fing an, den Abend zu rocken mit ihrer starken Stimme. Sie sang, tanzte und flirtete. Verführte alle mit Blicken und ihrem Körper. Wie in alten Zeiten. Sexy und heiß wie früher.
Ab und zu ging sie von der Bühne, tanzte einige Männer und Frauen an und spürte sinnliche Erregung in ihrem Körper aufkochen. Diese Macht, diesen Kick hatte sie mehr vermisst als alles andere. Es war berauschend. Und sie brauchte es so sehr. Sie holte Jonathan hinter der Theke hervor und warf ihm freche Blicke zu, während sie Mr Saxobeat von Alexandra Stan sang. Ihre Finger strichen über sein silberschimmerndes Seidenhemd, glitten in seinen Kragen, über seine gebräunte Haut und fuhren anschließend seine Brust hinab bis zum Bund seiner Jeans. Sie rieb ihre Brüste erotisch an seinem Körper, ging in die Hocke und spreizte die Beine. Sie schlängelte sich wieder hinauf und blickte auf die große Beule unter der Hose Jonathans.
Das gab ihr den Rest. Jetzt war sie wieder voll in ihrem Element, wusste um ihre Verführkünste und die Erotik ihres grazilen Körpers. Ein lustvolles Prickeln kribbelte über ihre Haut und ließ sie sinnlich schnurren. Sie rieb sich weiterhin an ihm, biss frech in sein Ohrläppchen, wodurch er kurz zusammenzuckte – hätte sie nicht gewusst, dass es ihm gefiel, hätte sie wahrscheinlich aufgehört, aber so war es nicht. Zum Glück. Dann fuhr sie mit der Zunge seine Ohrmuschel entlang und küsste sie an seinem Kiefer bis zu dem Mundwinkel hin. Sie stellte sich vor ihn, griff in sein Haar, zog daran seinen Kopf in den Nacken und strich eine Spur feuchter Küsse seinen Hals hinab und wieder hinauf.
Kurz starrte sie ihm in die Augen. Er wusste sofort ihre Frage. Darf ich? Er nickte zuversichtlich und öffnete den Mund einen Spalt breit Die Zuschauer jubelten weiter. Sie kam an eine Stelle des Liedes, wo der Gesang aussetzte, und sofort reagierte sie.
Jillien presste ihre Lippen auf die seinen, küsste ihn stürmisch, voller Gier. Ihre Zungen tanzten, spielten mit einander und seine Erektion drückte genüsslich gegen ihren Bauch. Sie krallte ihre Fingernägel in seine Schultern und sprang. Sie schlang ihre langen Beine um seine Hüfte. Er fasste mit den Händen unter ihren Hintern und hielt sie fest an sich gedrängt. Sie streckte sich in die Höhe, ließ seine Lippen ihren Hals bis zum Dekolleté hinunter wandern und drückte den Rücken verführerisch durch. Die Männer grölten, beneideten den erregten Glücksjungen und feuerten sie noch mehr an, die Party ab zu rocken.
Sie gab ihnen, was sie wollten. Nach Zungenspielen Jonathans auf ihrer Haut, streckte sie die Beine elegant von sich, und setzte mit den hohen Absätzen auf dem Boden auf. Nur ungern ließ er sie gehen, doch sie trotzte ihm mit ihrem dominanten Auftreten. Sie tanzte sich durch die betrunkenen, erregten Zuschauer und kam schließlich auf der Bühne an. Sie spürte kleine Schweißtropfen auf ihrer Stirn und sang mit gewaltiger Stimme das Ende des Songs.
Tief holte sie Luft, grinste von einer Seite zur anderen und betrachtete die johlende Menge vor sich, welche ihr zu Füßen lag. Gierige Blicke verschlangen sie. Es gefiel ihr.
„Okay, Freunde. Ich brauche jetzt erst einmal ‘nen Drink. Solange müsst ihr rocken! Und dann gibt die große Überraschung!“ Über das Versprechen grinsend stolzierte sie über die Tanzflüche, wobei sie durchgehend von verschwitzten Körpern angetanzt wurde und nur durchs Mitmachen vorwärts kam. Sie kicherte, erfreut über die Auswirkungen ihrer Auftritte.
An der Bar angekommen, wartete Jonathan bereits mit einem pinken Cocktail. „Das musste sein, oder, Kleine?“ Sie grinste ihn schelmisch an. „Du bist der Einzige, der dafür geeignet war durch unser gemeinsames Geheimnis, Süßer.“ Er lachte amüsiert auf. „Du gefällst mir, Süße, du gefällst mir!“
Ihre Mundwinkel zuckten erfreut, während sie an ihrem Getränk nippte. Sie spürte die sehnlichen Blicke auf sich. Doch sie wollte es noch weiter hinauszögern, dann würden sie betrunkener, feierfreudiger und erregter sein. Innerlich rieb sie sich die Hände über ihre Vorstellung. Sie würde den Schuppen einheizen, aber so was von!
„Jillien, kommst du mal bitte kurz?“ Sie vernahm Mr Gimbs herrische Stimme. Sie schritt auf ihn zu, zwinkerte einzelnen scharfen Männern zu, fuhr sie sinnlich mit der Zunge über die Lippen, ehe sie ihre Aufmerksamkeit ihrem alten Chef widmete. Er legte einen Arm um ihre Schultern und führte si in den VIP-Bereich, zu dem nur die reichsten Stammgäste Zutritt besaßen. Und dort gab es auch genügend nette Damen die für einen Batzen Kohle einen kleinen Abstecher zur Toilette gestatteten. Sie musste sich das Lachen verkneifen, als sie die neidischen, weiblichen Blicke auf sich spürte.
Eine großbusige Frau in einer knappen Hotpants, rotem Bustier und Nuttenstiefeln beugte sich verführerisch über einen Tisch, besetzt von fünf gut angezogenen Männern. Einen von ihnen strahlte sie mit ihrem weißen Lächeln und den vollen Lippen an. Er nahm seine überfüllte Brieftasche aus der Hosentasche und zog schon einen Bündel Scheine heraus, als er Jillien sah. Sie schenkte ihm einen funkelnden Blick und es war um ihn geschehen. Er hielt mitten in der Bewegung inne und starrte sie von Kopf bis Fuß an.
Die Frau drehte sich um und riss die Augen erschrocken auf. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, warf sie ihr langes, blondgefärbtes Haar über die Schulter zurück, stolzierte auf hohen Hacken an ihnen vorbei und zischte der Rothaarigen eine Beleidigung zu. Mr Gimbs beugte sich zu Jilliens Ohr herab und flüsterte: „Das ist Britany, meine meistgefragteste Kandidatin. Mach dir nichts draus, sie ist nur beleidigt, weil du ihr die Show gestohlen hast.“
Sie grinste, als der Mann von der Ledersitzecke aufstand und auf sie beide zuging. „Wie viel wollen sie, meine Schöne? Ich bezahle alles.“ Sie lachte schallend auf, verstummte jedoch, als seine Finger in ihren Hosenbund rutschten. Sie funkelte ihn an und klatschte ihm auf die Hände. „Ich glaube, ihre Finger haben sich verirrt, mein Lieber.“ Er zuckte zurück und sah vorwurfsvoll den Chef an. Dieser zuckte nur mit den Schultern.
„Entschuldigung, Leroy, aber die Kleine ist nicht käuflich. Sie sucht sich ihre Spielzeuge aus, daran kann man nichts ändern. Aber sie lässt sich gerne verwöhnen und schenkt dann mal eine heiße Nacht.“ Ein Funkeln trat in Leroys Augen. „Sie stehen also auf Machtspielchen, was, Süße? Ich liebe es, herum geschubst zu werden. Tun sie sich bloß keinen Zwang an.“ Sie grinste ihn schief an. „Wir werden sehen, wie viel sie mir von Nutzen sein können, Herr.“
Er schüttelte noch schnell Mr Gimbs die Hand, ehe er Jillien einen sinnlichen Blick zuwarf und sich umdrehte, um zu seinen Freunden zurück zu gehen. Mit hoch gezogenen Brauen starrte sie ihm hinterher. Was für ein arrogantes Arschloch. Aber er war bestimmt ein gefügiges Spielzeug. Sie würde sich sein Angebot bestimmt noch einmal durch den Kopf gehenlassen.
Der Chef führte sie zur hintersten Sitzecke, welche im Schatten lag. Hier hatte sie vor einiger Zeit Chris getroffen. Sie verscheuchte schnell die Gedanken an ihren Kumpel, denen einige von Sean folgten. Das hier ist mein Abend und den lass ich mir nicht vermiesen!
„Jillien, du hast eine Überraschung angekündigt. Ich hoffe, durch deine Vorstellungen werde ich Profit machen?“ Sie ließ sich auf den Ledersitz gleiten und faltete die Hände zusammen. Sie blickte mit einem geheimnisvollen Lächeln auf ihre perfekt gefeilten Fingernägel hinab. „Ich verspreche dir eine wilde, erregt und betrunkene Meute. Wenn sie die Show sehen, werden sie ohne Drinks nicht mehr können.“
Der Mann hob prüfend die Augenbrauen. „Würde ich deine hinterlistige Logik nicht kennen, würde ich dich achtkantig aus meinem Laden werfen. Aber ich vertraue dir. Enttäusche mich nicht, Kleine“, warnte er sie. Sie grinste ihn an. „Wird ich nicht. Versprochen.“ Er nickte zufrieden.
„Mr Gimbs, könnte ich die Lady für einen kurzen Moment entführen?“ Die zuckersüße Stimme Leroys erklang. Er stand am Rand des Tisches und lächelte den Älteren höfflich an. Dieser stand schwerfällig auf, wandte sich jedoch vor dem Gehen noch einmal dem Gast zu und drohte mit erhobenem Finger: „Nicht käuflich, merken sie sich das! Lassen sie ihre Finger von ihr, wenn sie es nicht will.“ Verstehend und mit Respekt in den großen braunen Augen nickte er. Mr Gimbs verabschiedete sich mit einem Augenzwinkern von ihr und verschwand dann in der Menge.
Jillien stützte die Ellbogen auf den Tisch und stützte das Kinn auf ihre verschränkten, langen Finger. Ihr Gegenüber funkelte sie an. „Wissen sie eigentlich, wie schön sie sind?“ Desinteressiert sah sie weg. „Wissen sie eigentlich, wie langweilig sie sind?“, erwiderte sie knapp. Schon wollt sie aufstehen, da griff er nach ihrem Handgelenk. Herausfordernd blickte sie auf seinen stählernen Griff hinab. Ängstlich riss er seine Hand sofort wieder zurück. Sein Blick war flehend.
„Bitte, gehen sie nicht. Wollen sie nicht etwas trinken?“ Hoffnung glitzerte in seinen Rehaugen. Misstrauisch zog sie die Brauen zusammen, ließ sich jedoch wieder nieder. Sie seufzte. „Ich bin gleich noch im Dienst, da kann ich mehr Alkohol im Blut nicht vertragen. Aber sie sollten etwas runterkippen, damit sie sich ein bisschen entspannen. Leroy nickte gehorsam, rief eine sexy Kellnerin her und bestellte einen puren Wodka.
„Sagen sie, mein Herr, wie soll ich sie nennen?“ Er grinste sie an. „Ich heiße Leroy Thomson. Und mit wem habe ich das Vergnügen, sexy Flammengöttin?“ Sein Ton war neckend und sie ließ sich auf sein Spielchen ein. Sie beugte sich vor, sein Blick zuckte immer wieder von ihrem Gesicht zu ihrem Ausschnitt, welcher aus dem Bustier zu fallen drohte. Ihr Gesicht kam dem seinen ganz nah.
„Geben sie mir doch einen Namen, Leroy.“ Sie zog seinen Namen zischend in die Länge. Er wurde rot und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Es verwunderte sie, dass er so leicht einzuschüchtern war. Eilig ließ sie sich zurück ins Polster fallen und hob eine ihrer grazilen Hände.
„Sie brauchen nicht nur einen Wodka, mein Lieber. Mindestens drei Gläser, damit diese Konversation etwas interessanter wird.“ Durch das Desinteresse in ihrer Stimme erschrocken, kippte er das erste Getränk in einem Zug runter. Herausfordernd hob sie das Kinn. Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe, woraufhin er zwei weitere bestellte.
Auch diese waren in wenigen Sekunden leer getrunken. Ein erstauntes Lachen entrang sich ihrer. Sie klatschte in die Hände. „Meinen Respekt, Leroy. Das ging schnell. Wie fühlen sie sich?“ Er schluckte einmal schwer, kniff die Augen zusammen und grinste sie dann breit an. „Mir ging‘s nie besser, Zuckerschnecke.“
Jillien beugte sich erneut vor. Sie strich sich mit den langen Fingern das Dekolleté den Hals hinauf und spielte dann verführerisch mit ihrer Unterlippe. „Gut. Das ist gut.“ Sie holte mit einer Handbewegung eine Kellnerin heran. Ohne den Blick von ihm zu wenden bestellte sie ein Glas Wasser mit Eis.
Wenige Zeit später war die Bestellung da. Sie griff mit spitzen Fingern einen Eiswürfel und strich mit diesem ihren Ausschnitt entlang. Das geschmolzene Wasser rann in die Ritze zwischen ihren beiden Brüsten. Er verfolgte mir gierigen Blicken die nassen Spuren und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Wärst du käuflich, hätte ich dich schon längst zur Toilette getragen. Shit. Willst du nicht kurz einmal deinen Spaß mit mir haben?“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Nein, dafür ist auch später noch Zeit. Ich werde gleich eine kleine Show hinlegen und danach werden alle Männer hier drinnen so erregt sein, dass ich noch bis in die nächste Nacht meinen Spaß mit ihnen haben könnte. Vielleicht bist du ja einer der Glücklichen, denen ich mich hingebe …“ Sie versprach ihm etwas, von dem sie nicht wusste, ob sie es auch einhalten würde. Doch sein erregtes Knurren fachte sie nur weiter an.
Jillien stand auf und trat um den Tisch herum. Sie streckte ein Bein aus, legte es auf die andere Seite neben ihn und setzte sich rittlings auf seinen Schoß. Seine heiße Erregung presste sich flehend gegen sie. Mit den Händen strich sie ihm über die Brust und glättete die Falten. Ihr Mund legte sich auf seinen Wangenknochen und wanderte hinunter zum Mundwinkel. Er wollte sich ihr entgegen drehen, doch sie wich zurück. „Na na, ich habe hier das Sagen.“
Gehorsam ließ er den Kopf zurückfallen und blieb ruhig. Sie küsste sich seinen Hals hinunter, öffnete die obersten Knöpfe seines Hemdes und strich mit den Händen über seine Haut. Er stöhnte genießend auf.
Jillien spürte die faszinierten Blicke der anderen Gäste auf sich. Leroy war nur ein Spielzeug für Aufmerksamkeit gewesen, jetzt kam ihre wahre Überraschung. Sie stand von ihm auf, zog die Hose tiefer auf die Hüften und zupfte an dem Bustier herum.
Erschrocken hob der Mann den Kopf. „Wohin willst du?“ Sie machte eine weg werfende Geste mit der Hand. „Du bist langweilig, selbst mit Alkohol im Blut. Ich suche mir lieber ein interessanteres Spielzeug. Auf Wiedersehen, Leroy Thomson.“ Er wirkte überrascht, hinderte sie jedoch nicht am Gehen.
Jillien marschierte aus dem VIP-Bereich und zur Bar, wo Mr Gimbs einen Drink genoss. Nachdem er sie erblickt hatte, hob er fragend die Brauen. Sie nickte ernst und setzte dann ein mysteriöses Lächeln auf. Als sie an Jonathan vorbeikam, zwinkerte sie ihm zu. Er folgte mit den Augen all ihren eleganten Bewegungen. Dem DJ gab sie Musikwünsche auf, welche auch sofort abgespielt wurde.
Sie stellte sich auf die Bühne und hatte die Aufmerksamkeit aller. Helfer trugen das Mikrofon beiseite und stellten dafür einen Stuhl in die Mitte. Sie rief einen der Jungs zu sich, drückte ihn auf den Sitz des Stuhls und funkelte ihn an.
„Okay, Freunde. Ich versprach euch eine Überraschung. Hier ist sie. Genießt die Show!“ Die Musik ging an, heiße Beats lockten heiße Tänze. Jillien ging auf den hohen Absätzen um den armen Knaben herum und verführte ihn mit schmetterlingsleichten Liebkosungen. Sie flüsterte sinnliche Versprechen in seine Ohren, biss ihm ins Ohrläppchen und tanzte für ihn. Als sie sich schließlich über ihn stellte, ihn zwischen den Beinen, und sich setzte, war die Menge außer Kontrolle. Sie feuerten sie an, grölten und jubelten, klatschten und sangen.
Der Junge starrte unverhohlen auf ihre prallen Brüste. Sie neckte ihn, drückte den Rücken durch und drängte sie ihm entgegen. „Willst du sie nicht aus den Zwängen befreien?“ Erstaunt sah er zu ihr hinauf. Sie nickte ihm zu und er ließ sich nicht zweimal bitten.
Seine zitternden Finger fummelten an den Bändern vorne herum. Als er sie endlich entknotet hatte, seufzte er erleichtert. Dann strich er mit den Fingerspitzen unter den dunklen Stoff und holte stockend Luft, als er ihre Haut berührte Er streifte ihr das Bustier von den Schultern und leckte sich über die Lippen mit der Zunge, als er den pink schwarzen Spitzen-BH erblickte. „Der Teufel soll mich holen, du bist eine Sexgöttin, unbestreitbar.“ Die Männer schrien, kreischten und jubelten. Neidische Rufe erklangen und sinnliches Stöhnen drang an ihr Gehör. Doch ihre Aufmerksamkeit galt allein dem hübschen Jungen.
„Willst du mehr, Kleiner?“ Er schluckte schwer und nickte steif, war sprachlos. Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Dann hol es dir.“ Er zeichnete mit zitternden Händen zaghaft die Umrisse der Spitze nach und hielt fasziniert die Luft an. Ein Körper war angespannt und sein Blick glasig vor Erregung. Das Pochen seines Schoßes war ein angenehmer Rhythmus zur Musik.
Jillien spürte, wie der BH hinten ausgehackt wurde. Die Schar von Zuschauern holte zischend Luft, Stille trat ein. Noch ein unsicherer Blick des Jungen. Ein knappes Nicken Jilliens. Und der Stoff fiel.
Der Junge konnte seine Augen nicht abwenden. Die Meute forderte sie auf, sich ihnen zu präsentieren, doch sie widmete sich allein ihm. „Gefällt dir, was du siehst?“ Er nickte eifrig. „Du bist ein Engel, ein Geschenk Gottes. Anders kann ich mir das nicht erklären.“
„Glaube, was du willst.“ Sie drückte den Rücken durch und seinem Mund ihre Brüste verführerisch entgegen. Seine Lippen teilten sich, näherten sich ihren steifen Nippeln. Jillien lachte genussvoll auf, bei der Vorfreude, die sie und ihre kleines Spielzeug verspürten. Das hier würde eine wunderbare Nacht werden.
Heiß und lecker.

Sean lag unruhig in dem Bett. Er wälzte sich von einer Seite zur anderen, versucht, ihren verheißungsvollen Duft zu ignorieren. Doch er konnte nicht. Es war, als wäre sie überall. Über ihm, neben ihm, in ihm. Und doch wurde sein Herz von einer unerbittlichen Leere gequält. Er raufte sich die Haare und starrte zur Decke auf.
Wenn er nicht so besessen von ihr gewesen wäre, hätte er sich unter Kontrolle halten können.
Wenn er sie nicht vergöttern würde, wäre sie ihm jetzt egal.
Wenn er sie nicht lieben würde, würde er sie jetzt vergessen.
Wenn das Wörtchen Wenn nicht wäre. Sean kniff schmerzverzehrt die Augen zusammen. Er hatte einen Fehler gemacht. Das hatte er in dem Moment gemerkt, wo sie aufgestanden war, ihn aus Tränen heraus ansehen und ihn nicht angeschrien sondern geflüstert hatte. Wäre er nur ihr Spielzeug gewesen, hätte sie ihn in seine Schranken gewiesen, dominant und herrisch. Aber sie war verletzt und unsicher gewesen.
Sean dachte an den vorwurfsvollen Ausdruck in Lillys Augen. Die Kleine hatte mit einem Schnauben die Arme vor der Brust verschränkt, war aufgestanden und mit erhobenem Kinn ohne ein weiteres Wort hinaus stolziert. In dem Augenblick glich sie ihrer Mutter Penelope mehr denn je. Es war erschreckend gewesen.
Wie schon den gestrigen Tag und die heutige Nacht lag er wach da und zerbrach sich den Kopf darüber, wo Jillien sein könnte. Chris und Jake hatte er schon mindestens je fünf Mal angerufen, doch keiner der beiden wusste etwas über ihren Standort.
Jemand klopfte an die Tür. Entnervt über die Störung zog er das Kissen unter seinem Kopf hervor und drückte es hart auf sein Gesicht. Er wollte jetzt niemanden sehen. Nur Jillien.
Abermals ein Klopfen, nicht mehr höfflich wie zu vor sondern drängend. In den Bezug schrie er etwas wie ein Herein, woraufhin sich die Zimmertür zaghaft öffnete. Eilige Schritte, schwer und laut. Innerlich zog sich Seans Magen schon zusammen. Es gab nur eine Person, die so gehetzt ging, was in seinem Job auch vorteilhaft war.
„Referty, steh auf! Sofort!“ Chris Stimme hallte durch den gesamten Raum und ließ seinen Kumpel zusammenzucken. Diesen Ton setzte er nur auf, wenn die Lage außer Kontrolle geriet.
Schweren Gemüts richtete sich der Angesprochene auf und blinzelte den Uniformierten erschöpft und trotzig an. „Was willst du, Chris?“ Dieser riss ihm das Kissen aus der Hand und warf es quer durch den Raum gegen die Kommode, welche daraufhin gefährlich wackelte.
„Du baust immer Scheiße, Alter! Kannst du dich nicht einmal zusammenreißen?!“ Genervt drehte Sean ihm den Rücken zu und schob die Decke beiseite. Da saß er, in den dunklen Boxershorts, die Jillien so gefallen hatten. Die Beine über den Rand der Matratze geschwungen, die Hände im Nacken ineinander verschränkt, Ellbogen auf den Knien abgestützt und den Kopf hängend, gab er das Bild eines armseligen Vollidioten ab.
Ein entrüstetes Seufzen erklang aus Seans Mund. Er presste sich die Handflächen gegen die Schläfen um versuchsweise die Migräne zu unterdrücken. „Scheiße!“ Er sprang auf, trat mit voller Wucht gegen das massive Bettgestell, lief im Zimmer herum, schlug mit den Fäusten gegen die Wände und hätte um ein Haar die Gardinen heruntergerissen.
Vor dem geöffneten Fenster blieb er stehen, stützte sich auf der Fensterbank ab und sah in die Ferne. Alarmiert vom Lärm, stürmte Toby plötzlich rein. Er setzte zu einer gehetzten Frage an, doch Chris‘ schneidende Stimme unterbrach seinen Ausruf des Entsetzens.
„Sean, sei einmal ehrlich. Zu uns, aber auch zu dir. Was ist los?“ Sean kniff die Augen zusammen und seine Miene war schmerzverzehrt. Er holte zitternd Luft. „Ich liebe sie.“
Zwei Freunde, entsetztes Schweigen, ein tobender Sturm im Herzen und Unsicherheit in der Luft. Schließlich brach Tobias die Stille mit seinen leisen Fipsen. „Sean, ist das dein Ernst? Ich meine … noch nie hast du dich verliebt und jetzt ist es so stark?“ Er schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter.
„Mehr. Es ist viel mehr als Liebe. Ich bete sie an, vergötter sie. Ich kann an nichts anderes denken, als an ihr Lächeln und das faszinierende Funkeln in ihren grauen Augen …“ Tränen stiegen in seiner Stimme auf.
„Shit“, erklang Chris‘ Antwort auf Seans Leiden. Er ging zu seinem Kumpel und legte eine schwere Hand auf dessen Schulter. Toby gesellte sich auf seine andere Seite und so standen die drei Männer da und grübelten über die Zukunft.
„Du solltest zu ihr gehen.“ Das kam von Chris und Toby wie aus einem Mund. Sean warf die Arme in die Luft und drehte sich um. „Ich kann nicht. Sie hasst mich.“
„Du hast nur Schiss“, warf Chris ihm vor. Wütend ballte er seine Hände zu Fäusten und fuhr herum. „Ja, ich habe Schiss! Tut mir leid, aber auch ich habe meine Grenzen! Ich kann nicht zu ihr gehen. Ich werde mich nicht vor ihr auf den Boden werfen und auf Knien betteln, dass sie mich zurücknimmt. Niemals!“ Sean holte stockend Luft und versuchte seinen Zorn zu bändigen.
Hilfloses Schweigen. Die Brauen gehoben sah er seine Freunde fragend an, welche ihn mit studierenden Blicken von Kopf bis Fuß musterten.
Dann sprach Tobias in den Raum hinein: „Ich werde einfach nicht schlau aus dir, Sean. Einerseits sagst du, dass du sie abgöttisch liebst, andererseits willst du sie aber nicht mit allen Mitteln zurückgewinnen.“ Der Angesprochene legte sich die Hände auf die Augen und dachte einen Moment nach, wie viel er seinen Kumpels anvertrauen konnte.
Chris spürte natürlich seine Unsicherheit. „Sean“, murmelte er misstrauisch. „Was verschweigst du uns?“ Er seufzte aufgebend. „Das weiß ich selber nicht. Sie hat Geheimnisse. Große Geheimnisse. Und ich komme nicht dahinter und sagen will sie sie mir auch nicht. Wie soll ich dann mit ihr zusammen sein, wenn sie mir nicht vertraut?“
„Das ist dein Problem?“ Tobias klang geschockt. Er trat vor Sean und boxte ihm einmal gegen die Schulter. „Du spinnst, Alter!“
„Was?“ Er wusste nicht, was jetzt hier gespielt wurde, er verstand es nicht. Auch Chris stellte sich breitbeinig und die Arme vor der Brust verschränkt vor ihm. „Du idiotischer Hurensohn. Ey, komm! Geheimnisse! Pah! Jeder hat Geheimnisse. Du sagst ihr doch auch nicht alles, oder?“
Sean trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, als ihm klar wurde, was sie meinten. „Ja, aber meine sind nicht von Bedeutung!“, versuchte er sich zu verteidigen. Chris‘ linke Augenraue schoss spöttisch in die Höhe und Toby kommentierte: „Wenn du sie nicht erzählst, haben sie sehr wohl Bedeutung, zumindest für dich.“
„Junge, du liebst diese Braut. Ich kenne dich jetzt schon seit dem Sandkasten und noch nie – nicht einmal ansatzweise – warst du so verrückt nach einer Frau. Du liebst sie schon seit deinem fünfzehnten Geburtstag, und hast sie die ganze Zeit über nicht vergessen können!“ Das warf Sean aus der Bahn. Chris hatte seine Jugend und seine größte Schwäche angesprochen. Tobias sah verwirrt aus und Chris todernst.
„Sean, wenn du nicht augenblicklich deinen Allerwertesten aus dieser Bude raus schaffst und die Stadt nach ihr absuchst, schlag ich dich windelweich!“ Das saß. Sean kannte seinen besten Freund so gut, um zu wissen, dass das sein voller Ernst war.
Gehorsam senkte er die Schultern und trottete zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal mit einem Grinsen um. Der Stimmungswechsel kam so plötzlich, dass alle drei Männer überrascht waren. „Danke, Jungs. Was würde ich nur tun, wenn ihr mir nicht immer drohen würdet?“
„Alleine abkratzen“, erwiderte Chris ironisch. Doch alle wussten, dass in diesen beiden Worten mehr Wahrheit steckte, als gut war.
Sean setzte ein gequältes Lächeln auf. „Stimmt.“
„Hol sie dir, Kleiner!“, rief Toby ihm noch hinterher, als die Tür zufiel und Sean den Flur hinab eilte.

Jillien wachte in dem kleinen Gästebett Mr Gimbs‘ auf. Sie trug die gewaschenen Sachen, mit denen sie her gekommen war. Müde rieb sie sich die Augen und starrte auf den Wecker auf dem Nachttischchen. Es war neun Uhr siebzehn. Sie setzte sich auf, wodurch die Decke bis auf ihre Hüfte hinab rutschte, und fuhr sich erschöpft von vorne mit der Hand durchs zerzauste Haar.
Bevor sie sich noch einmal überreden konnte weiter zu schlafen, stand sie auf und tapste über die knarrenden Holzdielen.
Die Wohnung war so klein und gemütlich, wie Jillien sie in Erinnerung hatte. Die Küche war mit dem Wohnzimmer in einem Raum, nur durch einen langen Schrank in der Hälfte geteilt.
Am Mahagonitisch saß Mr Gimbs in einem kobaltblauen Morgenmantel. Sein graues Haar stand ungekämmt vom Kopf ab. Er hob eine Tasse an die Lippen an und nickte ihr zur Begrüßung zu.
Jillien zog die Jacke vorne enger um ihren Körper zusammen und verschränkte dabei die Unterarme vor dem Bauch. Von der gestrigen Gelassenheit war nun nicht mehr viel übrig. Als sie sich auf einem Stuhl ihrem Freund gegenüber niederließ, schob dieser ihr eine Schüssel mit Quark, Apfel-, Orangen- und Bananenstückchen. Dazu bekam sie ein Glas Orangensaft, welches in gierigen Schlucken ihre trockene Kehle hinunterfloss.
Ein väterliches Lächeln lag in den Mundwinkeln des Mannes. „Das Gestern, meine Kleine, war ganz schön tief gegriffen. Hast du irgendetwas zu deiner Verteidigung zu sagen?“ Sie vernahm die Ironie in seinem Ton, wurde aber dennoch rot.
„Ich wollte den Leuten einfach nur ein bisschen Spaß bereiten und dir Geld einbringen …“
„Spaß hatten die nicht nur ein bisschen und die Kasse war gerappelt voll. Und ich glaube, dass mein Barmann Jonathan dich erst einmal nicht vergessen wird.“ Jillien starrte peinlich berührt auf ihren Obstquark.
Mr Gimbs lachte herzhaft auf. „Jillien, meine kleine Jillien! Du hast dich kein Stück geändert. Erst alle verrückt machen und sich dann dafür schämen.“ Er wackelte gespielt kritisierend den Zeigefinger vor ihrem Gesicht hin und her. Sie kicherte leicht amüsiert und aß dann ihr Frühstück zu Ende.



Unzertrennliches




Zwei Wochen später

Jilliens Stil die Feiernden verrückt zumachen hatte sich ein bisschen eingeschränkt. Sie sang jetzt hauptsächlich nur noch und tanzte vielleicht in einer Nacht einen, höchstens zwei Männer an.
Nun stand sie in einer dunklen Jeanshotpants da, trug die kniehohen Lederstiefel und ein Shirt, welches ihre Brüste umspannte, in einem dünnen Träger sich um ihren Hals wickelte und gerade bis zur Hälfte ihres Bauches ging. Das kleine Tatto rund um ihren Bauchnabel lenkte die Aufmerksamkeit auf diesen straffen und glatten Bereich ihres Körpers.
Gästescharen sammelten sich vor der Bühne und bestaunten sie. Einige Gesichter kannte Jillien nun, andere waren neu. Und sie sah Jonathan, welcher trotz der vergangenen Wochen immer noch von ihr gebannt zu sein schien.
Nach dem Song bahnte sie sich einen Weg zur Theke und legte ihren Kopf schief, während sie zusah, wie Jonathan die verschiedenen Cocktails mixte. Er bemerkte ihren Blick und hob fragend eine blonde Augenbraue. Sein platinblondes, glattes Haar schimmerte durch die vielen Farben und schien das Licht in sich aufzusaugen. Seine grünen Augen sprühten Funken und seine strahlend weißen Zähne glänzten zwischen seinen fein geschwungenen Lippen.
Sie errötete, was man bei diesem Licht zum Glück nicht sah. Und es war auch ein Wunder, dass ihre Stimme ihre Unsicherheit nicht verriet. „Weißt du, dass du eigentlich richtig süß bist?“
Jonathan lachte auf und zeigte dabei kleine Lachfältchen unter den Augen. Als er sich gefangen hatte, murmelte er: „Das ist doch mal ein Kompliment. Die heißeste Lady der Stadt findet mich süß.“
„Bilde dir bloß nichts darauf ein.“ Er sah sie aus großen Augen an. „Warum, bist du etwa schon vergeben? Habe ich irgendeinen Verlobungsring übersehen?“ Er suchte tatsächlich ihre Finger ab. Sie hob grinsend die Hände und erhielt ein erleichtertes Seufzen. „Oh gut, es wäre mir nämlich richtig peinlich gewesen, eine verlobte Frau anzuflirten.“
Ihr herzhaftes Lachen hallte in ihren Ohren nach. Sein gequälter Gesichtsausdruck war es niedlich. Sie streichelte seine Wange und zuckte mit den Mundwinkeln amüsiert. Trotz der Freude übersah sie natürlich nicht das Funkeln in seinen Augen. Und schlagartig wurde ihr bewusst, dass er sich Hoffnungen machte und sie keine gute Hilfe abgab. Zögerlich senkte sie die Hand und drehte sich halb weg, stürzte verzweifelt den Drink herunter. Sie mochte Jonathan. Aber da war nur Freundschaft. Mehr konnte sie nicht gebrauchen. Noch nicht. Vielleicht ja irgendwann mal.
Jillien sah zur Tür, durch die mehrere Menschen verschwanden. Nach einem schnellen Blick auf die Armbanduhr verstand sie auch, warum. Es war fünf Uhr dreiundvierzig.
Nachdem der Klub um sechs vollkommen leer gefegt war, half Jillien Mr Gimbs und Jonathan noch aufzuräumen. Schließlich seufzte sie erschöpft, griff nach ihrer Handtasche und der Lederjacke, als der Chef sie zu sich rief. „Jillien, ich muss noch ein paar Geschäfte regeln und werde bis heute Nachmittag nicht nach Hause kommen. Schaffst du das alleine?“ Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte.
„Mr Gimbs, ich bin kein Kleinkind mehr. Ich kann schon ganz alleine zu Hause bleiben.“ Ihr Ton sprießte vor Ironie. Jonathan hatte mit gespitzten Ohren zugehört und legte nun seinen Arm um ihre Schultern. „Nun, Chef, wenn sie möchten, kann ich ja mitkommen und auf ihre Kleine aufpassen.“ Sie boxte ihm freundschaftlich in den Bauch, die Unsicherheit von vorhin war verflogen.
Der Alte hob spöttisch grinsend die Brauen. Jonathan legte den Kopf auf die Seite und streckte neckisch die Zunge raus. Jillien ging sofort drauf ein und machte es ihm nach.
Der Chef kichert über die Szene und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Macht, was ihr wollt. Lass aber bitte meine Wohnung heil.“ Jillien schüttelte lachend über Jonathans Miene den Kopf. „Idiot“, murmelte sie. Er zeigte einfach nur ein fröhliches Grinsen und zog sie mit sich. Erst stolperte sie bei über ihre eigenen Füße, weshalb er auch seinen anderen Arm nahm um sie festzuhalten. Zu zweit verließen sie den Klub und traten die Steinstufen zur Wohnung hinab.
Nachdem Jillien den Schlüssel gezückt, das Schloss geöffnet hatte und eingetreten war, warf er auch schon seine Jacke an den Hacken und spazierte pfeifend ins Wohnzimmer. Er ließ sich auf die Couch plumpsen und klopfte auf den Platz neben sich.
Jillien zog die Jacke aus, legte die Handtasche auf den Küchentisch und folgte dann seiner Aufforderung. Er legte den muskulösen Arm auf die Lehne hinter ihrem Kopf und musterte sie von der Seite. Es herrschte ein unangenehmes Schweigen, bis er näher an sie heran rutschte und sie schief angrinste.
Jillien errötete bei seiner Nähe, weswegen sie sich eine Decke griff und so viel nackte Haut verbarg, wie möglich.
„Kann ich auch mit drunter?“ Sie schüttelte den Kopf und zeigte auf die zweite. „Du kannst die da nehmen.“ Jonathan verzog gequält das Gesicht. Das war unhöflich gewesen.
Sofort legte sie eine zierliche Hand auf seinen Oberschenkel, woraufhin sein Kopf sofort herum schnellte. Sie versuchte aufmunternd zu lächeln. „Tut mir leid, aber … ich sehe dich mehr so als Freund, weißt du?“ Er wirkte überrascht, fasste sich aber gleich wieder.
Verstehend nickte er. „Klar, versteh ich. Kein Ding. Aber falls du mal jemanden brauchst, ich meine, nicht zum Sprechen sondern zur … Ablenkung … dann bin ich für dich da.“ Sie konnte das Kichern nicht mehr unterdrücken und sah ihn mit großen Augen an. „Werde ich mir merken“, versprach sie.
Jillien musterte erschöpft Jonathan von der Seite. Seine glatten platinblonden Haare lagen wie ein Helm an seinem Kopf an. Er besaß schöne Gesichtszüge, maskulin und hart. Er sah aus wie eines dieser Unterwäschemodels, die immer mit ihrem Körper prahlten.
Als er ihren Blick bemerkte, drehte er ihr ein Grinsen zu. Eine Augenbraue wurde nachdenklich hochgezogen. „Ich versteh dich nicht, weißt du. Einerseits starrst du mich wie ein neues Weltwunder an, andererseits weist du mich bei jeder nur erdenklichen Möglichkeit von dir.“ Sie lachte, peinlich berührt von der ironischen Wahrheit. Eilig strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und zuckte mit den Schultern. „Es ist komisch, einem anderen zu begegnen, das ist alles.“
„Du meinst einem anderen Klintara?“ Sein Ton klang ungewöhnlich ernst. Jillien schluckte und nickte mit gesenktem Blick.
Jonathans Gewicht bewegte sich und ließ das Sofapolster knarren. Er rutschte näher an sich heran und berührte ganz leicht mit den Fingerspitzen ihre Wange. „Warum? Was macht es so schlimm für dich?“ Seine Stimme war seidenweich und aufrichtig.
Sie schloss die Lider und presste die Lippen zu einem schmalen Stich zusammen. Unwissend schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich meine … Ich verurteile mich für das, was ich tue, für das Unheil, das ich anrichte. Ich hasse es, Menschen zu verletzen. Ich verabscheue mich dafür, dass ich unkontrolliert Morde. Und doch kann ich, oder meine Verzweiflung, oder mein Hasse nichts an alle dem ändern.“
Schweige. Sie vernahm kein anderes Geräusch außer ihrer schweren Atmung.
Dann beugte Jonathan sich plötzlich vor und strich ihr eine widerspenstige Strähne hinters Ohr. Mit ihrem verzweifelten Blick sah sie zaghaft zu ihm auf. Und er schenkte ihr ein verstehendes Lächeln.
„Jillien, was verschreckt dich? Warum fürchtest du dich so sehr vor dir selbst?“ Sie blickte verängstigt zur Seite. „Das ist kompliziert …“
„Erzähl es mir, ich verstehe es bestimmt.“ Er sah sie aufmunternd an. Sie seufzte schwer, als sie sich ein Herz fasste und den Mund zum Sprechen öffnete.
„Ich war zweiundzwanzig, als ich das erste Mal einen Mann tötete. Es war meine damalige heimliche Affäre gewesen. Meine Mutter hätte mich eingesperrt und mein Vater mich verprügelt, hätte sie erfahren, dass ich unverheiratet mit einem Mann schlief. Aber ich hatte ihn geliebt. Für ihn hätte ich jeden belogen und betrogen.
Damals geschah alles sehr schnell, ich war unvorbereitet und ahnungslos. Als ich mich endlich traute, meiner Mutter von dem Vorfall zu berichten, strafte sie mich für meine Schandtat, dass ich ihn umgebracht hatte, störte sie nicht im Mindesten, nur meine Schande.
Dann wurde ich ihr egal. Nach der Ermordung meines Vaters gab es für sie nicht einmal mehr Zorn mir gegenüber. Für sie galt einfach nur ihn zu rächen.“ Sie unterdrückte ein Schluchzen.
Jonathan verharrte reglos in seiner Position und schaute sie aufmerksam an. Sie seufzte zitternd und fuhr schweren Herzens fort.
„Damals wusste ich nicht viel. Meine Mutter sagte immer etwas von Tod und Leben, Bediensteten und Herrschern, den Schwachen und den Starken. Sie reiste viel, ließ mich allein, in der Obhut unserer Gefolgsleute. Dabei war sie nur auf der Suche nach Vaters Mörder.
Einst brachte mir einer meiner Untertanen einen Brief. Er kam von ihr. Darin schrieb sie, sie würde bald Rache für ihn ausüben. Sie sprach von Stärke, wirkte in meinen Augen damals als herzlos. Welche Mutter ließ für ihren verstorbenen Mann ihre eigene Tochter alleine ihn einer Stadt, geprägt von Kriegen und umzingelt von Feinden, zurück?
Doch in den letzten Zeilen spiegelte sich ihre zerbrochene Seele wider. An einigen Stellen war das Papiergewellt und Tinte verschmiert, durchnässt von ihren Tränen. Dort stand, wie sehr sie mich liebe, wie leid ihr alles Vergangene täte und das alles einfacher werden würde, sie hätte es auch geschafft.
Anfangs hatte ich gedacht, sie bezöge das auf den Tod meines Vaters und ihr Verschwinden. Doch später verstand ich den eigentlichen Sinn. Sie sprach von der Verwandlung, den neuen Lebensstil, von der trostlosen Unendlichkeit.
Ich weinte, als ich das las.“
Sie konnte nicht mehr. Alle ihre unterdrückten Emotionen kamen in Jillien hoch und übermannten sie. Die Tränen rannen über ihre geröteten und heißen Wangen.
Jonathan wischte jede einzelne mit dem Daumen beiseite. „Sie kam nie zurück.“ Er stellte es eher fest, als das er fragte. Sie nickte, war nicht mehr in der Lage zum Sprechen.
Die erbarmungslosen Schluchzer bebten durch ihren Körper und brannten sich ihre Kehle hinauf.
Jonathan beugte sich noch weiter vor, schloss die Arme schützend um sie und hielt sie fest. Sie schmiegte sich Hilfe suchend an ihn, nässte mit den Tränen sein Hemd und barg ihren Kopf an seinem Hals. Seine Hände strichen beruhigend über ihren Rücken.
Ihr wurde klar, er wusste, dass sie nicht allein sein wollte. Dass sie das brauchte.
Dass sie ihn brauchte.

Jonathan stützte sein Kinn auf ihren Scheitel. Schmerzlich verzog er das Gesicht. Er wusste genau, wie Jillien sich damals gefühlt hatte, wie sehr ihr alles weh tat. Seine Augen brannten bedrohlich und rasch blinzelte er die aufsteigenden Tränen weg.
Jillien regte sich in seinen Armen. Ihr Kopf hob sich und sie sah ihm tief in die Augen. Ihr verschwommenes Taubengrau funkelte ihn an und ein liebevolles Lächeln trat auf ihr Gesicht.
„Danke.“ Sie hob eine feine Hand und streichelte seine Wange. Er hob fragend eine Augenbraue. „Wofür?“
„Dafür, dass du mir zugehört hast. Ich präsentiere selten mein Innerstes vor anderen.“ Er lächelte sie aufmunternd an, sie lächelte zurück. „Ich kenne dieses Gefühl von Einsamkeit und Verzweiflung. Natürlich habe ich dir zugehört, du hast mich gebraucht.“ Jillien nickte noch einmal, und barg dann abermals ihr Gesicht an seiner Schulter.
Eine beruhigende Stille herrschte im Raum, und Jonathan hätte um ein Haar nachgesehen, ob Jillien in seinen Armen eingeschlafen war. Doch dann brach ihre zierliche Stimme, gesprochen in sein Hemd, das Schweigen. „Ich halte das nicht mehr aus, weißt du?“
„Was meinst du?“, hauchte er in ihre Lockenpracht. Sie erhob ihr Haupt und blinzelte ihn durch Tränen an. „Ich wandle jetzt schon seit vierzehnhundertdreiunddreißig auf diesem Planeten. Ich habe in diesen Jahren viel, wirklich sehr viel durchgemacht. Aber keiner dieser Schmerzen war so schrecklich, wie mein jetziger.“ Verständnislos sah er auf sie hinab.
„Ich … ich habe mich in einen Mann verliebt. Er war so wunderbar zu mir und ich“, sie schniefte, „Ich habe alles ruiniert.“ Die Schluchzer krochen sich durch ihren Körper. Er lehnte sich ins Polster zurück und musterte ihr verzehrtes Gesicht. „Was ist denn passiert, Süße?“
„Ich bin passiert.“ Stumm forderte er sie mit Blicken auf, das genauer zu erläutern.
„Dieser Mann heißt Sean. Ich bin in ihn schrecklich verliebt. Und er erwidert meine Gefühle. Doch trotz seiner großen Selbstbeherrschung hat er die Geduld verloren. Er wollte wissen, warum ich ihn jedes Mal … heiß mache, und dann abweise. Und dann hat er mich zur Hölle geschickt.“
Jonathan zog scharf die Luft ein. „Und du liebst in?“ Sprachlos und das Wimmern unterdrückend, nickte sie. Er sah hin und her, rasend nach einer Lösung suchend, ehe er eine Hand an ihre Wange legte und sie zwang, ihm in die Augen zusehen.
„Du liebst ihn“, stellte er abermals fest. „Hast du schon einmal in Erwägung gezogen, ihm von deinem Geheimnis zu erzählen, Kleine?“ Irritiert zog sie die Brauen zusammen. „Bist du völlig vom Planeten Erde abgehoben?! Ich kann ihm doch nicht von …“, eilig suchte sie nach einer Umschreibung. „dem hier erzählen!“ Er hielt streng ihren Blick gefangen.
„Jillien, wenn deine Gefühle für ihn wirklich, wirklich aufrichtig sind, und er sie erwidert, dann musst du es ihm sagen. Das bist du diesem Mann schuldig.“ Sein Ton war schneidend. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an.
Dann stotterte sie: „Das … das kann ich nicht.“
„Doch, du musst! Jillien, dieser Mann liebt dich. Und er ist verletzt. Ich würde mich genauso fühlen.“ Sie erkannte den Schmerz in seinen Augen und wurde nachdenklich, bevor sie fragte: „Du wurdest auch verletzt, nicht?“ Stumm nickte er. Sein Blick huschte ausweichend durch den Raum.
Stur legte Jillien ihre langen Finger um sein Kinn und zwang ihn, sie anzusehen. Sie blickte ihm in die Augen und murmelte etwas.
„Wer war es?“
„Ihr Name war Sahar. Sie war eine arabische Prinzessin im Jahre achtzehnhundertsechsunddreißig. Ihr Haar war tiefschwarz, ihre Augen dunkelbraun und ich Lächeln einfach sagenhaft. Ich kam zwar aus einem anderen Land, diente dann jedoch als Botschafter und wurde später zu einem guten Freund ihres Vaters. Mit ihren damaligen sechzehn Jahren war Sahar aber leider noch viel zu jung und kindlich für mich.
Doch mit der Zeit reifte sie zu einer wunderschönen, jungen Frau heran. Sahar zog mich weiter in ihren Bann. Ich lernte sie noch besser kennen und verliebte mich. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag feierte der König den großen Tag seiner jüngsten Tochter mit dem ganzen Volk.
Sie trug ein hinreißendes tiefdunkelviolettes Kleid mit Goldverzierungen. Ihr mysteriöses Gesicht war hinter Schleiern verborgen und nur ihre funkelnden Augen waren scharf zuerkennen. Ihre samtige Lockenpracht war ordentlich hochgesteckt und der teure Juwelenschmuck perfekt zur Kleidung abgestimmt. Sie verführte mich mit Blicken und fließenden Tanzbewegungen. Die Musik spielte im Hintergrund und die Gäste schienen mir mehr eine Barriere als Freude zu sein. Doch ich kam nie näher als mit dem Geist an sie heran. Ihr Vater ging nicht von ihrer Seite, führte lieber seine märchenhaft schöne Tochter all den hohen Gefolgsleuten vor.
Am Ende des Festes war die Sicht des Königs vom Wein getrübt und die Müdigkeit vom guten Essen eingetreten. Ich lag in meinem Bett, starrte an die bemalte Decke und dachte an sie. Genau in dem Moment klopfte es. Ich ging zur Tür, öffnete sie höfflich …
Und da stand sie, nur bekleidet mit einem Stück Seide. Meine Blicke tasteten ihren geschmeidigen Körper von oben bis unten ab. Sie lockte mich mit ihrem strahlenden Lächeln. Sahar trat an mir vorbei in mein Gemach und ans riesige Fenster. Sie blickte mit einer tiefen Sehnsucht in die Wüste und die sternenüberflutete Nacht hinaus. Anzüglich stellte ich mich hinter sie.“ Jonathan lachte amüsiert. Jilliens Blicke forderten ihn auf, weiter zusprechen.
„Natürlich hatte die Prinzessin meine Nähe, wie auch mein Zögern bemerkt. Doch das hielt sie nicht auf. Mit ihrem verführerischen Lächeln drehte sie sich um und legte ihre Hand an meine Wange. Im Mondschein stellte sie sich auf die Zehnspitzen.“ Er hielt kurz inne und fügte schnell hinzu: „Du musst wissen, damals war meine Verwandlung noch nicht vollzogen.“ Verstehend nickte sie.
„Wo war ich … Ach ja! Also, sie küsste mich und naja … sagen wir, die Nacht war unbeschreiblich.“ Jillien grinste ihn wissend an und hob spöttisch eine Braue. Er winkte kichernd ab. „Jaja, ich war eine ahnungslose Jungfrau. Dafür war das erste Mal mit ihrer Schönheit umso magischer.“ Sie schüttelte lachend den Kopf.
„Und was passierte dann?“ Traurig dachte er an das Spätere zurück und senkte den Blick.
„Wir hielten unsere Beziehung natürlich geheim. Hätte der König etwas davon erfahren, ich wäre erdolcht worden. Auf der Stelle.
Doch eines Abends, ich war betrunken und die Prinzessin auf einer langen Reise, verführte mich die Küchenhilfe. Ich bin nicht stolz auf das Geschehene und meine Schande. Und noch weniger auf die Folgen. Denn damals war sie mein aller erstes Opfer.“ Jilliens Miene hatte sich verändert. Nun waren ihre Augen erfüllt von Mitleid, doch er winkte träge ab. „Das ist Vergangenes, ich kann es nicht mehr ändern.
Leider folgten der Köchin noch zwei weitere Frauen. Als Sahar dann widerkehrte, wusste ich mir nicht zu helfen. Natürlich hatte ich sie vermisst, doch hätte ich ihr dasselbe schreckliche Schicksal wie den anderen bieten sollen? Nein. Also wies ich sie ab, ließ sie nicht zu nah an mich heran.
Eines Abends klopfte sie dann wieder an meine Tür. Ihr wunderschönes Gesicht war verzehrt von Tränen und sie verlangte nach einer Erklärung. Doch diese lieferte ich ihr nicht, sie hätte mir eh nicht geglaubt oder so viel Angst bekommen, dass ihr Vater etwas erfahren hätte.
Als ich ihr keinen Grund nannte, schrie sie mich an, schickte mich zur Hölle und schlug mir sogar mitten ins Gesicht. Ich ließ alles geschehen, wollte sie beruhigen. Ich ergriff ihre Handgelenke und zwang sie still zu bleiben. Doch von ihrem Geschrei alarmiert, kamen auch schon sogleich die Wachen. Sie sahen uns, wie ich ihre Arme brutal umklammerte und ihr Tränenüberströmtes Gesicht. Sie vernahmen ihr trauriges Wimmern und klägliches Schluchzen. Also legten sie mich in Ketten.
Der König unterschrieb mein Todesurteil. Doch nicht der Dolch, der mir in die Brust gerammt wurde, oder die jubelnden Zuschauer schockten mich, sondern die Hand, die meinen Todesstoß durchführte.
Es war Sahar, die mich das erste Mal umbrachte. Und das letzte, was ich sah, bevor mir schwarz vor Augen wurde, war ihr hasserfüllter Blick und das erfreute Grinsen auf ihrem Gesicht.“ Jillien hielt schockiert die Luft an, und stieß sie dann mit einem Zischen wieder aus. Sprachlos starrte sie ihn an.
Er senkte traurig die Lider. „Als ich später wieder aufwachte und vom stechenden Hunger gequält wurde, kämpfte ich mich durch den gesamten Palast zu einem einzigen Zimmer durch. Eigentlich wollte ich Sahar meine Rache spüren lassen. Und das tat ich auch. Unbarmherzig zwang ich sie, mich zu küssen und sah zu, wie die Flammen sie verschluckten.“
Dabei hatte ich Tränen in den Augen. An dieses eine kleine Detail dachte er, sprach es jedoch nicht laut aus. Jillien hatte die Brauen gehoben und starrte ihn bewegungslos an. Doch dann schlang sie ihm stürmisch die Arme um den Hals und drückte sich an ihn. Erst verharrte er reglos. Doch dann legte er seine Hände auf ihren Rücken und unterdrückte die Tränen nicht mehr. Er lehnte sich gegen Jillien und barg sein Gesicht an ihrer Schulter. Es war ihm unangenehm, sich so vor ihr zu präsentieren und Gefühle zu zeigen. Doch seltsamer Weise half es. Und sie verurteilte ihn keineswegs. Sie hielt ihn einfach nur fest und war für ihn da. So wie er zuvor für sie.
Und es gefiel ihm.

Sean lief die Straßen in der Eiseskälte auf und ab. Seit mehr als zwei Wochen suchte er nun schon nach ihr. Doch nie gab es ein Zeichen.
Bis jetzt. Heute Morgen rief June, seine jüngere Cousine mit Kontakten, überall in New York verteilt, an und berichtete, eine mysteriöse Tänzerin verdrehe in einem angesagten, reichen Nachtklub die Köpfe aller Gäste.
Sofort hatte er sich die Adresse und Telefonnummer geben lassen. Zwar war niemand drangegangen, dennoch hatte er sich auf den Weg gemacht. Einen Versuch konnte er ja wagen.
Das verrückte an der Sache war nur, dass es sich genau um den Klub handelte, in dem auch sein Vater damals immer verschwunden war. Bill hatte viel von der guten Stimmung, denn super Drinks und der lauten Musik erzählt. Seine Mutter hatte er jedoch nie mitnehmen wollen. Eine Erklärung war er ihr bis heute noch schuldig.
Sean schüttelte den Kopf, um die nervigen Gedanken loszuwerden. Er marschierte weiter, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Seine Haare hatte er sich in der vergangenen Zeit kürzer geschnitten; die Locken reichten nun nicht mehr über die Ohren, sodass diese rot wurden und fast erfroren. Dieselbe grelle Farbe nahmen auch seine Wangen und die Nase an. Er kniff die Augen zusammen, biss sich im Inneren des Mundes auf die Unterlippe und versuchte die klirrende Kälte, die auf seine Haut traf wie stechende Stacheln, zu vergessen.
Schlussendlich blieb er vor dem Schuppen stehen und blickte die Hauswand hinauf. Sie war aus dunkelbraunem Stein, alt und rau. Eine schwere Eisentür versperrte ihm den Weg.
Prüfend schaute er auf seine Ice Watch. Einundzwanzig Uhr elf. Verwirrt sah er wieder zurück zum Eingang. Es wunderte ihn, dass dort keine Türsteher waren. Sean machte einen Schritt vorwärts. Er kam sich zwar dumm vor, klopfte aber dennoch dreimal an das Stahl.
Und wie durch Zufall wurde ihm sogar aufgemacht. Ihm gegenüber stand ein großer, muskelbepackter Mann, dessen Brauen augenblicklich in die Höhe schossen. Sean fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut und deutete auf den Kerl. „Hey“, murmelte er.
Ein Grummeln war die Antwort. Er sah beschämt zur Seite, suchte die Straße nach Beobachtern ab, ehe er stotterte: „Ich … Ich möchte gerne … in den Klub …“
„Woher weißt du von uns? Bist du ein Bulle?“ Hastig schüttelte er den Kopf. Nachdem er seinen Ausweis gezeigt und den abermals prüfenden Blick des Türstehers überstanden hatte, wurde er auch hineingelassen. Mit der Drohung „Machst du mir aber auch nur ein einziges Mal ärger, befördere ich deinen abgefuckten Arsch unsanft aus dem Klub und du wirst dir wünschen, ihn nie betreten zu haben“ verabschiedete der Mann sich.
Es war Sean peinlich, sch von so einem Typen einschüchtern und bedrohen zulassen, doch er hatte etwas an sich, dass ihm wirklich Schiss machte. Und er hatte den Abdruck eines mächtigen Jagdmessers unter dem engen Shirt und der offenen Lederjacke gesehen; und er wusste, der Muskelprotz würde nicht eine Sekunde zögern, ihn aufzuspießen.
Er versuchte, die Röte in seinem Gesicht zu unterdrücken und besah den Klub von innen. Bill hatte in keinster Weise übertrieben. Der Laden war elegant eingerichtet, die Gäste strotzten nur so vor Kohle und Reichtümern und die Barladys und Bühnentänzerinnen hatte richtigermaßen zu wenig Stoff am Körper.
Doch sein Blick schweifte durch die Menge, suchte nach der ihm allzu bekannten roten Lockenpracht. Und dann sah er sie.
Jillien war in einen Hauch aus Nichts gehüllt. Ihre Brüste waren von einem sportlichen, bauchfreien und engen Top umspannt. Ein durchscheinendes Seidentuch zierte ihren langen Hals und fiel locker bis über ihren Bauchnabel. Dazu trug sie eine schneeweiße Hotpants und schwarze Lederstiefel. Ihm gefiel ihr entzückendes Outfit. Ihre Haare hatte sie zu einem hohen Zopf gebunden und einige Strähnen in ihr zartes Gesicht fallen lassen.
Sean hielt sich bedacht im Hintergrund. Er wollte nicht, dass sie ihn sofort bemerkte. Erst wollte er noch ihre Show genießen.
Und die hielt alle Mal, was sie versprochen hatte. Schon nach dem ersten Song, dem ersten Ton ihrer wunderbaren Stimme war es um ihn geschehen. Und ihre heißen und verführerisch einladenden Tanzbewegungen turnten ihn nur umso mehr an. Es war wahrlich schwer, dass schmerzvolle Pochen in seiner Hose auszublenden und die Beule zu verstecken. Es war ihm eine entspannende Genugtuung, dass alle Männer so auf sie reagierten.
Als sie den letzten Ton gesungen hatte, die Musik kurzzeitig verstummte und sie mit einem Lächeln die Bühne verließ, machte er sich auf den Weg.
Nun war es Zeit für ein verheißungsvolles Wiedersehen.

Jillien trat einen Schritt vor den anderen und steuerte direkt auf die Bar zu. Jonathan erwartete sie schon – so wie jede Nacht – mit ihrem Lieblingsdrink, extra für sie zusammengestellt. Er trug ein breites Grinsen zur Schau. „Die armen Schweine können einfach nicht genug von die bekommen, Schätzchen.“ Sie schenkte ihm einen wissenden Blick und deutete dann auf die Beule in seiner Jeans. „Du ja anscheinend auch nicht.“ Er lachte beschämt auf und zwinkerte ihr zu.
Sie nippte gerade genüsslich an ihrem Getränk, als hinter ihr eine tiefe Stimme erklang, die ihre Haut kribbeln ließ. „Jillien.“
Sie stockte und verschluckte sich an ihrem Drink. Jonathan wirkte genauso entsetzt, bevor er ihr helfend auf den Rücken schlug. Sie hustete schwer, bevor sie sich langsam umdrehte.
Vor ihr stand Sean in einer dunklen Jeans, einem schwarzen Shirt, unter dem sich seine Muskeln abzeichneten, und einer Lederjacke. Seine Haare waren kürzer, wodurch sein Gesicht härter und markanter wirkte. Sein ernster tiefblauer Blick jagte ihr einen eiskalten Schauder über den Rücken.
Zu ihrem Glück stellte sich Jonathan beschützend neben sie und musterte den düster aussehenden Kerl abschätzend. Seine ernste Stimme durchschnitt die Stille. „Wer bist du?“
Sean hob spöttisch eine Augenbraue. „Das geht dich nichts an“, antwortete er trocken, den Blick nicht von Jillien nehmend. Diese sah zur Seite, hielt die Anspannung bald nicht mehr aus. Jonathans Ton verriet seinen aufkommenden Zorn. „Alter, was willst du hier? So wie es aussieht, schätzt Jill deine Nähe nicht. Deshalb würde ich vorschlagen, bewegst du deinen Hinter ganz schnell aus diesem Klub, oder ich helfe nach, und dann wird’s unsanft.“
Seans Lachen ließ Jillien zusammenzucken. Als sie den Kopf hob und die beiden Männer ansah, wusste sie, dass sich ihr alter Freund nicht im Geringsten bedroht fühlte. Wozu auch? Sie wusste genauso gut wie er selbst, dass Jonathan nichts gegen ihn ausrichten konnte.
Beruhigend strich sie dem Blonden über die Brust. Dieser wandte sich ihr zu und hob fragend die Brauen. Sie schenkte ihm ein selbstbewussteres Lächeln, als nötig. In ihrem Inneren wurde sie gleichzeitig jedoch von Furcht überrannt.
„John, ich schaff das schon. Keine Sorge, er wird mir nichts tun.“ Nicht wirklich von ihren Worten überzeugt warf er ihr einen durch dringlichen Blick zu. Doch sie nickte einfach. Er studierte noch einmal Sean, welcher ungeduldig mit dem Fuß tippte, bevor er gequält die Augen zusammen kniff und dann im Personalraum verschwand.
Jillien sah ihm hinterher, bis ein erleichtertes Seufzen ihre Aufmerksamkeit zurück auf den anderen Mann lenkte. Sean hob spöttisch die dunklen Brauen. „Dein neuer Freund? Du reißt aber wirklich jeden auf, was? Ganz schön verzweifelt, Kleines.“ Hektisch strich sie sich eine Strähne zurück hinters Ohr. Anscheinend schien ihn das Wiedersehn nicht zu berühren; sein Gesichtsausdruck war kühl und distanziert.
„Wir sind nicht zusammen, er ist nur ein guter Freund“, erklärte sie, während sie errötete.
„Schätzchen, das ist aber auch nur von deiner Seite aus so. Glaub mir, er steht auf dich, ist ganz verrückt nach dir.“ Schulterzuckend wandte sie ihm den Rücken zu. „Ich wüsste nicht, was dich das zu interessieren hätte.“ Um sich zu beruhigen, knibbelte sie an ihrem Nagellack herum.
Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter, wodurch sie zusammenzuckte, und drehte sie zu sich um. Sean stand plötzlich ganz nah vor ihr und starrte ihr in die Augen. „Willst du nicht wissen, was ich hier mache?“ Sein Ton war herausfordernd. Mit einer abweisenden Handbewegung antwortete sie: „Kein Bedarf.“
Als hätte sie nie etwas gesagt, sah er über ihren Kopf an die Wand und begann zu erzählen. „Weißt du, ich werde mich niemals für meine harten Worte vor ein paar Wochen bei Tobias entschuldigen. Nie.“
„Und was willst du dann noch von mir?“, fragte sie genervt.
Sean schien wahrhaftig nachdenklich. „Ich weiß nicht. Anscheinend habe ich dich vermisst, oder so.“ Jetzt war sie wirklich verdutzt. Hatte sie sich gerade verhört oder hatte er gesagt, er vermisse sie? Sie stierte ihn entsetzt an.
Sein Blick huschte zu ihrem Gesicht. Kurz zog ein weicher Ausdruck über seine Miene, ehe er wieder seine unüberwindbare Mauer errichtete. Verwirrt schaute sie ihm entgegen. Er legte seine rechte Hand an ihre erhitzte Wange. Die Geste hatte nicht Zärtliches. Dieses Wissen verletzte sie innerlich, doch sie ließ es sich nicht im Geringsten anmerken.
„Und jetzt wo du mich gesehen hast, kannst du doch wieder gehen, nicht?“
„Falsch.“ Ein diabolisches Lächeln trat auf sein Gesicht. Irritiert verzog sie eine Miene. Er ergriff fest ihre Hand, stahlhart und zwingend, und zog sie in eine dunkle Ecke, wo er sie hart an die Wand drückte. Sein Körper presste sich der Länge nach an ihren Leib, wobei diese Geste wohl eher dazu diente, ihr den Fluchtweg zu versperren. Dennoch turnte sie seine Nähe auf widerliche Art und Weise an.
Seans Gesicht war dem ihren nur Zentimeter entfernt. Seine Lippen teilten sich verführerisch langsam, während er im Flüsterton sprach. „Jillien, ich sagte, ich werde mich für meine Vorwürfe niemals entschuldigen. Ich bin immer noch gekränkt, dass du mich nicht küssen wolltest. Du hast meinen Stolz verletzt, weshalb ich dich am liebsten aus meinem Leben für immer entfernen würde.
Aber ich kann auch nicht ohne dich existieren, das habe ich begriffen. Ich bitte dich nicht als Fremder, der dich angeschrien und beleidigt hat, sondern als Freund, der einfach deine Nähe sucht, mit mir zukommen, dich nicht mehr vor mir zu verstecken.“ Im Gegensatz zu seinen versteinertem Gesichtsausdruck, dem schmerzenden Griff um ihr Handgelenk und der emotionslosen Stimme, mit der er sprach, waren seine Augen voller Leidenschaft, Sehnsucht. In ihnen spiegelten sich sein Schmerz, die Trauer, seine Angst und die Liebe, die er für sie auch jetzt noch empfand.
Zaghaft nickte sie, während Tränen sich in ihren Blick schlichen. „Sean, auch ich werde mich nicht für meine Taten in der Vergangenheit entschuldigen, denn ich halte alle meine Entscheidungen für richtig.“ Verstehend nickte er mit dem Kopf auf und ab.
Mit zitternder Stimme fuhr sie fort: „Aber auch ich brauche dich. Doch wenn ich ehrlich bin, nicht als Freund. Natürlich kann ich deine Freundin auf rein körperlicher Ebene sein. Jedoch könnte ich nicht mit ansehen, wie deine Lippen den Mund einer anderen Frau berühren, oder sehen, wie dein Blick an einem anderen weiblichen Geschöpf mit Liebe darin heften bliebe. Niemals werde ich das können. Das musst du verstehen.“
Seans Mund war vor Staunen einen Spalt breit geöffnet. Seine Augen huschten hin und her, erforschten ihren Blick, auf der Suche nach einem Anzeichen für eine Lüge. Oder der Wahrheit. Schließlich schloss er seinen Mund geräuschvoll, bevor er sie fest mit seinen Armen umschlang.
Zuerst wusste sie nicht, wie ihr geschah. Doch dann krallte Jillien ihre Fingernägel in seine Schultern und barg ihr Gesicht an seinem Hals. Die vielen Gefühle und Emotionen brachen über sie in einem Tränenfluss ungebändigt ein. Doch seine Nähe ließ sie alles Schlechte vergessen und nur Gutes fühlen. Seit sie gegangen war, hatte sie jede Sekunde versucht, diese Sehnsucht nach ihm zu unterdrücken. Doch jetzt musste sie fast über diese Ironie lachen. Niemals würde sie ohne ihn leben können. Auch wenn es für sie beide besser wäre.
Zärtlich strich er ihr mit einem Finger die Locken aus dem Gesicht hinters Ohr. Sie lächelte überglücklich, während sie weiterhin in seiner Umarmung schwelgte. Es kam ihr vor, als schwebe sie auf einer dichten Wolkendecke, über den Köpfen aller Menschen hinweg, den Horizont weiter entlang. Und er war der liebkosende Windhauch, der sie umhüllte und sicher durch die Luft trug.
Kurz drückte er seine Lippen auf die empfindliche Stelle unterhalb ihres Ohres. Sie erschauerte bei dieser zarten Geste und schloss genießend die Lider. Dann streifte sein warmer Atem ihre Ohrmuschel und kitzelte sie, als er ihr drei Worte zuflüsterte, die ab diesem Moment ihr ganzes Weltbild verändern sollten.
„Ich liebe dich.“

Nachdem Jillien sich frühzeitig bei Mr Gimbs gemeldet und er ihr überglückliches Lächeln gesehen hatte, drückte sie ihn jetzt ganz fest, wie früher ihren Teddybären.
„Ich werde die Stadt verlassen, mein Freund“, hauchte sie ihm leise ins Ohr. Er lehnte sich zurück, warf Sean einen prüfenden Blick zu, ehe er sie mahnte: „Aber pass auf dich auf, meine Kleine. Wenn du mal Hilfe brauchst, komm zu mir, oder rufe mich wenigstens an, ja?“ Sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Natürlich, mir wird nichts geschehen. Nicht mit ihm.“ Sie zwinkerte ihm zu, was er mit einem Augenschlag erwiderte.
„Du bist für mich wie eine Tochter, die ich nie hatte, kleine Jillien. Es fällt mir schwer dich gehen zulassen.“ Tränen traten ihr in die Augen. Sie musste ihn einfach noch einmal umarmen.
Geduldig wartete Sean die Verabschiedung ab, ehe er seine Hand ausstreckte und mit Jillien zusammen den Klub verließ. Am Ausgang stand Jonathan und warf ihr einen traurigen Blick zu. Auch ihm schlang sie die Arme um den Hals und versprach: „Du wirst die Richtige finden, keine Sorge. Nur weil ich sie nicht bin, bedeutet das noch lange nicht da Ende. Schließlich bist du unsterblich.“ Er lachte gequält auf, ließ sie aber dennoch los.
Jillien lehnte sich an Seans Schulter, als dieser seinen Arm um ihre dünne Taille legte. Mit leicht zittrigen Fingern schloss sie die Tür zur kleinen Wohnung auf, wo sie die letzten Wochen mit ihrem alten Freund verbracht hatte. In weniger als zehn Minuten hatte sie alles zusammengeräumt und ihre Arbeitskleidung gegen eine dunkle Röhrenjeans, einen dicken weißen Rollkragenpullover und warme Winterstiefel getauscht. Sie zog sich noch schnell ihre Lederjacke über, als Sean auch schon die Tasche hochhievte und die Tür aufstieß.
Hand in Hand schlenderten sie die Gehwege hinab, ehe sie vor einer kleinen Wohnung hielten. „Hier wohnst du?“
„Hier wohne ich.“ Er schloss auf und marschierte mit ihr an seiner Seite die unzähligen Treppenstufen hinauf. Als er auch die nächste Tür geöffnet hatte, trat er ein und holte tief Luft. „Trautes Heim.“ Das schien wie in einer dieser Werbespotts.
Sean schleuderte die Tasche achtlos in die nächste Ecke, und warf sich aus die kleine Ledercouch. Er schnappte sich die Fernbedienung und zappte durch die Kanäle. Bei einem Comedy-Channel drehte er seinen Kopf über die Lehne ihr zu und grinste sie neckisch an. „Komm her. Ich beiße schon nicht.“ Er zwinkerte ihr herausfordernd zu. „Außer du willst es natürlich.“
Sie lachte und plumpste halb auf seinen Schoß. Sie nutzte die Gelegenheit und zupfte ihm an den kurzen Löckchen, während er sie verdutzt ansah. Dann griff er um ihre Hüfte und zog sie vollends auf seine Oberschenkel, wo er sie durch kitzelte, bis sie sich vor Lachen verschluckte.
Später lagen sie da, er an der Lehne, sie an seiner Brust, und schauten sich einen nicht wirklich witzigen Komiker an. Nach einiger Zeit legte er seinen schweren Arm um ihren Körper und drückte sie näher an sich. Sie genoss seine Nähe. Ihren Kopf auf seinem Unterarm gebettet, betrachtete sie den dümmlichen Mann im Fernseher, war mit ihren Gedanken jedoch ganz woanders.
Irgendwann schaute sie dann auf die große Ice Watch an Seans Handgelenk. Es war viertel nach eins; genau die richtige Zeit zum entspannen. Vorsichtig entzog Jillien sich seiner Umarmung und stand vom Sofa auf. Verwirrt hob er die Brauen. „Ich will mir nur etwas Bequemeres anziehen“, erklärte sie grinsend.
Sie spürte seine Blicke auf ihrem Rücken, als sie zur Tasche ging, den Reißverschluss ruckartig aufriss und die darin enthaltene Kleidung durchwühlte. Zum Vorschein kamen ein Top und eine dunkle Shorts.
Damit schlenderte sie wieder zu Sean zurück und stellte sich neben die Couch. Vor ihrem Bauch überkreuzte sie die Arme, griff nach zwei Stücken Stoff und zog sich in einer eleganten Bewegung den Pullover über den Kopf. Darunter trug sie einen schwarzen BH mit violetter Spitze. Seine Kinnlade fiel bei diesem Anblick herunter und seine Augen waren weit geöffnet.
Die Röte stieg ihr in Gesicht und sie bedeckte zu gut es ging ihren Körper. Als er sich wieder gefasst hatte, sah sie beschämt weg. Er räusperte sich, woraufhin sie ihre Aufmerksamkeit auf den Mann vor ihr richtete.
Sean blickte ihr ernst in die Augen. „Du bist wunderschön, habe ich dir das schon einmal gesagt?“ Sie lächelte ihn geschmeichelt an. „Ich weiß nicht“, beantwortete sie seine Frage. „Aber danke.“ Er grinste sie an. Verwirrt hob sie die Augenbrauen. „Was?“
„Ich habe gesehen, wie du für die ganzen Vollidioten getanzt hast, aber vor mir schämst du dich.“
„Ich schäme mich nicht. Aber zu dir habe ich eine ganz andere Beziehung als zu diesen Unbekannten“, erklärte sie rasch. Er stand herausfordernd grinsend an. „Natürlich hast du das.“
Er legte seine warmen Hände auf ihre ausladenden Hüften und fuhr mit dem Daumen zärtlich über die weiche Haut über ihrem Hüftknochen. Seine Zeigerfinger hackten sich beide in ihre Riemen am Hosenbund und zogen sie an sich. Sie stolperte über ihre eigenen Füße und schlang ihre Arme um seinen Hals. Mit einem diabolischen Grinsen stützte er sie.
Seans Hände wanderten weiter, ihr Kreuz hinauf und dann die Wirbelsäule wieder langsam hinab. Bei der leichten Einkerbung kurz über ihrem hintern verharrte er und blickte ihr tief in die Augen. Jillien beugte sich vorsichtig zurück und grinste ihn an. Dabei strich sie mit ihren Händen seine Brust hinab, glättete die Falten seines Shirts und fuhr am Saum des Stoffs darunter und spürte seine Haut. Sie fühlte stählerne Muskeln und einen kleinen Bauchnabel.
„Weißt du eigentlich, wie gern ich dich küssen würde?“ Die Worte waren ihr einfach so herausgerutscht. Doch anstatt wie sie geschockt über die Frage zu sein, antwortete er nur lässig: „Ja, ich fühle dasselbe. Wenn du mir wenigstens sagen würdest, warum du mich nicht küssen willst …“
„Aber ich will dich ja küssen! Nur ich kann nicht. Ich würde es mir nie verzeihen.“ Sean blickte verwirrt drein. „Was meinst du?“
Sie löste sich von ihm und machte einen Schritt zurück. Darauf reagierte er, indem er ihr einfach synchron folgte, die Finger um ihr Kinn legte und sie zwang, ihn anzuschauen.
„Was meinst du?“, wiederholte er, nun mit mehr Nachdruck in der Stimme. Scheu kniff sie die Augen zusammen, wog die zur Wahl stehenden Möglichkeiten ab.
Als sie ihre Entscheidung getroffen hatte, holte sie tief Luft zur Stärkung. „Ich bin ein Klintara.“ Die Worte kamen abgehackt, stoßweise, emotionslos.
Man sah seinem Gesichtsausdruck an, dass er nicht im Geringsten eine Ahnung hatte, wovon sie sprach. Er ließ ihr dennoch Zeit, die Fassung zu behalten.
Rasch fuhr sie sich mit den Fingern durch die Haare und kämmte sie nach hinten. Beruhigend legte er seine Hände auf ihre Schultern und setzte sie auf das Lederpolster. Als er sich neben sie niedergelassen hatte, begann sie zu erklären.
„Ein Klintara ist ein Wesen, das wie ein normaler Mensch auf die Welt kommt. Es lebt die Kindheit, die Pubertät und auch noch den Anfang des Erwachsenenlebens aus. Doch ab Mitte zwanzig ungefähr, verändert es sich. Es hat das sinnlose Verlangen, unbedingt ein Wesen des anderen Geschlechts zu küssen. In meinem Fall Männer.
Doch ab einem gewissen Zeitpunkt geht das nicht mehr so einfach mit dem Küssen, wie früher. Plötzlich ist alles anders, viel erschreckender. Derjenige, der mit seinem Mund die Lippen von einem Klintara berührt, wird von plötzlich aufzüngelnden Flammen verschluckt. Am Ende ist von ihm nicht mehr übrig, als ein Rußfleck. Und die seine Lebensenergie, welche in elektrischen Stößen durch den Körper des Wesens schießt.“ Sie hielt kurz inne. Seans Augen waren vor Schrecken weit aufgerissen.
Nervös ließ sie ihre Fingerknöchel knacken und murmelte: „Ich hatte Angst es dir zu erzählen. Und die habe ich auch jetzt noch. Ich will dich nicht verletzen, wollte es nie.“
„Aber du hast mich schon einmal geküsst …“, stammelte er. Mit einem Schlag kamen die Erinnerungen an den Moment vor der Kirche wieder zurück. Unwissend antwortete sie: „Ich habe keine Ahnung, was da geschehen ist. Aber ich weiß, dass das nicht normal war.“
Nachdenklich blickte er zur Seite. „Deshalb wolltest du auch so unbedingt zu diesem mysteriösen Ort wandern, habe ich recht, Jillien?“ Zaghaft nickte sie.
Das Polster knarrte, als er sich bewegte. Sie zog scharf die Luft ein, als sie befürchtete, er würde aufstehen und den Raum verlassen. Verübeln konnte sie es ihm nicht.
Doch er rutschte einfach nur näher an sie heran, schlang seine Arme von der Seite um sie und stützte sein Kinn auf ihren Scheitel. Sie umklammerte ängstlich seine Unterarme und krallte ihre Nägel in sein Fleisch. Sie war am gesamten Körper am zittern; genauso wie er. Doch ihre Nähe spendete ihnen wenigstens etwas Trost.
Auch wenn Jillien nicht in die Zukunft sehen und sagen konnte, wie es nun weiter gehen würde, so wusste sie tief in ihrem Herzen, dass sie das Richtige getan hatte.



Ich geh mit dir, wohin du willst ...




Sean hatte die ganze Nacht kein Auge zubekommen. Nun lag er still und unbeweglich auf der Couch und hielt Jillien in seinen Armen. Für ihn war es immer noch unfassbar, was sie ihm gestern erzählt hatte. Dennoch zweifelte er nicht an der Richtigkeit ihrer Worte.
Zärtlich strich er mit dem Daumen über die leichte Kuhle unterhalb ihres Schlüsselbein. Seine Blicke wanderten ihren grazilen Körper schon zum millionsten Mal auf und ab. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass dieser Augenblick wahrhaftig real war. Umso mehr hielt er deshalb in seinen Gedanken alle Erinnerungen an die Nacht fest. Es war nichts passiert, außer zarten Berührungen und Liebkosungen. Nur Nähe und aufrichtige Gefühle hatten die Zeit einzigartig gemacht.
Abermals blieben seine Augen an den schwarzen Tintenzeichnungen hängen. Er selbst hatte sich schon an die Muster auf seinen Armen gewöhnt. Doch von ihrer hellen Haut hoben sie sich unnatürlich ab.
Liebevoll verharrten Seans Finger an ihrem schlanken Hals und strichen sacht über ihre verletzliche Kehle. Allein sie berühren zu können, faszinierte ihn mehr, als eine ganze Nacht mit Eileen zusammen.
Jilliens Lider zuckten unkontrolliert, woraufhin seine Aufmerksamkeit sich auf ihr elfengleiches Gesicht richtete. Ihre Lippen teilten sich zum Atmen und ihre Wimpern warfen dunkle Schatten auf ihre hohen Wangenknochen. Dieser stille Moment verlieh ihr etwas Magisches, das Sean nicht genauer definieren konnte, als wunderschön.
Sie öffnete zaghaft die Augen, welche ihn aus einem weichen Grau heraus verliebt anblickten. Ein Lächeln huschte auf sein Gesicht, er konnte es überhaupt nicht verbergen. Dafür war alles einfach viel zu schön.
„Guten Morgen“, hauchte er. Jillien hob die Hand und zeichnete zärtlich seinen Kiefer nach, bis zu seinen Mundwinkeln. Ein angenehmes Prickeln wanderte dabei über seine Haut.
„Guten Morgen“, erwiderte sie schläfrig. Sacht spannte Sean seine Muskeln an und holte seinen Arm unter ihrem Körper hervor. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr sah er sie wieder an.
„Es ist halb zehn. Möchtest du etwas frühstücken?“ Verwirrt zog sie die Brauen zusammen.
„Es ist Montagmorgen“, stellte sie fest. „Müsstest du nicht eigentlich in der Schule sein und ein paar Schüler unterrichten?“ Er winkte ab.
„Nach der Aktion in der Kirche, glaube ich nicht, dass Eileen mir noch über den Weg laufen will. Ich habe bereits eine Kündigung per Post verschickt. Es ist besser so. Für alle.“ Auch wenn es ihm unangebracht vorkam, grinste er sie dennoch an. Etwas zurückhaltender erwiderte sie die Geste, ehe sie ihre Arme um seine harte Brust schlang und ihren Kopf auf seinem Oberarm bettete.
„Na, wenn das so ist, dann kannst du hier bei mir bleiben.“ Lachend kuschelte sie sich näher an ihn.
Anfangs erwiderte er ihre Zärtlichkeit. Doch dann setzte Sean sich vorsichtig auf und meinte: „Es ist echt schön dich so nah bei mir zu haben. Aber glaubst du nicht, wir sollten ein paar Nachforschungen gegenüber der Weisheit?“
Überrascht starrte Jillien ihn an. „Du willst diesen mysteriösen Ort wirklich suchen?“, fragte sie ungläubig. Leichtfertig zuckte er mit den Schultern.
„Nachdem, was du mir erzählt hast, bleibt uns doch nichts anderes übrig, oder?“ Eifrig nickte sie. Überschnell sprang sie auf und tigerte durch den Raum.
„Okay, also. Wenn wir den Platz wirklich suchen wollen, dann müssen wir uns erst einmal an die Worte der geheimnisvollen stimme erinnern. Wie ging das nochmal …?“
„… Eilet zum fließenden Horizont, seht kindlich und greift nach den Sternen. Ordnet sie neu an und lest aus ihnen“, antwortete Sean ihr. Sie blickte kurz zu ihm hinüber, bevor sie stehen blieb. „Weißt du noch, was ich über Lillys Traum gesagt habe?“
„Ja. Aber glaubst du wirklich, dass der Ort, von dem sie geträumt hat, auch der ist, den wir suchen?“
„Einen Versuch ist es wert“, erwiderte sie hartnäckig. Ergebend warf er die Arme in die Luft und stand auf. Träge wanderte er durch den Raum und kramte seinen Laptop aus einer Aktentasche.
Nachdem das Gerät hochgefahren war, gab er im Internet den Begriff fließender Horizont ein und wartete auf die nachfolgenden Meldungen.
Mehrere Links fuhren vor Seans Augen hoch und einen nach dem anderen klickte er an und las sich den betreffenden Inhalt durch. Jedoch bezogen sie sich alle auf ein Buch, einer alten Schriftstellerin, namens

Dance of Eternity priceless.

Die Autorin hieß Addison Cunningham, war nun dreiundsiebzig Jahre alt und lebte in Vermont in Morristown.
In einer kurzen Leseprobe ihres Buches lud sie ein, den Leser in ein verzaubertes Reich der Magie und Zauberei zu entführen. Dieser geheimnisvolle Ort wurde nicht weiter erläutert in diesem Textausschnitt, als ein Platz voller warmer Gefühle, schönen Erinnerungen und purer Liebe.
Sean schaute ebenfalls die folgenden Kommentare zum Buch durch. Mehrere Leser berichteten von fesselnden Beschreibungen und atemberaubender Erzählweise. Sie schrieben, sie wären nicht mehr von dem Buch losgekommen.
Doch trotz der lobenden Worte, war das Werk nicht mehr erhältlich. Es existierten, glaubte man dem Internet, auf der Welt nur noch sehr wenige Exemplare. Diese standen in Versteigerungen für s viel Geld, dass Sean die Kinnlade herunter fiel, als er die Preise las.
So würde er also nichts über den Inhalt des Buches in Erfahrung bringen.
Sean, die die ganze Zeit entweder Kaffee gekocht oder die Wohnung erkundet hatte, setzte sich auf die Armelehne der Couch neben ihm. Sie legte ihre Arme von hinten um seinen Hals und stützte ihr Kinn auf seiner Schulter ab.
„Nichts?“, fragte sie.
„Nichts“, erwiderte Sean mit einem schweren Seufzer. Er lehnte sich nach hinten und griff mit seinen Händen nach denen von Jillien. Sie küsste ihn zärtlich auf den Hals, ehe sie mit der Nase seine Ohrmuschel streifte.
Jillien erhob sich lautlos und nahm den Laptop in ihre Hände. „Wer ist Addison Cunningham?“
„Eine alte Schriftstellerin, die in einem ihrer Bücher über einen fließenden Horizont schrieb.“ Nachdenklich strich sie mit einem langen Finger über das kleine Feld, welches als Maus diente. Sie scrollte die Seite hinab, während sie konzentriert die Artikel las.
Nach einem tiefen Atemzug, ließ Jillien sich neben Sean nieder und bettete das Gerät auf ihrem Schoß. Aufmerksam drehte sie ihren Oberkörper Sean zu.
„Es scheint, als wüsste diese Frau etwas über den Ort, den wir suchen.“
„Ja, aber die Auflage ihres Buches ist nur noch selten und in den Händen reicher Sammler. Hast du die Preise in Versteigerungen auch nur einmal angesehen?“ Verstehend nickte sie. Traurig sah sie beiseite.
Doch dann schnappte sie hastig nach Luft und flog eifrig mit ihren Fingern über die Tastatur. Verwirrt schaute Sean ihr über die Schulter und verfolgte ihre Gedankenzüge auf dem Monitor.
Jillien gab bei der Internetsuche den Begriff Addison Cunningham ein und wartete angespannt auf die Meldungen, während sie ungeduldig mit den Fingerspitzen klopfte.
Als dann die Links erschienen, scrollte sie so weit hinunter, bis sie eine Seite fand. Nachdem diese geladen war, lasen beide aufmerksam den Inhalt.


Addison Cunningham lebt in Morristown in einem kleinen Haus. Obwohl ihr Wer als eine Fantasiegeschichte bekannt ist, ist sie dennoch der festen Meinung, alles Geschriebene entspreche der Wahrheit.
Öffentlich zweifelt niemand an dem Glauben der dreiundsiebzig jährigen Schriftstellerin. Aber dass die fantasievolle Autorin ein wenig zu weit in ihrem Märchenreich versunken ist, steht für die Mehrzahl der Leser fest.
Mit dem Alter verstarb ihr geliebter Ehemann, wodurch für sie eine Welt zusammenbrach. Nun lebt sie alleine mit ihrer Katze zurückgezogen und raus aus dem Blitzlicht. Damals war sie als die einfallsreichste Schriftstellerin ihrer Zeit bekannt, nun kennen jedoch nur noch wenige ihren Namen.
Das letzte Mal trat Addison in die Öffentlichkeit, als ihr Mann verstarb. Danach wurde sie nie wieder erblickt. Man spekuliert zwar, sie lebe noch, doch bewiesen wurde es nie.


Beweisend deutete Jillien auf den Monitor. „Da hast du’s.“
Ahnungslos starrte Sean sie an. „Wie meinst du das?“
„Na, ich meine, dass wir einfach nur diese Addison aufsuchen müssen, um an Informationen zu kommen“, erklärte sie in einem Ton, als wäre das selbstverständlich.
Sean zeigte auf den letzten Abschnitt des Textes und las vor:

„Das letzte Mal trat Addison in die Öffentlichkeit, als ihr Mann verstarb. Danach wurde sie nie wieder erblickt. Man spekuliert zwar, sie lebe noch, doch bewiesen wurde es nie.“

Er sah sie wieder an. „Jillien, sie lebt irgendwo versteckt – wenn sie überhaupt noch lebt.“
Stur funkelte sie ihn an. „Es gibt jedoch auch keine Beweise für ihren Tod.“
Gereizt warf Sean die Arme in die Luft und fluchte so schnell, dass sie seine Worte nicht alle verstand.
Er stemmte die Hände gegen den Kopf und kniff krampfhaft die Lider zu.

Tief ein- und ausatmen. Ein und aus. Ein und aus.


„Okay. Nehmen wir mal an, wir würden es schaffen, sie ausfindig zu machen und dort hinfahren. Was erhoffst du dir von dem Ganzen?“
Jillien kam auf ihn zu und legte sanft eine Hand an seine erhitzte Wange. Ein selbstsicheres Lächeln auf den Lippen. „Heißt das, du gibst dich geschlagen?“
„Nur, wenn du mir einen sinnvollen und besonders guten Grund für die Mühen gibst.“
Jillien blinzelte ich aus funkelnden Augen an. Im Grau tanzten einzelne silbrig weiße Flecken. „Ich liebe dich“, flüsterte sie. „Und ich will dich nicht in späterer Zukunft verlieren. Ich möchte ein Leben mit dir führen, eine Familie gründen und mit dir zusammen alt werden. Und ohne das Brechen des Fluches, der auf mir lastet, werden diese Wünsche niemals in Erfüllung gehen.“ Sie hob fragend die Augenbrauen. „War das Grund genug?“
Hastig nickte Sean. Natürlich hatte er sich schon oft eine Beziehung mit ihr vorgestellt. Sich gefragt, wie sie küssen würde, wie sie schmecken würde. Aber noch nie, wirklich nie, war ihm die Idee eines gemeinsamen Lebens gekommen.
Wenn Sean jetzt darüber nachdachte, erschien ihm das alles mehr wie ein verzweifeltes Wunschdenken, als eine Zukunft. Und augenblicklich schossen ihm die Bilder von Eileen durch den Kopf. Sie war bisher die einzige Frau gewesen, mit der er längere Zeit zusammen gewesen war, mit der er sein weiteres Dasein verbringen wollte.
Und nun stand Jillien, die wunderschöne Jillien aus seinen Träumen, vor ihm und erzählte von ihren Zukunftsplänen mit ihm. Das aller erste Mal zog er eine Bindung auf längerem Zeitraum mit ihr in Erwägung. Und die Vorstellungen gefielen ihm.
Sean sah alles genau vor sich. Jillien in einem bodenlangen weißen Brautkleid, wie sie auf ihn zuschritt, der Blumenstrauß fest in ihren Händen.
Und sie, wie sich ihr Bauch vergrößerte und ihre zarten Finger nach seinen griffen und zusammen über das heranwachsende, gemeinsame Kind streichelten.
Jillien, wie sie mit grauem Haar und eingefallener Haut vor ihm stand und ihn immer noch verzauberte.
Oh ja, das waren schöne Bilder.
Sean konnte nicht anders. Er zog Jillien in seine Arme und barg den Kopf an ihrem Hals. Das Gesicht in ihrem Haar vergraben, stammelte er: „Oh, Gott, ich liebe dich. Und ich werde alles tun, um dich glücklich zu machen, um mit dir zusammen zu sein. Um mein gesamtes weiteres Leben mit dir zu verbringen.“
Ein leiser Schluchzer und erleichterte Schniefer, während sie sich an seinen Schultern festklammerte.

„Wir müssen da rechts abbiegen“, erklärte Jillien schlicht. Wortlos drehte Sean das Lenkrad und folgte der Straßenspur. Nach einer langen Tagesfahrt fielen ihm fast die Augen zu, als er durch die Dunkelheit fuhr. Jillien neben ihm auf dem Beifahrersitz war dagegen von einer nervigen Euphorie gepackt.
Der Wagen tuckerte über eine steinige Landstraße. Das rumpeln ließ Sean im Sitz auf- und ab hüpfen. „Glaubst du wirklich, dass das der richtige Weg ist?“, kritisierte er ungläubig ihre Entscheidung.
„Auf jeden Fall. Die Adresse ist zwar etwas veraltet, aber immerhin das aktuellste, was es über diese Addison zu finden ist.“ Noch etwas zweifelnd hielt Sean das Tempo und kreuzte eine klitzekleine, kaum erkennbare Einfahrt. Fast hätte er sie auch übersehen, so versteckt hinter den Büschen, wie sie war. Aber Jillien dirigierte ihn zielsicher durch die verwilderte Umgebung.
Schließlich hielt er den Wagen vor einem alten Haus an. Sean stellte den Motor aus und stieg aus dem Verkehrsmittel. Er ging um die Autohaube herum und öffnete, ganz Gentleman, Jillien die Tür. Diese stieg grazil aus und lächelte ihn an.
Jillien schritt auf das riesige Gebäude zu, bis sie erstaunt stehen blieb. Sean musterte sie von hinten. Sie trug eine lässige hellblaue Jeans, welche an den Beinen gewollte Löcher besaß, ein weißes Top, mit einer grauen Strickjacke darüber, und dunkle Turnschuhe. Sie sah selbst in alten Klamotten hinreißend aus.
„Sieh dir das an“, riss ihre Stimme ihn aus seiner Schwärmerei. Sean trottete an ihre Seite und musterte argwöhnisch das Haus.
Es war weiß gestrichen, wobei die Farbe von Schmutzflecken nun eher grau schien. Dunkelgrüne Rosenranken und Efeu zogen sich an den Außenwänden herauf, verhangen schäbige, zerschlagene Fensterschieben und ließen darauf hindeuten, dass die Umgebung hier unbewohnt war.
Sean seufzte matt. „Toll, wir sind jetzt soweit gefahren, nur um einen verlassenen Ort aufzufinden.“
Hartnäckig starrte Jillien ihn an. „Vielleicht ist sie ja drinnen.“
„Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“ Sie blinzelte ihn bittend an, machte einen überzeugenden Augenaufschlag und streckte ihre Finger aus. Ergebend seufzend ergriff Sean ihre kühle Hand uns schlenderte mit ihr zusammen zur Haustür.


Du stehst ja jetzt schon unter ihrem Pantoffel, Schoßhündchen!,

verurteilte er sich selbst.
Jillien zog ihn schnellen Schrittes hinterher und hielt abrupt vor der modrigen Holztür. Mit einem hohen Quietschen stieß sie sacht die Tür auf und eine dichte Staubwolke und Rattengestank schlugen ihnen entgegen. Sean hustete röchelnd und umklammerte ihre Hand. Geduldig wartete sie, bis er sich entspannt hatte.
Dann tappte sie über knarrende Dielen durch den Flur. Verstaubte Gesichter starrten ihr aus Bildern hinterher. Vorsichtigen Blickes suchte sie die einzelnen Räume ab.
Auch Sean stöberte durch das Haus. Doch so wie seine Freundin bemerkte er nichts außer alte Spinnenweben, dreckigen Böden und Löchern in den Decken des zweistöckigen Gebäudes.
Sean traf Jillien in einem ebenfalls verlassenen Schlafzimmer. In einer der Ecken stand ein kleines Bett mit zerrissener Matratze. In einer anderen war ein verrußter Ofen platziert und ein dunkelroter, löchriger Teppich zierte die grauen Holzdielen. Vor einem vom Wind zerschlagenen Fenster stand ein antiker Schreibtisch. Nichts lag auf ihm.
Jillien schritt durch den Raum auf den Tisch zu und zog eine Schublade auf.
Sie war leer.
Sean trat hinter sie und spähte über ihre Schulter. Sie öffnete auch die zweite, doch auch diese enthielt keinen Inhalt.
„Ich sagte doch, hier gibt es nichts außer Dreck. Jillien, lass uns zurück fahren, es wird bald dunkel. Die Fahrt opfert wieder einen weiteren Tag.“
„Warte …“, flüsterte sie. Ungeduldig tippelte er mit seinem Fuß, während Jillien sich hinhockte und genauer das Innenleben der Schublade studierte.
„Jill, da ist doch nichts …“
„Sch!“ Überrascht von ihren schneidenden Ton, wendete er sich ihr wieder zu und beobachte ihr Handeln.
Sacht klopfte Jillien auf den Boden der Schublade. Beim dritten Mal lauschte auch er genauer hin. War sie etwa hohl?
„Da ist noch ein zweiter Boden“, stellte Jillien triumphierend fest. Erstaunt verfolgte er mit Blicken, wie sie mit spitzen Fingern den Boden leicht anhob und schließlich rausholte. Da befand sich wirklich noch eine Ebene!
Ihre Haare versperrten ihm die Sicht, als sie sich hinab beugte, um etwas hervorzuziehen.
In ihren zierlichen Fingern hielt Jillien einen zerknitterten braunen Briefumschlag mit rotem Wachssiegel.
„Was da wohl drinsteht …?“, murmelte sie gedankenverloren. Sean riss geschockt die Augen weit auf. „Du willst ihn doch wohl nicht öffnen!“
„Warum nicht? Hier lebt niemand mehr, wie du mich schon die ganze Zeit erinnerst. Und wenn sein Besitzer ihn nicht mitgenommen hat, kann er ja auch nicht so wichtig sein.“
Natürlich verstand Sean ihren Gedankengang, und seine Neugierde brachte ihn fast um, dennoch hielt er es nicht für richtig, den Briefumschlag zu öffnen.
Doch Jillien ließ sich nicht beirren. Sie riss ihn mit einem ihrer scharfen Fingernägel auf und zog ein dünnes Blatt Papier heraus. Vorsichtig – fast schon zärtlich – faltete sie es auf und las mit bebenden Lippen vor.
„Liebe Addison,
Wenn du diese Zeilen liest, wird wahrscheinlich schon ein Dolch meine Brust zieren. Aber ich konnte nicht gehen, ohne dir noch einmal gesegnet zu haben, wie viel mir an dir liegt.
Meine wunderschöne Addison, ich erinnere mich noch an meinen Jahrestag, als du dort, beschienen vom roten Sonnenkuss, vor mir standest, in deinem langen Seidenkleid, dein nachtschwarzes Haar zu einem Kranz geflochten, und mir dein lieblichstes Lächeln schenktest.
Und meine Erinnerungen spielen mir auch keine List, wenn ich daran denke, wie wir uns beim Sommerfest in jungen Jahren beim Tanz auf die Wange küssten und deine zarten Fingerspitzen als einzige Berührung die meinen streiften.
Und wenn ich sage, dass der Abend, an der die Vermählung unserer stattfand, der wundersamste Moment meines Lebens war, dann kann das keinerlei Lüge sein. Ich sage dir, dein Anblick in deinem königsgleichen Brautkleid, für das deine Eltern mehr zahlten, als sie hatten, nur um dich glücklich zu machen, war der zauberhafteste, den meine Augen je erblicken durften.
Unsere gemeinsame Zeit, jeder noch so perfekte Augenblick, bleibt in meinem Gedächtnis gespeichert. Ich werde dich niemals vergessen können, Geliebte.
Und wenn ich mir nun mein Augenlicht nehme, und alles Schlechte aus meinem Leben befreie, werde ich an das Gute denken. An dich.
Ich werde beim aller letzten Atemzug dein Abbild mir vor Augen führen und mit den Gedanken bei dir sterben.
Und wenn es ein wahres Leben nach dem Tod gibt, so halte ich an deiner fest, solange, bis du mir im Paradies Gesellschaft leistest, meine Teuerste.
Ich liebe dich.“
Jillien hatte Tränen in den Augen, während sie die letzten Worte las.
„Oh Gott, Sean.“ Mehr konnte sie nicht sagen. Stumm drehte er Jillien zu sich um und nahm sie in die Arme.
„Was sie alles empfunden haben muss, als sie den Brief las! Die Arme!“, murmelte sie in sein Hemd. Ohne einen Ton von sich zu geben drückte er sie nur enger an sich.
Schließlich löste sie sich von ihm. Mit traurigem Blick fragte sie: „Was glaubst du, hat sie danach gemacht, nachdem sie ihn gelesen hat?“
„Sie hat getrauert. Jahre lang. Und sie hat gewartet. Jeden Tag. Dass ihr Geliebter zu ihr zurückkehrt“, antwortete eine trockene Stimme hinter ihr.
Ruckartig wirbelte Jillien herum, und auch Sean zuckte erschrocken zusammen. Beschützend schlang er die Arme um ihre Schultern, während er misstrauisch die alte Frau musterte. Sie hatte graues Haar, lang und geflochten, und blass grüne Augen. Ihre Haut war schrumpelig und faltig. Ihre Kleidung, zerfetzt und dreckig.
Dennoch sah sie selbst nicht schmutzig aus. Äußerlich war sie von Staub besudelt, aber ihrer Körperhaltung und dem Blick nach zu urteilen, kam sie aus einer stolzen Familie.
„Addison?“ Jilliens zarte Stimme bebte. Die alte Dame nickte und machte einen Schritt auf die beiden zu.
Besitzergreifend streckte sie lange Finger mit gelblichen Nägeln nach dem Brief aus. Zögernd überreichte Jillien ihn ihr. Die Frau strich liebevoll über das Papier und betrachtete ihn voller Zärtlichkeit.
Zaghaft räusperte Sean sich. Die Alte sah fragend auf. Er trat von einem Fuß auf den anderen; die bedrängende Situation war ihm sichtlich unwohl. „Ähm … Sie leben.“ Was für ein dummer Spruch! Natürlich lebt sie, du Dummkopf, sie steht genau vor dir!
Addison verkniff sich doch tatsächlich ein amüsiertes Grinsen, als sie seinen peinlich berührten Gesichtsausdruck sah. „Ja, ich lebe“, stellte sie belustigt fest.
„Was mein Freund damit zum Ausdruck bringen wollte, ist: Es gab keine aktuellen Lebenszeichen von ihnen, und um ein Haar wären wir überhaupt nicht hierher gefahren …“
„Aber ihr seid doch jetzt hier, oder täusche ich mich, mein Kind?“, meinte sie mit strahlenden Augen.
„J-ja …“, stammelte Jillien.
„Siehst du, das alleine zählt. Nicht die Wahrscheinlichkeit, sondern die Realität, du naives Ding.“ Man sah Jillien an, dass sie nichts zu antworten hatte. Gereizt ergriff Sean das Wort. „Es scheint, als gefalle es ihnen, wie unwohl uns die Situation ist, so plötzlich von ihnen überrascht zu werden, …“
„Das hier ist mein Haus“, warf sie dazwischen.
„… aber wir sind hier, um ihnen Fragen zu stellen“, fuhr er ununterbrochen weiter, als hätte sie nie etwas gesagt. „Und sie werden uns antworten.“ Spöttisch hob sie eine Braue.
„Du willst mir etwas vorschreiben, junger Knabe? Ich wurde mein gesamtes Leben lang von meiner Familie, meinen Freunden, sogar dem Land herum geschubst. Glaubst du allen Ernstes, ich würde mir von dir Befehle erteilen lassen?“
„So meinte mein Freund das nicht. Er wollte sagen, dass wir ein paar Fragen an sie hätten und wirklich erfreut wären, wenn sie sie beantworten könnten“, versuchte Jillien die angespannte Situation zu retten.
Die alte Dame musterte das Paar eingehend. Dann erschien ein geheimnisvolles Lächeln auf ihrem Gesicht. „Wer von euch beiden ist es?“
Die Frage irritierte Sean ebenso sehr wie Jillien. „Wie … wie meinen sie das?“, flüsterte er.
Jilliens Körper spannte sich unverzüglich an.
Addisons Blick huschte schnell auf die junge Frau. „Also du.“ Jillien wich ihrem Blick aus. Die Grauhaarige lächelte blinzelte wissend und ging auf die andere zu. „Wie lange schon?“
„Seit vierzehnhundertdreiunddreißig“, murmelte Jillien. Addison blickte erstaunt drein. „Das ist lange, meinen Respekt. Sie müssen ganz schön viele Spielchen auf Lager haben.“ Sean unterdrückte ein Kichern, bei der Zweideutigkeit ihrer Worte. Jillien boxte ihm tadelnd gegen den Oberarm. „Nicht das was du meinst … Auch wenn ich da ebenfalls ganz schön was auf dem Kasten habe.“ Ein Zwinkern untermalte ihre Worte.
„Mein Junge, hat deine Freundin dir etwa noch nichts über ihr Wesen erzählt?“
„Einiges, was hat sie denn nicht erwähnt, was sie ja anscheinend wissen?“ Addison schmunzelte tückisch. „Wollen sie es ihm erzähle, junge Dame, oder gebührt mir die Ehre?“ Jillien schwieg unwohl, weshalb Addison abermals den Mund zum Sprechen öffnete.
„Mit den Jahren erlangen Klintaras neue Fähigkeiten. Sie sind immer unterschiedlich, außergewöhnlich, selten. Und hinter ihren Sinn und Zweck zu kommen ist meist sehr schwierig und zeitaufwendig. Stellt sich natürlich die Frage, was deine Freundin alles kann.“
Überraschung traf ihn. Es interessierte ihn wirklich, was sie alles konnte, aber das gehörte jetzt nicht hierhin. Jillien teilte anscheinend seine Meinung, denn sie tippelte ungeduldig mit dem Fuß und drehte den Kopf von einer zur anderen Seite.
„Wenn sie möchte, dass ich es weiß, dann wird sie es mir von selbst sagen, Miss. Das hat Vertrauen nun mal so an sich“, konterte er etwas zu scharf. Überrascht verzog Addison das Gesicht, gab darauf jedoch kein Kommentar.
Eilig lenkte Jillien vom Thema ab. „Wenn diese Streitigkeiten nun beendet sind, hätten wir trotzdem ein paar Fragen an sie. Darf ich?“ Bittend deutete sie auf das Bett. Doch Addison schüttelte den Kopf und wies die beiden an, ihr zu folgen.
Beim Gehen ergriff Jillien Seans Hand und drückte sie dankend. Mit einem Lächeln antwortete er. Er wusste, was ein Mädchen hören wollte und das sie alles von ihm erwartete.
Die alte Dame spazierte aus dem Haus hinaus und mitten in einen von Unkraut überfüllten Garten hinein. Ihr dicht auf den Fersen, folgten die beiden ihr. Sie blieb vor einer sehr alten Eiche stehen und blickte in deren dichte Blätterkrone.
„So prächtig, wie ihr Blätterhaupt, war ich auch einmal.“ Die Frau seufzte schwer. „Aber das ist schon lange her. Wenn ich jetzt zurück denke, legt sich ein grauer Schleier über die Erinnerungen, das Vergessen. Mit der Zeit schwindet immer mehr von meinem Gedächtnis. Nur die Gefühle der Vergangenheit bleiben in meinem Herzen gefangen.“
Sean stellte sich hinter Jillien, legte sacht seine Hände auf ihre Hüften und küsste beruhigend ihren Nacken, als sie sich bei Addisons Worten verkrampfte.
Addison fuhr unbeirrt fort. „Ich weiß, warum ihr beide hier seid. Ihr sucht einen Weg zu Brechen des Fluchs.“ Jillien nickte zaghaft, als die Frau sie fragend ansah.
„Tja, dann kann ich euch beiden nicht weiter helfen. Ich kenne nur den Weg, nicht die Mittel.“ Irritiert schaute Sean drein, Jillien dagegen schloss überlegend die Augen. „Sie sind weise“, murmelte sie nachdenklich. „Sie geben uns verschlüsselte Hinweise, Rätsel sind ihre Berichte.“
Anerkennend nickte Addison. „Die Jahre haben sie ebenfalls klug geformt.“ Jillien tat das mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Sie haben mich belehrt, Klugheit kommt nicht mit der Zeit.“ Die Alte erwiderte nichts auf die Belehrung.
Fasziniert betrachtete Sean die Situation, die sich ihm bot. Addison wartete geduldig auf Jilliens Antwort, während diese die Dame eingehend studierte.
Dann riss sie plötzlich die Augen auf und schnappte nach Luft. „Sie sagten, sie kennen nicht die Mittel, sondern den Weg. Sie wissen nicht, wie wir den Fluch brechen, aber sie wissen, wo wir weitere Spuren finden.“
Addison war anscheinend wirklich erstaunt. „Da haben sie Recht, junge Dame. Aber sagen sie, bevor ihre Fragen mich erdrücken, wie darf ich sie beide nennen. Sie kennen wie es scheint meinen Namen, aber ich ihre nicht.“
Eilig deutete Jillien auf sie beide. „Mein Freund heißt Sean, und ich bin Jillien.“ Nachdenklich sah Addison sie an. „Jillien, irre ich mich, oder kommt ihr Name aus der Renaissancezeit? Damals gab es die berüchtigte Jillien Medici; Tochter des derzeitig mächtigsten Mannes und der schönsten Dame. Doch sie sollte die Schönheit ihrer beider Eltern mit ihrem flammendem Haar um Weites übertroffen haben … Könnte es sein …?“
Jillien nickte abgehackt. Addison riss bewundernd die Augen auf und atmete mit geöffnetem Mund. „Nie hätte ich mir erträumt, eine so alte Klintara anzutreffen.“
„Glauben sie mir, Teuerste, in ihrem Leben sind sie schon sehr vielen meines oder höheren Alters begegnet, sie haben sich nur nie bekannt gegeben. Wer möchte das schon?“
Die Dame schwieg staunend weiter.
„Also, Addison, in ihrem Buch Dance of Eternity priceless berichten sie von einem fließenden Horizont. Und genau den suchen wir.“
„Und dabei habt ihr nicht eine Sekunde daran gedacht, dass dieser Ort eine Idee meiner Fantasie entsprungen sein könnte?“, fragte die Schriftstellerin provokant.
„Wäre das der Fall, hätten sie anders auf meine Worte reagiert, meine Teuerste. Wie sie schon sagten, die Zeit hat mich geformt. Mit den Jahren lernt ma die Menschen kennen und weiß, ihre Geheimnisse zu ergründen.“ Die alte Dame verzog die Lippen einen Sekundenbruchteil zu einem verbitterten, harten Strich. Doch dann setzte sie abermals ein fröhliches Lächeln auf.
„Sie haben mal wieder Recht. Der Ort existiert wirklich. Ich selbst habe ihn erblicken dürfen. Mit ihm.“ Ihr Blick trübte sich, und die vorherige Spannung fiel, und machte Platz für Gefühle.
Jillien legte verstehend eine Hand auf die alte Schulter. „Es tut mir leid. Es ist immer schwer, jemanden zu verlieren, den man liebt. Aber genau deshalb müssen sie uns helfen. Bitte.“
Sean musste genauer hinschauen. Irrte er sich, oder hatte Addison gerade Tränen weggewischt?
„Ich verstehe. Also, was wollt ihr wissen?“ Erleichtert atmete Sean auf. Und Jillien drückte glücklich seine Finger an ihrer Hüfte und legte anschließend ihre Hand über seine.
„Wo sich der Ort befindet und wie wir dorthin gelangen.“ Addison schloss nachdenklich die Augen und murmelte etwas Unverständliches vor sich her. Dann öffnete sie die Lider und starrte Sean an.
„Brasilien. Dort gibt es einen kleinen Regenwald. Er liegt nahe der Küste zum Atlantischen Ozean. Wenn ihr nur eurem Herzen folgt und der aufsteigenden Sonne und ihren wärmenden Strahlen, dann geleitet diese euch zum Mond und dieser zum fließenden Horizont. Mehr darf ich nicht sagen. Ist eure Liebe wahrhaftig beständig, werdet ihr euren Weg gehen und das Ziel erreichen.“
Jillien nickte dankend. Addison deutete mit der Hand in Richtung Haus und Seans Wagen. Verstehend wandten Sean und sie sich ab.
Doch dann drehte Sean sich noch einmal ruckartig um uns blinzelte Addison an. „Sie wollen kein Mitleid, ich habe keins. Doch sie wünschen sich Verständnis, und das kann ich ihnen geben. Ich kann verstehen, warum sie um ihn trauern, aber auch ihre Entscheidung, hier auf ihn zu warten, in ihren Träumen, und das Schicksal entscheiden zulassen, wann sie sich wiedersehen. Ich hoffe nur für sie, dass sie bald Frieden finden dürfen.“
Tränen schlichen sich in Addisons Blick. Erst schwieg sie gespannt, dann rann eine Träne über ihre Wange und sie lächelte gequält. „Ich danke dir, mein Junge, Sean. Ich wünsche euch beiden alles Gute und viel Glück. Ihr werdet es brauchen.“ Er nickte ihr noch einmal zu.
Dann drehte er sich wieder zu Jillien um. „Gehen wir“, flüsterte er seiner gerührten Freundin zu. Sie schluckte, bevor er seinen Arm um ihre Taille schlang und sie dicht beim Weggehen an sich zog. Haltsuchend klammerte sie sich an seine Schulter.
Sie beide spürten den bedrückenden Blick Addisons, der ihnen nachsah.
Und sie beide wussten, dass es vielleicht keine Chance geben würde für eine gemeinsame Zukunft.
Dennoch sprach keiner dieses Thema an. Als würden alle ihre Befürchtungen in Erfüllung gehen, sprach man sie nur laut aus.
Und vielleicht war es so auch besser.



Ich bin eine Hexe




Jillien saß hinterm Steuer und rieb sich erschöpft die Augen. Nach dem Besuch bei Addison waren sie nach New York zurück und von dort aus nach Brasilien losgefahren. Die Tage vergingen, sie kamen durch Pennsylvania, West-Virginia, Kentucky, Texas, Mexiko und nun endlich durch Brasilien.
Sie machten selten Stopps, wechselten sich regelmäßig mit der Fahrerei ab, damit der jeweils andere ein Auge zu machen konnte, und redeten die Zeit über nicht viel.
Die ersten Nächte in Rio de Janeiro übernachteten sie in einem exzellenten fünf Sterne-Hotel mit Sicht aufs Meer. Doch Jillien genoss die Zeit keine einzige Sekunde lang. Denn es galt immer nur, einen Weg zu suchen, der sie an den magischen Ort führen würde.
Und heute Morgen in aller Frühe hatte Sean, der die ganze Nacht im Internet geforscht hatte, sie geweckt und eine Karte vor ihrer Nase her gewedelt. Und nun waren sie auf dem Weg zu einem kleinen Stück Regenwald, welches als mystisch in den Aufzeichnungen dargestellt wurde.
Sie fuhr auf einen Feldweg und hielt vor einem riesigen Baum. Hinter ihm erstreckten sich weitere riesige Bäume, die ins endlose Nichts führten.
Jillien stieg aus, lud das Gepäck aus dem Kofferraum – Rucksäcke vollgepackt mit Essen, vielen Trinkflaschen, Isomatten und einem Zelt – und marschierte auf die andere Seite des Wagens und öffnete die Beifahrertür.
Seans Kopf war gegen die Lehne gelehnt und seine Augen müde geschlossen. Er war so ruhig, wenn er schlief. Fast schon verträumt.
Liebevoll fuhr sie mit den Fingerspitzen über seine Wange. Zitternd öffnete Sean die Augen und blickte sie unter halb geschlossenen Lidern an. „Hi“, murmelte sie.
Lächelnd wurde er vollends wach und stieg schweren Gemüts aus dem Auto.
Zusammen liefen sie Hand in Hand und das Gepäck auf dem Rücken, durch den Wald und suchten unter den Schatten der Baumkronen hindurch einzelne Sonnenstrahlen.
Blind folgten sie den grellen Lichtern. Ab und zu blieben sie stehen, verschnauften, tranken und aßen, und dann gingen sie weiter. Die Zeit verging, die Nacht brach ein und der Mond schimmerte silbern am klaren Horizont.
Erst jetzt fiel Jillien auf, dass sie überhaupt keine Ahnung hatten, wo sie waren. Furcht breitete sich in ihr aus. Was, wenn wir hier nie wieder rauskommen?
Sean bemerkte ihren ängstlichen Blick und wusste sofort, woran sie dachte. Aufmunternd drückte er ihre Finger und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie verlor sich in seiner Berührung und vergaß all ihre Befürchtungen.

Jillien lag träge in Seans Arm. Ihre Augen waren geschlossen. Das Geräusch ihrer beider Atmung erfüllte das Zelt. Ein kalter Luftzug drang durch die kleine Öffnung des Ausgangs. Ein Schauder überzog ihren Körper und reflexartig fing sie an zu zittern. Schützend schloss er seine Arme enger um sie, wobei Jillien ihr Gesicht an seiner Schulter vergrub. Ihr gefütterter Pullover half nicht wirklich beim Wärmen, er dafür umso besser.
„Jillien, ich weiß überhaupt nichts über dich. Erzähl‘ mir etwas. Irgendwas über dich und deine Vergangenheit.“ Sie öffnete die Augen und starrte ihn perplex an. „Über mich? Was willst du denn wissen?“ Ihre Stimme war seltsam belegt. Krampfhaft zog sich ihr Magen zusammen. Er drehte sich auf die Seite und betrachtete ihr im Schatten liegendes Gesicht. „Alles“, kam leise seine Antwort.
Jillien richtete sich auf und fuhr sich durch die zerzausten Locken. Ihr Blick blieb an dem Spalt hängen, der nach Draußen führte. Dort sah sie das verbrannte Holz und orangene Glut darin. Sean setzte sich neben ihr ebenfalls auf und musterte sie von der Seite. Eine seiner großen Hände legte sich auf ihren zitternden Oberschenkel. Die Bewegung ließ sie zusammen zucken und zwang sie, ihn anzusehen. Mit halb geschlossenen Lidern blickte sie ihm in die tiefblauen Augen, in denen sich das silberne Mondlicht verlor.
„Ich stamme aus einem anderen Zeitalter als du, auch wenn man es mir nicht ansieht. Ich wurde in die Zeit der Renaissance hineingeboren. Ein Gen in meinem Körper stoppte mein Altern ab dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr. Ich lebte mit den antiken Künstlern, dem königlichen Adel Paris‘ und der Zeit der Hexenfolterung.
Damals, 1603, klagte mich ein armer Bauer des Hexens an. Seine Beweise eines Zaubers waren einzig und allein der Tod seines Sohnes und meine feuerroten Haare. Rot war die Farbe des Teufels und deshalb sehr verhasst. Die Richter gaben mir drei Tage der Vorbereitung, in denen ich eingesperrt mein Verbrechen gestehen sollte.“ Sie endete, traute sich nicht weiterzusprechen, fürchtete sich vor seiner Reaktion. Seans Augen waren vor Schreck geweitet und er stotterte einige, kaum verstehbare Worte.
Sie legte beschwichtigend ihre Hand an seine Wange. Vorsichtig, mit zitternden Händen, wickelte sie eine einzelne dunkle Locke seiner Haarpracht um ihren Finger.
Sie verlor sich in seinem Blick. Ein verträumtes Lächeln huschte über sein Gesicht, ehe seine Miene wieder versteinerte. Die bedrückende Stille breitete sich im Zelt aus, hing schwer in der Luft.
Schließlich löste Jillien sich von ihm und sah nach draußen. Abwesend, in ihren eigenen Gedanken versunken, meinte sie: „Du musst mich für vollkommen verrückt halten.“ In ihrem Ton schwang ein verbittertes Lachen mit. Sean umschloss mit den Fingern ihr Kinn und drehte ihren Kopf sich zu. Stahlhart blieb sein Griff und zwang sie, ihn anzusehen. „Nein, ich glaube dir. Jedes einzelne deiner Worte. Erzähle mir mehr. Mehr über diese Zeit … Mehr über dich.“ Ein bittendes Heben seiner Mundwinkel ließ sie weitersprechen. Ihr Blick blieb dabei einzig und allein auf ihn gerichtet.
„Ich … Sie folterten mich. Auf so widerwärtige und schreckliche Arten, dass ich mich nicht noch einmal in den Details vertiefen möchte.“ Tränen stiegen ihn ihrer Stimme auf und sie musste innehalten, als sich einzelne Bilder der Qualen vor ihr geistiges Auge schoben. Entschuldigend zog Sean die Brauen zusammen und wollte sie am Weiterreden hindern. Doch sie ließ ihn mit einer klaren Handbewegung verstummen und fuhr mit bebenden Lippen fort. Eine einzelne Träne kullerte ihre Wange hinunter und blieb in ihrem Mundwinkel hängen. Sie wischte sie nicht fort.
„Nachdem ich dieses Ritual wieder und wieder überlebte, erklärte man mich offiziell für eine Hexe. Sie sagten, ich wurde vom Teufel persönlich geschickt um Unheil und Tod zu verbreiten. Sie meinten, ich sei verflucht. Und sie hatten Recht.“ Verbittert verklang ihre Stimme und sie wandte sich von Sean ab.
Den Blick an die Zeltwand gerichtet, legte Jillien sich auf die Seite und zog den Schlafsack bis an ihr Kinn. Ihr Ton war steinhart gewesen, in ihrem Herzen jedoch zerbrach Etwas. Leise kamen die Tränen und die Schluchzer bebten durch ihren Körper. Lange hörte man nichts außer ihr Weinen.
Dann legten sich plötzlich starke Arme auf ihre schmale Taille und zogen ihren zierlichen Körper enger an sich. Sean stützte sein Kinn vorsichtig auf ihre Schulter und streifte mit seinem warmen Atem ihren Kiefer. Seine Nähe beruhigte sie und das Beben verebbte. Zurück blieben nur noch die salzigen Tränentropfen und ihre Trauer.
Behutsam reckte er sich über sie und hauchte einen Kuss auf ihre Wange. Als er sich wieder zurücksinken ließ, murmelte er einige Worte in ihr Haar. „Sie haben nicht Recht behalten. Niemals würdest du jemandem etwas antun. Nicht meine Jillien.“
Wie sehr sie sich wünschte, er würde die Wahrheit sagen.

Jillien schlug müde die Lider auf. Mit schmerzendem Rücken richtete sie sich auf und zog die Knie an den Körper. Sie verzehrte das Gesicht bei den Schmerzen. Der Zeltboden war viel härter gewesen, als sie vermutet hatte. Sie streckte die Arme von sich, dehnte ihren Nacken und atmete die frische Luft tief ein.
Stille. Nichts war zu hören. Überrascht sah sie neben sich. Der Platz war leer. Kein Sean weit und breit. Verwundert zog sie ganz vorsichtig den Reisverschluss runter und spähte durch die Öffnung. Draußen war es beschattet, dennoch vermutete sie, dass es schon Morgen war.
Auch in der Dunkelheit war nichts zu sehen. Zögernd zog sie sich ihre Strickjacke über die Schultern und schnürte sie vorne enger zu. Dann kniete sie sich auf die Decken und schob einen der Rucksäcke beiseite.
Ein Knistern. Erschrocken zuckte sie zusammen und griff reflexartig in ihre Jackentasche. Als sie den kühlen Griff der Waffe berührte, sank der Herzschlag augenblicklich um Einiges. Zaghaft, so leise, wie möglich, holte sie sie hervor und musterte kurz den schwarzen Lauf der Pistole. Sie hatte fünf Schuss. Ihre Zielsicherheit hatte sie sich zwar vor über dreißig Jahren antrainiert, aber das Gewicht in ihrer Hand fühlte sich dennoch real und gewohnt an. Wäre dort draußen eine Bedrohung, wäre sie mit maximal zwei Abzügen erledigt.
Ein Schuss zur Probe und einen zum Ende.
Lautlos, den Atem raffiniert anhaltend, robbte Jillien sich auf ihren Knien weiter vorwärts. Die Öffnung des Pistolenlaufs hielt sie an den Spalt zwischen den zwei Zeltwänden. Ein Auge konzentriert zugekniffen starrte sie in die Schatten hinaus.
Ein Rascheln, ihr Blick huschte zu einem Busch. Blätter bewegten sich, teilten sich.
Mit einem Sprung war sie draußen, hockte sich auf den Waldboden und stützte ein Knie auf das Laub. Die Waffe lag sicher in ihren beiden Händen, zielgerichtet auf das Gestrüpp. Die Zweige trennten sich. Geübt entsicherte sie die Pistole mit einem Klicken. Ein Schuss zur Warnung.
Sean hüpfte erschrocken aus dem Gebüsch und kreischte panisch los. Bei dem Anblick, den Jillien ihm bot, weiteten sich seine blauen Augen noch weiter vor Angst.
Plötzlich gelangweilt und verlassen vom Adrenalin, stand sie aus ihrer Hockposition auf und steckte die Waffe hinten in ihren Hosenbund. Das kühle Metall traf auf ihre erhitzte Haut und jagte Jillien angenehme Schauder über den Rücken.
Sean kam langsam wieder von seiner Panikattacke runter und starrte sie entsetzt an. Desinteressiert sah sie beiseite.
„Du hast eine Waffe?!“, rief Sean ungläubig aus. Ein knappes Nicken ihrerseits. Er murmelte Gebete und trat auf sie zu. Angstschweiß bedeckte seine Stirn.
„Mensch, Jillien, du hast mir eine Heiden Angst eingejagt! Warum hast du auf mich geschossen?“
„Ich dachte du wärst irgendein Tier, dass sich an mich ran schleichen will. Der erste Abschuss war mehr eine Warnung, beim zweiten hättest du dir mehr Sorgen machen sollen.“ Jillien zuckte locker mit den Schultern.
Der Situation nicht ganz folgend, schüttelte Sean den Kopf und drehte sich halb weg. „Meine Freundin hat ‚ne Knarre! Ist das zu fassen?“ Er wandte sich ihr wieder zu und starrte ihr in die Augen.
„Jill, woher hast du die?“ Sie blickte unwohl weg. „Es könnte sein, dass ich, als wir durch Texas gefahren sind und du grad in aller Seelenruhe geschlummert hast, in einen Laden gegangen bin und mir eine gekauft habe.“
„Kannst du mit so einem Ding überhaupt umgehen?“ Empört schnaubte sie. „Ich bitte dich, natürlich! Seid ihr Männer echt so arrogant, dass euch eure Eitelkeit darauf schließen lässt, dass wir Frauen zu blöd dafür sind?“ Sean schüttelte den Kopf.
„Ich meinte ja nur, schließlich hast du mir grade fast den Schädel weggeblasen!“ Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. „Hab ich aber nicht. Ich kann schießen, wirklich. Vor ein paar Jahren habe ich das mal professionell gemacht.“
„Professionell?“
„Ähm … Sagen wir mal so, hat man mir genug Geld geboten, habe ich das ein oder andere mit so einem Schätzchen gemacht.“ Sie fasste sich unter die Jacke und streichelte liebevoll über den Griff der Waffe.
„Du willst mir gerade wirklich sagen, dass du eine Profikillerin bist?“
„War. Ich war eine Profikillerin. Ich habe dem Geschäft vor einigen Jahren den Rücken zugekehrt, meine Deckung bröckelte nach all der lange Zeit.“ Abermals spiegelte sich Desinteresse in ihrem Blick.
Ungläubig kniff Sean die Augen zusammen. „Sie ist eine Profikillerin … war“, murmelte er geschockt vor sich hin.
Um vom Thema abzulenken, deutete Jillien auf das Gebüsch, aus welchem Sean vorhin aufgetaucht war. „Was hast du da gemacht?“ Verwirrt blickte er hinter sich auf die Sträucher. Dann machte er eine abweisende Handbewegung und meinte: „Ach, ich wollte nur die Gegend erkunden, und du hast so friedlich da gelegen und so ruhig geschlafen, da wollte ich dich nach allem, was gestern Abend passiert ist, nicht aufwecken, und hab mich allein auf den Weg gemacht.“ Er zuckte locker mit den Schultern.
Verstehend nickte Jillien und drehte ihm den Rücken zu. Sie ging zum Zelt und hockte sich vor den Reißverschluss, um ihn kritisch zu betrachten. Als sie herausgesprungen war, war er unten gerissen.
Hinter sich hörte sie ein amüsiertes Kichern und ein heißer Atem streifte ihre Wange. Ruckartig schnellte sie herum, wodurch sie schwankte und ihr Gleichgewicht verlor.
Sean fing sie auf, indem er rasch einen Arm um ihre Hufte schlang und sie zu sich zog. Erleichtert sank sie gegen ihn und schloss die Augen. Jillien atmete seinen angenehmen Geruch ein und seufzte traurig.
Er fasst ihr in die Haarmähne und zog sanft ihren Kopf zurück. Sein Blick war verwirrt und stellte wortlos die Frage. Was ist los?
„Glaubst du wirklich, dass wir den Ort finden werden?“ Zweifelnd zog er die dunklen Augenbrauen zu einem Strich und kniff seine unendlich tiefen blauen Augen zusammen.
„Nein.“ Erschrocken riss sie die Augen auf. Ein Lächeln trat auf seine Lippen. „Ich weiß es.“ Mit einem breiten, erleichterten Grinsen schlug ich ihm freundschaftlich mit der Faust gegen die Schulter und erfreute mich über das Zucken seiner Mundwinkel, als er sich die Stelle rieb. „Autsch. Das tat weh. Obwohl ich mich ja eigentlich geehrt fühlen sollte, dass du nicht gleich deine Waffe gezückt hast.“
Sie lachte und kroch ins Zelt. „Beim nächsten Mal, versprochen.“

Während Jillien sich ein dunkelgrünes Top und eine schwarze knappe Shorts anzog, packte Sean draußen die Sachen zusammen. Als sie schließlich aus dem Zelt trat, baute er auch dieses ab. Die schwüle Luft erschwerte ihr das Atmen, also schob sie sich das Top über den Bauch und knotete es an der Seite unterhalb der Brüste zusammen.
Als Sean sich mit einem geschafften Seufzer aufrichtete und den Rucksack auf den Rücken warf, hielt er gebannt inne und musterte Jillien von Kopf bis Fuß. Verlegen errötete sie, was ihm anscheinend durch die derzeitige Hitze als normal erschien.
Zusammen marschierten sie weiter unter den Bäumen her. Ein weiterer Tag verging und immer noch waren keine Anzeichen zu finden. Geschlagen sank Jillien plötzlich zu Boden und stützte erschöpft den schweren Kopf auf ihre Knie. Leise Schluchzer brannten sich ihre Kehle hinauf und zu wenig Luft drang in ihre Lungen. Nach Atem ringend hechelte sie. Die schwüle Luft tat ihren schmerzenden Teil dabei.
Augenblicklich kniete Sean neben ihr, legte seine Arme um sie und beruhigte seine aufgewühlte Freundin. Seine Finger strichen zärtlich ihre Wange auf und ab, ihre Atmung stellte sich in den gleichen Rhythmus ein und die Tränen versiegten.
Nach einer endlos scheinenden Zeit des Aufgebens, stand Sean schwerfällig auf und hob sie auf seine Arme. Jillien klammerte sich an seine Schultern und barg ihr verzehrtes Gesicht an seinem Hals. „Keine Sorge, Jill. Wir finden den Weg. Wir brauchen nur etwas Zeit.“
Nicht eine Sekunde glaubte sie seinen Worten.
Dennoch ließ sie sich von ihm tragen. Bis er schließlich seine Muskeln unsanft anspannte und sie aus ihrem traurigen Halbschlaf riss. „Jillien, sie dir das an!“ Erschrocken riss sie die Augen aus. Nach mehrmaligem Blinzeln erkannte sie Umrisse und später verschärfte sich ihr Blick.
Überrascht quiekte Jillien auf und sprang von Seans Armen. Sie rannte auf einen kleinen See zu. In schweren Massen, fiel grauschwarzes Wasser eine Felswand hinab. Daneben rankten sich Kletterpflanzen gen Himmel, an welchen zarte Knospen wuchsen. Die gelbgoldenen Blüten sammelten sich und verliehen dem Ort etwas Magisches.
Jilliens Blick verschwamm vor Tränen. Stürmisch schnellte sie zu Sean herum und fiel ihm um den Hals. Er taumelte nach hinten, fing sich aber wieder auf, ehe er Jillien hochriss und sich mit ihr zusammen im Kreis drehte. Sie hatten es geschafft. Sie hatten den Ort gefunden.
Nach Glücksrufen und versiegten Tränen, starrte sie ihn fassungslos an. „Wie hast du den Weg gefunden?“
Sean grinste. „Addison hatte doch gesagt, wir sollen erst der Sonne und dann dem Mond folgen. Und genau das habe ich gemacht. Ich bin wie zuvor den Sonnenstrahlen gefolgt, und dann, anders als letzte Nacht, dem silbernen Mondlicht.“
„Sean, du bist ein Genie!“, rief sie und küsste überglücklich seine beiden Wangen. Er errötete über das Kompliment, erwiderte aber nichts.
Jillien griff nach Seans Hand und marschierte ans Ufer des kleinen Sees. Sie fasste mit der freien Hand an die Felswand und die grünen Ranken. Mit zarten Fingerspitzen streichelte sie die feinen Blütenknospen, welche unter ihrer Berührung zu beben schienen.
Überrascht schrak sie zurück. Doch Sean schob sie abermals vor. Dieses Mal führte er ihre ineinander verschlungenen Finger an eine der Blüten und berührte sie zusammen. Augenblicklich zitterten die Blätter und ganz langsam entfalteten diese sich. Erstaunt öffnete Jillien den Mund und betrachtete fasziniert das magische Schauspiel, das sich ihr bot.
Das Gleiche tat Sean auch bei den übrigen Knospen. Jede einzelne öffnete sich und gab den Blick frei auf goldene Staubkörner, die sich auf den zarten Blütenblättern sammelten.
Als sie zusammen die letzte Knospe berührten, fing die Felswand an zu beben, gleich der übrigen Blumen, aber nichts weiter passierte. Ungeduldig wollte Sean die Blume noch einmal berühren, aber Jillien hielt ihn zurück.
„Warte. Was hatte die Stimme in unserem Traum noch gleich gesagt?“ Verwirrt verzog er das Gesicht. Nachdenklich schloss sie die Augen und dachte an den einen atemberaubenden Moment der Berührung ihrer beider Lippen zurück. Damit kamen auch der Singsang und sein Inhalt. Fast mechanisch wiederholte sie: „Eilet zum fließenden Horizont, seht kindlich und greift nach den Sternen. Ordnet sie neu an und lest aus ihnen.“ Prüfend blickte sie auf ihre Unterarme, welche immer noch mit den geheimnisvollen Tätowierungen bemalt waren. Sie verglich die sternenförmigen Bilder mit den goldenen Blüten und erkannte sofort den Zusammenhang. „Das ist es! Sean, diese Blumen sind die Sterne. Indem wir sie gemeinsam berührt haben, haben wir nach ihnen gegriffen. Nun heißt es, eine neue Ordnung zu finden und aus dieser zu lesen … Aber was genau ist damit gemeint?“
Sean hob die Brauen, während er überlegte. Dann riss er plötzlich den Kopf rum und starrte die Sternenblumen an. „Natürlich! Warum bin ich nicht schon früher drauf gekommen?“ Jillien verstand nicht, was er meinte, also schwieg sie.
Sean trat drei Schritte zurück und zog Jillien mit sich. „Sag mir, Jill, was siehst du hier?“ Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen und betrachtete die Felswand. Dann sah sie es.
„Die Anordnung der Blumen, sie ähnelt einem Fluss. Oder einem Sternenhimmel, wie man‘s sehen will.“ Er hob seinen Arm, um mit dem Finger auf einzelne Blütenknospen zu zeigen. „Schau, es geht im Gesamten überhaupt nicht um die Sterne. Zumindest nicht um die, die man auf Anhieb sieht. Würde man die Ranken“, er deutete auf einige dunkelgrüne Kletterpflanzen, „umlegen, könnten sie die Umrisse eines Pentagramms ergeben, die Konturen eines Sternes.“
Verstehend nickte sie. Zusammen gingen sie zu der Felswand und seinen Anweisungen folgend, zog sie an den Blüten und Ranken, und legte sie so um, dass sie sein Vorstellungsbild ergaben.
Und dann geschah es. Als sie beide ihren Blick auf den grünen Stern warfen, fingen die Blumen an zu sprießen. Der Goldstaub wirbelte auf, wehte mit dem Wind und legte sich auf die Kletterpflanzen. Dann bebte abermals die Felswand, doch dieses Mal bildeten sich Risse, den Umrisslinien folgend.
Atemlos starrte Jillien auf das Geschehende und drückte voller Angst Seans Hand. Dieser rührte sich nicht einmal von der Stelle und in seinem Blick lag unberührte Furcht.
Der graue stein riss weiter auf, bis ein sternenförmiges Loch entstand. Das Gestein in Mitten der Rangen fing an zu bröckeln und rieselte in Kiessteinchen zu Boden. Eine dunkle Höhle kam zum Vorschein, direkt neben dem glänzenden Wasserfall.
Als das Gestein endlich aufgehört hatte, zu beben, konnten sich Jillien und Sean immer noch nicht bewegen. Schließlich machte er einen Schritt auf den Höhleneingang zu. Mit zitternden Fingern berührte er die Ranken, deren Goldstaub langsam verblasste.
Dann drehte er sich zu Jillien um, welche nicht glauben konnte, was gerade passiert war. Aber es war geschehen. Eigentlich müsste sie sich freuen, dass sie es geschafft hatten. Dennoch verspürte sie nichts weiter, als fürchterliche Angst und Ungläubigkeit.
Sean kam zu ihr und legte kurz eine Arme um sie. Dann griff er nach ihren eiskalten Fingern und zog sie an seine Seite. Er schob sie zärtlich vorwärts, bis an den Höhleneingang. „Sollen wir?“
Zögernd musterte sie die Dunkelheit vor ihr. Dann nickte sie ängstlich und drückte hilfesuchend seine Hand. Er hauchte ihr einen beruhigenden Kuss auf die Wange, ehe er sich bedächtig vortastete. Immer ein Stück hinter ihm, machte sie einen Schritt vor den anderen, darauf gefasst, jeden Moment von wilden Tieren angefallen zu werden.
Sean führte sie durch die Schatten tief in das Gestein hinein. Der Kies unter ihren Sohlen knirschte viel zu laut in der Stille.
Bei jedem vorbeiziehenden Windhauch zuckte sie zusammen. Er drückte hin und wieder ihre Finger, wodurch sich ihr Herzschlag manchmal sogar normalisierte.
Schon wollte Jillien ihn zum Umkehren drängen, da flackerte vor ihnen an der Wand ein zartes Licht auf. Ängstlich versteckte sie sich hinter Sean. Grinsend drehte er sich um. „Auch wenn es gerade wahrscheinlich das Letzte ist, was du zu hören bekommen willst; das muss ich jetzt sagen. Du warst in deiner Vergangenheit eine Profiauftragskillerin und hast eine Waffe in deinem Hosenbund verborgen, aber vor einer dunklen Höhle hast du Angst?“ Warnend funkelte sie ihn an. Drohend stach sie ihm den Zeigefinger in die Brust. „Übertreib es nicht, Sean. Zwei Sekunden brauch ich, um mein Schätzchen hervor zu ziehen und zu entsichern. Und dann werden wir ja sehen, wer hier Angst zeigt.“
Die Warnung prallte offensichtlich an ihm ab, denn er grinste nur zur Antwort, ehe er sich wieder umdrehte und leise weiterschlich.
Jillien folgte ihm; die Furcht hatte der Verbitterung Platz gemacht. Sichtlich genervt biss sie sich auf die Zunge, um ein böses Zischen zu unterdrücken.
Am Ende der Höhle sahen sie um die felsige Ecke. Dort stand auf einem antiken Tisch eine leuchtende Öllampe, daneben stand ein goldenes Kästchen. Sofort kam Jillien die Frage, was sie wohl beinhalten würde. Es war eine süße Versuchung, einfach hinüber zu gehen, den Deckel zu öffnen und sich den Inhalt vor Augen zu führen.
Widerwillig wandte sie den Blick ab und erforschte weiter den Raum. Weiter hinten stand ein altes Bett mit grauem Bezug und schwarzbraunem Gestell. Und daneben, in der letzten Ecke versteckt, ruhte eine vergoldete, große Truhe mit einem riesigen Schloss, welches nicht wissende davor bewahrte, hineinzuschauen.
„Endlich seid ihr da.“ Ein Schrei ertönte und Jillien schnellte erschrocken herum. Sean tat es ihr gleich, die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Vor ihnen stand eine anscheinend sehr alte Frau mit langem grauem Haar, welches ihr strähnig ins Gesicht fiel, und verblassenden violetten Augen. Violett? Sie schaute noch einmal genauer hin. Ja, sie waren wirklich lila.
Ein geheimnisvolles Lächeln zierte ihre trockenen Lippen in ihrem schrumpeligen Gesicht. „Ich heiße Xynthia, aber das ist noch nicht von Belang. Und ihr seid der junge Sean, mit dem weisen Herzen und dem talentierten Kampfkörper. Der perfekte Krieger. Und die Klintara Jillien, die mit ihrer engelsgleichen Schönheit vom Teufel geschickt wurde, um die unwissenden Menschen zu täuschen. Du bist das feurige Gegenstück zu ihm. Und dafür wollt ihr euer Leben riskieren. Sehr lobenswert.“
„Woher kennen sie uns?“, fragte Jillien irritiert.
„Ach, Kindchen, ich kenne jeden alten grauen Herrn, jede gestresste, überarbeitete Kauffrau, jeden armseligen Säufer, jede verliebte Jugendliche, jedes kleine Kind und ebenso alle Neugeborenen. Es gibt in diesem Moment nichts, was ich nicht sagen könnte.“
In Jilliens Augen spiegelte sich das Erstaunen.
Misstrauisch fragte Sean: „Wenn sie alles wissen, dann können sie uns auch bestimmt sagen, was wir tun müssen.“
„Natürlich kann ich das.“ Xynthia nickte. Jillien wartete gespannt auf ihre Antwort. Doch es kam keine.
„Ja, und was?“ Ihr Ton zeugte von leichter Gereiztheit. Tadelnd erhob die alte Dame einen faltigen Finger, mit spitz zu laufenden, langem Nagel. „Dachtet ihr wirklich, ihr könntet hier einfach so aufkreuzen und nach einer simplen Antwort fragen?“
Überrascht zuckte Sean mit den Schultern. „Naja …“
Mit einem erbosten Blick brachte Xynthia ihn zum Schweigen. Mit gebeugtem Rücken, einem Katzenbuckel gleich, stolzierte sie an Jillien und Sean vorbei und ließ sich auf dem Stuhl nieder. Zitternd legte sie die Finger um eine durchsichtige Kristallkugel, welche neben der Öllampe platziert war.
In dem Glas bildeten sich zarte Nebelwolken, Dunst breitete sich in dem Gefäß kreiselnd aus und mit ihm schwebte eine hauchzarte Silberstaubspur. Fasziniert trat Jillien an den Tisch und konnte den Blick nicht von dem Schauspiel wenden.
Auch Sean stellte sich hinter sie und schaute über ihre Schulter zu.
Xynthias Körper vibrierte, während sie in einer fremden Sprache Wörter vor sich hin murmelte. Unter der Dunstschicht wurde ein Bild immer klarer.
Jillien sah genauer hin. Ein goldener Schlüssel wurde in das Schloss der alten Truhe hinten in der Ecke gesteckt. Ganz langsam, ohne überhaupt von einer fremden Hand berührt worden zu sein, drehte er sich und verharrte mit einem viel zu lauten Knacken.
Energisch, bevor Jillien sehen konnte, was daraufhin geschah, riss Xynthia die Hände von der Kristallkugel weg und keuchte aufgeregt.
Sorgend betrachtete Jillien sie mit gehobenen Brauen. „Alles in Ordnung?“
Eilig nickte die Alte und fuhr sich mit der Handfläche über die faltige Stirn. „Sagen sie, was war das da in der Kugel?“
Dem Blick Jilliens ausweichend, stand Xynthia auf und drehte sich weg. „Eine Untat.“
Irritiert drängte Sean sich in ihr Sichtfeld und starrte sie an. „Was ist in der Truhe?“
„Das Böse.“
Die prompte Antwort ließ Jillien und Sean stutzen. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, schaute Jillien sich ein weiteres Mal um. „Wohnen sie hier?“, fragte sie ablenkend.
„Schon mein gesamtes Leben lang.“ Liebevoll strich Xynthia mit den faltigen Fingern über die Lehne des antiken Stuhls und verlor sich in ihren Gedanken.
Geduldig wartete Jillien. Als Sean die ältere Dame aus ihrer Traumwelt entreißen wollte, griff sie hastig nach seiner ausgestreckten Hand und umschloss diese mit ihren langen Fingern. Nicht. Lass sie, bat sie ihn mit einem eindringlichen Blick. Aufgebend seufzte er und ließ sich auf einen kleinen Spalt in der Felswand nieder, der eine breite Fläche zum Sitzen bot. Trotz der breiten Kante, blieb für sie jedoch kein Platz mehr. Was sie nicht alles für eine angenehme Pause gegeben hätte. Ihre Beine schmerzten unaufhörlich!
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, zog Sean sie, die Hände auf ihre Hüften gelegt, auf seinen Schoss und hielt sie fest. Ihr anfänglicher Protest war nur halb so ernst gemeint, wie seine Bereitschaft, sie loszulassen. Also gab sie sich geschlagen und machte es sich gemütlich.
Xynthia war während ihres kleinen Gerangels aus ihrer Trance erwacht und betrachtete nun amüsiert das Schauspiel. Als Jillien dies bemerkte, schoss ihr die Röte geradezu ins Gesicht.
Doch die alte Frau tat das nur mit einer leichten Handbewegung ab und widmete ihre Aufmerksamkeit der Wand ihr gegenüber. Verwirrt folgte Jilliens Blick dem ihren, aber dort war nichts zu sehen, als graues Gestein.
Schon wollte sie nachfragen, als Xynthia urplötzlich herum schnellte. In ihren Augen loderte ein violettes Feuer. Erschrocken zuckte Jillien zurück, beschützend von Seans Armen umschlungen.
Ein belustigtes Grinsen trat auf das faltige Gesicht der Anderen und entblößte eine Reihe alter gelber Zähne. „Ihr fürchtet nicht mich als Fremde, sondern mich als Wissende. Sehr weise.“
„Können sie diese überheblichen Kommentare nicht einmal einstellen?“, zischte Sean sichtlich genervt. Ein Fauchen glitt über Xynthias Lippen und beruhigend strich Jillien mit dem Daumen über seine Hand. „Das meinte mein Freund nicht so. Er ist nur noch nicht in Geduld geübt“, versuchte Jillien ihn zu verteidigen.
Bedrohlich flüsternd antwortete Xynthia: „Doch, er hat jedes einzelne Wort ernst gemeint. Du solltest ihn wirklich der Ungeduld strafen, liebe Jillien. Denn meines Erachtens ist e zu verwöhnt für meine Ohren.“ Sean wollte etwas Erwidern, doch Jillien bohrte ihre Fingernägel in seinen Arm und hinderte ihn daran. Dann nickte sie und versuchte die Miene der Alten mit einem sympathischen Lächeln aufzuhellen.
Diese ließ sich um den kleinen Finger wickeln und beließ die Angelegenheit dabei. Den leisen Kommentar „Früher wäre ihm dafür die Zunge abgeschnitten worden!“ konnte sie sich dennoch nicht verkneifen.
Leicht angespannt, wartete Jillien auf das Folgende. Als jedoch nichts geschah, musste sie auch sich selbst ermahnen, Geduld zu wahren.
Die Zeit verstrich. Es war, als würde der Sekundenzeiger einer Uhr in ihrem Kopf lauthals ticken. Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack.
Schon drohten ihre Lider zuzufallen, da schoss plötzlich ein greller Blitz aus der Felswand und mitten in Xynthias Herz hinein.
Jillien entfuhr ein Schrei. Und auch Sean hielt erschrocken den Atem an.
Die Sekunden verstrichen. Jilliens Sicht verschwamm, verschärfte sich und verschwamm dann wieder. Nebel zog auf, verblasste. Und immer wieder hallte ihr aufgeregter Schrei in ihren Ohren nach.
Dann fühlte sie plötzlich, wie ihr ganzer Körper geschüttelt wurde. Ihre Lider zuckten, bis sie sie zwang, vollends aufzubleiben. Ihr Umfeld verschärfte sich. Konturen wurden zu scharfen Umrissen und dann zu Personen.
Es war Sean, der sie wach rüttelte. Seine Augen waren riesig und dunkel vor Angst. Xynthia stand weiter entfernt. Ihre Hände hatte sie vor dem Körper verschränkt und ihre Augen erforschten geduldig Jillien.
Langsam richtete diese sich mit Seans Hilfe auf und suchte wackelig Halt. Nach einiger Zeit hatte sie ihren Gleichgewichtssinn wieder und musterte angeregt die Umgebung.
Aus der Wand ragte ein Felsvorsprung, gerade so groß, dass auf ihm zwei Personen ausgestreckt liegen konnten. Seine Oberfläche war wie glatt geschliffen.
Xynthias raue Stimme erhob sich und füllte den gesamten Raum aus. „Was ihr hier seht ist Teil meiner Macht. Ein sehr geringer Teil. Meine Kräfte reichen weit mehr hinaus, als so ein kleiner Zaubertrick. Als soll euch geraten sein, mich niemals zu verärgern.“
Misstrauen lag in Seans Blick, als dieser sich umdrehte und beschützend den Arm nach Jillien ausstreckte. „Was sind sie?“
„Eine Hexe.“
Erschrocken starrte Jillien sie an. Obwohl Xynthias Antwort Sean gerichtet war, lag ihr Blick dennoch auf Jillien. In den violetten Augen glommen einzelne Funken auf. Etwas regte sich in Jilliens Herzen, als wolle sie sich an etwas erinnern, das ihr Verstand nicht kannte.
Ein geheimnisvolles Lächeln trat auf Xynthias Gesicht. „Ich hatte so viel Kraft in dich gelegt, dennoch widersetzt du dich mir. Wie töricht du doch bist.“
„Ich glaube sie zu kennen. Irre ich mich?“
„Genauso stur wie deine Mutter“, wich die Hexe ihrer Frage aus. Überrascht riss Jillien die Augen auf. „Meine Mutter? Sie kannten sie?“
„So könnte man es nennen. Ich kannte zumindest ihre frevelhaften Absichten und ihren Mörder.“
„Mörder?“ Jillien konnte ihren Ohren nicht trauen. Aber ein stilles Nicken der Hexe unterstützte das widerwillig Gehörte.
Jillien war so geschockt, dass kein einziger Laut aus ihrem Mund kam.
Sean, dessen Unterkiefer herunter geklappt war bei Xynthias Worten, fasste sich und schlang einen schweren Arm um Jilliens Schultern. Sie zitterte am ganzen Körper und ihre Zähne klapperten unkontrolliert aufeinander. „Sch-sch …“, versuchte Sean sie zu beruhigen. Sanft legte er sein Kinn auf ihren Haaransatz und atmete so langsam und gleichmäßig, wie er mit ihrem vibrierenden Kopf als Kissen möglich war.
Xynthias aufmerksamer Blick studierte Jillien eingehend, ehe sie sich halb wegdrehte und sich an den Tisch stellte. Zaghaft streckte sie die Finger nach der vergoldeten Schachtel aus. Als sie das kleine Schloss öffnete, erklang ein leises Klicken in der eisernen Stille. Der Deckel schlug auf und gab den Blick frei auf einen Schlüssel, gelegen auf rotem Samt.
Jilliens Fingerspitzen sehnten sich danach, das kühle Eisen des Schlüssels zu berühren. Und so machte sie einen schnellen Schritt auf den Tisch zu. Seans Gleichgewicht schwankte, als ihm die Stütze entglitt, und taumelte ihr wie ein Betrunkener hinterher.
Sehnsüchtig starrte Jillien auf den geheimnisvollen Schlüssel. Als Xynthia ihren verträumten Blick bemerkte, griff sie schnell in das Kästchen und entriss dem weichen Samtbezug den Schlüssel auf gierige Weise.
Fast von Eifersucht getrieben, machte Jillien einen weiteren, drohenden Schritt vorwärts und wollte nach dem Gegenstand in den alten Händen greifen, da packte Sean ihren Arm und drehte sie zu sich um.
Erst war sein Gesicht von unwissender Härte überzogen. Doch dann erschrak er und wich zurück, ohne sie dabei loszulassen.
„Was?“, zischte sie, viel zu scharf, als gewollt. Er hob den Finger und deutete auf ich Gesicht, während er abgehackte Worte stammelte.
Ihn nicht verstehend, schnellte sie augenrollend zu der Hexe herum und bückte sich in Kampfstellung, Sean nun völlig ignorierend.
Ein raffiniertes Grinsen trat auf Xynthias Gesicht, schon fast raubtierhaft.
„Du willst ihn, nicht wahr? Er verführt dich, zieht dich in seinen Bann. Für ihn ist selbst die Liebe gleichgültig, stimmt’s?“
Jillien schlich auf sie zu. Xynthia wedelte vor Jilliens Nase mit dem Schlüssel. Als Jillien nah genug dran war, um einfach die Hand ausstrecken und ihn fassen zu können, bemerkte sie ihr eigenes Spiegelbild im Gold des Schlüssels.
Um ihre Augen zeichneten sich graue Schatten ab, welche sich von ihrer plötzlich schneeweißen Haut stark abhoben. Ihre Iris war so tiefschwarz, dass es keinen Übergang mehr zwischen ihr und der Pupille zu scheinen gab.
Hinter Jilliens Kopf krümmte sich Sean bei ihrem monströsen Anblick. Seine Augen waren angstvoll aufgerissen und seine Lippen bebten förmlich vor Furcht.
Jillien hob die Hände an ihr Gesicht und betastete ihre Wangen, deren Temperatur zu tief gesunken war.
Schockiert von sich selbst, kniff sie die Augen zu. Das Monster, die Bestie, die sie eigentlich für immer vor Sean versteckt halten wollte, war einfach so an die Oberfläche gebrochen, ohne das Jillien auch nur den Versuch starten konnte, sie zu stoppen.
Ihre Willenskraft erlitt einen Riss in ihrer vorigen so festen Mauer. Ihr Widerstand war gestürzt, ihr Geheimnis enthüllt.
Die Tränen brachen über sie ein, liefen unaufhaltbar und machten Jillien verletzlicher denn je. Sie konnte nicht glauben, sich Sean so gezeigt zu haben. Sie konnte nicht verstehen, wie sie sich dazu hatte reißen lassen.
Die Schluchzer bebten durch ihre Schultern, das raue Kratzen in ihrem Hals wurde mit jeder Träne unerträglicher und das Weinen verebbte kein Stück.
Urplötzlich legte sich eine faltige Hand auf Jilliens Schulter. Von dem unerwartetem Gewicht überrascht, riss sie die Augen auf und sah Xynthia dicht vor sich.
„Du hast es geschafft“, murmelte sie sachlich, ohne jede Spur von Emotionen.
Irritiert blickte Jillien sich um. Der Schlüssel war verschwunden und das vergoldete Kästchen wieder verschlossen. Erleichtert atmete sie zittrig auf. Dann wischte sie sich eine Träne weg, die sich an ihrem Mundwinkel verhangen hatte.
Xynthias Blick war gleichgültig. Doch für einen winzigen Augenblick schien es, als würde Unsicherheit über ihr Gesicht hinüber ziehen. Doch selbst wenn sie sich mit dem gerade Gesehenem nicht irrte, so versteckte die Hexe nun ihre Gefühle wieder perfekt.
Xynthia drehte sie sacht, aber bestimmt zu Sean um. Dieser war so schockiert, dass er zwischen den beiden Frauen hin- und her blickte und einige Schritte zurückwich.
„Du wolltest für deine Liebe kämpfen“, mahnte Xynthia hinter Jillien. Diese wusste jedoch nicht, wenn die Alte damit angesprochen hatte.
„Doch um für etwas zu kämpfen, muss man es erst einmal kennen. Ich zweifle nicht an ihrem Wissen über dich. Doch du dagegen scheinst keinen einzigen Funken über ihr Wesen zu wissen“, murrte Xynthia in einem kritischen Tonfall.
Freundlich, schon fast liebevoll, strich die Hexe mit den langen Fingernägeln über Jilliens Oberarm. Ihre Schärfe schabte über Jilliens Haut und ließ sie schaudern. Sie musste sich zwingen, nicht vom Platz zu weichen, was ihr mehr Selbstbeherrschung abverlangte, als sie besaß.
Leicht wütend, ballte Sean die Hände zu Fäusten. „Was wollen sie damit sagen, Hexe?“ Das letzte Wort sprach er besonders herablassend und betont aus. Xynthia schien sein Zorn keineswegs zu berühren.
„Das, was du gerade gesehen hast, mein Junge, das war die Frau, von der du behauptet hast, sie zu lieben. Du liebst den einen Teil, den normalen, den, den sie dir offenbart hat. Aber der größere, den, den sie verborgen hält, weil sie sich vor ihm fürchtet, den kanntest du nicht. Aber ohne den, ist sie nicht sie. Also entscheide: Entweder, du liebst sie nur halb, dann hast du hier nichts mehr zu suchen und wirst gehen müssen, sonst werde ich mich um dich kümmern und dann wird das unsanft ausgehen“, drohte sie. „Oder“, fuhr sie streng fort, „du liebst die Bestie in ihr genauso, wie ihre perfekte Hülle. Wenn das der Fall ist, seid ihr bei mir herzlich willkommen. Also, sprich. Für was entscheidest du dich?“
Überlegend sah Sean von Xynthia zu Jillien. In seinem Blick lag Unsicherheit, und Jillien wurde schlagartig klar, dass er wirklich überlegen musste, was er für sie empfand.
Tränen der Verzweiflung traten in ihre Augen, als sie dies erkannte. Mahnend stach Xynthia einen spitzen Fingernagel in ihren Rücken, woraufhin sie sich bemühte, sich wieder zu fassen. Sie holte ein paarmal tief Luft, ehe sie Sean einen weiteren Blick zuwarf und dieses Mal stark blieb und sich nicht von ihren Gefühlen überrennen ließ.
Ein fast flehender Ausdruck legte sich auf Seans Gesicht. „Jillien“, hauchte er, „warst das wirklich du?“ Traurig nickte sie. Sie sah, wie er schwer schluckte.
Angewidert kniff er die Augen zusammen. Nun war es entschieden. Er hatte sie nicht gewählt, sondern nur die Freiheit. Er konnte nicht mit ihrer anderen Seite umgehen, und das brachte Jillien mehr um den Verstand, als Xynthias boshaftes Lachen im Hintergrund.
Doch gerade, als die Tränen sich erneut in Jilliens Augen sammelten, erhob Sean den Kopf und schlug die Lider auf. Sein Mund war zu einem harten Strich verzogen und sein Gesichtsausdruck war vollkommen ernst.
„Sie hatten Recht, Xynthia. Ich kenne Jillien nicht. Weder diese eine versteckte Seite, noch irgendeine andere verborgene. Aber genau das zieht mich zu ihr hin. Dieses Geheimnisvolle, das sie umgibt. Und egal, was ich noch von ihr kennenlernen werde, es wird nichts Schlechtes sein. Es ist immer nur etwas weiteres, was zum Lieben des ganzen gehört. Denn ich liebe Jillien, egal welche Makel oder schlechte Eigenschaften sie besitzt. Ich werde alles akzeptieren, da auch sie mich mit all meinen Fehlern als Volles nimmt.“
Jillien war gerührt. Nun konnte sie die Tränen nicht mehr aufhalten. Doch dieses Mal wurden sie von ihrer Glückseligkeit hervorgerufen, nicht von Angst. Sean schenkte ihr ein bittendes Lächeln, ehe er die Arme ausbreitete. Jillien stürzte auf ihn zu und schlang gierig ihre Arme um seinen Hals. Ihr Gesicht an seinen Hals gepresst, murmelte sie mit den Lippen an seiner Haut Danksagungen, Gebete und etliche Liebeserklärungen. Sean hielt sie fest und stützte sie, da sie auf Zehenspitzen auf Dauer wenig Halt fand.
Als Jillien sich von ihm löste und zu Xynthia umdrehte, war diese immer noch geschockt. Man sah ihr an, wie sehr sie damit gerechnet hatte, Sean von Jillien zu trennen.
Ein grimmiges Grinsen zuckte in Jilliens Mundwinkeln. „Er hat sich entschieden. Jetzt halten sie ihr Wort ein. Wir bleiben, wo wir „herzlich willkommen“ sind, Xynthia.“
Wortlos nickte die Hexe. Ihr Versprechen einhaltend, wies sie stumm mit der rechten Hand auf den Felsvorsprung, den sie erschaffen hatte. „Dort könnt ihr schlafen. Falls ihr überhaupt Schlaf findet.“
Dankend nickte Jillien und zog Sean hinter sich her zur steinigen Wand. Er gähnte. Ein Grinsen nicht unterdrücken könnend, wandte sie sich zu ihm um und legte sanft eine zierliche Hand an seine Wange.
Dann schritt sie rückwärts zum Fels, den Blick nicht von seinem lösend, und ließ sich vorsichtig auf das Gestein nieder. In ihren kurzen Shorts, dem dünnen Top und den durchgelaufenen Schuhen, rutschte sie einige Zentimeter weiter nach hinten, um Sean auch Platz auf dem Stein zu machen. Mit ihren Augen verführte sie ihn, bat ihn ihr zu folgen. Mit einem verträumten Lächeln, kroch er ihr hinterher. Zusammen legten sie sich hin, sie an der Wand und er als Schutz außen.
Jillien sah nichts anderes, als Sean. Sein Gesicht war von Dreck beschmiert, seine Kleidung voller Staub und seine Lippen rissig.
Liebevoll fuhr sie mit dem Daumen über seinen Mund und zwang ihn, ihn zu schließen. Dann glitten ihre Fingerspitzen hoch zu seinen Lidern und schlossen auch diese sanft. Sie reckte sich, um ihre Lippen an sein Ohr zu legen. Als ihr Atem seine Ohrmuschel streifte, zuckte er leicht zusammen, da es kitzelte. Diese kleine Geste zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie ihm zu. Er schnaubte beruhigt. Sie ließ sich wieder zurück sinken, bettete ihren Kopf sanft auf ihrem Arm und starrte ihn an. Nach nur wenigen Augenblicken, verlangsamte sich seine Atmung, seine Nasenlöcher blähten sich gleichmäßig auf und zu. Er wirkte so friedlich, wenn er schlief.
Auch sie wollte schlafen. Doch stattdessen wälzte sie sich wach hin und her auf dem harten Gestein.
Irgendwann schlug sie dann doch wieder die Lider auf. Eigentlich hatte sie vollkommene Dunkelheit erwartet. Stattdessen sah sie einen gelben Lichtschein am anderen Ende der Höhle, jedoch nicht die Lampe, der das Licht entglitt. Um noch etwas anderes als Sean und das Gestein zu sehen, stützte sie sich auf ihre Ellenbogen. Sie musste ein zweimal blinzeln, bis sie scharfe Umrisse sah.
Xynthia saß grübelnd am Tisch, die Hände zittrig vor der Kristallkugel zusammengefaltet und starrte in die Endlosigkeit. Dann holte sie einmal tief Luft, ehe sie die Finger um das Glas der Kugel legte und ängstlich die Augen zusammen kniff. Rauchschwaden erschienen wieder hinter dem Kristall, und Jillien rechnete mit einer weiteren Illusion des Schlüssels.
Doch dieses Mal bildeten sich dort Gestalten ab. Eine, die Xynthia zum verwechseln ähnlich sah, nur das sie um einiges jünger schien. Neben ihr stand eine ebenfalls junge Frau mit strahlend grünen Augen. Sie beide besaßen blondes, fast weißes langes Haar. Zu lautloser Musik tanzten sie auf einmal los. Der Takt war schnell. Sie fasten sich mit überkreuzten Armen an den Händen und grinsten sich frech an. Die eine lachte tonlos, ehe Xynthia wenig später ebenfalls den Kopf in den Nacken warf zum Lachen.
Von strahlendem Licht beschienen, glitzerte ihre Haut silbrig. Ihre Haare flogen schwungvoll auf und ab, und in diesem hellen Fleck stachen das violette und das grüne Augenpaar stark heraus. Trotz des krassen Kontrastes, waren die jungen Frauen überaus attraktiv, bildhübsch.
Doch dann endete die fröhliche Fete. Die Fremde löste sich von Xynthia, welche ihr ein skeptisches Lächeln zuwarf. Die andere zwinkerte ihr aufmunternd zu, ehe sie die Hand ausstreckte und die eines von Schatten umhüllten Mannes nahm. Seine Umrisse waren verschwommener als die der Frauen, sodass Jillien ihn nicht erkennen konnte. Dennoch zog sich etwas in ihrer Brust zusammen.
Und dann verschwamm das ganze Bild. Xynthia ließ die Hände fallen und brach schluchzend in Tränen aus. Jillien verstand nicht, was sie da sah. Wer war die fremde Frau gewesen, die mit Xynthia so fröhlich getanzt hatte? In welcher Verbindung standen die beiden miteinander? Und was war an der Situation so dramatisch, dass die sonst so verschlossene Hexe nun plötzlich von ihren Emotionen übermannt zu werden schien.
Als Xynthia plötzlich ruckartig den Kopf hob und tief einatmete, zuckte Jillien perplex zusammen und knallte ihren Kopf schon fast auf den Fels zurück. Sie versteckte sich hinter Seans mächtigem Körper. Ängstlich kniff sie die Augen zu und hielt angespannt die Luft an. Sie wartete.
Schwere Schritte erhoben sich und kamen auf sie zu. Ein leises Schnaufen erklang so nah, das Jillien sich ermahnen musste, nicht los zu zittern. Ohne es zu sehen, wusste Jillien, dass Xynthia sich über sie beugte.
„Ihr seid stärker, als ihr ausseht. Vielleicht schafft ihr es ja doch“, murmelte die Hexe, die wohl annahm, dass sie beide schliefen.
Schon drehte sie sich weg, da erhob sie noch einmal die Stimme. „Ich weiß, dass du noch nicht schläfst, Jillien. Ich weiß, was du gesehen hast. Und ich rate dir, es für dich zu behalten.“
Erschrocken erstarrte Jillien. Dennoch regte sie sich kein Stück. Ein amüsiertes Lachen Xynthias erklang, ehe diese die Flamme der Lampe löschte und sich schließlich selbst schlafen legte, was Jillien an dem knatschenden Bett schlussfolgerte.
Der Schock, erwischt worden zu sein, saß ihr immer noch tief in den Knochen. Sie mahnte sich, normal zu atmen, sich zu beruhigen. Allmählich regulierte sich ihre Atmung, ebenso ihr Herzschlag. Dennoch lag sie die gesamte Nacht wach und bekam das Bild der weinenden Xynthia nicht mehr aus dem Kopf.



Wissendes Orakel




Seans Arm schlang sich um Jilliens Hüfte. Seine Finger wanderten ihren Oberschenkel unter der kurzen Shorts auf und ab. Er hörte, wie sie genießerisch seufzte. Er streichelte weiter über ihre zarte Haut.
Dann vernahm er einen sanften Luftzug. Irritiert hob er mit weiterhin geschlossenen Augen die Brauen. Woher kam der leichte Wind in der Höhle?
Ein leises Schmatzen von Jillien lenkte seine Aufmerksamkeit zu ihr zurück. Langsam schlug er die Lider auf und betrachtete das friedliche Engelsgesicht ihm gegenüber. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er mit seiner linken Hand von ihrem Oberschenkel knapp über ihre Hüfte, dann ihre Taille hinauf und über ihren Rücken an ihren Hals glitt.
Jillien drängte sich einem Kätzchen gleich an seine liebkosende Hand. Sie murmelte etwas Unverständliches. Mit verträumtem Blick musterte er ihre weichen Gesichtszüge und hielt an ihren vollen Lippen inne. Die Unterlippe war ein kleines bisschen üppiger als die obere, aber genau das machte ihren Mund so perfekt.
Das aufkommende Verlangen unterdrückend, griff er nach einer ihrer Haarsträhnen und wickelte sie sich um den Zeigefinger. Als er daraufhin durch ihre Mähne fuhr, spürte er nur seidige Locken, wobei er eigentlich vermutet hatte, ihre Frisur wäre verfilzt.
Für einen kurzen Augenblick sah er die strenge Eileen vor sich. Schlagartig verglich er die beiden Schönheiten miteinander. Eileen stand mit beiden Beinen in der Realität und versuchte alles zu erklären und zu schlussfolgern. Jillien dagegen nahm die Welt so hin, wie sie war, mit all ihren Makeln. Sie versuchte sich nicht am Unmöglichen, sondern nur an den Träumen. Man könnte sie schon fast als naiv bezeichnen.
Und dennoch zog es ihn zur Träumerin, anstatt zu Eileen.
Sean streichelte Jilliens weiche Wange. Er starrte sie an, als sie plötzlich flatternd die Lider aufschlug. Er war leicht überrascht. Doch ihr verliebtes Lächeln ließ ihn nur noch Glückseligkeit empfinden.
„Guten Morgen“, flüsterte er. „Hast du gut geschlafen?“
„Nein, ich hab kein Auge zugemacht“, antwortete sie träge. Als er sie nun genauer betrachtete mit diesem Wissen, bemerkte er die leichten Augenringe und ihre müden Augen. Ihre Lippen waren ausgetrocknet und die Wangen eingefallen. Dennoch war sie wunderschön.
Sanft betastete er ihr Gesicht mit den Händen. Sein Blick huschte von einer Stelle zur anderen, um ihren Anblick auch vollkommen wahrzunehmen.
Sie grinste, wobei sie makellose weiße Zähne entblößte.
„Vielleicht solltest du noch einmal versuchen zu schlafen?“, murmelte er nachdenklich. Doch Jillien schüttelte stur den Kopf und stütze sich auf die Arme in eine aufrechte Haltung.
Sean tat es ihr gleich und schwang die Beine über die Kante des harten Felsen, auf dem sie die Nacht verbracht hatten. Schlaftrunken schwankte er und suchte sein Gleichgewicht, ehe er eine Hand ausstreckte und Jillien hoch half.
Sie lächelte ihm dankend zu, bevor sie sich wegdrehte und sich in der Höhle umsah. Diese war hell erleuchtet von einer Öllampe auf dem Tisch und einer weiteren Lichtquelle. Doch ihr Schein war überall im Raum, ohne da Jillien seine Quelle ausmachen konnte. Als gäbe es gar keine.
Sean schien dieses Detail nicht aufgefallen zu sein. Er streckte sich einmal kurz, ehe er mit dem Blick die Felsen verwirrt absuchte. „Wo ist Xynthia?“, fragte er irritiert.
Auch Jillien war ihr Fehlen bemerkbar geworden. Unwissend zuckte sie mit den Schultern, ehe sie zu dem Gang schritt, der hinaus in die Freiheit führte. Mit Sean neben sich, gingen sie die Felswände entlang.
Plötzlich flackerte das Licht, bevor es ganz erlosch. Jillien unterdrückte einen Schrei und griff stattdessen nach Seans Hand, um diese vor Furcht fast zu zerquetschen.
Dann ging der grelle Schein urplötzlich wieder an. Er blendete Jillien, welche stark mit den Augen blinzelte. Als die Tränen trockneten und ihr Blick sich verschärfte stand Xynthia nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt.
Jetzt schrie Jillien doch und sprang erschrocken zurück. Sie hielt sich die Hände vor den Mund, um nicht zu laut zu kreischen und riss die Augen weit auf. Ein belustigtes Grinsen verzerrte das alte, faltige Gesicht der Hexe.
Ihr Herz raste, ihr Atem rasselte und Seans Starre sprach von demselben Schock. Xynthia musterte die beiden. „Wolltet ihr etwa in die Freiheit entfliehen? Nur zu, ich stehe euch nicht im Weg“, forderte sie die beiden heraus.
Stur schüttelte Jillien den Kopf und fasste sich wieder. „Wir bleiben, bis sie uns des Rätsels Lösung gesagt haben, wie sie es versprachen.“
„Wann habe ich solches versprochen?“, fragte Xynthia sichtlich verwirrt. Sean stutzte. Er machte einen schnellen Schritt auf die Hexe zu. „Gestern sagten sie, …“
„… dass ihr bei mir herzlich willkommen seid. Aber niemals habe ich ein solches Versprechen der Offenbarung gegeben.“ In Sean brach die Wut aus.
„Doch, haben sie. Genau das haben sie damit gemeint. Sie lügen!“
„Nein“, unterbrach Jillien ihn nachdenklich. Verwirrt drehte er sich zu ihr um. Ihr Blick lag ernst auf Xynthia. „Sie kann nicht lügen. Aber sie kann uns verwirren. Sie macht Versprechen. Sie klingen nach unseren Wünschen, aber ihre Wortwahl bindet sie nicht an diese, sondern an Ausreden.“
„Hä?“, war alles, was Sean darauf erwidern konnte. Er verstand gar nichts. Lobend klatschte Xynthia dagegen in die Hände. „Du bist schlauer, als zuvor vermutet. Ich hatte dir mehr Zeit zum Überlegen zugerechnet. Wie töricht von mir. Demnächst muss ich mir bessere Rätsel ausdenken, um eure qualvollen Anstrengungen überhaupt genießen zu können“, murmelte sie zu sich selbst.
Sean konnte immer noch nicht die Logik hinter Jilliens Worten erkennen. Als sie das an seinem irritierten Gesichtsausdruck bemerkte, versuchte sie es ihm erneut zu erklären: „Sie sagt etwas, was uns denken lässt, es wäre, was wir uns wünschen. Dabei muss man auf ihre Wortwahl achten, denn eigentlich verspricht sie etwas ganz anderes. Als sie sagte, wir seien bei ihr willkommen, dachten wir, sie würde uns weiter helfen wollen. Dabei meinte sie genau das, wir waren bei ihr willkommen - wir durften hierbleiben. Mehr nicht.“
Allmählich verstand Sean und atmete laut ein. Er drehte sich zu Xynthia zurück, die ein raffiniertes Lächeln auf dem Gesicht trug. Sean kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Ausgefuchst. Sehr ausgefuchst, Xynthia.“
Die Alte machte einen spöttischen, altmodischen Knicks, ehe sie in schallendes Gelächter ausbrach.
Sean wollte es sich nicht zugestehen, aber die Raffinesse der Hexe bewunderte er.
Als Jilliens kühle Hand sich in seine legte, wandte er sich zu ihr um. Sie hatte einen leicht bedrückten Blick aufgesetzt. Der Beschützer-Instinkt wurde augenblicklich wach. Sean drehte sich zu der Hexe um und starrte ihr in die violetten Augen.
„Wenn wir hinaus gehen, um uns die Beine zu vertreten und vielleicht etwas zu essen, dürfen wir dann immer noch eintreten?“ Stumm nickte die Hexe. Sean drehte sich um, doch Jillien blieb stehen. Er sah sie verwundert an. Misstrauisch deutete sie mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Xynthia.
„Sie hat grad so tückisch gelächelt. Ich trau ihr nicht!“
Sean schüttelte den Kopf. „Du hast doch selber vorhin noch gesagt, sie könne nicht lügen. Komm mit.“ Er griff erneut an ihrer Hand und zog daran. Doch sie widersetzte sich ihm stur.
Mit einem genervten Seufzer stellte er sich an ihre Seite und blickte auf sie hinab. Erwartungsvoll hob er die Brauen. Jilliens Blick huschte von der Hexe zu ihm und wieder zurück. Dann machte sie einen Schritt auf Xynthia zu, die sie ebenfalls eingehend musterte.
„Sie sagten, wir dürften auch später noch eintreten?“
„Ja“, erklang die dumpfe Antwort. Sean sah Jilliens nachdenklichen Blick und verlor langsam die Geduld. Er wollte sie gerade drängen, endlich mit ihm an die frische Luft zu gehen, da verzog sie die Lippen zu einem überheblichen Lächeln.
„Jetzt weiß ich, was sich hinter ihren Worten versteckt.“ Xynthia schien überrascht.
„Sie erlauben uns zwar, später wieder einzutreten, aber dabei erwähnen sie nicht wann. Sie könnten uns solange aussperren, wie sie wollten, schließlich haben wir nie eine bestimmte Zeitangabe gegeben.“ Ganz kurz flackerte Ärger in Xynthias Augen auf, uns Sean schnappte nach Luft. Doch das Gesicht der Hexe war eine Sekunde wieder emotionslos.
„Xynthia, lassen sie uns eintreten, wenn wir wollen?“, fragte Jillien neckisch. Kurz presste die Hexe die Lippen zu einem harten Strich zusammen und Sean sah die Wahrheit hinter Jilliens Worten. Es brannte sich Wut seine Kehle hinauf. Seine Freundin sah seine Reaktion. Als die alte Hexe endlich widerwillig nickt, griff sie eilig nach seiner Hand und zerrte ihn hinaus. Jilliens nahe Wärme beruhigte ihn und er folgte ihr stumm.
Als Sean aus der Höhle hinaustrat, traf ihn die schwüle Hitze wie ein Faustschlag ins Gesicht. Er musste stark blinzeln gegen das grelle Sonnenlicht, bevor er wieder Umrisse erkennen konnte.
Jillien, welche sich die Hand über die Augen hielt, drehte den Kopf zu ihm um und lächelte siegessicher. „Wir haben es geschafft. Ich kann es zwar immer noch nicht fassen, aber wir sind hier.“ Sean nickte leicht. Dann griff er nach ihrer freien Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. Er stolperte vorsichtig über den rauen Sand- und Kiesweg.
Vor dem kleinen See, in welchen der Wasserfall fiel, setzte er sich auf eine breite Steinplatte und zog Jillien neben sich. Er streckte sich ganz darauf aus und betrachtete Jilliens von der Sonne bestrahltes Abbild unter halb geschlossenen Augenlidern.
Jilliens Haar schimmerte kupfern, ihre goldfarbene Haut glitzerte leicht und ihre schmutzige Kleidung klebte an ihrem wunderschönen Körper. Ihre feingeschwungenen Lippen waren ein wenig geöffnet und ihr faszinierter Blick lag auf den fallenden Wassermengen vor ihr.
Liebevoll streichelte er sie am Arm. Augenblicklich drehte sie ihm den Kopf zu und schloss genießerisch die Augen. Amüsiert lächelnd, griff er um ihren Oberarm und zog sie sich an seine Brust. Er hörte, wie sie tief seinen Duft einatmete.
Nur um eine Sekunde später angewidert hochzufahren. Erschrocken starrte er sie an. Ihre Mundwinkel waren angeekelt nach unten verzogen und ihre Augen weit aufgerissen.
„Du stinkst!“, kam sofort ihre Antwort. Gespielt entsetzt zupfte er an seinem Shirt und seine Augenbrauen zuckten schnell zweimal hoch. „Das ist sexy“, verteidigte er sich.
Jillien schüttelte stur den Kopf und musste angestrengt ein Lächeln verkneifen. „Nein, das ist ekelig.“ Er zig scharf die Luft ein.
„Du findest mich ekelig?“ Sein gespieltes Entsetzen brachte sie nun doch zum Lachen. Jillien hielt sich elegant die Hand vor den Mund, um das Kichern zu unterdrücken. Sie nickte schnell mit dem Kopf als Antwort auf seine Frage.
Sean schnellte hoch in seine sitzende Position, griff um ihre Hüfte und sprang mit ihr in den Armen hoch. Dann starrte er sie an.
„Was?“, fragte sie sichtlich überrascht.
„Ich stinke?“
„Ja“, kam die belustigte Erwiderung. Eingeschnappt hob er die Brauen. Bevor sie etwas anderes sagen konnte, schnappte er sie sich und sprang mit ihr mitten ins kalte Wasser. Sie schrie entsetzt auf, doch ihr Schrei verebbte, als ihr Kopf untertauchte.
Sean stieß kontrolliert mit seinen großen Pranken das Wasser vor sich beiseite und tauchte durch den See. Er sah unter sich grüne Steine, orangene und rosa Korallen und dunkle Wasserpflanzen.
Plötzlich umklammerte etwas seine Fußknöchel und zog ihn in die Tiefe. Erschrocken stieß er seine gesamte angehaltene Luft aus und blickte sich panisch um. Etwas Rotes flitzte aus seinem Blickfeld hinaus, seine Knöchel wurden freigegeben, dafür stützte sich nun etwas von hinten auf seine Schultern. Er wurde weiter runter gedrückt. Doch sein Überlebensinstinkt setzte sich durch und blitzschnell fuhr er herum.
Hinter ihm befand sich eine grinsende Jillien, deren Haare, vom Wasser getragen, zu allen Seiten abstanden. Ihre Haut schimmerte und Lichtspiegelungen setzten helle Punkte in ihr Gesicht.
Sie hatte anscheinend seinen wütenden Blick gesehen, denn sie strampelte schnell zur Oberfläche hinauf.


Impressum

Texte: Cover by: na.dii.aaAlle sonstigen Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 21.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch einer mir sehr nahestehenden Verwandten, die ihre große Liebe vor über fünfzehn Jahren verloren hat, und trotzdem ihr Leben weiterlebt. Ich liebe dich.

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