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Prolog






Er, ein spiegelnder Ozean,
dort über den Köpfen von treulosen Menschen,
verdreckten Erdböden und zerschlagener Natur.
Dessen Größe weiter reicht, als ein jedes Auge erblicken lässt,
weist auf das Wissen einer anderen, besseren Welt.
Öffnet seine überdimensionalen Türen weit.
So weit, dass nichts ihre Enden schätzen kann.
Und versperrt uns dennoch den Zugang zur Perfektion.
Der Himmel.



Sammael stand breitbeinig am Rand des Schlachtfeldes. Sein Blick schweifte über die hellgrüne Wiese, den klaren blauen Himmel und seine Furcht einflössenden Dämonen. Sie standen kreuz und quer verteilt hinter ihm, ein mordlüsternes Lächeln im Gesicht. Sie waren bereit, ihm in den Kampf zu folgen; ihr Leben zu riskieren, um andere Leben zu beenden. Er selber war nicht sehr erfreut über die Wendung, die alles genommen hatte. Doch er musste, Ihr zu Liebe, nun diesen schweren Schritt machen.
Sie erschien ihm wieder vor Augen: vor Angst weit aufgerissene Augen, die gebückte Haltung und ihr von Tränen verschmiertes Gesicht. Ganz anders, sie strahlte nicht mehr vor Stolz und Macht.
Neuer Mut erfasste Sammael und er blickte zum hell erleuchteten Himmel hoch. Engel in weißen Kriegeruniformen flogen mit bunten Flügeln in Reih’ und Glied nacheinander auf den Boden. Ihnen voran die zehn starken Erzengel.
Ein muskulöser, dunkelhaariger Mann mit strahlend blauen Flügeln: Iolet. Er war geboren worden, um zu töten, zu vernichten seine Feinde.
Neben ihm stand das genaue Gegenteil des Kriegers. Eine zierliche Frau mit hüftlangen, blonden Haaren, welche zu einem langen Flechtzopf gebunden waren, und violetten Flügeln. Selbst aus der Ferne konnte Sammael ihre kristallklaren lila Augen sehen.
Sein forschender Blick schweifte über die verbliebene Reihe der Unsterblichen. An den Punkt, wo sie eigentlich hätte stehen müssen. Doch da war nun jemand anderer. Ein schwarzhaariger, dunkelblau geflügelter, schlanker, muskulöser Engel hatte ihren Platz eingenommen und strahlte eine ungeheure Macht aus.
Sammael kochte vor Wut. Hatte sich nur noch schwer unter Kontrolle. Mit lauter Stimme sprach er übers Feld hinweg: „Engel, hört mich an! Ich möchte zu eurem Herrn sprechen. Gestattet ihr?“
Herrisch antwortete die Kriegerin unter den Engeln, Diana: „Es wird euch verweigert. Ihr müsst mit uns sprechen, Dämonenprinz. - Was führt euch und eure Truppen in unser Reich?“
Sie stieg elegant und leichtfüßig in die Luft. Ihre weinroten Flügel ergaben einen guten Kontrast zu dem hellblauen Himmel in ihrem Rücken. Die haselnussbraunen Haare wehten im Wind. Mit den dunkelbraunen Augen suchte sie seinen Blick. Lautlos setzte sie vor ihm auf dem Boden auf. Seine Lider senkten sich, er wollte ihr keine Sicht in seine Augen gewähren. Bei einer Himmelskriegerin sollte man immer auf der Hut sein, sie hatten geheimnisvolle Mächte.
„Ich will um den Grund bitten, weshalb meine Geliebte von euch verbannt wurde. Sie hat nichts Unrechtes getan.“ Diana presste die purpurroten, verführerischen Lippen zusammen und schloss kurz die Augen.
Nach einer einzigen leichten Handbewegung ihrerseits, flog ein anderer Engel mit hellgrünen Flügeln und türkisen Augen zu ihnen hinüber. Seine dunkelblonden Haare wurden vom starken Wind zerzaust. Weniger geschmeidig landete er direkt neben Diana.
„Sie trug ein Kind von einem Dämon, ja sogar vom Prinzen persönlich, unterm Herzen. Das ist nicht nur gegen das Gesetz, es ist uns gegenüber auch noch eine Beleidigung, unser reines Kriegerblut mit solch widerwärtigem wie eurem zu mischen.“
Sammaels Blick schweifte zu Diana herüber. „Kriegerin? Was denkt ihr darüber?“ Sie setzte nicht zu einer Antwort an, sondern senkte nur ihren Blick. Sammael kannte sie all zu gut.
Das Engelsmädchen war eine gute, ja sogar die beste Kriegerin aller Unsterblichen. Doch sie war ebenfalls eine Frau mit einem mitfühlenden und sensiblen Herzen. Drängender setzte Sammael nach: „ Ihr seid doch sonst immer so geschickt im Wörterkampf; warum jetzt so still? Ihr seid meiner Meinung, habe ich Recht, Kämpferin?“ Trotz lag in ihren dunklen Augen und sie machte einen schnellen Schritt auf ihn zu, sodass ihre Brust seinen Oberkörper berührte.
„Prinz, wie könnt ihr es nur wagen, mir so etwas zu unterstellen? Ich würde meinem Herrn nie in den Rücken fallen,“ zischte sie gebieterisch. Doch ihre Augen zeigten Sammael andere Gefühle.
Ohne Vorwarnung stürzte Rade, der dunkelblonde Engel an ihrer Seite, nach vorne und fasste Sammael um den Hals. Dieser wollte sich wehren, doch er war wie gelähmt.
Die Dämonen hinter ihrem Prinzen schrieen, fluchten und machten sich bereit zum Kampf. Auch Diana setzte zu einem Ausruf an, doch Rade ließ sich nicht stoppen. „Du wirst Diana oder einen anderen von uns nie wieder so beleidigen.“
Ein schlangengleiches Zischen entrang sich Sammaels Stimme und er stoppte seine Abwehr. „Ich beleidige niemanden, ich sage die Wahrheit.“ Rades Gesicht lief dunkelrot an und er drückte noch fester zu.
Sammael erhaschte noch einen letzten Blick auf Dianas Angst erfüllten Augen und wusste, er hatte wirklich die Wahrheit genannt.
„Enttäuscht mich nicht, Dämonen!“ stöhnte er, bevor ihm schwarz vor Augen wurde. Der Sauerstoffmangel schnürte ihm die Kehle zu und seine Ohren wurden von Kampfgeschrei erfüllt. Doch sein letzter Gedanke galt seiner Liebe.
Und das er alles nur Erdenkliche für sie getan hatte.



18 Jahre später



Johny und die anderen Dämonenjäger liefen um ihr Leben. Sein Atem rasselte und der Schweiß lief ihm die Stirn herunter. Panisch blickte er sich um.
Wo war sie?
Hinter ihm schnaufte laut das Monster. Doch in diesem Moment dachte er nur an das Mädchen. Wieder schweifte sein Blick durch die Menge und dann blieb er plötzlich mit weit aufgerissenen Augen stehen.
Sie waren in eine enge Seitenstraße gelaufen, ohne es zu bemerken. Umgeben von alten, verfallenden Häusern, eingeschlossen von stinkenden Mülltonnen, einer hohen, dreckigen Hauswand am Ende der Gasse. Und dem überdimensional großen Wesen, dessen schwerer, warmer Atem Spuren in der kalten Nachtluft hinterließ.
Etwa zwei Meter neben Johny stand das Mädchen. Ihre Brust hob und senkte sich schnell und unregelmäßig und sie hatte sich schwerfällig auf ihre Knie gestützt. Panisch schaute sie zu ihm herüber. Ein Andeuten von einem Lächeln lag auf ihren vollen Lippen, als sie ihn erblickte. Sie strich sich eine Strähne ihrer schwarzen Locken hinters Ohr und erteilte im Aufstehen Anweisungen an die anderen des Teams.
Ein verträumtes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass sie zu ihm gehörte.
Wieder auf der Hut, sah Johny sich noch einmal um. Anscheinend war das Monster verschwunden. Seltsam, warum spürte er dann immer noch diese Elektrizität in der Luft? Mit einem intensiveren Blick musterte er selbst die kleinsten Ritzen und Ecken der kleinen Seitenstraße.
Schon wollte er erleichtert aufatmen, als er eine vorsichtige Bewegung hinter dem Mädchen sah. Das Monster mit den riesigen Klauen und den roten Krallen schlich sich lautlos und elegant, wie ein Raubtier, an sie heran. Ein erstickter Laut drang aus Johnys rauer Kehle. Das Biest wollte sie, es brauchte sie. Und nur er kannte den Grund für dieses Verlangen. Er selbst war ihm zum Verhängnis geworden.
Sein Gedankengang hatte seine Vorsicht unterbrochen und erst jetzt merkte er, dass das Untier zum Todesschlag ausgeholt hatte und niemand außer ihm es bemerkte, nicht einmal das sonst aufmerksame Mädchen. Aus Panik wusste er sich nicht anders zu verhelfen, als sie zu warnen. Doch ein entsetztes Aufstöhnen war das einzige, was er hervorbrachte. Sie blickte sofort angespannt auf, doch es war schon zu spät. Das Monster stürzte sich auf sie. Das Adrenalin schoss durch Johnys Adern und er sprang mit einem Satz zu dem Mädchen hinüber. Es war, als würde er sich in Zeitlupe bewegen und er konnte daran nichts ändern. Das Wesen nahm alle Bewegungen von dem Jungen wahr und änderte seine Schlagrichtung spontan. Und erst da wurde Johny klar, dass das Untier es die ganze Zeit nur auf ihn abgesehen hatte. In dem Monster loderte ein Hass, eine Verachtung ihm gegenüber. Und dieses Gefühl erfüllte auch Johnys Herz.
Noch einmal blickte er dem Mädchen in die bezaubernden Augen. Er hatte sie sein Leben lang gesucht und gefunden. Ihre gemeinsame Zeit war gering gewesen. Doch sie hatte gereicht, um ihm eines bewusst zu machen, ihm etwas vor Augen zu führen.
Da spürte er einen schrecklichen Schmerz unter seiner Brust und dachte nur noch einen einzigen letzten Gedanken: Er liebte das Mädchen.
Und ihre unentdeckte Macht.



Kapitel 1






„Angel, was ist los? Angel? Komm herunter!“

Warum?

, fragte ich mich.

Warum konnte sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?

„Ich kann nicht. Lass mich bitte alleine, ja?“ Ich warf mich aufs Bett und lies meinen vorher noch unterdrückten Tränen freien Lauf.


Es war meine Schuld! Hätte ich nicht einfach hinter mich schauen können? Warum hatte ich ihm erlaubt, mit zur Mission zu kommen? Ich hätte besser auf mich aufpassen sollen, dann wäre er jetzt mit mir im Eiscafé und wir würden uns einen großen Eisbecher teilen. Er ist nur wegen mir ums Leben gekommen. Alles nur wegen mir!


Während ich mit mir selbst schwer ins Gericht ging und mit Tränen verschmiertem Gesicht auf meinem Bett lag, hätte ich fast das leise, zaghafte Klopfen überhört.
„Angel, was ist denn passiert?“ Stille und dann: „Glaubst du etwa, du könntest nicht mehr mit mir über deine Probleme reden, weil ich dir nicht helfen könnte? Oder meinst du etwa, ich würde dich nicht verstehen, weil ich anders bin, als du?“ Als ich diesen Worten lauschte und den Schmerz heraushörte, tat mir das Herz weh. Sie hatte Recht, ich musste es ihr sagen. Als ich trotzdem nicht antwortete, öffnete sich meine Tür und sie schlich leise in mein Zimmer. Ich setzte mich aufrecht hin und betrachtete meine Großmutter durch einen Tränenschleier. Sie hatte schneeweißes Haar, graue Augen und eine kleine und stämmige Statur. Sie blickte mich mitfühlend an. Nachdem sie zu mir gekommen war, nahm sie mich fest in den Arm. An die Seide ihres Pullovers gedrückt, murmelte ich: „Ich hab dich lieb, Granny.“ Als sie mir leise antwortete, stieg mir ihr vanilliger Geruch in die Nase. „Ich hab dich auch ganz doll lieb, mein Engel.“
Eine scheinbare Ewigkeit saßen wir so da. Immer wenn ich gerade aufgehört hatte zu weinen, bahnten sich erneut Tränen ihren Weg. Ohne Kommentare wischte meine Großmutter mir jede einzelne von den Wangen.
Immer wieder fragte sie nach dem Grund meiner Trauer, doch ich schüttelte stumm den Kopf.
Irgendwann hielt ich es dann doch nicht mehr aus. „Granny, Johny ist tot!“, brach es dann aus mir heraus. Grandma strich mir das Haar aus dem Gesicht und sah mir dabei tief in die Augen.
„Du hast ihn wirklich sehr geliebt, nicht wahr?“, fragte sie leise. Ich nickte, da ich keinen Laut über die Lippen brachte. Dann bekam ich nach einem Räuspern meine Stimme wieder. Ich nickte energischer.
„Ja. Ja, ich habe ihn wirklich geliebt. Aber das Schlimmste an allem ist, dass er nur wegen mir gestorben ist!“, schrie ich mit vor Wut anschwellender Stimme. Meine Großmutter drückte mich noch enger an sich heran und sagte nichts weiter. Nach ein paar Minuten berührte ihre Hand leicht meine stark geröteten Wangen und meine von Schweiß bedeckte Stirn.
„Oh, Angel! Du bist ganz warm! Ich glaube, du hast Fieber! Leg dich hin!“, meinte sie herrisch und doch liebevoll zu mir, während sie meine Decke zurückschlug. Wortlos legte ich mich auf die weiche Matratze und ließ mich zudecken. Ja, sie hatte vollkommen Recht, ich musste mich ausruhen, schlafen. Ehe ich noch irgendetwas erwidern konnte, fiel ich ihn einen tiefen Schlaf.

Als ich das nächste Mal meine Augen aufschlug, schien grelles, warmes Sonnenlicht durch mein geöffnetes Fenster. Schwüle Morgenluft drang in meine Lungen und das Zwitschern der Amseln vor meinem Fenster verklang in meinen Ohren.
Eine Woche hatte ich mit hohem Fieber im Bett gelegen und meine Granny meinte, ich solle heute ebenfalls noch zu Hause bleiben und mich ausruhen. Doch das war unmöglich. Wenn ich so ruhig und entspannt in meinem Bett lag, so ganz still, erlebte ich immer und immer wieder den Moment, in dem Johny von diesem Monster in zwei Hälften geteilt worden war.
„Angel!“ hatte er versucht zu rufen, doch nur ein Geräusch des Entsetzens war über seine Lippen gekommen. Ich hatte mich aufgerichtet und hatte es gesehen. Das Wesen. Riesige Krallen, Furcht einflößende, rote Augen und schwarze, verschrumpelte Haut… und Johny. Das Monster hatte zu einem heftigen Schlag ausgeholt, bereit, mich umzubringen. Doch da war Johny gewesen. Er hatte mich gegen eine Hauswand gestoßen und ich hatte mit ansehen müssen, wie die Gestalt seine Klauen einmal quer durch seinen Körper schlug. Ich war wie erstarrt. Dann bin ich verschreckt und benommen bewusstlos geworden.


Nein, Angel, denk jetzt nicht daran!,

ermahnte ich mich streng und versuchte, dass Würgen zu unterdrücken. Mein Wecker auf meinem Nachttischchen zeigte sechs Uhr siebenundfünfzig. Mist! Ich hatte verschlafen! In weniger als acht Minuten musste ich am Bus sein! So schnell ich konnte zog ich mir mein grünes Lieblings Shirt, eine schwarze, eng anliegende Jeans und meine grünen Turnschuhe an. Ich riss meinen Rucksack vom Schreibtischstuhl und rannte hinunter in die Küche. Meine Großmutter saß am Küchentisch und aß genüsslich ein Butterbrot. Sie blickte auf, als sie hörte wie ich in die Küche gestürmt kam.
„Guten Morgen, Angel! Hast du gut geschlafen?“, trällerte sie munter. Sie musterte mich neugierig und ihre Augen öffneten sich weit vor Erstaunen. „Willst du heute wirklich schon in die Schule gehen? Wir wissen doch beide, dass das nicht viel bringen wird, mein Engel.“ Sie sah mich mitleidig an. Ich wusste, dass ich jetzt weg musste, denn sonst würde sie mich noch überreden, wirklich hier zu bleiben und mich selbst zu bemitleiden.
„Ja, es wird nicht viel bringen, aber das ist immer noch besser, als in Selbstmitleid zu baden, was der Fall wäre, wenn ich hier bliebe.“ Ich schnappte mir eines der Brote von ihrem Teller und rannte zum Kleiderständer, wo ich meine Jacke herunter riss.
„Tschüss, Granny, ich muss jetzt los. Bis nachher!“ Ich winkte ihr noch zum Abschied, dann rannte ich aus dem Haus und auf direktem Wege zur Bushaltestelle.

Mein Geschichtslehrer Mr Smoke verspätete sich ganze fünfzehn Minuten. Schrecklich lange fünfzehn Minuten, denn meine besten Freundinnen Marie und Sophie löcherten mich mit Fragen, da sie keine Ahnung von Johnys Tod hatten. Noch nicht. Und sie wussten auch nicht, wie schrecklich es mir ging.
„Angel, was hast du? Du siehst nicht gut aus.“ Marie schaute mich fragend an, ihre Stimme war drängend. Schnippisch gab ich zurück: „Danke, das weiß ich selbst!“ Ich drehte mich um, um meine Sachen auszupacken. Als ich wieder in ihre Augen blickte, sah ich, wie sie eingeschüchtert zu einer Antwort ansetzen wollte und sofort plagte mich das schlechte Gewissen. Da rauschte Mr Smoke in die Klasse.
„Guten Morgen, Schüler. Setzt euch!“, befahl er, während ein Junge ihm folgte. Die rauchige Stimme des Lehrers erklang erneut.
„Ich möchte euch jemanden vorstellen.“ Mr Smoke deutete mit der Hand auf den Jungen. „Das ist David Demon. Er ist neu an unserer Schule.“ Desinteressiert musterte ich den Jungen von Kopf bis Fuß und verdrängte das Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen. Ein Stechen durchfuhr meinen Kopf und ich blickte mit einem Zucken weg. Plötzlich überkamen mich die Erinnerungen an Johny und die letzte Mission wieder, sodass ich nichts mehr um mich herum mitbekam. Diesen David, ich kannte ihn. Irgendwoher kannte ich ihn. Nur woher? Woher kannte ich diese Augen, die mich gerade, in diesem Augenblick interessiert musterten? Sie riefen in mir schreckliche Erinnerungen von Johny wieder wach, welche ich immer noch versuchte zu vergessen. Marie stupste mich nervös an und ich schrak erschrocken hoch. Dann erklang Mr Smokes tadelnde und leicht genervte Stimme. „Miss Emerald, könnten sie sich bitte in meinem Unterricht konzentrieren? Also hätten sie was dagegen?“ Ich sah ihn verständnislos an. „Wo gegen sollte ich denn was haben?“, fragte ich verwirrt. Er stöhnte hörbar auf.
„Oh, Miss Emerald, was soll ich nur mit ihnen machen? Hätten sie was dagegen, wenn Mr Demon sich neben sie setzt“, er zeigte auf Maries Platz, „und Miss Shine“ - er meinte Marie - „neben Miss Norten“, er schaute zu Sophie, „setzen würde?“, er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich fing Maries Blick auf, die sich innerlich wahrscheinlich schon darauf vorbereitete, ab sofort neben Sophie zu sitzen.
Ich wusste genau, dass die beiden nur notgedrungen durch mich befreundet waren. Sie waren wie Feuer und Wasser, Kälte und Hitze. Sie waren einfach zu verschieden für eine wirklich feste Freundschaft. Dann blickte ich zu Sophie, die mir einen grimmigen Blick zu warf, ehe sie David verführerisch anlächelte. Meine Entscheidung war gefallen, denn wie es aussah, hatte Sophie ein Auge auf David geworfen und ich wollte jetzt echt keinen Streit mit ihr.
„Ja, Mr Smoke, ich hätte was dagegen“, antwortete ich knapp. Alle Augen in der Klasse weiteten sich vor Erstaunen, und Sophie lächelte mich dankbar an. Mr Smoke ergriff gereizt das Wort.
„Und wo sollte dann ihrer Meinung nach Mr Demon sitzen?“ Ich sah ihn erstaunt an und deutete auf den freien Platz neben Sophie.
„Na, wie wär’s mit dem Platz neben Sophie?“ Daraufhin stutzte Mr Smoke, er hatte wahrscheinlich nicht gedacht, dass ich Widerstand leisten würde. Dann, und das kam mir unangebracht vor, ergriff David das Wort.
„Ähm, Mr Smoke, wenn ich ehrlich sein soll, würde ich gern auf ihren Vorschlag eingehen, denn da“, er deutete auf den Platz neben Sophie, „hätte ich nur Mädchen neben mir und da“, er wies neben mich, „wären auch Jungen.“ Ich war völlig perplex, und auf dem Gesicht von Mr Smoke breitete sich ein siegessicheres Lächeln aus.
„Tja, Miss Emerald, tut mir wirklich sehr leid, aber Miss Shine und sie werden jetzt getrennt. Sie sitzen neben Mr Demon.“ Wütend starrte ich David an, der sich leicht unter meinem Blick zu winden begann. Dann fing ich Sophies Blick auf, sah sie entschuldigend an...und erschrak, sie war stinksauer.

Warum?

Ich hatte es doch versucht, aber es hatte eben nicht geklappt, warum war sie dann jetzt sauer auf mich? Und nicht auf David oder Mr Smoke? Marie sah sie genauso verständnislos an. Ich blickte weg, merkte aber weiterhin den wütenden Blick von Sophie auf mir. Die ganze Stunde war eine riesen Qual, meine Oma hatte wie immer Recht behalten.

Ich hätte heute doch zu Hause bleiben sollen.

„So“, durchschnitt Mr Smokes laute Stimme die aufgekommene Stille im stickigen Klassenraum. „Heute werde ich ein bisschen vom Thema ableiten. Ich wurde von einem Schüler eurer Klasse, auf eine alte, schon fast vergessene Sage angesprochen. Und ich finde diesen Mythos sehr entzückend und so werden wir heute ein wenig darüber sprechen. Hat irgendeiner von euch schon einmal was von der Sage des Götterschwerts gehört?“ Niemand meldete sich, kein Arm wurde in die Luft gestreckt, während der Blick des plötzlich lebhaften Geschichtslehrers über die Schüler schweifte. Ich fand Interesse an diesem Thema. Was hatte es damit auf sich?
„Nun, niemand? Okay, dann werde ich euch etwas darüber berichten, falls wirklich keiner von euch davon gehört hat.“ Mr Smoke wurde von David unterbrochen. Er richtete sich auf und begann mit einem Seitenblick auf mich an zu sprechen. „Das Götterschwert ist die mächtigste Waffe, die es seit Jahrtausenden gibt. Es heißt, Gott hatte zehn seiner stärksten, weisesten und treusten Engel, den bekannten Erzengeln, ein solches Schwert geschmiedet. Sie wurden über Generation zu Generation weitergegeben. Doch nach vergangenen Jahrhunderten verschollen oder erloschen diese mächtigen Götterschwerter. Nur noch eines lebte wahrhaftig weiter. Das Schwert einer Kriegerin namens Ciana. Doch mit ihrem Tod besiegelte sie auch die Auslöschung ihrer Tochter. Diese musste ihren Platz als neuen, zehnten Erzengel einnehmen und ebenso das Schwert den Gegnern entgegenstrecken. Doch natürlicherweise gab es Neid unter den übrigen Engeln. Sie wollten die Waffe stehlen, und immer öfter kämpfte die Tochter, für ihr Erbe und um ihr Leben. Irgendwann war sie mir ihrer Kraft am Ende und vernichtete das so wertvolle Antlitz. Dabei belegte sie ein Fluch. Aus ihrem wundervollen Körper allein, konnte das Götterschwert neu geschmiedet werden. Das aber nur in einer einzigen, vorherbestimmten Nacht. Doch die Frau mit Flügeln verschwand, nachdem sie mit einem ihrer Feinde ein Kind bekam. Sie verstarb, oder lebte versteckt weiter. Es heißt, dass der verwunschene Zauber auf ihr Nachkommen vererbt wurde. Und so suchen noch heute die Unsterblichen nach diesem wertvollen und überaus mächtigen Wesen.“ Während des Erzählens hatte David sich mir gegenüber gesetzt. Ich starrte ihn unverhohlen an und seine Augen drückten Trauer und Wissen aus. Ein kalter Schauder überlief meinen gesamten, reglosen Körper und ich musste wegsehen. Mr Smoke war genauso verwundert wie ich und der Rest der Schülerschaft. Dann zauberte sich ein Lächeln auf sein sonst immer so trostloses Gesicht. „Wunderbar, Mr Demon. Ich hatte nicht gewusst, über welches Wissen sie beherrschen. Ich bin verblüfft, wahrhaftig. Doch sagen sie, woher genau stammt es, wenn ich fragen darf?“ Er schien wirklich interessiert, etwas sehr Neues. David senkte die Lider und setzte sich wieder richtig auf seinen Stuhl. Er schwieg. Mit einem enttäuschten Ausdruck konzentrierte sich Mr Smoke wieder auf den Unterricht und stellte genervte Fragen, an die immer noch verwirrte Klasse.
Am Ende der Stunde ging ich neben Marie zur Tür. Sie sah mich mit strahlenden Augen an.
„Oh, Angel, dieser David ist ja so süß!“ Mit einem Blick auf Sophie, die mich über die Schulter böse ansah, antwortete ich: „Ja, das Gleiche denkt Sophie auch. Du weißt worauf das hinauslaufen wird, oder?“ Sie sah mich mitleidig an. „Oh, Angel, und ich dachte, dass hätten wir endlich geklärt. Sophie kann mich mal. Ich finde ihn toll und sie kann daran nichts ändern. Was dich angeht, du machst dir anscheint grad völlig in die Hose, wenn sie dich nur ansieht.“ Beim Sprechen sah sie immer wieder von mir zu Sophie und wieder zurück. Ich ging nicht auf ihre Herausforderung ein und holte meine andere Freundin mit großen Schritten ein. Ich legte meine Hand auf ihre Schulter, als wir auf dem Flur waren.
„Sophie, bleib bitte stehen“, setzte ich mit fester Stimme an. Sie drehte sich langsam zu mir um und ihre blauen Huskyaugen starrten mich verhasst an.
„Was, Angel? Du hier? Nicht bei David? Ich kann es nicht glauben. Ich kann es nicht fassen!“ Ich wusste nicht genau, ob sie den letzten Satz auf ihre Herausforderung oder aufs Allgemeine bezog, aber wie sie mich beim Sprechen ansah, ließ mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Ihr Blick schien Funken zu sprühen. Ich kämpfte gegen den Drang an, vor ihr zurückzuweichen. Irgendwas war anders als sonst, sie war schon öfters auf mich sauer gewesen, doch noch nie lag eine solche Spannung zwischen uns in der Luft. Aber trotzdem, dass konnte doch nicht sein! Vor keinem meiner Feinde, den Dämonen, hatte ich wirklich Angst, aber vor meiner Freundin?
„Sophie, ich hab im Moment echt andere Probleme! Es interessiert dich vielleicht nicht, aber Johny ist tot!“ Als ich zu Ende geschrieen hatte, war meine Stimme nicht mehr so fest. Tränen sammelten sich wieder in meinen Augen. Sie starrte mich fassungslos an. Ich sah sie an, versuchte ihrem Blick stand zu halten, doch ich wurde von etwas anderem abgelenkt. Ich blickte auf ihre Hand, die sich zur Faust geballt hatte, sie presste ihre Fingernägel in ihre Handfläche, doch ich konnte noch einen Blick auf sie erhaschen. Sie waren lang, scharf...wie Krallen. Oh, man! Ich kannte diese Symptome!
Und augenblicklich durchlebte ich meine eigene Verwandlung wieder. Wie ich um Hilfe flehend am Boden gelegen hatte, von starken Stromschlägen gequält. Wie Schweiß meine Stirn bedeckt und Tränen in meinen Augen gestanden hatten. Meine Granny hatte nur im Türrahmen gestanden und mit mir gelitten. Es war eine grausame Zeit der Verwandlung gewesen, geplagt von schrecklichen Momenten. Und ich hatte nur überstanden, weil ich Dämonenblut getrunken hatte. Es ekelte mich noch heute an, wenn ich auch nur daran dachte, wie mir die warme, Kraft gebende Flüssigkeit meine Kehle hinunter ran. Ich hatte mich danach das erste Mal in meinem Leben voll und ganz in einem Dämon verwandelt. Und es war nicht das einzige und letzte Mal geblieben. Immer wenn ich Wutausbrüche gehabt oder irgendetwas anderes mich innerlich aufgewühlt hatte, kam die grausame Verwandlung. Doch nicht alles war daran so qualvoll gewesen. Ich hatte dadurch auch meine Fähigkeiten entdeckt. Ich konnte, als dieses überdimensionale Wesen schneller laufen und war um einiges kräftiger. Und wenn ich meine Augen schloss und mir etwas von ganzem Herzen wünschte, geschah es. Nach einiger Erprobungszeit hatte ich mich zu kontrollieren gelernt und konnte diese Fähigkeiten auch benutzen, wenn ich nicht unbedingt in einem anderen Körper war.
Um die fesselnden Gedanken loszuwerden, schüttelte ich den Kopf.
Sophie hob die Faust, holte aus zum Schlag und diese Bewegung ließ mich wieder in meinen Erinnerungen ertrinken. Wie der Dämon ausholte und Johny in zwei Teile schnitt. Das führte dazu, dass ich dem Schlag von Sophie nicht auswich oder es erst zu spät bemerkte, wie man es auch nehmen will, und hart gegen ein paar Schließfächer flog.
„Sophie!“, keuchte ich ungläubig. Sie stürzte sich auf mich, versuchte mich zu zerfleischen. Ich hörte, wie die Schüler um uns herum scharf die Luft einzogen. Ich rang mit ihr, nahm harte Schläge in Kauf, teilte aber auch sehr viele aus. Schließlich nahm einer der Lehrer all seinen Mut zusammen und schritt zwischen uns.
„Mädels, Mädels, beruhigt euch!“ Er griff nach Sophie, die sich erneut auf mich werfen wollte. Er war kräftig, musste aber trotzdem all seine Kraft aufbringen, um Sophie zurück halten zu können. Die Zeit reichte, damit ich mir Blut aus dem Gesicht wischen konnte, ob es meins oder ihres war, wusste ich nicht zu sagen. Dann bedachte ich sie mit einem ungläubigen Blick und sah, wie ein Schimmer kurz in ihre Augen trat, als hätte sie Schuldgefühle. Er verschwand jedoch sofort in der nächsten Sekunde, so schnell wie er gekommen war. Ich sprang auf, zwar nicht so schnell und geschmeidig wie sonst immer, dennoch beweglicher, als es ein normaler Mensch jemals hätte tun können. Die Menge, die sich um uns versammelt hatte, machte mir wortlos Platz. Ich stürmte an ihnen vorbei, raus aus dem Schulgebäude...und merkte zu spät, dass noch etwas anderes nicht stimmte. Blut tropfte mir in die Augen, ich wischte es mit dem Ärmel meiner Jacke weg und bekam einem Blick für mein Umfeld. Ich drehte mich langsam im Kreis. Alles war stumm, ruhig. Zu ruhig. Alles war wie gerade vor zehn Sekunden, ja, wirklich

alles.

Alles und jeder blieb in seiner Bewegung wie erstarrt stehen. Plötzlich stieg mir ein unangenehmer Duft in die Nase. Verfaulte Mandarinen, ein Zeitdämon, und noch zwei andere. Doch bevor ich überlegen konnte, wer oder was noch da war, durchbrach eine eisige Stimme die Stille.
„Angel, stimmt’s? Hab schon viel von dir gehört“, meinte diese spöttisch. Langsam, sehr darauf bedacht, ruhig und furchtlos auszusehen, drehte ich mich um. Selbst in dieser Verfassung, verletzt und geschwächt, konnte ich sie alle leicht besiegen. Es würde, selbst wenn ich es wollte, nichts bringen, weg zu laufen. Der Zeitdämon, Temporus genannt, konnte die Zeit anhalten und ich könnte laufen und mich verstecken so viel ich wollte, sie würden mich suchen und ich könnte niemanden um Hilfe bitten, da nur Dämonen sich in solchen Situationen frei bewegen können, anstatt zu gefrieren, wie einfache Menschen. Aber ich, als Halbdämon, mir kann das nichts anhaben.
Ich betrachtete die Kreaturen genauer, konnte aber nichts weiter über sie in Erfahrung bringen.
„Hm…ein echtes Zuckerschlecken.“ Der Blick von Temporus glitt über mich, „Habe mir dich ein bisschen grausamer vorgestellt. Schließlich sollst du schon ganz schön viele von uns auf dem Gewissen haben, nicht wahr? Jungs, was meint ihr? Sie hat ein hinreißendes Gesicht, sportliche Figur und erst ihre Augen…meint ihr nicht, wir sollten auf die 100.000 Dollar verzichten und dem Herrn eins auswischen, sie einfach behalten?“ Bei seinen Worten war ich verwirrt. Während einer der drei dem Zeitdämon böse Blicke zuwarf, hatte ich einen ganz anderen Gedanken.

100.000 Dollar? Wofür?


Da ergriff der Dritte das Wort. Der, der mich die ganze Zeit eingehend betrachtet und sich nicht in den Streit der beiden anderen eingemischt hatte.
„So auf der Leitung, Süße? Fragst dich nach dem Grund für das viele Geld? Das ist für deinen Kopf“, stellte er lächelnd fest.

Oh Mist!

Ein Memoria, ein Gedankenleser.
„Warum?“, fragte ich mit fester Stimme. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm mir die Sache war, jetzt, wo ich geschwächt war.
„Na ja, eigentlich hat der Herr seinen Sohn auf dich angesetzt. Doch dieser hat es mit einer lang andauernden, schweren Methode versucht, und da unser Herr nicht viel Geduld hat, hat er uns auf dich angesetzt. Für Geld, dafür, dass wir die Arbeit von seinem Sohn übernehmen. Und sagen wir mal, wir haben auch nicht viel Geduld, wollen unsere Belohnung, deshalb werden wir dich jetzt dem Herrn ausliefern und nicht erst später.“ Bei der Erklärung wurde das Grinsen auf seinem Gesicht immer breiter und spöttischer.
„Kenne ich diesen Sohn von dem du redest“, fragte ich mit leiser Stimme. Memorias Lächeln entblößte scharfe, spitze Zähne.
„Ach komm schon, Schätzchen, ich weiß du kennst die Antwort. Überleg doch mal ein bisschen“ Ich brauchte nicht zu überlegen, ich wusste es wirklich. Und wie aufs Stichwort kam David durch die Schultür gebraust und rannte zu uns hinüber. In nicht mal einer Sekunde war er an meiner Seite. Ich wollte ihn von mir stoßen, wusste dass er nicht auf meiner Seite stand, da umfasste er meine Handgelenke noch in der Bewegung und wandte sich den dreien zu.
„So, mein Vater hat euch also geschickt. Tja, ich hab sie vor euch gefunden und wenn ihr sie und das Geld wollt, müsst ihr erst mich aus dem Weg räumen“. Ich stutzte.

Warum sagte er so was? Warum beschützte er mich?

Er sah nicht ein einziges Mal von den Dämonen ab, als er zu mir gewandt meinte: „Ich beschütze dich erstens, weil ich diese Bestien so wie so nicht leiden mag und ich ihnen deshalb diese hohe Belohnung nicht gönne. Zweitens, weil ich eine Ehre zu verlieren habe, wenn ich versagen würde und drei so niedrige Viecher nicht. Und drittens, weil ich loyal gegenüber meinem Vater bin und meinen Stolz nicht erkaufen, sondern verdienen will, und deshalb auch nur ich dich zu meinem Vater bringen werde.“ Bei dieser Erläuterung schielte er einen kurzen Moment zu mir hinüber, ehe er wieder wegschaute und meinte: „Widersetzt ihr euch meinem Befehl, werde ich es nicht dulden, dass ihr Hand an sie legt, während ich noch lebe. Also, wie entscheidet ihr?“ Ein boshaftes Lächeln erschien auf den Gesichtern, während zwei von ihnen nach vorne stürmten. Doch einer, der Memoria, zögerte eine kurze Zeit.
Ein Schlag von Davids Faust und einer der beiden viel um. Er schrie auf, als Davids Arm in seinem Brustkorb verschwand und wenig später mit einem Ruck wieder zum Vorschein kam. In der zusammen geballten Hand ein tiefrotes, voll Blut tropfendes Herz. Memorias Augen weiteten sich ehrfürchtig. Doch Temporus ließ sich von dem Geschehen nicht beirren. Er sprang über den verschrumpelten, mit Blut bespritzten Körper seines Kampfgefährten und steuerte geradewegs auf David zu. In der ganzen Zeit hatte ich mich keinen Zentimeter bewegt. Ich betrachtete verängstigt und verstört, wie der Dämon in geschmeidiger Eleganz schnell auf meinen vermeintlichen Retter zu rannte, doch nicht mal einen knappen halben Meter vor ihm, machte Temporia einen scharfen Schlenker und warf sich auf mich. Ich war so perplex, dass ich fast den Schmerz der Krallen, die sich in meine Schultern gruben, vergaß.
„Angel! Pass auf!", bei Davids Ruf setzte mein Verstand wieder ein. Ich nahm all meine Kraft zusammen und stemmte mich gegen den auf mir sitzenden Dämon. Dabei wehrte ich auch noch die Krallen ab. Doch ich hatte gerade ein bisschen Abstand zwischen uns gebracht und schon zum Fausthieb ausgeholt, da wurde Temporus von mir herunter gerissen. Das Sonnenlicht schien mir ins Gesicht und ich kniff die Augen leicht zusammen. Trotzdem sah ich zwei Silhouetten, die miteinander rangen und viele Schläge einsteckten und austeilten. Doch ich sah dem Kampf nicht sehr lange zu. Dieser Zwischenfall mit Sophie und der kleine Kampf gegen diesen hinterlistigen Dämon, hatten mir Kraft geraubt. Ich sah noch, wie Temporus sich auf David stürzte und kurz davor war, ihn in Fetzen zu zerreißen. Da kniff ich so fest ich konnte, meine Augen zusammen und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass David Temporus endlich besiegte. Ich öffnete wieder meine Augen und erblickte die beiden. Sie rollten über den Boden, und ehe ich mich versah, riss David seinem Gegner den Kopf ab. Mir wurde schwarz vor Augen. Das Letzte, was ich erblickte, war ein in Schatten getauchtes Gesicht. Und das Letzte was ich hörte, war ein leises, beruhigendes Gemurmel.

„Was soll ich jetzt nur machen? Wie soll ich das...Angel, Angel bist du wach?“ Ich blinzelte. Grelles Licht strahlte mir ins Gesicht. Ich erkannte nicht viel, doch ein paar Schatten konnte ich erkennen. Felsige Wände, grau und steinig. Wasser tropfte von der Decke und nur eine einzige Kerze, ganz in meiner Nähe, erhellte den Raum. Und Schokolade. Schokolade? Hä? Scho...Augen! Schokoladenbraune Augen! Eine gerade Nase, dichte Wimpern und volle, einladende Lippen. Ich wusste auf einen Schlag, wer das war.
„David...“, ich hauchte seinen Namen nur, doch er horchte auf. Er murmelte ein „Ja“ und griff nach meinen Handgelenken, ich zuckte zurück.
„Fass mich nicht an!“, fauchte ich und schob seine erneut nach mir ausgestreckten Hände weg. David machte ein grimmiges Gesicht, stand auf und drehte mir den Rücken zu. Ich blickte mich panisch um...und entdeckte nirgends einen Fluchtweg. Ich krabbelte rückwärts. Ich wollte so viel Abstand wie möglich zwischen mich und David bringen. Ich prallte mit dem Rücken gegen hartes Gestein und schlug mit dem Kopf auf raue Felsen. Ich schrie auf. Sofort drehte sich David zu mir um und war auch schon eine Sekunde später neben mir auf den Knien. Ich stammelte etwas wie „Bleib mir vom Hals!“ und Ähnliches, doch er ignorierte meinen Protest, schlang seinen Arm um meine Taille und zog mich hoch. Ich wollte mich von ihm abwenden, doch er drehte mich stur wieder zu sich um und sah mir tief in die Augen.
„Angel ich weiß, dass du Angst vor mir hast, dass du mir nicht vertraust, aber bitte, bitte, bleib ruhig. Wehr dich nicht gegen mich.“ Ich verlor mich in seinen Augen. Schöne, sahnige Schokolade. Ich wusste nicht wie mir erging, bis ich durch ein unsanftes Schütteln aus meinen Träumen geweckt wurde. Ich sackte in mich zusammen, meine Knie wurden weich und all meine Kraft hatte ich verbraucht. Ich fiel in starke Arme, wurde von ihnen geschützt, wollte mich einfach loslassen, wollte nicht mehr diese stechenden Schmerzen spüren, wollte mich einfach gehen lassen. Doch bevor ich mich von all den Problemen erlöste, die mein Leben gerade regierten, verrenkte ich mir den Hals und sah wieder in diese schönen, braunen Augen.
Ich spürte, wie ich leicht lächeln musste und flüsterte: „Ich hab doch keine Angst vor dir.“
Ich sah Davids Mundwinkel zucken und ließ meine Augenlider sinken.



Kapitel 2






Ich stand in einem gleißendem Licht. Es war hell und beruhigend, leicht und frei, luftig und flauschig. Ich tanzte, drehte und wirbelte herum, sah nichts außer dem schönen Schein der auf mich gerichtet schien. Ich kam kein einziges Mal ins taumeln, mir wurde kein bisschen schwindelig und ich wollte niemals aufhören. Doch irgendwann hörten meine Füße auf, sich zu bewegen. Nicht, weil sie nicht mehr konnten, im Gegenteil, es war, als würde ich mit jeder Drehung mehr Energie in mich aufnehmen. Nein, etwas anderes war daran schuld, doch was, das wusste ich nicht.
Ich sah mich suchend nach der Ursache um, und dann entdeckte ich etwas. Einen Spiegel. Groß, mit goldenem Rahmen, sonst aber ohne Verzierungen. Und das Bild darin...war das ich? Es sah aus wie eine Königin, nein, wie ein Engel. Ja, ein wunderschöner Engel. Schwarze, lange Locken, helle, fast durchsichtige Haut, volle Lippen, eine spitze Nase und smaragdgrüne Augen. Die Haare waren zu einem lockeren, altmodischen Kranz zusammengebunden. Ein paar Strähnen fielen der Schönheit ins Gesicht. Sie trug ein eng anliegendes, weit ausgeschnittenes Kleid in einem cremefarbenen Ton, das mit Gold verziert war. Die Schönheit konnte nicht ich sein, nein ich war das nicht, ich wusste es, ganz sicher wusste ich es. Trotzdem kam sie mir bekannt vor. Sie ähnelte mir so sehr. Ich war in ihrem Körper, fühlte mich wohl wie in meinem eigenen, und spürte die Aufregung und die Furcht von ihr.
Plötzlich legten sich warme Hände auf ihre Hüften und sie sah im Spiegel über ihre Schulter. Da stand ein hoch gewachsener, breitschultriger Mann, der sie mit einem vorfreudigen Lächeln betrachtete. Er hatte feuerrotes Haar, ebenfalls grüne Augen, doch nicht welche wie Smaragde, sondern wie Moos. Er hatte eine gerade Nase, dünne Lippen und das gleiche markante Kinn wie ich. Sie lächelte zögernd zurück und drehte sich langsam um. Er sah ihr in die Augen, beugte sich zu der Schönheit vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Lilith, du bist das Schönste was ich jemals gesehen habe. Eine Göttin, eine Schönheit, mein Engel.“ Er musterte die verlegen dreinschauende Frau von Kopf bis Fuß und erst als er wieder bei ihrem Gesicht angekommen war, antwortete sie: „Sammael, das aus deinem Munde zu hören, bedeutet mir viel, obwohl ich es schon von so vielen deiner und meiner und anderer Arten gehört habe.“ Sie blickte ihm ernst in die Augen und als hätte er ihre Gedanken gelesen, strich er ihr mitfühlend eine der Strähne hinters Ohr und küsste sie leicht. Sie genoss sein Mitgefühl, ließ sich treiben und fiel ihm in die Arme. Sammael hielt sie fest umklammert, als fürchte er, sie würde sich sonst in Luft auflösen. Nach einer viel zu kurzen Zeit, Lilith Meinung nach, löste Sammael die Umarmung und hielt sie bei den Schultern aufrecht.
„Mein Schatz“, flüsterte er, „habe keine Angst. Alles wird gut, bestimmt. Mein Volk hat dich bereits akzeptiert, und wenn die deinen es nicht tun, werden wir sie mit Gewalt dazu treiben.“ Sammael schaute mit einem durchtriebenen Lächeln zu Lilith herab. Diese jedoch sah mit ängstlich geweiteten Augen auf einem Punkt weit weg und fragte dann immer noch mit glasigem Blick: „Muss es wirklich so weit kommen, müssen sich gut und böse wirklich bekriegen nur wegen uns? Du könntest dabei sterben, meine Lieben könnten sterben und die deinen ebenfalls. Muss das wirklich sein? Ich könnte wieder zurückkehren, den Herrn um Gnade bitten, dann wäre alles wieder gut...“ Sammaels Blick wurde bei ihren Worten ernst, das Lächeln verschwand und blitzschnell schoss er vor, sodass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von Liliths entfernt war.
„Wie kannst du nur so etwas sagen? Auch nur denken? Wir gehören zusammen, sind für einander bestimmt. Egal was passiert, ich werde hierfür kämpfen, für uns, für sie!“ Er deutete mit seinem Zeigefinger auf den Bauch der Frau, „Und nichts und niemand, nicht einmal dein Herr und Gott, kann mich, den Herr der Hölle, daran hindern, dass einzige Geschöpf wärst wenn überhaupt du, jedoch schwöre ich hier und jetzt, dass ich niemals aufgeben werde, um dich zur Vernunft zu bringen“ Dann wich anstelle des ernsten Tonfalls, ein sanfter, beruhigender. „Ich liebe dich, Lilith.“ Sie war die ganze Zeit stumm gewesen, hatte nichts gesagt, hatte nur ihren Geliebten nachdenklich betrachtet.
„Sammael, ich liebe dich auch. Ich liebe dich mehr als mein Leben, und deshalb, weil ich dich so sehr liebe, kann ich nicht nach draußen auf dein Fest gehen. Kann mich nicht mit dir ehelich vereinen, es tut mir leid.“ Sie schloss kurz ihre mit Trauer erfüllten Augen und als sie sie wieder öffnete, sah Sammael sie verständnislos an, doch dann verstand er und wollte wütend nach ihrem Arm greifen, fasste sie jedoch nicht. Sie war schon verschwunden.



Ich wachte schweißgebadet auf. Was war das für ein Traum gewesen? Er war schrecklich. Ich hatte alle ihre und seine Gefühle gespürt. Ihren Schmerz, als sie Sammael verließ, ihre Angst um die ihr nahe stehenden und seine Wut, von seiner großen und einzigen Liebe verraten, hintergangen worden zu sein.
Es war eine schreckliche Geschichte, ein herzzerbrechender Traum. Doch eine Frage schoss mir durch den Kopf. Wer waren sie? Sie sprachen von gut und böse, verbotener Liebe und einem Gott und dem Herrn der Hölle.
Ich regte mich und öffnete leicht meine Augen. Ich lag auf einer grünen, weichen Wiese und blickte in einen blutroten Abendhimmel. Ganz in der Nähe rauschte laut ein Bach und Vögel zwitscherten. Ich stand auf und fand mich auf einer einsamen Lichtung wieder. Ich kannte sie, denn ich war schon oft hier gewesen und lief deshalb geradewegs zu dem großen Stein, auf dem Sam und ich immer gesessen hatten als wir noch klein waren. Hier hat er mir zugehört, als ich ihm meine Wahrheit erzählte und ich hatte ihm hier geholfen, über die Trennung seiner Eltern hinweg zu kommen. Und dort saß er, mein bester Freund Sam. Seine schwarzen Haare glänzten mit der untergehenden Sonne um die Wette und seine kleine Nase war in Richtung Himmel gerichtet, während er mit dem Rücken auf dem Felsen lag und die Wolken betrachtete. Als ich näher kam, sah ich, dass er gar nicht die Wolken betrachtete, sondern seine Lider geschlossen auf den matt blauen Augen lagen. Seine dünnen Lippen öffneten und schlossen sich, er redete. Und dann sah ich auch mit wem. Eine ganz in schwarz gekleidete Gestalt mit vom Sonnenlicht leicht rötlich aussehenden Haaren und einer schwarz getönten Sonnenbrille saß aufrecht neben ihm und hörte stumm zu. Auch wenn seine Haare im Schein rostbraun bis rot wirkten, wusste ich sofort, wer da neben meinem besten Freund saß. Spätestens als er mir in die Augen sah, hätte ich es gewusst: David. Ich war stehen geblieben, ohne dass ich es gemerkt hatte und mein Freudengefühl war augenblicklich einem mulmigen Bauchgefühl gewichen. Sam sah ebenfalls auf und winkte mich zu sich herüber.
Ich lief, rannte, wie in alten Zeiten und sprang mit einem Satz zu den beiden hinauf. Sam musste sich einer stürmischen Umarmung meinerseits unterziehen, bevor er mir auch nur eine einzige Begrüßung entgegen bringen konnte. Nach Luft schnappend meinte er: „Angel, was ist denn mit dir los? Du umarmst mich, als hätten wir uns Jahre nicht mehr gesehen. Und du siehst schrecklich aus! Was ist passiert? Du bist ja schweißnass?“
„Albtraum“, nuschelte ich leise, dann fragte ich lauter: „Was macht ihr beide hier? Worüber habt ihr geredet?“
David horchte auf...und starrte mich leicht entschuldigend und gleichzeitig bittend an. Warum? Da ergriff Sam auch schon das Wort. „David hat mir erzählt, dass er herausgefunden hat, was du bist und was er ist. Ein Dämonenjäger.“ Als ich das hörte, musste ich mich zusammenreißen, meinen Mund geschlossen zu lassen. Ein Dämonenjäger? Was? David war kein Dämonenjäger, so wie ich. Er war ein Dämonenprinz, unser Feind. Ich setzte schon zu einem Kommentar an, da schnitt Sam mir das Wort ab.
„Er sagte, er hatte versucht dich zu jagen und umzubringen, weil er dich als einen ganzen Dämon einschätzte, aber als er deine wahre Identität herausfand, kam er ins Grübeln. Ach so, und er hat mir das von dem Kampf erzählt. Und, Angel“, er beugte sich zu mir hinüber und flüsterte weiter, „ich glaube, er hat dich echt gern. Ist zumindest ein netter Kerl.“ Bevor ich etwas Schnippisches antworten konnte, lehnte er sich mit einem wissenden Lächeln zurück. Doch dieses Lächeln reichte nicht, wie sonst immer, bis zu seinen Augen, in ihnen stand etwas anderes. Aber was genau, konnte ich nicht sagen.
„Also, was jetzt?“ Das war David gewesen, den ich erst jetzt wieder bemerkt hatte. Sam hatte sofort eine Antwort parat, wobei ich nicht einmal wusste, worum es ging. Ich blickte verständnislos drein, was Sam mit einem missbilligenden Kopfschütteln abtat. Eingeschnappt schaute ich von dem konzentrierten und mich abweisendem Sam, zu dem mich mitleidig betrachtenden David und wieder zurück. Wenn sie mich nicht bei dieser Besprechung dabei haben wollten, mir doch egal. Ohne ein weiteres Wort sprang ich vom Felsen, landete weich auf der grünen Wiese und stampfte hinüber zum Bach, mehr als fünfhundert Meter von den beiden entfernt. David rief sanft meinen Namen und ich hörte, wie er vom Stein rutschen wollte, doch Sam hielt ihn mit einem scharfen Kommentar, ich wäre oft eingeschnappt und würde mich schon wieder abreagieren, zurück. Pff, von wegen, eingeschnappt. Was glaubte er, wer er war? Das war mein bester Freund. Ich musste echt mal meinen Geschmack ändern.
Ich setzte mich an den Bach, zog meine Schuhe und Socken aus und ließ meine Füße im Wasser baumeln. Während ich zu den Wolken hochblickte, den Wind rauschen hörte, wie er durch die Blätter der nahe stehenden Bäume wehte, dachte ich über vieles nach. Mir schossen, meiner Meinung nach, viel zu viele Fragen durch den Kopf.
Wie lange war Sophie schon ein Dämon?
Wann hatte sie ihre Verwandlung vollzogen?
Warum hatte ich es nicht an ihren Stimmungswechseln gemerkt?
War es ihr genauso ergangen, wie mir, oder hatte sie sich doch noch nicht vollends verwandelt?
Warum war Sam plötzlich mir gegenüber so abweisend?
Warum hatte ich das Gefühl, dass mein Traum wahr war und irgendetwas mit meiner Vergangenheit zutun hatte?
Warum hatte David Sam nicht die ganze Wahrheit gesagt?
Warum hatte ich ihn gedeckt?
Und, warum zum Teufel, hatte ich in Davids Gegenwart immer dieses schrecklich schöne Gefühl im Bauch?
Das Schlimmste aber an der ganzen Sache war nicht die Tatsache, dass ich so viele Fragen hatte. Sondern die, dass ich niemanden hatte, der sie mir beantworten konnte.
Wie so oft schon hatte ich den Wunsch, ein ganz normales Mädchen zu sein. Ja, normal, das war ein schönes Wort. Ein Kinderwunsch, der niemals in Erfüllung gehen würde. Voller Sehnsucht blickte ich auf das Wasser in der reißenden Strömung, als ein greller Schein darauf mir die Sicht auf einen schönen goldenen Fisch versperrte. Ich sah auf... und meinte eine Person nur aus Licht bestehend vor mir zu haben. Ich rieb mir die Augen, doch auch danach war sie immer noch da.
War ich verrückt geworden? Ich wollte mich vergewissern, daher griff ich nach vorne...und berührte weiche Seide. Ich musste noch schlafen, ja das musste es sein. Ich schlief noch und das alles war nur ein Traum.
„Angel“, sprach eine Stimme, doch ich hätte schwören können, dass das Etwas sich nicht bewegt hatte, nicht einmal seine Lippen. Das war nur ein Traum, nur ein Traum... ich wollte aufwachen, kniff mir in den Arm, doch alles blieb wie zuvor. Ich rieb mir die schmerzende Stelle.
„Angel“, wiederholte sie, ein Schauder lief mir über den Rücken. Sie war weich und sanft, und doch auch so kalt. Ich musste schwer schlucken. Woher kannte sie meinen Namen?
„Ja?“ Ich brachte nur dieses eine Wort heraus, denn meine Kehle war vor schrecklicher Angst wie zugeschnürt. Wieder hörte ich diese einzigartige Stimme, doch das Wesen bewegte immer noch nicht seine Lippen.
„Du bist sie also, die Gesuchte. Ich muss dich warnen. Du wirst gesucht, gejagt und sie werden dich wie ein Reh hetzen, wenn sie dich finden.“ Ich sah etwas Goldenes...Haare, lange Haare. Und Umrisse eines schmalen Gesichtes, mehr jedoch nicht.
Ich fragte mit zittriger Stimme: „Wer sind sie? Wer wird mich jagen? Sag mal, wer bist du überhaupt?“
„Morgana, doch das ist jetzt erst einmal unwichtig. Viel bedeutender ist deine Sicherheit“, sprach sie mit ausdrucksstarker Stimme. Doch ich wollte mehr wissen.
„Morgana also. Tja, ich kann mich nicht vorsehen, wenn ich nicht weiß, vor wem. Also, wenn du mir nichts mehr zu sagen hast, dann entschuldige ich mich hiermit und werde gehen.“ Ich hatte mich schon umgedreht, als sie sprach: „Du bist wie deine Mutter. Temperamentvoll, stur und engstirnig. Ich habe diese Eingeschränktheit gehasst, und trotzdem war deine Mutter meine beste Freundin.“ Bei ihren Worten horchte ich auf und drehte mich um.
„Meine Mutter? Du kennst sie?“, fragte ich ungläubig. Morgana nickte leicht, und als sie antworten wollte, stockte sie plötzlich. Sie sah über meine Schulter hinweg, ihre Augen öffneten sich angstvoll. Dann sprach sie plötzlich gehetzt: „Ja, ich kannte sie gut, aber das wirst du noch irgendwann ausführlich erzählt bekommen. Jetzt musst du dich erst mal schützen, und ich weiß das hört sich irrwitzig an und ich würde an deiner Stelle erst gar nicht auf mich hören, aber du musst dem Dämon vertrauen. Er will dich beschützen, er weiß es nur noch nicht. Vertraue ihm, lasse es dir aber nicht anmerken, dann wirst du überleben. Glaube mir, bitte vertraue mir und meinen Anweisungen. Ich möchte nur das Beste für dich.“ Damit verschwand Morgana und ließ mich alleine zurück. Wenige Sekunden später kam David mit dem mürrisch dreinschauenden Sam im Schlepptau. Anscheinend hatten sie Morgana überhaupt nicht bemerkt, was wahrscheinlich auch besser war.
Ich starrte weiterhin auf die Stelle, wo Morgana verschwunden war. Was sollte ich jetzt machen? Sollte ich ihr vertrauen und mit David gehen? Aber er wollte mich doch an seinen Vater aushändigen! Doch sie hatte auch gesagt, dass er es sich anders überlegen würde. Also, was sollte ich jetzt machen?
„Angel“, durchschnitt Davids scharfe Stimme die Stille, "wir müssen gehen, sofort! Ich habe meinen Wagen hier ganz in der Nähe. Zuerst bringe ich Samuel und dann dich nach Hause. Wäre das ein Problem für dich?“, fragte er mit seiner verführerischen Stimme und hätte ich nicht gewusst, was er mit mir vorhatte, hätte ich auch ganz bestimmt nichts dagegen gehabt. Doch er war nicht normal und hatte auch keine normalen Absichten. So zuckersüß und dumm wie ich es nur konnte meinte ich an ihn gewandt: „Aber nein, überhaupt nicht. Ich freu mich schon richtig.“ Als glaubte David, ich wäre dumm und hätte vergessen, was er war, lächelte er mich siegessicher an und klopfte Sam freundschaftlich auf die Schulter.
„Komm Kumpel, die kleine Lady möchte von mir nach Hause gefahren werden. Ich möchte ihr den Wunsch ehrlich gesagt auch nicht abschlagen. „Also los!“ Mit einem breiten Grinsen schritt er, mit einem Arm auf Sams Schulter und dem anderen um meine Taille, durch das kurze Stückchen Wald zu seinem schwarzen BMW. Innerlich kochte ich vor Wut, ließ es mir jedoch nicht anmerken. Ich musste zugeben, er war ein guter Schauspieler.
Aber das war ich auch.

Die Autofahrt verlief recht still. Ich war immer noch sauer auf Sam und hatte keine Lust, mit David ein Gespräch anzufangen. Ich wollte kein Risiko eingehen, mich doch noch zu verraten. Wir kamen an einem mir sehr bekannten roten Backsteinhaus vorbei und hielten vor der Einfahrt an. David schnalzte resigniert mit der Zunge und drehte den Kopf zur Rückbank, wo Sam schon dabei war die Autotür zu öffnen.
„Hey, wir sehen uns doch mal wieder, oder?“, fragte er mit Blick über seine Sonnenbrille. Mein bester Freund schnaubte geringschätzig. Was hatte der denn plötzlich? Vorhin waren sie doch noch dicke Freunde gewesen.
„Eher friert die Hölle ein“, murmelte er, woraufhin mein Sitznachbar anfing loszuprusten.
„Bitte nicht, es war eine schreckliche Zeit, als sie zu Eis geworden war!“, brachte er unter Versuchen, das Lachen sein zu lassen, heraus. Ich erstarrte, genauso wie mein Freund, der gerade dabei gewesen war, die Autotür zu schließen. Entsetzt starrte er den Fahrer an, dieser trat energisch aufs Gaspedal und schoss davon.
„Das war aber eine tolle Aktion, Dämon“, meinte ich verächtlich.
„Klappe!“, schnauzte David mich an, ohne von der Straße wegzusehen.
Beleidigt verschränkte ich meine Arme vor der Brust, und verkroch mich tiefer in meinem Sitz.
Warum dachten nur alle, sie könnten mir Vorschriften machen?

Wir waren schon sehr lange unterwegs, hatten oft Rast machen müssen, da ich aufs Klo musste. David war zur Sicherheit sogar mit auf die Damentoilette gegangen, um aufzupassen, dass ich nicht abhaute. Als ob ich das geschafft hätte. Meine Wunden und all die blauen Flecken waren zwar schon wieder weg, als wären sie nie da gewesen, jedoch war ich immer noch nicht ganz bei Kräften. Außerdem wollte ich auf Morgana hören. Schließlich hatte sie vor, mir zu helfen und sie sagte, sie war eine Freundin von meiner Mutter gewesen. Also musste sie ja irgendwie Recht haben. Nennt mich ruhig dumm, dass ich jemanden glaubte und vertraute, den ich nicht kannte und den ich mir vielleicht auch nur vorgestellt hatte, aber ich tat es eben.
„Wir sind da“, weckte Davids Stimme mich aus einem kleinen Nickerchen, gefolgt von einem brutalen Schütteln.
„Hey! Geht’s auch netter?“, schnauzte ich ihn an, während ich seine helfende Hand weg schlug und alleine aus dem Wagen stieg.
Doch bevor ich auch nur einen Schritt nach dem Ausstieg machen konnte, versperrte er mir den Weg. Und obwohl die Sonne ihm im Rücken stand und so mit sein Gesicht im Schatten lag, wusste ich, dass er wegen irgendetwas sauer war, und das sehr wahrscheinlich wegen mir.
„Noch kein Fluchtversuch? Noch kein Freikampf? Ich dachte, du wärst die gefürchtete Angel, die Furcht einflößendste Dämonenjägerin der Welt, oder etwa nicht? Willst du etwa sterben?“, fragte er und es war nicht schwer, die Herausforderung heraus zuhören. Doch anstatt auf seine Sticheleien einzugehen, schritt ich stur gerade aus an ihm vorbei. Er ergriff meinen Arm und brachte mich zum stehen. Er sah mich verständnislos an und gleichzeitig meinte ich, Siegessicherheit in seinen Augen gesehen zu haben.
„Habe ich die kleine Jägerin etwa eingeschüchtert?“, fragte er mit spöttischem Grinsen und schon hatte ich vor Wut zu einer schnippischen Antwort angesetzt, da schnitt eine eiskalte Stimme mir das Wort ab.
„Herr, ihr seid da und ihr habt die Gefangene. Euer Vater hatte nicht gedacht, dass ihr sie bringen würdet“, meinte ein Riese, der mit vor der Brust verschränkten Armen aus dem Nichts aufgetaucht war und nun vor uns stand. Er fing den vernichtenden Blick von David auf und fügte dann etwas schneller hinzu: „Euer Vater dachte das, dass heißt nicht, dass ich das auch dachte, Herr.“ David reagierte mit einem Murmeln und anscheinend war die Sache jetzt für ihn abgeschlossen. Aber nicht für mich!
„Hey, du da!“, rief ich dem zwei Köpfe größeren Mann nach oben zu. Dieser blickte auf mich hinab.
„Ja, kleines Fräuleinchen?“, fragte er überrascht, als hätte er nicht erwartet, dass ich mich auch nur traute das kleinste Geräusch zu machen.
„Warum fürchtest du dich vor ihm?“ Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf den neben mir stehenden David, „Er kann doch keiner Fliege etwas zu leide tun. Er ist schwach, ein Feigling, der keinen Stolz hat,“ ich meinte, bei meinen harten Worten, ein kurzes Zusammenzucken von David aus dem Augenwinkel gesehen zu haben, welches ich mir aber auch nur eingebildet haben könnte.
„Und außerdem bist du zwei Köpfe größer als er, stämmiger und sehr wahrscheinlich auch doppelt so stark. Da kann er Köpfchen haben, so viel er will.“ Der Riese starrte mich aus einem Auge geschockt an, das rechte war von einer Augenklappe bedeckt. Dann richtete er sich kerzengerade und mit Stolz auf, zog den Bauch ein, streckte die Brust raus und hatte den Blick fest auf mich gerichtet.
„Ich habe keine Angst vor ihm, junges Fräulein, aber sie sollten sich vor ihm fürchten. Er wird sie in die Unterwelt verschleppen, euch zu eurem Untergang führen und dafür wird er euch in die Hölle bringen. Euer Tod wird schmerzhaft und brutal werden, langsam und qualvoll. Ihr werdet dann in die Hölle zurückkehren oder in den Himmel. Es kommt darauf an, wie ihr euch in eurem Leben geschlagen habt. Und falls wir uns nach eurem Ende wieder sehen, werde ich an euch Rache nehmen, da ihr meine geliebte Josephin umgebracht habt und euer zweiter Tod wird schlimmer und boshafter und qualvoller, als der erste es je hätte sein können!“ Die letzten Worte schrie ein Auge mir ins Gesicht, doch ich zuckte mit keiner Wimper, als ich leise und ruhig und boshaft antwortete: „Ich freue mich schon.“ Damit hatte mein Gegenüber wohl nicht gerechnet, denn er starrte mich an, als wäre ich geistesgestört.
„Du wirst mich nicht umbringen, Einauge. So weit wird es nicht kommen, niemals! Wenn es zu einem Kampf kommt, dann wirst du der Verlierer sein.“ Ich wandte mich um, wollte mich von David, der die ganze Zeit stumm das Gespräch belauscht hatte, den Kiesweg weiter zu dem kleinen Häuschen führen lassen, da für mich das Gespräch zu Ende war. Doch dann sah ich aus dem Augenwinkel eine kleine, schnelle Bewegung, hüpfte rasch einmal zurück und sah, wie Einauge durch die Luft flog, ohne mich zu treffen, und hart mit dem Gesicht über den Kiesweg mindestens einen Meter weiter rutschte. Blitzschnell sprang ich auf ihn, drückte sein Gesicht auf den harten, steinigen Boden und wollte gerade seinen Arm auf den Rücken ziehen, da bäumte er sich mit aller Kraft auf und schleuderte mich zwei Meter auf die Wiese. Sofort sprang ich wieder auf die Füße, wollte mich erneut auf meinen Gegner stürzen, da fing mich David ab und rollte mit mir über den Weg. Nach ein paar Schlägen und Drehungen, saß ich schließlich auf ihm, wir beide schwer atmend. Ich hörte Einauge stöhnen und träge, jedoch auch schnell aufstehen und rollte mich noch in der letzten Sekunde von David hinunter, als auch schon Einauge mit seinem ganzen Köpergewicht auf seinem Herrn landete und dieser einmal kurz laut aufkeuchte. Ich dachte, David wäre ausgeschaltet, aber nein, im Gegenteil. Er stützte seine Beine gegen Einauges Hüften, stemmte diesen hoch und ließ ihn einen Meter über die Wiese fliegen. Dann sprang er weniger elegant auf und machte sich an meine Verfolgung. Ich rannte wie verrückt, über grüne Hügel in einen dunklen Wald.
Plötzlich zischte etwas an mir vorbei, ich wollte ausweichen, anhalten, schaffte es aber nicht mehr rechtzeitig und prallte gegen eine harte Brust. Ich fiel, hockte mich aber schon sofort wieder angriffsbereit hin.
„Angel“, kam stockend mein Name aus Davids Mund. Drohend stand er über mir, doch ich ließ mich nicht einschüchtern.
„Ja, so heiße ich“, meinte ich schnippisch, ebenfalls außer Atem, aber deutlicher als er.
„Schweig“, befahl der Dämon mir, doch ich antwortete eingeschnappt: „Niemals, ich spreche, wann ich will und ich schweige erst, wenn ich meine Zunge verliere oder ich es für angebracht halte!“ Beim Sprechen hatte ich entsetzliche Schmerzen, mindestens zwei Rippen waren gebrochen, meine rechte Wange war von einem seiner Fausthiebe dick angeschwollen und meine linke Schulter war ausgerenkt. Ich wäre am liebsten einfach in mich zusammengesunken, auf den weichen Waldboden gefallen, eingeschlafen und in dieser Verfassung niemals wieder aufgewacht. David ging’s anscheinend ähnlich, denn er sah auch nicht sehr gut aus und daher wollte er es auch so schnell wie möglich beenden. Mit einem einzigen Kinnhaken schlug er zu und ich fiel auf den Laubboden. Er war weich, wie ein Federbett, warm, wie eine Decke und ich war müde, so müde. Ich wollte schlafen und kämpfte auch nicht gegen die Bewusstlosigkeit an, ließ mich in eine endlos tiefe Schlucht fallen und empfing, die sich nähernde Dunkelheit, mit offenen Armen.



Kapitel 3






Ich rannte so schnell ich konnte. Felsen. Hohe, sehr hohe Felsen. Wo waren sie am höchsten? Ich konnte nicht aufhören zu laufen. Meine Beine wollten sich immer weiter und schneller bewegen. Da war etwas. Es war hinter mir. Es war mir dicht auf den Fersen. Da, da war eine Stimme, schrill und scharf.
„Lilith! Bleib stehen! Du kannst uns nicht entkommen!“ Lilith? Ich war nicht Lilith, nein ich hieß Angel. Was wollte die Stimme von mir? Warum verfolgte sie mich? Ich konnte nicht mehr atmen, meine Lungen füllten sich nicht mehr mit Luft, doch ich rannte weiter, schneller. Was sollte ich nur machen? Sie hatten Recht, ich konnte nicht entfliehen. Ich wollte aufhören, einfach stehen bleiben und mich ausruhen, da wurde ich von irgendetwas hoch gezogen und ich...flog! Nein, dass konnte nicht wahr sein! Ich kann nicht fliegen. Das ist doch Schwachsinn! Und trotzdem hing ich in der Luft, ein starker Wind wehte mir durch die Haare und blies mir ins Gesicht. Ich schrie auf. Was hielt mich in der Luft? Ich warf panische Blicke um mich herum und erkannte, dass die großen Felsen zu einer Schlucht gehörten. Darüber befand sich ein hügeliges Gelände voll mit bunten Blumen und bedeckt von grüner Wiese.
„Lilith, was hast du dir nur gedacht?“ Und kaum waren die Worte verklangen, war ich nicht mehr die fliehende Person, sondern eine Außenstehende. Da war sie wieder, die wunderschöne Frau, doch sie sah nicht so rausgeputzt aus, wie im letzten Traum. Ihre Haut war zerkratzt, ihre Kleidung war zerrissen und ihre Haare voller Dreck. Und sie wurde getragen von einem...Engel? Ja, doch, das war ein Engel. Goldenen Flügel, blond goldenes Haar und milchweiße Haut. Irgendwoher kannte ich diesen Engel. Natürlich! Morgana! Lilith starrte dankbar zu dem Engel hinauf, welcher sie anlächelte, doch dieser musterte dann jedoch argwöhnisch die hilflose Frau.
„Lilith, wo sind deine Flügel?“ Flügel? Warum Flügel? Ich dachte, Lilith sei ein Mensch? War sie etwa...?
„Jason hat mich auf den Befehl vom Herrn hin verfolgt, als dieser mir nicht verzeihen wollte. Wir kämpften und dann hat er mir meine Flügel ausgerissen. Glaub mir, Morgana, diese Schmerzen willst du niemals durchleben. Deshalb darfst du mir auch nicht zur Flucht verhelfen. Du könntest dadurch verbannt werden, oder vielleicht sogar sterben!“, schrie Lilith, doch ihre Worte wurden vom Wind weggetragen. Morgana antwortete klagend: „Aber wir kennen uns seid wir klein sind, ich kann dich nicht einfach so im Stich lassen! Niemals!“ Lilith sah ihre Freundin mit traurigem Blick an.
„Gerade deshalb, weil wir Freundinnen sind, musst du gehen. Mein Todesurteil steht schon fest, doch du hast noch die Möglichkeit, zu leben! Wirf sie nicht einfach weg! Denk doch an Cleo! Willst du sie etwa ohne Mutter aufwachsen lassen?“ Bei diesen Worten weiteten sich Morganas Augen.
„Ja, ich verstehe deine Bedenken, aber lass mich dir wenigstens helfen, deine Wunde zu kurieren. Wo einst deine schönen grünen Flügel waren, sind jetzt nur noch riesige, blutende Wunden!“ Darauf erwiderte Lilith nichts. Sie verzog ab und an mal das Gesicht vor Schmerzen, gab aber keinen Ton von sich.



Ich wachte mit Schmerzen im Rücken und einem Gefühl von geschundener Haut auf, und selbst das Wissen, in einem Bett wie aus Wolken zu liegen, brachte die Schmerzen dennoch nicht zum Schweigen. Zitternd setzte ich mich auf und betrachtete mich und meine Umgebung. Ich hatte ein tiefschwarzes Nachthemd an, das aus der Krankenhaus weißen Umgebung heraus stach, wie ein Glühwürmchen in einer dunklen Nacht. Meine Haut war zerkratzt und dreckig, meine vorher so gepflegten Fingernägel brüchig und abgesplittert und meine Haare strohig und verknotet. Taumelnd stand ich auf und hielt mich krampfartig an einer hölzernen Kommode fest. Während ich mich zur nächstgelegenen Tür schleppte, hoffte ich, dort ein Badezimmer und Anziehsachen vorzufinden. Ich hatte Glück, vor mir lag ein Badezimmer, wie in einem Luxusmagazin beschrieben. Ein Mamorwaschbecken, eine riesige, nachtschwarze Badewanne, eine Hightechdusche mit schwarz getönten Scheiben. Die Wände waren schwarz verzinkt, verziert mit blauen Steinchen. Alles glänzte, selbst der Boden, und man fühlte sich pudelwohl in diesem dunklen Raum. Kritisch stand ich vor der Dusche und der Wanne.

Sollte ich mir Zeit nehmen und mich im warmen Wasser entspannen, oder sollte ich mich so schnell wie möglich waschen und die Anlage, auf der ich mich befand, untersuchen?

Ich musterte meine zittrigen Hände. Sie waren so verdreckt und zerkratzt, und ich dachte mir:

Was soll's?


Also zog ich mich aus, drehte den Wasserhahn auf und goss viel vom Badeschaum dazu. Während sich die Badewanne füllte, suchte ich in dem Schlafzimmer nach Anziehsachen und Handtüchern. Ich kam an einer riesigen Holztruhe vorbei, die mir vorher noch gar nicht aufgefallen war. Neugierig, wie ich war, versuchte ich die Truhe zu öffnen, doch sie war verschlossen. Um das Schloss zu knacken, hatte ich nicht genug Kraft, zumindest nicht gerade jetzt. In einem riesigen Schrank fand ich Damenklamotten, die genau meine Größe hatten. Erst musterte ich sie kritisch, schließlich nahm man ja nicht einfach fremde Sachen, aber dann war es mir doch egal. Besser fremde Sachen, als meine verdreckten. Handtücher fand ich ebenfalls in einer der Schubladen, alle tiefschwarz. Irgendwie musste mein Gastgeber die Farbe mögen. Ich stand da mit Blick in die Ferne, ohne zu wissen, worauf ich schaute. Erst das Plätschern des Wassers holte mich aus meiner Trance. Alarmiert rannte ich ins Badezimmer und drehte den Hahn noch rechtzeitig zu, denn nur ein paar Sekunden später und die Wanne wäre übergelaufen. Mit einem Seufzer stieg ich in das kochendheiße Wasser. So angenehm, so beruhigend, so warm. Ich legte den Kopf zurück, schloss die Augen und ruhte mich aus. Nach einiger Zeit der Entspannung wusch ich mir mit einem Shampoo, dass ich gefunden hatte, die Haare und trocknete mich ab. Dann zog ich mir ein schlichtes, schwarzes Kleid an und föhnte meine Haare. Normalerweise, band ich mir meine Locken zu einem Zopf, doch da ich kein Haarband hatte, musste ich sie heute eben offen tragen. Während ich das Badewasser abließ und das Zimmer wieder aufräumte, summte ich eine mir völlig unbekannte Melodie.
Ich hörte ihn noch bevor ich ihn sah. Blitzschnell drehte ich mich um und wich zurück. Im Türrahmen stand David, die Arme locker vor der Brust verschränkt und die Augenbrauen belustigt hochgezogen.„Ein kleiner Putzteufel, was?“ Er kam einen Schritt näher, woraufhin ich weiter zurück schritt. „Bleib stehen! Lass mich in Ruhe!“ Doch meine Worte perlten an ihm ab, wie Wasser auf Plastik.
Ich war wütend auf ihn. Ja sogar sehr, und ich wollte die Gefahr, die von meinem gegenüber ausging, abweisen. Doch irgendetwas in mir sträubte sich, ließ mich zögern, anstatt zu handeln.
Er trug seine honigbraunen Haare etwas zerzaust, was ihn gleich jünger erscheinen ließ. Er hatte eine gerade Nase, genau wie ich, nur das meine kleiner war. Seine so fein geschwungenen Augenbrauen, die dunkler waren, als seine Haare, sahen aus, als hätten Stylingprofis Stunden für ihre Perfektion gebraucht. Dabei hätte ich wetten können, dass sie von Natur aus so waren. Diese sinnlichen, vollen Lippen, die hohen Wangenknochen und diese jungenhaften Grübchen, wenn David lächelte. Und dann waren da noch diese schönen, braunen Augen, in denen ich mich immer zu verlieren drohte. Sie wurden von dichten Wimpern umrahmt. Er war perfekt, stellte ich gereizt fest. Kein Wunder, dass meine besten Freundinnen ein Auge, oder besser gesagt zwei Augen, auf ihn geworfen hatten. Ich hatte schon so viele seiner Art gesehen. Natürlich, alle waren wunderschön und attraktiv, aber David...
„Was starrst du mich so an, Engelchen?“ Ich wurde von seinen spöttischen Worten wieder zurück in die reale Welt katapultiert. Zum Glück, wer weiß was ich sonst in den nächsten Momenten gemacht hätte. Wahrscheinlich hätte ich angefangen zu sabbern. Schnippisch antwortete ich: „Ich starre dich nicht an. Warum sollte ich? Du bist eine hässliche Ausgeburt der Hölle!“
David zuckte mit keiner Wimper, während er trocken zurückgab: „Aha, das sah gerade aber ganz anders aus. Es schien fast so, als würdest du mich mit deinen Blicken verschlingen wollen“. Er grinste von einer Seite zur anderen. Und dann wurde ich rot, total rot.

Toll, Angel, ganz große Klasse, auffälliger geht es doch wohl nicht mehr!

Ich hätte mich am liebsten geohrfeigt. Aber anstatt durchzudrehen, wandte ich mich von David ab und räumte weiter das Badezimmer auf. Ohne Kommentar schaute er mich an, sah wenn ich hochblickte nicht mal weg. Als ich schließlich fertig war, ich konnte mich fast nicht mehr beherrschen, marschierte ich steif an David vorbei durch die Tür und ließ mich auf das weiche Federbett fallen. Ich starrte zur Decke empor, biss die Zähne zusammen und zwang mich mir nicht den Hals zu verrenken und zu schauen, ob der Dämon mir immer noch bei jeder meiner Bewegung zusah. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf die Geräusche, doch meine Gedanken schweiften immer wieder zu dem zwei Meter entfernten Jungen. Er hatte mir hinterher geschaut, jede meiner Bewegungen beobachtet. Eigentlich müsste ich genervt oder wütend sein, weil ich mit ihm in diesem leeren Zimmer alleine war, und doch war da wieder dieses wunderbare Kribbeln in meinem Bauch, wenn ich auch nur an David dachte. Und weil er mich die ganze Zeit über angestarrt hatte, war ich nicht im Geringsten sauer. Im Gegenteil, es freute mich, dass ich sein Aufmerksamkeit auf mich gezogen hatte.


Nein, Angel!

Meldete sich eine scharfe Stimme in mir.

Er ist dein Feind, ein Monster, Abschaum! Denk nicht an ihn, fühle nicht so etwas!


Die Stimme hatte Recht, so durfte das nicht weiter gehen. Ich kniff die Augen noch fester zusammen. Doch dann konnte ich dem Drang nicht mehr standhalten und richtete mich auf, öffnete meine grünen Augen und sah ihn. David stand lässig an die Wand gelehnt, und er starrte mich immer noch an. Ich konnte mir ein beschämtes Lächeln nicht verkneifen. Und dann erstarrte ich. Er lächelte zurück, verträumt, jungenhaft. Da war keine Spur mehr von dem spöttischen Grinsen oder der boshaften Grimasse, nur David. Er kam auf mich zu, lautlos, sein schwarzes T-Shirt und die gleichfarbige Hose raschelten nicht mal. Geschmeidig wie ein Puma. Wir blickten uns in die Augen und ich stand ebenfalls auf. Wir kamen uns Schritt für Schritt näher und es war mir immer noch zu weit weg, zu weit entfernt von ihm. Jetzt waren nur noch zehn Zentimeter zwischen uns, die, wenn man nur die Hand ausgestreckt hätte, überwunden werden konnten und das so schnell.
„Angel.“ Wie er meinen Namen aussprach. Wie eine verzaubernde Melodie klang er von ihm gesprochen. Fast hätte ich es nicht gehört, aber auch nur fast. Ich musste grinsen, woraufhin er seine Hand mit den zarten, geschmeidigen, dünnen Fingern ausstreckte und mir sacht über die Wange streichelte. Ich legte meinen Kopf in seine Hand und fuhr mit meiner über sein Schlüsselbein und seinen Hals. Er zuckte leicht zusammen, wodurch ich die Bewegung stoppte, doch er gab mir durch einen intensiven Blick zu verstehen, nicht aufzuhören. Ich folgte mit dem Blick meinen Bewegungen und er erforschte interessiert mein Gesicht. Dann streichelte David mir leicht über die Hüfte und überall wo er mich berührte kribbelte meine Haut. Dann beugte er sich langsam zu mir herunter, viel zu langsam, und streifte leicht meine Lippen mit seinen.
Er wich ein Stück zurück um mir in die Augen zu sehen und meine Reaktion abzuwarten. Ich hätte ausrasten sollen, wütend sein sollen, das Haus zusammen schreien sollen, doch nein, das war nicht meine Reaktion. Mir war zu diesem Zeitpunkt alles egal, das einzige was ich wollte war er, David. Das Gefühl von seinen Händen an meinen Hüften, wie meine Wange glühte auf der seine Hand lag und wie seine Lippen meine berührten. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Ich wollte es genießen, so viel Zeit damit verbrauchen bis ich keine Luft mehr bekam. Obwohl, was bedeutete schon Luft? Wer brauchte die schon? Ich jedenfalls nicht, ich brauchte zu diesem Zeitpunkt nur David. Dieser fuhr mit seinen Händen über meine Hüften und meine Arme und Schultern und mein Gesicht, als wollte er jede Stelle, jede Zelle meines Körpers erforschen und kennen lernen. Ich genoss es wirklich, fuhr ihm durch die sowieso schon zerzausten Haare und strich ihm zärtlich über die Wangen. Irgendwann musste ich dann doch Luft holen und löste mich leicht von David, aber auch nur so viel, dass wir uns in die Augen sahen. Er lächelte schief und ich war so hin und weg, dass ich leise aufseufzen musste. David streichelte meine Wange und blickte mir zärtlich in die Augen. alles war so schön, der Raum war mit Leidenschaft erfüllt. Und gerade wollte sich David erneut zu mir hinunter beugen um mich zu küssen, da kam eine Dame mittleren Alters in das Zimmer gestürzt. Sie blieb abrupt im Türrahmen stehen, als sie uns beide so eng beieinander erblickte. Ein Schreckenslaut ertönte aus ihrem Mund und David verzog mürrisch das Gesicht.
Mit der scharfen Bemerkung „Was?!“ drehte er sich zur Frau und ging drei Schritte auf sie zu. Diese schaute schnell noch einmal hinter sich, huschte dann ganz ins Zimmer hinein und schloss leise die Tür hinter sich. Nun stand sie mit dem Rücken zur Tür und murmelte ein paar spanische Wörter.


„Oh mon Dieu! Pourquoi? Pourquoi?

Warum, Herr? Das wird eurem Vater nicht sehr gefallen. Wenn er das erfährt.

Oh mon Dieu!“

David schritt weiter auf die Frau zu, welche ihn mit weit geöffneten Augen anstarrte.

Warum fluchte sie denn nur? Und wer war sie überhaupt?

Ich stand regungslos da, während David nahe vor der ängstlichen Dame stehen blieb.
„Luna, meinem Vater würde es überhaupt nicht gefallen, dass wissen wir beide. Deshalb darf er auch nichts davon erfahren. Ich meine sie haben doch nie was gesehen, stimmt’s, Luna?“, fragte er mit betont ruhiger Stimme. Luna seufzte erleichtert auf, und antwortete dann hastig: „Ja, aber ja, Herr. Ich habe nichts gesehen, was sollte ich auch gesehen haben,

ou?“
„Oui, rien“

, meinte David mit breitem Grinsen auf dem Gesicht. Ich verstand gar nichts, da ich nie spanisch gelernt hatte, außer ja, nein und anderen Kleinigkeiten. Aber das deutsche verstand ich, doch es ergab für mich keinen Sinn.

Warum sprach die Frau David mit Herr an? Warum sprachen sie dauernd von seinem Vater? Und warum schaute die Dame immer wieder hektisch von David zu mir und wieder zurück zu ihm?


„David, was soll das alles hier? Was hat diese Frau?“ Die Frau warf mir einen mitleidigen Blick zu, da ich keine Ahnung über die Situation hatte. David wollte etwas gesagt haben, da klopfte es dreimal laut an die Zimmertür. Ich fuhr zusammen. Wer war das denn jetzt schon wieder? Und wie zu meiner Antwort trat ein alter, stämmiger Mann ins Zimmer und beäugte David und Luna, mich schien er gar nicht zu bemerken. Seine wenigen, grauen Haare waren platt an den Kopf gelegt, seine strahlend helle Haut war runzlig und faltig und er sah aus, als wäre er ein Gespenst. Der Mann trug einen Umhang aus roter Seide und Goldverzierte, edle Sachen. Er hatte ein Zepter in der rechten Hand und einen beschmückten Turban auf dem Haupt.
„David, du bist zurück. Doch du hattest mir mitgeteilt, du wärst in Begleitung. Wo ist denn nun die Schöne?“, fragte er mit brüchiger, aber ausdrucksstarker Stimme. Er war ein König, dass sah man alleine an seiner Ausstrahlung. Und wie er David so ansah und mit ihm redete und ... nein, war das wahr? Luna hatte von Davids Vater gesprochen, die Dämonen hatten gemeint, ein Vater wäre der König der Hölle und wenn ich alles richtig deutete, dann war der Mann vor mir... Davids Vater!

Oh nein! Hatte David mich, als ich nach dem Kampf bewusstlos gewesen war, hierher gebracht, zu seinem Vater? Oh nein, nein, nein! Jetzt schon? Wo war Morgana, wenn ich sie brauchte?


Ich gab keinen Mucks von mir und musste schwer schlucken, um nicht gleich schreiend in Panik auszubrechen. Ich starrte David ungläubig an. Wie hatte er nur so etwas machen können?
David kniete sich vor seinen Vater und beugte den Kopf zur Begrüßung.
„Vater, ich habe um sie gekämpft, für euch. Ich habe den weiten Weg mit ihr gemacht, für euch. Ich knie hier mit ihr als Geschenk, nur für euch. Ich erbitte meine Rechte auf die Nachfolge für das Königreich, wenn ihr nicht mehr seid, damit ich dann, für euch, das Reich weiter gedeihen lassen kann.“ In Davids Stimme lag viel Ehrfurcht, welche sein Vater mit einer wegwerfenden Geste abtat.
„Ach Schnickschnack. Das Königreich gehört dir, wenn du mir das richtige Geschenk mitgebracht hast. Also, wo ist sie?“, fragte der König ungeduldig. David stand mit einem Lächeln auf und deutete auf mich.
„Da, da ist sie. Tochter von Erzengel Lilith und Prinz Sammael.“ Während er das sagte, wich er meinem Blick aus. Ich konnte nichts sagen, mich nicht bewegen, nur alles um mich herum wie eine Außenstehende aufnehmen. Luna betrachtete mich mitleidig, als wäre ich ein Kleinkind. Und der König blickte mich mit zusammen gekniffenen Augen an und kam ein paar Schritte näher. Ich schaute hektisch wie ein eingeengtes Reh hin und her. Ich fing an zu schwitzen und spannte meine Muskeln an.
„Wie heißt du, junge Dame?“, fragte der Mann mich in einem nicht so strengen Ton, sondern eher mit weicher, netter Stimme. Ohne das ich Zeit zum antworten hatte, sagte David: „Angel.“ Der König schaute nicht weg, blickte mir weiterhin fest in die Augen, meinte aber scharf zu seinem Sohn: „Ich glaube, die junge Dame kann für sich selber sprechen, mein Junge.“ Sofort schwieg David.
„Also?“, hakte der König nach, „Wie heißt du?“
„Angel“, antwortete ich leise und zittrig.
„Na also. Und wie heißen deine Eltern?“, fragte der Mann mit einem netten Lächeln.
„Ich weiß es nicht, sie sind kurz nach meiner Geburt verschollen und meine Großmutter will es mir nicht sagen oder kann es nicht.“ Das war die Wahrheit, die reine Wahrheit. Und ich fand sie ungerecht. Ich hatte meine Eltern nie kennen gelernt und dann konnte ich nicht mal ihre Namen erfahren.
Davids Vater sah mich mit Mitleid erfüllten grauweißen Augen an.
„Du armes Ding, das tut mir schrecklich leid. Erzähl weiter. Du sprachst von deiner Großmutter. War sie die Mutter deiner Mutter oder deines Vaters?“
„Keines von beiden. Sie ist gar nicht wirklich meine Großmutter, sie hat mich adoptiert. Was sie mir aber erst erzählt hat, als ich sechzehn wurde, trotzdem liebe ich sie immer noch wie man seine Oma liebt“, meinte ich, während der König weiter auf mich zuschritt. Jetzt war er nur noch dreißig Zentimeter von mir entfernt und ich roch ihn. Er stank nach Rauch, Asche und Dreck. War das der Geruch der Hölle? Er berührte meine Wange, betrachtete mein Gesicht und musterte mich von oben bis unten.
„Du siehst genauso aus wie sie. Sammael hatte Recht. Sein Kind würde stark sein, mutig und der beste Krieger. Doch in einem hat er sich geirrt. Er wünschte sich einen Sohn, seinen Nachfahren, sein Ebenbild. Doch sie, sie wollte eine Tochter, die in ihre Fußstapfen trat. Genau wie sie eine Dienerin des Herrn sein würde, sich nie ergeben würde unseren Willens und immer auf der Seite des Herrn kämpfen würde. Und du bist gekommen, Kleine. Eine Kriegerin, stark und mutig und kämpfst trotzdem für den Herrn. Also hatten beide irgendwo Recht. Nur, dass das nicht so gut für dich ist, denn jetzt wirst du mir gehören. Ich werde bestimmen was du tust und für wen du kämpfst, und wenn du dich gegen mich stellst, hm, mach es besser nicht.“
„Aber?“ Das meinte er doch nicht ernst. Er labberte mir hier irgendetwas von zwei fremden Menschen vor und wollte mich jetzt ernsthaft dazu bringen, dass zu machen, was er wollte? Hatte der sie noch alle?
„Luna, mach sie hübsch, noch hübscher. So kann sie sich schließlich nicht am Hofe sehen lassen. Sohn.“ Er sah David ernst und stolz an, doch dieser starrte mich nur mit ausdruckslosen Augen an. „Du kommst mit mir, wir müssen ein feierliches Abendmahl vorbereiten lassen.“
„Aber natürlich, Vater. Lass mir nur noch kurz ein bisschen Zeit, um mich für nachher vorzubereiten, ja?“ Der König lächelte seinen Sohn kurz an.
„Beeil dich!“, befahl er, bevor er den Raum mit viel Würde verließ und mir noch einmal ein verschlagenes Lächeln über die Schulter zu warf.
Luna ging zum Kleiderschrank und suchte nach angebrachten Kleidungsstücken. Ich setzte mich im Schneidersitz aufs Bett und fing an zu zittern. Was sollte ich jetzt tun?
Da sackte das Bett kurz unter einem fremden Gewicht zusammen und ich schrak auf.
„Angel“, flüsterte David mit entschuldigender Stimme und wollte mich an der Wange berühren, doch ich holte mit meiner Hand aus und schlug fest zu. So fest, dass David fast vom Bett gefallen wäre.
„Wie konntest du nur? Wahrscheinlich war das vorhin gar nicht echt, stimmt’s? So wie du deinem Vater ergeben bist, bin ich wahrscheinlich für dich nur ein Spielzeug für zwischendurch! Aber was hatte ich erwartet? Das du mich lieben würdest? So wie Johny? Das du meine Gefühle durcheinander werfen würdest und ich das auch bei dir? Ich hätte es wissen müssen, hätte es ahnen müssen.“ Mir kamen beim Sprechen die Tränen. Erst jetzt merkte ich, dass das, was ich gesagt hatte, die Wahrheit war und nicht nur durch Wut von mir ausgesprochen worden war. Ich ließ mich auf den Rücken fallen und ließ den Tränen freien Lauf. Ich spürte, wie David aufstand und Luna den Schrank schloss und durchs Zimmer auf mich zukam.


"Mon ange,

es tut mir leid. Ich weiß, wie sie sich fühlen. Herr, ich glaube, sie sollten jetzt ihren Vater aufsuchen.“ Ohne ein Wort zu verlieren öffnete sich die Tür und David verließ den Raum. Ich setzte mich mit Hilfe von Luna hin und wischte mit dem Handrücken die Tränen von meinen Wangen. Sie streichte mir mitfühlend über den Arm, während die Frau leise spanische Wörter murmelte. Sie sah mir tief in die Augen, ihre waren grünbraun. Die Haare von ihr waren dunkelbraun und reichten ihr bis tief in den Rücken.
Sie war schön und ein Mensch.
Sie brachte mir ein Glas Wasser und kämmte mir ruhig durch die Haare. Es war schön, sie neben mir zu haben, wie sie sich um mich kümmerte, mir beruhigende Worte auf Spanisch zuflüsterte und einfach nur für mich da war.
„Danke, Luna. Sagen sie, warum sind sie so nett zu mir?“


"Pourquoi?

Weil ich dich verstehe. Weil ich weiß was du durchmachst, wie es dir geht. Du wurdest entführt, hast dich verliebt in ihn“, sie deutete auf die Tür, durch die David vor ein paar Minuten durchmarschiert war, „und wurdest verletzt. Genau wie ich“ sagte sie mit Trauer erfüllter Stimme. Ich drehte mich zu ihr um und betrachtete Luna eindringlich. Wenn ich sie genauer ansah, merkte ich, dass ich mich geirrt hatte. Sie war nicht viel älter als ich. Das Aussehen täuschte wegen ihren Klamotten und da sie nicht so gepflegt war.
„Du hast das auch alles durchgemacht? Du hast dich in David verliebt?“, fragte ich ungläubig.


"Oui, mon ange.

Ich habe mich auch in David verliebt, genau wie du“, sagte Luna mit einer Andeutung eines Lächelns. Ich stutzte und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Also schwieg ich, doch nach einer Weile der Stille sagte ich stur: „ Ich bin nicht in David verliebt!“ Wieder ein langes Schweigen, doch ich hörte Luna amüsiert kichern. Also ließ ich das Thema fallen und fragte stattdessen: „Wie hat deine Geschichte angefangen, Luna? Und wie hat sie geendet?“ Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Doch dann zuckten ihre Mundwinkel.
„Willst du das wirklich wissen,

mon ange?"

Ich nickte, woraufhin Luna tief Luft holte und zu erzählen begann.



Kapitel 4



Luna saß immer noch hinter mir, kämmte weiterhin meine Locken, während ich meine Augen schloss und gespannt zuhörte.
„Meine Familie und ich kommen aus Frankreich, der wunderschönen Stadt Carcassonne. Wir waren arm und lebten zusammen auf der Straße, hatten ab und zu durchs Betteln für die Nacht ein warmes Bett und ein Dach über dem Kopf. Als meine Eltern mir zu meinem fünfzehnten Geburtstag meinen größten Wunsch erfüllen wollten, war es um mich geschehen. Sie brachten mich zu einem der besten Künstler in ganz Südfrankreich. Es war mein großer Traum, Kunst zu studieren, musst du wissen. Ich sollte bei ihm lernen, sollte bei ihm bleiben, meine Eltern wollten nur das Beste für mich. Er hieß Alexandre und verliebte sich sofort in mich. Er war hin und weg von meinem Aussehen und malte und zeichnete mich so oft er konnte. Er nannte mich seine Inspiration.
Auch ich fand Gefallen an ihm, sogar sehr großen. Wir lebten zusammen in seinem kleinen Häuschen und liebten uns mehr als uns selbst. Doch Alexandre war nicht so perfekt, wie es anfangs schien. Nachdem er mir einen Heiratsantrag gemacht hatte und meine Eltern sich schon so für mich freuten, begegnete ich David, damals als der adligste Mann in ganz Frankreich bekannt.
Eines Abends, ich war gerade von einer Freundin auf dem Weg nach Hause, kam mir Alexandre entgegen. Er taumelte aus einer der Kneipen. Ich wusste sofort, warum er in der Gastronomie gewesen war. Seit langem hatten wir kein Gemälde mehr verkauft und wurden ärmer und elender. Er hatte es mir verschweigen wollen, doch ich hatte ihn mit einem Freund darüber sprechen hören.“ Luna stand auf und ging zur Kommode auf der anderen Seite des Raumes. Sie schwieg, als sie wieder zurück kam und anfing meine Haare zu verzieren.
„Was ist dann passiert?“, hakte ich zögerlich nach. Luna schüttelte sich kurz und fing dann wieder an zu sprechen. Tränen standen in ihren Augen. Ihre Worte waren mehr ein Schluchzen.
„Es war dunkel, nur eine Laterne beleuchtete die Straße. Ich ging weiter, hoffte von Alexandre nicht gesehen zu werden, denn nach seiner Ansicht hatten Frauen abends nichts mehr auf den damaligen französischen Straßen zu suchen. Doch er hatte mich im selben Augenblick entdeckt wie ich ihn. Er kam zu mir hinüber getorkelt und legte den Arm um meine Hüften. Ein paar seiner Freunde kamen aus der Kneipe und er rief sie zu uns. Sie alle waren betrunken, wussten nicht mehr, was sie taten.
Dann wollten sie ein Spiel spielen. Mit mir. Ich weigerte mich, wollte nach Hause gehen, doch Alexandre schlug mich für jeden Kommentar, der ihm nicht gefiel. Sie zogen mich aus und fielen über mich her. Sie schlugen mich blutig und ...

O mon dieu!

Es war so schrecklich!“ Luna fing an zu weinen und auch ich hatte Tränen in den Augen. Schuldbewusst drehte ich mich um und schloss sie in die Arme.
„Oh, Luna. Es tut mir schrecklich leid. Ich wollte keine alten Wunden aufreißen. Ich hätte dich nie drängen dürfen, mir deine Geschichte zu erzählen. Es tut mir ja so leid!“ Die Tränen liefen noch ein paar Minuten und so verharrten wir in dieser tröstlichen Position. Immer wieder murmelte ich, wie leid es mir täte. Irgendwann löste sich Luna aus meiner Umarmung und wischte sich die Tränen weg.
„Es ist nicht deine Schuld,

mon ange.

Du hast mich gebeten, dir meine Geschichte zu erzählen, und ich habe es getan. Du trägst keine Schuld. Und das es mir so weh tut, ist auch nicht dein Werk, sondern meins.“ Luna zwang sich zu einem Lächeln, was ich gequält erwiderte.
„Also“, meinte sie und verdrängte das Schluchzen, „ wo waren wir? Ach ja. Also, Alexandre und seine betrunkenen Freunde fielen über mich her. Ich sah schon mein Ende vor Augen, da kam David mit seiner Kutsche und zwei Wachen. Seine Angestellten und er retteten mich vor den skrupellosen Bastarden, und nahmen mich bei sich auf. Ich bekam bei ihm zu essen, wurde auf seine Kosten von einem teuren Arzt behandelt und bekam Kleidung. Ich durfte bei ihm wohnen und er kümmerte sich um mich, als wäre das selbstverständlich. Da ich nie so reich wie er gewesen war, genoss ich es sehr. Nach einiger Zeit, als ich älter wurde, verliebte ich mich langsam in ihn. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, wie bei Alexandre und mir, nein, aber genauso schön, wenn nicht sogar schöner. Ich wollte ihn beeindrucken, machte mich auf Festen wunderschön und lernte zu tanzen, damit ich ihn nie bei irgendetwas enttäuschen müsste. Doch durch meine Liebe zu ihm wurde ich auch blind. Ich lebte vier Jahre bei ihm und hatte nie bemerkt, dass er nicht alterte. Doch damit war ich nicht allein, fast alle Mädchen in Paris verschenkten ihre Herzen an ihn, doch er wollte sie nicht. Er suchte nach ihr, seiner Liebe, seiner wahren Liebe. Natürlich fand er manche Mädchen sehr attraktiv und er verliebte sich auch in einige, aber nie liebte David eine von ihnen mit ganzen Herzen. Es war viel zu spät für mich, als ich das herausfand. Ich hatte mich ganz aufgegeben, für ihn. Dann wollte ich weglaufen. Ich wollte und konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen, denn es brach mir immer wieder aufs Neue das Herz. Wir waren gute, sogar sehr gute Freunde geworden und er hatte mir sein Herz ausgeschüttet. Mir alles erzählt. Angefangen bei seiner vergeblichen Suche nach der großen Liebe, bis hin zu seinem Vater und seinem Geheimnis. Ich hatte viel Angst vor seinem wahren Ich, meine Mutter hatte mir anscheinend zu viel Böses von ihnen berichtet, doch gleichzeitig fühlte ich mich durch die Liebe zu ihm hingezogen, da war es mir egal, was er war. Doch trotzdem wollte ich davonlaufen. Als ich schon aus Paris heraus war, fand David mich. Er war sauer auf mich, was ich ihm nicht verübeln konnte. Dann nahm er mich gefangen und brachte mich hierher. Es tat ihm weh, mich hier als menschliche Dienerin allein zu lassen, doch er war gnadenlos. Aber durch unsere lange und tiefe Freundschaft, war die Strafe nicht ganz so schlimm, denn ich wurde seine Sklavin. Er gab mir weiterhin ein angenehmes Leben, zumindest eines einer Dienerin würdig. Und so kam ich hierher. Du siehst also, dass ich auch entführt wurde, mich auch in ihn verliebte und mir auch das Herz gebrochen wurde.“ Luna hatte aufgehört meine Haare zu machen, während sie erzählt hatte. Sie hatte ein trauriges, glückliches und furchtbares Leben geführt. Es hatte schrecklich angefangen und hörte jetzt auch schrecklich auf.
„Luna, es tut mir leid. Dein Leben hatte so viele Tiefen und so wenig Gutes. Ich schäme mich dafür, so einen Aufstand um meines gemacht zu haben. Im Gegensatz zu dir, bin ich verwöhnt und eitel“, gab ich sauer über mich selbst zu.
„Oh,

mon ange,

ich bin auch verwöhnt und eitel. Das ist nun mal so. Aber es ist doch auch nicht schlimm, solange man mit Schlechterem als perfekt klarkommt.“ Sie lächelte mich aufmunternd an und ich musste einfach zurück grinsen.
„So und jetzt,

mon ange,

machen wir dich noch schöner als du schon bist. Wenn das überhaupt geht.“ Luna zwinkerte mir zu und ich konnte nicht mehr aufhören zu strahlen. Gerade als Luna mit mir fertig war, kam ein sehr großer und dünner Mann ins Zimmer, auch ein Mensch, so wie ich das sah.
„Der König will wissen, wie lange der Gast noch braucht“, meinte dieser und lächelte Luna zur Begrüßung zu. Diese deutete ihm die Tür zu schließen, was er auch tat.
„Pascal, darf ich vorstellen? Angel.“ Luna zeigte auf mich und dann auf Pascal. „Angel, das ist Pascal.“ Pascal kam zu mir hinüber, verbeugte sich tief vor mir und küsste meinen Handrücken. Ich wurde rot, da ich nicht wusste, was jetzt zu tun war. Deshalb streckte ich ihm abermals einfach nur meine Hand entgegen. Mit einem belustigten Lächeln ergriff er sie und meinte: „Nett ihre Bekanntschaft zu machen, meine Schöne.“
Ich musste ebenfalls grinsen, als ich antwortete: „Die Ehre ist ganz meinerseits.“ Luna, Pascal und ich mussten alle kurz auflachen und mir kam es so vor, als wäre der Zwang und die Besorgnis der beiden Diener wie weggeweht. Ja, ich hätte meine Hand ins Feuer dafür gelegt, dass sie sich durch dieses Lachen wieder freier fühlten.
„Ich muss sagen, Luna, du hast gute Arbeit geleistet. Die kleine Angel sieht aus wie eine Göttin“ Bei Pascals Worten wurde Luna rot.
„Na ja, so viel habe ich nun auch wieder nicht gemacht. Sie sah vorher schon hinreizend aus.“ „Also wirklich, Luna“, meinte ich tadelnd. „Ich habe mich zwar noch nicht im Spiegel betrachtet, aber so wie Pascal guckt, musst du ganz schöne Arbeit geleistet haben.“ Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und fast hätte ich die Sache mit David und seinem Vater vergessen, aber auch nur fast. Pascal eilte mit mir im Schlepptau in eines der Zimmer, indem ich noch nicht gewesen war. Und als ich es sah, konnte ich meinen Mund vor Staunen nicht mehr schließen. Es war ein riesiger Tanzsaal mit einer Ballettstange an einer Spiegelwand. Der Raum war groß und die anderen drei Wände waren in einem matten Schwarz mit blauen Zeichen darauf angestrichen. Ich war wie gefesselt von dem Raum. So einen hatte ich mir immer gewünscht. Mein größter Traum war es, einmal mit meiner großen Liebe in so einem Saal zu tanzen.
Anscheinend hatte ich meine Gedanken laut ausgesprochen, denn Luna sagte: „Das wirst du bestimmt. Du hast es nicht anders verdient, als deinen Traum erfüllt zu bekommen.“ Ich wurde rot und die beiden stellten sich neben mich und strichen mir über die Arme, ganz in ihre eigenen Träume vertieft. Dann sah ich es, mein Spiegelbild. Ich trug ein schwarzes, bodenlanges Kleid, welches mit Smaragden geschmückt war. Es hatte einen geraden Ausschnitt, der die Sicht auf meine makellosen Schultern frei gab. Die Puffärmel gingen bis zu meinem Ellenbogen und um meinen Hals trug ich ein mit Diamanten besetztes Collier. Meine Haare waren zu einem französischen Kranz geflochten und mit Gold verziert.
„Luna, ich sehe wirklich schön aus.“
„Wunderschön“, korrigierte sie mich stolz lächelnd.
„Okay, du weißt jetzt, wie schön du bist und du hast dein Lob bekommen, Luna, aber wir müssen jetzt gehen, sonst ist der König gleich richtig sauer.“ Zustimmendes Murmeln erklang und wir folgten hastig Pascal zur Tür. Jetzt kam auch das mulmige Gefühl wieder zurück in meinen Bauch, welches ich vorhin noch bekämpft gedacht hatte. Ich griff nach Lunas Hand und sie erwiderte meinen Händedruck. Pascal führte uns durch endlos lange Gänge, welche alle mit Gemälden des Königs oder anderen Herrschern geschmückt waren. Schließlich kamen wir zu einer riesigen, hölzernen Flügeltür, wo Luna meine Hand losließ. Erschreckt starrte ich sie an. Die Frau machte ein entschuldigendes Gesicht und meinte: „Es tut mir Leid. Ich darf nicht ohne Erlaubnis eintreten. Aber wir sehen uns spätestens nach dem Abendessen wieder, wenn nicht sogar schon früher.“ Mit einem aufmunternden Lächeln drehte sie sich um und eilte den Flur hinunter.
„Komm“, erklang Pascals Stimme und er öffnete die Türen.
Vor mir lag ein großer Festsaal. In der Mitte stand ein reich gedeckter Tisch, der lang war und voll besetzt. Auf der linken Seite führte eine Glastür auf einen großen Balkon hinaus. Der Anblick war überwältigend, aber meiner anscheinend auch, denn mindestens hundert Augenpaare waren auf mich gerichtet, die Diener und Kellner nicht mitgerechnet. Der König saß geradeaus vor mir und hatte den besten Blickwinkel auf mich. Er hatte sich umgezogen, und trug jetzt noch königlichere Kleidung, in verschiedenen Blautönen, als vorher. David saß zur Rechten seines Vaters und auch er konnte seinen Blick nicht von mir nehmen. Nicht einmal, als der König aufstand und alle Anwesenden ihre Aufmerksamkeit ihm widmeten.
Alle, außer David. Er hielt meinen Blick gefangen und ich seinen.
David starrte mir nur in die grünen Augen und formte mit seinen sinnlichen Lippen irgendwelche Wörter, die ich aber auf die Distanz nicht verstehen konnte.
„Angel, du siehst bezaubernd aus, wie eine Königin.“ Ich wurde rot, aber nicht wegen der Schmeicheleien des Königs. Sondern weil ich mich dabei erwischt hatte, wie ich an Davids Lippen dachte, wie ich danach schmachtete, dass sie die meinen berührten. Unser Kuss war so leidenschaftlich und intensiv gewesen...
„Engelchen, willst du nicht zu uns kommen? Setz dich doch bitte zu meiner Linken, ja?“ Wie in Trance marschierte ich an den gaffenden Gästen vorbei und setzte mich, nachdem Pascal mir den Stuhl zurückgezogen hatte. Der König setzte sich wieder und grinste mich freudig an. Während er mit den übrigen Gästen scherzte und mir ab und zu mal über die rechte Hand streichelte, hatte ich nur Augen für David und er auch nur für mich. Mein Gegenüber hatte eine schwarze, moderne Hose an und trug ein dunkelgrünes Hemd, als hätte er sich auf mich abgestimmt. Erst als sein Vater erneut aufstand, löste ich meinen intensiven Blick von ihm.
„Liebe Gäste, ihr seid heute meine Zeugen“, sprach der König mit lauter Stimme, „Ich verspreche hiermit, dass mein Adoptivsohn David meinen Platz als Thronfolger einnimmt, wenn ich nicht mehr bin, da er mir die reizende Angel, das einzige Halbblut von Dämon und Engel, als Geschenk gemacht hat!“ Alle waren überglücklich und freudig, aber ich stutzte. Halbblut von Dämon und Engel? Da musste er sich vertan haben, ich war ein halber Dämon, ja, aber sonst war ich doch zur anderen Hälfte ein Mensch.
„König, ihr müsst euch vertan haben“, unterbrach ich mit fester Stimme die Jubelschreie. „Ich bin zur Hälfte Dämon und Mensch, aber kein Engel.“
Im Saal breitete sich Todesstille aus, während der König sein Glas Wein austrank. Selbst David war wie erstarrt.
„Nein, mein Kind, du bist halb Dämon, halb Engel. Ich habe schon die Wahrheit gesagt. Sag bloß, dass wusstest du nicht?“ Er sah mich spöttisch an.
„Nein“, meinte ich mit zittriger Stimme, „ihr irrt euch, ich habe kein Engelsblut in mir.“
„Erzähl ihr die Geschichte, Herr!“, ertönte eine fordernde Stimme, zustimmendes Gemurmel erklang. König Shalom gab einen Befehl mit der Hand und wieder war Ruhe eingekehrt.
„Engelchen, kennst du die Geschichte deiner Eltern denn etwa wirklich nicht?“
„Nein, ich hatte doch gesagt, ich wüsste nichts über meine Eltern“, gab ich schnippisch zurück.
Shalom legte seine Hand auf meine.
„Gut, dann höre jetzt genau zu.
Es gibt die unwissenden Menschen, die mordlüsternen und listigen Dämonen und es gibt die kriegerischen und faszinierenden Engel.“ Ich wollte ihn unterbrechen, doch er befahl mir: „Schweig still, wenn ich rede.
Der Herr, der Allmächtige, hat seine treuen Engel, die ihm dienen. Einer von ihnen hieß Lilith. Sie war die Schönste unter ihnen, daher der Name, der übersetzt schöner Teufel bedeutet. Sie verschlug jedem männlichen Engel, wie auch Mensch und Dämon die Sprache, wickelte jeden um den kleinen Finger, daher war sie auch Gottes Liebling. Sie sah aus wie du. Nur noch femininer und sie war größer und sie besaß dunkelgrüne, edle Flügel. Mein einziger Sohn Sammael sah sie und verliebte sich augenblicklich in sie und sie sich auch in ihn. Doch eine Beziehung war nicht erlaubt, da sich Himmel und Hölle schon seit Jahrtausenden bekriegten. Dennoch trafen sie sich heimlich und sie bekam ein Kind von ihm. Aber noch bevor das Kind geboren wurde, sollte die Heirat stattfinden. Alles war schön. Mein Volk stand hinter Sammael und sie wollten für ihn kämpfen und er für seine Lilith. Doch der Gott des Himmels war gegen die Hochzeit und sagte uns den Krieg an. Lilith bekam Angst und floh, mit der Hoffnung, so den Krieg zu verhindern. Sie kniete vor dem Herrn nieder und bat um Gnade, doch die gab er nicht. Also floh sie weiter, vor ihm und aus Scham vor Sammael. Er suchte sie, fand aber nur ihre Flügel, die ihr bei der Flucht ausgerissen worden waren. Das machte ihn wütender den je und er führte die Dämonen in den Krieg gegen die Engel. Dabei starb er, getötet von dem Erzengel Rade und mit Blick in die betrübten braunen Augen von der Himmelskiegerin Diana und das nur für Lilith. Ich beendete den Kampf, da mein Volk, sowie auch das Himmelsgeschlecht, fast alle Krieger verloren hatten. Der Herr des Himmels und ich einigten uns erstmals auf Frieden, um uns zu erholen. Und Lilith ist seither verschwunden. Niemand weiß, wo sie ist, ob sie lebt oder schon tot ist. Aber es gab die Sage, dass sie ihr Kind zum Schutz unter die Menschen gemischt hätte. Nun suchten Himmel und Erde nach dem Schatz, und wir haben ihn gefunden.“ Der König lächelte mich an und ich musste schlucken. Er hatte mir das erzählt, was ich geträumt hatte. Sagt er die Wahrheit? Mein Bauchkribbeln und ein Wissen ganz hinten in der dunkelsten Ecke meines Gehirns sagten mir, dass die Geschichte der Wahrheit entsprach. „Also bin ich die Tochter von Sammael und Lilith, das Kind eines Dämons und eines Engels. Aber dann sind sie ja mein Großvater!“, stellte ich entsetzt fest und zeigte auf Shalom.
„Sehr richtig, junge Dame“, meinte er trocken.
„Aber eins verstehe ich nicht“, versuchte ich mit ruhiger Stimme hervor zu bringen, was mir redlich misslang, „warum wollen sowohl die Engel wie auch ihr mich so sehr besitzen?“
„Weil…“, kam die flüsternde und geheimnisvolle Antwort von dem König, „weil du die größte und mächtigste Waffe der Welt bist. Du hast Fähigkeiten, die einerseits Engel, andererseits Dämonen haben. Durch die Vermischung von reinem Kiegerblut und dem schwarzem Lebenssaft von uns bist du entstanden. Du hast etwas in deinem inneren, das mächtiger ist, als ich es jemals sein könnte. Du besitzt die Kraft, das Götterschwert zu erschaffen. Du musst wissen, die Engel wurden von Gott gemacht, um die Menschen vor uns zu schützen. Dafür bekam jeder der zehn Erzengel ein Götterschwert. Doch mit den Jahren, wurden neun von ihnen zerstört. Nur eines konnte erhallten bleiben. Das von Ciana. Als sie verstarb, vererbte sie es ihrer Tochter Lilith, deiner Mutter. Natürlich wollten alle diesen Schatz besitzen. Deshalb versuchte sie es zu zerstören. Doch dies gelang ihr nicht ganz. Durch die Vernichtung der Macht legte sich ein Zauber auf sie, welcher sich auf dich übertragen hat. Wirst du in der Nacht des Goldschimmers ermordet, dein Blut aufbewahrt und auf deinen zu Staub zerfallenden Körper gegossen, so entsteht das Götterschwert neu, mit ebenfalls neuen Mächten wie auch alten. Es wird mehr Zerstörung, mehr Morde und mehr reines Engelblut zum fließen bringen, als vorher. Und das nur durch deine wundersamen Eigenschaften. Und natürlich wollen sowohl wir Dämonen, wie auch die Engel dieses machtvolle Götterschwert besitzen.“ Murmeln erfüllte den Raum. Ich konnte nicht mehr. Mir wurde schlecht und es drehte sich alles um mich herum. Genau das hatte David in der Schule auch gesagt. Deshalb hatte er mich so mitleidig angeschaut. Weil ich dieses wundersame Kind bin. Weil ich das Opfer bin, das für einen der mächtigsten Schätze, ermordet wird. Ich sprang auf und rannte aus dem Saal. Alle sahen mir erstaunt nach.
Doch nur einer rannte mir hinterher, obwohl sein Vater ihn zurück rief.



Kapitel 5



Ich warf mich bäuchlings aufs Bett und ließ meinen Tränen freien Lauf. Warum war mein Leben denn nur so schrecklich? Erst verliebte ich mich Hals über Kopf in einen Dämon und ich erfuhr, dass mein Ableben schon vorherbestimmt war für ein todbringendes Schwert.
Hinter mir öffnete sich leise die Zimmertür und David trat ein. Er setzte sich neben mich aufs Bett und strich mir liebevoll über den Rücken.
„Angel“, hauchte er leise meinen Namen und ich verspürte einerseits den Drang mich umzudrehen und mich von ihm trösten zu lassen und andererseits den Wunsch ihn zu verprügeln, weil er mich hierher verschleppt hat. Doch meine Gefühle für ihn waren stärker als meine Wut. Also setzte ich mich im Schneidersitz vor ihn hin und schaute ihn an.
„Warum?“, fragte ich mit leiser, brüchiger Stimme. Er kratzte sich am Hinterkopf, wich meinem Blick aus und an seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er sich wünschte, er wäre doch nicht gekommen. Ich nahm Davids Gesicht in beide Hände und zwang ihn, mich anzusehen.
„Warum?“, wiederholte ich eindringlicher.
„Weil, weil...weil ich mich vor meinem Vater beweisen musste. Wie du vielleicht schon mitbekommen hast, bin ich sein Adoptivsohn. Er ist nicht mein leiblicher Vater. Und somit musste ich erst eine Heldentat vollbringen, um mich als würdig für die Herrschaft über die unseren zu erweisen. Und das Einzige, was er wollte, warst du.“ Er sah merklich jungenhafter aus, wie er mich so schuldbewusst ansah. Ich lies meine Hände sinken, als mir sein wirklicher Grund klar wurde. Es war nicht der Thron, der ihn reizte, nein. David wollte einfach nur von seinem Vater anerkannt werden, da er wusste, dass König Shalom seinem verstorbenen Sohn Sammael nachtrauerte. Jetzt war ich die jenige, welche die Schuldgefühle plagte. Was für eine miese Sache, Schicksal! Ich legte meine Hand auf seine und er blickte überrascht auf. Ich lächelte ihn verschmitzt an und er fasste neuen Mut. David griff nach meinen Händen und schaute mir intensiv in die Augen.
„Angel, du bist wunderschön. Als ich nach dir gesucht habe, wusste ich nicht, wie du bist, wie du aussiehst oder das du so einen Einfluss auf mich haben würdest. Aber als ich dir dann das erste Mal in diesem Klassenzimmer begegnet bin, wusste ich, dass du das schönste Wesen bist, das ich je gesehen habe. Schöner als jedes Dämonenmädchen, schöner als jeder noch so wundersame Engel, schöner als jede menschliche Prinzessin und ich wusste auch sofort, dass ich mich in dich verliebt hatte. Ich war schon so oft auf der Erde gewesen, habe aber nie jemanden mit so einer Ausstrahlung, so viel Mut und solch einer Stärke gesehen, wie du sie in dir trägst. Ich wollte unbedingt neben dir sitzen, weil ich einfach in deiner Nähe sein musste, ich habe es nicht über mich gebracht, dich von den Dämonen mitnehmen zu lassen, weil ich dich für mich haben wollte, weil du es nicht verdient hättest, was sie mit dir vorhatten. Ich habe dich nicht für deinen Kampf mit meinem treuen Bediensteten bestraft, weil ich es nicht geschafft hätte, ohne weich zu werden. Und es tut mir schrecklich Leid, dass ich dich zu meinem Vater gebracht habe. Ich hatte versucht meine Gefühle für dich zu verdrängen und es hat am Anfang auch funktioniert, aber jetzt...als ich dich in den Festsaal kommen sah, ist mein Herz stehen geblieben, nur um wenig später wie wild zu schlagen. Jeder der Ohren besitzt, hat das gehört. Oh, Angel. Du verdrehst mir den Kopf. Wenn du so nah bei mir bist, werde ich fast verrückt vor Sehnsucht nach dir. Aber du liebst mich nicht. Ich weiß, dass du diesem Johny hinterher trauerst...“ Ich war bei seinen Worten rot geworden und jetzt unterbrach ich ihn, indem ich ihn küsste. So stürmisch sollte das eigentlich nicht sein, aber ich konnte nicht anders. Seine Worte hatten mich berührt und all mein Zorn gegen ihn war wie weggefegt.
Ich küsste ihn und er küsste mich. Wir waren wie Feuer und Flamme und als ich nach Luft schnappen wollte, küsste er mich einfach weiter. Ich musste lächeln, musste ihn küssen, musste ihn berühren. Ja, er liebte mich und ich ihn. David stand auf und zog mich hoch. Er wich ein Stück vor mir zurück und flüsterte mir ins Ohr: „Wir sollten wieder gehen. Mein Vater wird so schon verärgert sein, dass wir überhaupt das Mahl verlassen haben.“ Ich küsste ihn noch einmal leidenschaftlich, dann ging ich zur Tür und zog David hinter mir her. Wir lachten, als wir Hand in Hand über die Flure liefen. Ich konnte einfach nicht anders, als glücklich zu sein. Vor dem großen Flügel blieben wir lachend stehen und mussten uns erst mal beruhigen. Ich strich mein Kleid glatt, machte meine verstrubbelten Haare offen und zwang mich, mein Lachen verstummen zu lassen. Dann schaute mich David ernst an und meinte scherzhaft, während er vor mir kniete: „Angel, ich muss dich jetzt leider in andere Hände geben, aber ich werde dich wieder sehen, spätestens heute Abend nach dem Mahl.“ Er grinste mich an und ich zog ihn lachend wieder auf die Beine.
„Pst, jetzt sei doch mal leise, David. Du verrätst uns noch mit deinem lauten Gelächter“, sagte ich tadelnd, wobei ich mich vor Lachen nicht einmal mehr richtig halten konnte. Dann beugte sich David blitzschnell zu mir hinunter und küsste mich. Ich war so perplex, dass ich fast gefallen wäre, aber seine starken Arme hielten mich fest. Der Kuss brachte mich zur Ruhe und ich öffnete langsam die riesige Tür.
Gelächter, Rufe und Gesang war von überall her zu hören. Shalom stand umgeben von seiner Hofschar und stieß mit ihnen an. Wein schwappte aus seinem Becher und als er mich erblickte, schrie er irgendetwas Unverständliches und tuschelte mit den anderen, die um ihn standen. Ich verstand kein Wort und so blickte ich fragend zu David hinauf, aber auch er zog ahnungslos die Augenbrauen hoch. Also nahm ich ihn an der Hand und zog ihn zu anderen, tanzenden Paaren. Ein jungenhaftes Lächeln erschien auf seinen vollen Lippen und ich konnte dem Drang ihn zu küssen nicht widerstehen. Er erwiderte meinen Kuss genauso leidenschaftlich, fuhr dann aber erschrocken zurück.
„Was ist?“, fragte ich leise.
„Niemand darf uns so zusammen sehen, also wenn wir uns küssen, meine ich. Mir ist es nicht erlaubt den Gast meines Vaters ohne seine Erlaubnis zu berühren“, flüsterte David mir, während wir tanzten, ins Ohr. Ich sah ihn verständnislos an. Er hatte mich doch schon so oft berührt.
„Nicht im Sinne von anfassen, sondern Gefühle für dich zu empfinden. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll...“
„Ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Okay. Darf ich denn wenigstens mit dir tanzen? Denn wenn nicht, dann wird das hier heute ein sehr langer Abend“, sagte ich halb im Scherz, aber auch ernst. David musste auflachen bei meinen Worten.
„Ja, ich darf mit dir tanzen, mein Engel.“ Mein Engel. Er hat mich ‚Mein Engel’ genannt. Oh wie süß von ihm. Ich konnte nicht anders als überglücklich zu lächeln, leicht rot zu werden und mich über das Prickeln zu freuen, wenn ich daran dachte. Ich war verliebt, das würde selbst ein Blinder bemerken.
Wir tanzten. Am Anfang war der Himmel noch hell blau gewesen, jetzt brach eine Vollmondnacht herein. Das Mondlicht schien in den Saal und wir tanzten weiter und weiter. Ich wollte nie mehr aufhören. Wir sahen uns tief in die Augen und keiner nahm den Blick vom anderen.
Doch dann tippte mir jemand auf die Schulter und ich wandte mich aus Davids Umarmung. Hinter mir stand König Shalom.
„Hallo, Gnädigste. Ich hatte sie vorhin zu mir gerufen, doch sie haben mich ignoriert, warum?“ Er säuselte und sein Atem stank nach Wein. Seinem Aussehen nach war er betrunken.
„Ich habe keine Ahnung wovon sie reden, König. Ich kam in den Saal und habe ihren Sohn gebeten mit mir zu tanzen.“ Er starrte mich ungläubig an.
„Meinen Sohn? Wo ist er? Wo ist Sammael?“ Ich spürte, wie David neben mir bei den Worten seines Vaters zusammenzuckte. Shalom hatte nur an Sammael gedacht und nicht an David, dabei hatte dieser gedacht, endlich von seinem Vater akzeptiert worden zu sein. Ich drückte beruhigend seine Hand.
„König Shalom, ich habe von ihrem Sohn David gesprochen, nicht von Sammael“, sagte ich in ruhigem Ton, obwohl in meinem Inneren ein Sturm tobte. Wie konnte er David nur vergessen haben?
„David? David ist nicht mein Sohn! War nie mein Sohn und wird auch niemals mein Sohn sein! Lass mich mit ihm in Ruhe! Er ist mir nutzlos und es nicht wert, mein Sohn zu sein!“ Mit diesen Worten drehte sich Shalom um und ich starrte ihm ungläubig hinterher. David stand angespannt und mit glasigem Blick neben mir. Ich berührte seinen Arm, um ihm Trost zu spenden, doch er schob mich weg und ging ohne ein Wort aus dem Raum. Ich rannte ihm hinterher, doch er war zu schnell. Am Ende war ich so aus der Puste, dass ich mit hängendem Kopf in mein Zimmer ging. Ich setzte mich aufs Bett, zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen. Ich weinte.
Was David jetzt durchmachen musste, es war schrecklich! Wo war er? Als er verschwunden war, wollte er nicht mal mich bei sich haben. Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Irgendwann öffnete sich die Tür und Luna kam herein gestürzt.
„Mon ange, was ist denn los?“, wollte sie wissen. Sie setzte sich neben mich aufs Bett, nachdem sie hinter sich die Tür abgeschlossen hatte.
„David. Wir haben getanzt, er hat mir seine Liebe gestanden und dann hat sein Vater gemeint, David war nie, ist nicht und wird auch niemals sein Sohn sein. Er ist davon gelaufen und ich konnte ihn nicht finden. Alles war so schön, und jetzt? Sein Vater hat alles zunichte gemacht!“ Wütend warf ich eines der Kissen quer durchs Zimmer. Luna stand wortlos auf und brachte es wieder zurück. Schuldbewusst lächelte ich sie an, es hätte ja was kaputt gehen können in meiner Wut, was sie mit einem leichten Kopfschütteln abtat.
„Mon ange, du sagtest, David hätte dir seine Liebe gestanden und du liebst ihn doch auch, oui? Dann suche ihn und sage ihm das! Er muss es wissen!“ Bei ihren Worten schüttelte sie mich heftig und fordernd. Ich sprang mit mehr Energie denn je auf und musste lächeln.
„Ja, ich werde ihn suchen, so weit kann er ja nicht sein, oder?“ Luna antwortete nicht, sie lächelte mir nur freudig zu.
„Danke Luna, dass du die Zeit hier, auch wenn sie nur sehr kurz war, für mich da warst. Du bist für mich eine gute Freundin geworden.“
„Une copine, mon ange?“, fragte sie ungläubig.
„Ja, Luna, eine gute Freundin.“ Ich lächelte sie an und sie strahlte vor Freude, wie die Sonne. So schnell ich konnte, zog ich mir eine beige Reiterhose aus dem Schrank und ein enges, schwarzes Top an und band meine Locken zu einem Pferdeschwanz. Ich fragte Luna, wo denn die Pferde wären - es gab hier doch bestimmt welche, oder? - und zusammen liefen wir zu ihnen. Sie zeigte mir Davids Pferd, das schnellste von allen im Stall, und schon war ich weg. Ich galoppierte den Pfad vom Schloss weg vorbei, an grünen Wiesen und klaren, blauen Bächen und dunklen Wäldern vorbei und überließ der Stute die Entscheidung, wohin es ging. Überglücklich darüber, dass ich als kleines Kind meiner Vernarrtheit in Pferde wegen Reitunterricht hatte. Schließlich brachte sie mich zu einer großen Lichtung. Der Ort war traumhaft schön. Der Mond schien genau in die Mitte der Lichtung. Ein Bach, mit hellem Wasser, floss quer durch die strahlend grünen Grashalme. Die Vögel zwitscherten ein Abendlied und all dies war von einem dichten Wald umgeben. Und dann sah ich ihn. Er lag gut versteckt zwischen den hohen Grashalmen am Bach und beobachtete mich interessiert. Der Mond schien genau auf David, sodass sein Gesicht strahlte und seine Augen glitzerten. Ich sprang vom Pferd und rannte zu ihm. Ich kniete mich neben den traurigen Jungen und betrachtete sein Gesicht genauer. Etwas Feuchtes glänzte auf seinen Wangen und mir war klar, dass es kein Wasser vom Bach war.
„David, es tut mir Leid. Ich verstehe dich, ich weiß wie du dich fühlst“, meinte ich, als ich mich in seine Umarmung legte. Er strich mir mit der Hand über den Arm und ich kuschelte mich an ihn. Die Wiese war so weich, es war alles so ruhig, der Ort war wunderbar.
„Ich hab dich umsonst entführt. Ich hätte dich nie verletzen brauchen. Er hat mich auch danach nicht akzeptiert.“ Wieder liefen ihm Tränen über die Wangen, welche ich vorsichtig wegküsste. Er sah mich verträumt an und ich lächelte verlegen, da ich nicht wusste, warum er mich so komisch anblickte.
„Was?“, fragte ich, immer noch lächelnd.
„Du bist so schön. Wenn der Mond auf dein Gesicht scheint, siehst du aus wie deine Mutter, nur noch schöner. Und deine Augen glitzern wie Smaragde in diesem Licht. Selbst mit altmodischer Reitkleidung siehst du hinreißend aus. Ich habe dich eigentlich überhaupt nicht verdient.“ Bei seinen Worten war ich rot geworden, was ihn dazu gebracht hatte, breit zu grinsen.
„Ich bin nicht schön und wenn hier einer jemanden nicht verdient hat, dann bin ich das ja wohl eher. Du bist der Sohn eines Königs und ich nur ein Mensch.“ David hatte die ganze Zeit nur mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf der Wiese gelegen, setzte sich jetzt jedoch aufrecht hin und fasste nach meinen eiskalten Händen.
„Ich liebe dich, Angel. Ich weiß nicht woher ich es weiß, aber es ist so. es reicht mir.“ David strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken und meine Haut fing an zu kribbeln, wo er mich berührte.
Was soll ich jetzt darauf antworten? Und dann konnte ich nichts mehr sagen, das einzige, woran ich noch denken konnte, war er.
Ich schlang meine Arme um seinen Hals, küsste ihn so leidenschaftlich, das ich dachte, ich würde nicht mehr aufhören können, und lenkte ihn von all den Sorgen ab. Wir konnten nur noch den anderen sehen, nur noch den anderen fühlen, nur noch den anderen küssen.
Und es reichte völlig, so wie er gesagt hatte.



Kapitel 6



„Was willst du jetzt machen?“, fragte ich David noch halb im Schlaf. Wir hatten die Nacht auf der Lichtung verbracht und jetzt wusch sich David das Gesicht, während ich auf der Wiese liegend noch mit dem Schlaf kämpfte.
„Wach werden“, rief er mir zu und ich konnte selbst mit geschlossenen Augen zu neunundneunzig Prozent sagen, dass er jetzt gerade ein breites Grinsen auf den Lippen hatte. Ich spürte nichts, hörte nichts und als ich aufschauen wollte, ob etwas passiert war, stand David über mir, das Gesicht nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt. Mir entfuhr ein Schreckenslaut, der durch Davids Hand gedämpft wurde. Blitzschnell hob er mich hoch und trug mich im rennen wie ein verletztes Kind. Meine Befreiungsversuche wurden von seinen starken Arme abgewehrt und währenddessen waren wir beide freudig am lachen. Schließlich ließ er mich an einer etwas tieferen Stelle in den Bach fallen und ignorierte meinen Aufschrei und spritzte mich mit eiskaltem Wasser voll. Ich schrie, lachte und versuchte mich mit meinen Händen vor dem Wasser zu schützen.
„Warum machst du das. Das ist kalt! Lass das!“, brachte ich nur schwer zwischen dem Lachen hervor. Er konnte selbst nicht mehr aufhören zu lachen, schaffte es aber, im Gegensatz zu mir, für ein paar Sekunden.
„Ich dachte, du wolltest wach werden und das hier ist die beste Methode!“ Mit diesen Worten holte er weit aus und schlug mir eine Welle ins Gesicht. „Oh, das hast du nicht gewagt!“, schrie ich und stürzte mich auf ihn. Doch er war schon am weglaufen und ich wäre durch meinen Schwung fast gefallen. Aber weil David so sehr lachen musste, anscheinend fand er meine Wut witzig, was ich selbst ja überhaupt nicht nachvollziehen konnte, war er langsamer als sonst und nach ein paar Runden über die Lichtung war ich so nah an ihn heran gekommen, dass ich David schon fast berühren konnte. Ich nahm all meine Kraft zusammen und beugte meine Knie und dann sprang ich auf seinen Rücken. Wir stürzten beide auf den Boden und meine vorherige Wut verflog und ich fing an zu lachen. Wir waren echt wie Kleinkinder.
„David, du bist echt tollpatschig. Wie bist du denn hier auf den Boden gekommen?“ David sah mich spielerisch an.
„Ich habe keine Ahnung, Miss Cold. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, können sie es mir ja erklären?“ David drehte sich so, dass ich jetzt nicht mehr über, sondern unter ihm lag. Ich kämpfte vergebens gegen ihn, seine mich zu Boden drückenden Arme und seine Küsse, und konnte gleichzeitig nicht mehr aufhören zu lachen.
„Hey, kannst du auch mal aufhören zu lachen? So kann ich dich doch gar nicht küssen!“
„Hmm, das ist ja auch der Grund, mein Kleiner!“ Mein Bauch tat schon weh und meine Lungen enthielten keine Luft mehr, also ließ ich es zu. David küsste mich und küsste mich weiter. Immer leidenschaftlicher, immer intensiver, immer schöner und immer traumhafter. Irgendwann, nach sehr vielen Küssen, legte ich meine Hände an seine Brust und hielt ihn auf Abstand.
„David, was willst du jetzt machen?“, wiederholte ich meine Frage. David fuhr sich durch die von mir verstrubbelten Haare und blickte in die Ferne.
„Ich weiß es nicht, Angel. Ich habe keine Ahnung. Hast du eine Idee?“ Er sah mich hoffnungsvoll an und ich bekam ein schlechtes Gewissen, da ich ihm nicht helfen konnte. Aber ich überspielte meine Bestürztheit und drückte seine Hand.
„Wir werden das hinkriegen, David. Wir schaffen alles. Wirst schon sehen.“ Ich lächelte bei meinen Worten aufmunternd, aber seine Miene erhellte sich kein bisschen.

„Komm schon, wo bleibst du denn?“, rief ich Energie geladen und stieg in einem Schwung auf Butterfly. Ein paar Meter von mir entfernt kam David weniger elegant auf seinen schwarzen Hengst Nachtstern. Er sah mich nicht an, blickte durch mich hindurch, als wäre ich aus Luft. Ich drehte Butterfly so, dass ich mir nicht den zu Hals verdrehen brauchte um ihn anzusehen. Langsam trieb ich die Stute zu den beiden.
„David, mach nicht so ein Gesicht. Es wird alles wieder gut, ich verspreche es.“ Ich zwang mir ein gefälschtes Lächeln auf die Lippen, da ich ihn, auch wenn ich es selber bei mir nicht schaffte, aufheitern wollte. Er sah immer noch auf einen Punkt der für mich nicht zu sehen war und ich berührte sanft seine Schulter.
„David, ist alles in Ordnung?“, fragte ich zaghaft. Ruckartig drehte sich sein Kopf zu mir herum und er funkelte mich boshaft an.
„Nein, Angel! Nichts ist in Ordnung!“ Er trieb Nachtstern an und galoppierte in den Wald hinein. So schnell ich konnte trieb ich Butterfly hinterher und versuchte ihn einzuholen. Der Wind ließ meine Augen tränen, als er mir eiskalt ins Gesicht peitschte. Ich wischte diese mit einer einzigen, schnellen Handbewegung weg und trieb Butterfly weiterhin an. Der Wald mit seinen Bäumen und Büschen und Tieren verschwamm vor meinen Augen durch die Geschwindigkeit des Ritts und nur mit Mühe konnte ich den schwarzen Blitz verfolgen.
„David, David, bleib stehen!“, forderte ich ihn mit einem strengen Ton auf, doch entweder wehte der Wind meine Worte davon oder David beachtete sie nicht. Langsam holte ich auf, hörte Butterfly schon vor Anstrengung schnaufen und auch meinen eigenen abgehackten Atem. Vor mir sprang das dunkle Pferd hoch über einen mit Moos bewachsenen Baumstamm, welcher mir davor verborgen worden wahr. Zu spät forderte ich die Stute zum Sprung auf, was zur Folge hatte, dass Butterfly scheute. Sie stieg und durch unseren geteilten Schock fiel ich hart mit dem Rücken auf den dreckigen Laubboden. Mir blieb die Luft weg, meine Lunge krampfte sich schmerzhaft zusammen und der Schrei blieb mir in der Kehle stecken. Das Pferd rannte wiehernd in den Wald hinein, weg von David, und ich blieb regungslos auf dem Boden liegen. Ich verspürte einen stechenden Schmerz in meinem linken Bein, das zuvor im Steigbügel stecken geblieben war und schmerzhaft bei Butterflys Scheuen gestreckt und verdreht wurde. Ich hatte es knacken gehört und hätte um sehr viel Geld wetten können, dass es gebrochen war. David war schon über alle Berge und die geschockte Stute irgendwo anders, jedenfalls weit weg von mir oder David, irgendwo im Nirgendwo. Ich hob meinen Kopf, lies ihn jedoch sofort wieder mit einem Schmerzensschrei sinken, da meine Rippen pochten und mein Kopf von einer starken Migräne durchzogen wurde. Ich verkrampfte mich und meine Augenlieder flackerten. Ohne, dass ich es verhindern konnte, fielen sie zu und meine Schmerzen verblassten.

Ich spürte die Schmerzen, wie sie langsam zurück an die Oberfläche traten. Etwas Kaltes rann mir über die Stirn und eine warme Hand strich mir über die Wange. Mütterlich fuhr diese Hand mir durch die Haare und gab mir das Gefühl von Geborgenheit. Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem entspannten Lächeln und ich blinzelte schläfrig. Um mich herum war der Raum von einer Kerze erhellt und ich lag auf einer weichen Matratze. Ich drehte leicht meinen Kopf nach links und blickte in saphirblaue Augen. Ein schmales Gesicht, umrahmt von goldenen Haaren, die wie Seide glänzten, war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Die vollen Lippen lächelten mich träge und erleichtert an.
„Angel, endlich bist du wach!“ Ich konnte Morganas liebevolles Lächeln nur großherzig erwidern. „Wir alle haben uns schreckliche Sorgen um dich gemacht, Kindchen. Beweg dich nicht“, herrschte sie mich an, als ich mich aufsetzen wollte und legte mir zur Untermahlung ihrer Worte noch die Hand auf meine Schulter. Widerwillig sank ich zurück in die Kissen und sah sie fragend an.
„Was ist denn passiert?“, meinte ich leise mit brüchiger Stimme. Morgana sah mich an, als wolle sie nicht mit mir darüber reden und antwortete mit zusammen gebissenen Zähnen: „Ich weiß es nicht, Kleine. Ich hole dir ein neues Tuch mit kaltem Wasser, währenddessen schicke ich dir Cleo.“ Mit einem falschen Lächeln drehte sie sich weg und ging aus dem Zimmer. Während ich an die Raumdecke starrte, grübelte ich über den Namen Cleo nach. Irgendwann hatte ich ihn schon mal gehört, nur wann? Dann hörte ich die Tür aufschwingen und drehte mich um. Im Rahmen stand ein Mädchen, mein Alter, welches weiß-blonde Haare hatte und silberne Augen mit markanten Gesichtszügen und einer schmalen Figur. Auch wenn sie nicht den Topmodel-Körper hatte, so war sie doch wunderschön, wobei die grau glitzernden Flügel auf ihrem Rücken auch noch ihren Teil dazu beitrugen. Mit einem schüchternden Lächeln trat sie an mein Bett. Sie streckte mir ihre Hand hin, gefolgt von den Worten: „Hallo, ich bin Cleo. Meine Mutter hat mich geschickt, um dir Gesellschaft zuleisten.“ Ich wollte meine Hand zur Begrüßung heben, schaffte es jedoch nicht, was Cleo dazu brachte, mich beschämt anzulächeln.
„Wie dumm von mir, tut mir Leid. Ich bin so schusselig“, sagte sie, während sich Cleo einen Stuhl an das Bett holte und sich darauf nieder ließ. Ich lächelte munter zurück, auf einmal war meine Stimmung wieder richtig gut.
Cleo hatte rosige Wangen bekommen und sah gleich viel jünger aus.
„Ach was“, meinte ich mit trockenem Mund. Auch Cleo merkte meine Heiserkeit und stand sofort auf und ging steif durch das Zimmer, hinüber zu einem kleinen Tischchen mit einem Glas Wasser. Mit dem Behälter kehrte sie wieder zu mir ans Bett zurück und bot mir das Getränk an. Mit einem dankenden Nicken nahm ich es an und trank gierig das kühle Wasser. Ich seufzte erleichtert auf, was Cleo amüsiert lächeln lies. Belustigt funkelte ich sie an und zusammen mussten wir plötzlich loslachen. Sofort hatte ich das Mädchen vor mir ins Herz geschlossen. Nach längerem Kichern und leichten Seitenstichen, konnte ich endlich tief Luft holen. Doch dann wurde ich ernst.
„Morgana ist deine Mutter, oder?“ Auch Cleo hörte auf zu lachen und nickte mir zur Bestätigung zu.
„Ja, warum fragst du? Sehen wir uns so ähnlich?“ Ich konnte nur ein bisschen über ihren gespielt geschockten Ton lächeln.
„Sie hat die ganze Zeit über mich gewacht, oder? Sie weiß ganz genau, was passiert ist, stimmt’s?“, fragte ich mit drängender Stimme. Cleo sah sich ängstlich um, es war niemand im Raum. Dann beugte sie sich dich über mein Gesicht und herrschte mich an: „Pst! Das darf niemand wissen! Es ist geheim, muss geheim bleiben! Sonst wird sie umgebracht!“ Ich sah in ihre ängstlichen Augen, welche mich eingehend musterten.
„Entschuldigung“, meinte ich mit zittriger Stimme, da mir plötzlich kalt wurde, „das wusste ich nicht. Aber dann beantworte mir meine Fragen!“ Cleo fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. Doch nach noch einem fordernden Blick von mir, öffnete sie bereitwillig den Mund zum Sprechen.
„Also schön, ja, meine Mutter war bei dir und, ja, sie weiß auch, was passiert ist. Aber wie ich schon sagte, darf das niemand …“ Ich schnitt ihr das Wort ab, da ich noch mehr fragen musste.
„Warum darf das niemand wissen? Warum wird sie sonst getötet?“ Cleo kam wieder näher und flüsterte: „Weil sie gegen das Gesetz verstoßen hat! Sie sollte dich suchen, finden und dann sofort hierher bringen, aber sie wollte dich schützen, wollte nie dein Leben riskieren, indem du hierher kommst. Doch sie war nicht die einzige, die dich fand. Jason, er ist einer der besten Spurenleser, hat dich gestern Nacht im Wald der Feen und Trollen gefunden. Du warst schwer verletzt, und meine Mutter war nicht schnell genug, um dich von ihm fern zu halten. Sie wollte und will für dich nur das Beste, das schuldet sie deiner Mutter.“ Bei ihren Worten fuhr mir ein Stich durchs Herz. Meine Mutter, Morgana hätte für sie sich selbst geopfert. Mir liefen Tränen über die Wangen. Cleo entfuhr ein erstickter Schrei.
„Warum weinst du? Hast du Schmerzen?“ Ich schüttelte leicht den Kopf.
„Nein, keine Schmerzen. Es ist wegen meiner Mutter. Ich habe ihre Geschichte gehört, von ihr geträumt, und auch von dem Krieg, der wegen mir ausgebrochen war.“ Jetzt schluchzte ich und konnte nicht mehr aufhören zu heulen. Cleo nahm mich schuldbewusst in die Arme.
„Oh, es tut mir Leid. Ich nörgele hier herum, weil meine Mutter sich in Gefahr gebracht hat, dabei kennst du sie nicht mal und hast auch noch Schuldgefühle. Aber, glaube mir, der Krieg war nicht deine Schuld, nicht im Geringsten.“ Sie murmelte weiterhin beruhigende Worte an meine Schulter, doch ich hörte ihr nicht mehr zu. Doch, es war alles meine Schuld!
Vor uns öffnete sich leise die Tür und Morgana schritt mit einem feuchten Lappen ins Zimmer. Als sie uns beide sah, kam ihr Tränen in die Augen und sie beeilte sich, zu uns zu kommen. Morgana legte das Tuch an die Seite und gebot Cleo mich loszulassen. Daraufhin setzte sie sich auf mein Bett, nahm mich ebenfalls in den Arm und umschlang mich mit ihren goldenen Flügeln. Sie küsste mir mit ihren vollen Lippen auf die erhitzte Stirn und sah mich mit saphirblauen Augen an. Morgana bewegte leicht die Flügel und goldener Staub umhüllte mich. Meine Augen flatterten und ich ließ mich wieder in ihre Arme gleiten. Geborgen, wie ein zerbrechliches Baby, lag ich in ihren Armen und träumte von nichts anderem, als von einer schwummrigen Musik, welche mich beruhigte und hin und her wiegte.



Kapitel 7



Als ich erneut erwachte, war ich allein und froh darüber. Ich zog mir Kleidung an, welche auf einem Stuhl bereit gelegen hatte. Nun trug ich ein weißes, Knie langes Kleid und gleichfarbig strahlende Ballerinas.
Neugierig ging ich aus dem Zimmer, einen blau-weißen Flur entlang zu einer großen Glastür. Dahinter lag ein wunderschöner Garten mit Kieselsteinwegen. Überall blühten bunte Blumen aller Arten, Engelstrompeten und Orchideen, aber auch welche mir unbekannte, dennoch traumhafte. In der Mitte von alle dem befand sich ein großer, weißer Pavillon.
Staunend blieb ich auf einer der grünen Wiese stehen und ließ die warmen Sonnenstrahlen auf mein Gesicht scheinen, mich wärmen.
„Schön, dass du wach bist“, erklang eine Stimme hinter mir. Erschrocken fuhr ich zusammen und wirbelte herum. Einige wenige Meter von mir entfernt stand ein Mann mit dunkel blauen Flügeln. Er hatte schwarze, seidige Haare, ozeanblaue Augen und volle Lippen.
Ich erkannte ihn noch im selben Moment als ich sein Haupt erblickte.
„Johny“, flüsterte ich mit erstickter Stimme. Er musste leicht amüsierte lächeln. „Eigentlich heiße ich Raphael.“ Er war in einer Sekunde bei mir und strich mir mit der Hand über die Wange. „Aber es ist schön, zu wissen, dass du dich noch an mich erinnerst.“ Er beugte sich zu mir herunter und küsste mich so leidenschaftlich, dass ich mein Gleichgewicht verlor und umgekippt wäre, hätten seine starken Arme sich nicht um mich geschlungen und mich gehalten.
Er ließ mich nicht mehr los, und ich genoss es. Er hob mich hoch und trug mich, ohne von meinen Lippen abzulassen, zum Pavillon hoch. Als er mich wieder zu Boden ließ, fühlte sich alles noch realer an, als davor. Seine Lippen auf meinen, seine Hände auf meinen Hüften und der warme Wind, der unsere Haare zerzauste.
Ich fuhr ihm mit den Händen über die Wangen, das Schlüsselbein und seine Brust. Ich wollte ihn nie mehr loslassen.

Du träumst! - Ja, ich träume. Das hier kann nicht real sein, schließlich ist Johny tot, ich habe es ja selber gesehen!

Aber trotzdem fühlte sich das alles nicht an wie ein Traum. Irgendwann ließen wir voneinander ab, beide schwer atmend.
„Ich will dich nicht loslassen, nicht aufwachen und wissen, dass ich nur geträumt habe!“, jammerte ich mit Tränen in den Augen. Verständnislos blickte Johny mir in die Augen.
„Denkst du etwa, du träumst, mein Engel?“ Ich nickte stur. „Natürlich träume ich. Das hier kann nicht real sein. Du bist tot. Und auch wenn du noch leben würdest, wärst du kein Engel. Ich muss wohl träumen. Und das ist das Problem! Ich will nicht von dir träumen, nicht von dir.“ Bei meinen Worten öffneten sich erschrocken Raphaels Augen, doch ich fuhr einfach fort: „Ich will nicht von dir träumen, weil ich dann wieder aufwachen muss. Du hast mich noch nie zuvor so leidenschaftlich geküsst, wie gerade. Noch nie so gierig berührt, wie vorhin. Und nachher muss ich aufwachen und wissen, dass das alles nur ein wunderschöner Traum war. Diese Erkenntnis wird mir das Herz zerreißen, schon wieder. Ich wollte dich vergessen, dich aus meinen Gedanken verdrängen, doch nun bist du wieder da und ich werde unter diesem Wissen zusammenbrechen. So stark bin nicht einmal ich.“ Unter Schluchzen brachte ich diese Worte hervor und Johny blickte mir geschockt in die Augen, bevor er mich in diese starken Arme schloss und mir ins Ohr flüsterte: „Das hier ist kein Traum, ich bin keiner. Ich lebe genauso wie du lebst. Und ich liebe dich über alles!“ Ich konnte ihm nicht glauben, wollte es aber gern, also lies ich mich weiterhin festhalten und drückte mein Gesicht in sein T-Shirt.
„Wenn das hier kein Traum ist, wo bin ich dann? Wie kommt es, dass du ein Engel bist und nicht tot? Schließlich habe ich es doch mit eigenen Augen gesehen!“ Johny setzte sich auf eine der Mamorsitzflächen und zog mich auf seinen Schoß.
„Also, du bist hier in Elynia, einer von zehn Engelsstädten, welche von den zehn Erzengeln regiert werden. Diese Stadt hier gehört mir, denn ich bin Erzengel Raphael. Ich war schon immer ein Engel, der Sohn zweier Erzengel und somit deren Nachfolger. Ich habe mich auf die Erde begeben, um dich zu suchen. Als ich dich fand, verliebte ich mich sofort und konnte dem Drang nicht widerstehen, bei dir zu bleiben. Ich musste viel Magie dafür aufbringen, und als dieser hinterlistige Dämon versuchte, mich umzubringen, wurde mein Zauber unterbrochen und ich wieder hierhin zurück katapultiert. Reicht dir das als Antwort?“ Ich konnte nicht antworten, denn ich musste das erstmal verdauen. Geschockt starrte ich auf einen weit entfernten Punkt. Bei Johny - nein, falsch, Erzengel Raphael- klang das alles so einfach und unbeschwert, als interessiere es ihn nicht, was er mir da erzählte. Und so kannte ich ihn nicht. Das hier war ein Erzengel und nicht mein Johny. Ich stand wortlos auf und drehte ihm den Rücken zu.
„Willst du mir damit sagen, dass du mir nur etwas vorgespielt hast, weil du mich hierhin bringen wolltest? Und das du es nicht für nötig gehalten hast, wieder zu mir zurück zu kommen, mich einfach in dem Glauben zu lassen, du seiest tot?“ Ich hörte, wie Raphael aufstand und hinter mir zum stehen kam. Sein Atem strich meinen Nacken und ließ meine Haut kribbeln. „Aus deinem Mund klingt das so hart. Aber das ist es nicht. Ich habe dich von Jason hierher bringen lassen, damit wir wieder zusammen sein können. Ich wollte nicht mehr ohne dich leben. Wir können zusammen alt werden und Kinder bekommen und du könntest mit mir zusammen regieren!“ Ich drehte mich wütend um.
„Du meinst also, dass das alles nicht hart ist? Das mein Leben in letzter Zeit nicht schwer war? Weißt du, vielleicht hattest du hier Entspannung pur, aber ich nicht! Ich habe um dich getrauert. Ich wurde von einem Dämon entführt und habe den Teufel persönlich kennen gelernt. Und du meinst wirklich dich hier vor mir aufbauen zu können und zu meinen, das alles wäre nicht so hart?!“ Raphael zuckte nicht mal mit der Wimper bei meinen Worten, sondern beugte sich nur zu mir hinunter und flüsterte: „Ich weiß, dass du mich liebst, und das reicht mir, dir zu verzeihen.“ Und dann küsste er mich.
Meine Hand schnellte nach vorn und hinterließ einen roten Handabdruck auf seiner Wange. Hatte er mich wirklich gerade geküsst? Ich starrte ihn fassungslos an.
„Wie kannst du es wagen? - Und was kannst du mir verzeihen?“ Raphael fuhr sich mit der Hand über die gerötete Stelle, während er mit zusammen gebissenen Zähnen antwortete: „Ich kann dir verzeihen, dass du dachtest, du würdest diesen Dämonenprinzen lieben.“
Mein Herz blieb geschockt stehen, mein Atem stockte und ich riss erschrocken die Augen auf. Da lachte Raphael plötzlich lauthals los.
„Dachtest du wirklich“, meinte er mit boshafter Stimme, „ich wüsste nichts von eurer

Beziehung?

- Aber es gab ja keine Gefühle. Von keinem von euch. Der Prinz hat dich nur als Zeitvertreib gesehen, sonst wäre er bei deinem Sturz umgekehrt und hätte dich gerettet. Und du hattest keine Liebe für ihn übrig, weil du immer noch mich geliebt hast, du wolltest ihn nur lieben, um mich zu vergessen. Konntest es aber nicht.“ Ein überhebliches Lächeln erschien auf seinen Lippen. Ich konnte nichts mehr sagen, nicht mehr atmen, nur noch weglaufen und fliehen, vor der boshaften Kreatur, die einst mal mein Johny war.
Und vor der Wahrheit, vor meiner Wahrheit.


Aber warum?,

meldete sich sofort meine innere Stimme zu Wort.

Warum fliehst du vor der Wahrheit? Er hat doch mit seiner Aussage nur Recht!

Hatte er das wirklich?
Ich lief auf die Glastür zu, doch eine stahlharte Hand auf meiner Schulter hielt mich an. Ich wirbelte mit einem Schrei herum. Was ein Riesenfehler war, da mich das selbst den letzten Rest meiner Luft in meinen Lungen kostete. Ich hechelte vor mich hin in dem verzweifelten Versuch, Luft zu bekommen. Er scheiterte. Ein Grauen erregendes Lachen ertönte aus Raphaels Mund.
„Ihr Menschen seid so dumm. Denkt, ihr könntet vor mir fliehen. Pah!“ Mir lief ein Schauder den Rücken hinunter und meine Stirn war mit Schweiß bedeckt.
Ich wimmerte vor mich hin und versuchte zurückzuweichen, was mir jedoch nicht gelang, da er mich grob bei den Schultern packte und schüttelte, dass mir die Zähne klapperten. Ich zitterte am ganzen Körper und hatte ihn nicht mehr unter Kontrolle, sodass ich in mich zusammensackte.
„Was willst du denn von mir?“, jammerte ich kleinlaut. Er betrachtete mich eindringlich von oben herab.
„Ich will nichts von dir. Ich will dich. Dich und das Götterschwert. Stell es dir doch nur einmal vor! Ich könnte die Welt regieren, das Universum!“ Er schwärmte vor sich hin, während ich nicht mehr zuhörte.
Ich musste schleunigst von hier verschwinden, vor ihm fliehen. Als ich versuchte, mich zu wehren, schleuderte der Engel mich quer durch den Garten gegen eine Wand. Ich lag auf dem Rücken, mit schmerzenden Rippen und schwer atmend. Sofort war Raphael auf mir und drückte mir mit seinem Gewicht auch den letzten Rest Luft weg.
„Zwei zu Null für mich, kleine Kriegerin. Du lässt ganz schön nach“, spottete er über mich. Ich verzog zornig das Gesicht.
„Geh von mir herunter, du Dreckskerl! Ich weiß ja nicht, was du hast, aber ich habe so viel Macht über die Welt wie eine Mücke! Und das Götterschwert bekommst du nicht! Das lass ich nicht zu!“ Der Erzengel stieß ein Triumphgeheul aus, was mich erschaudern ließ.
Doch plötzlich verschwand sein Gewicht und ich konnte wieder frei atmen. Ich hob den schmerzenden Kopf und sah einen jungen Mann, welcher meinen Gegner im Würgegriff hielt. Der Mann hatte Feuerrotes Haar, war hoch gewachsen, breitschultrig, hatte moosgrüne, fesselnde Augen und eine muskulöse Statur. Er kam mir bekannt vor. Hatten wir uns schon einmal gesehen? Ich wusste es nicht.
„Simon! Lass mich los!“, schrie Raphael so laut, wie er es mit einer abgeschnürten Kehle konnte. Doch Simon hörte gar nicht auf den Befehl.
„Herr, was wolltet ihr mit ihr tun? Ich dachte, sie wäre freiwillig hier, aber so sah es für mich nicht aus“, knurrte er. Ich bewunderte ihn für seinen Mut und diese wunderschönen Flügel. Sie waren strahlend weiß und gingen in den Spitzen in ein sattes Grün über. Er bewegte sie vor Wut hin und her, und es sah noch schöner aus.
Ich konnte nicht anders, als mit offenem Mund zu staunen. Und als Simon das sah, musste er einfach amüsiert lächeln, konnte es sich in seinem Zorn nicht verkneifen. Und irgendetwas daran, wie er grinste, ließ mein Herz erwärmen und ich lächelte zögernd zurück.
Während ich meinen Retter so betrachtete, hörte ich der Diskussion von ihm und Raphael gar nicht mehr zu. Ich sah jetzt nur noch, wie Simon Anstalten machte, Raphael loszulassen. Da hob er ihn hoch und schleuderte den Erzengel hoch in die Luft. Noch im gleichen Moment war er bei mir, nahm mich blitzschnell auf die Arme und stieg in den Himmel hinauf.
Doch mit einem Schrei hielt Raphael Simon am Fußgelenk fest, sodass wir nicht höher kamen. Erst jetzt sah ich, dass Raphaels linker Flügel einen Riss hatte, welcher tief und lang war. Das hieß so viel, wie: Wenn wir von ihm loskamen, waren wir erst einmal in der Luft in Sicherheit.
Ich beugte mich mit letzter Kraft nach unten, mit der Sicherheit, dass Simons muskulöse Arme mich halten würden. Ich funkelte Raphael böse an und versuchte, ihm auf die Hand zu schlagen, doch mein Arm war zu kurz, ich kam nicht nah genug heran. Also schloss ich die Augen, kniff sie fest zusammen und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass Raphaels große Hand Simon los ließ. Und da, plötzlich fauchte Raphael auf, umklammerte seine Hand und fluchte leise vor sich hin, während wir zusammen hoch in die Lüfte stiegen.
Ein Triumphschrei entfuhr mir und ich jubelte mit Simon im Chor, welcher mich neugierig musterte. Ich wollte fragen, warum er mich so anstarrte, konnte aber nur lachen, wenn ich den Mund öffnete. Mir liefen Tränen in die Augen, einmal wegen meiner Freude, andererseits wegen des starken Windes. Wir flogen über Paläste, Bäume mit bunten Früchten, Paradiesgärten und über die Wolken, auf denen sich alles befand. So hatte ich es mir immer vorgestellt. Ich hatte öfters Träume von anderen Welten gehabt, diese war eine davon. Aber ich hatte nie geglaubt, dass ich sie jemals zu Augen bekommen würde, außer in meinen Träumen. Irgendwann blieben wir auf einem Hügel stehen und Simon setzte mich ab, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Mein Hals war rau vom vielen jubeln und ich musste tief Luft holen. Simon hatte mich gerade erst losgelassen, da fiel ich ihm auch schon wieder um den Hals.
„Danke, danke, danke ...“, ich wiederholte dieses Wort immer wieder und drückte Simon noch enger an mich. Irgendwas verband uns, doch ich konnte es nicht erklären, was. Wir kannten uns, doch woher? Ich hatte keine Ahnung. Und ich mochte ihn, auf eine außergewöhnliche Art und Weise, irgendwie brüderlich. Als ich nach langer Zeit wieder von meinem Opfer wich, sah ich dessen Grinsen und musste sofort loslachen. Doch plötzlich hörte Simon auf sich mit mir zu amüsieren und ich verstummte auch augenblicklich.
„Was ist los?“, fragte ich drängend, es kam mir vor, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen. Er wich meinem Blick aus und murmelte: „Nichts.“ Doch ich kaufte ihm das nicht ab.
„Simon? Irgendwas ist, und ich bin nicht doof, also hör auf mir etwas vorspielen zu wollen! Ich weiß nicht, woher ich dich kenne, aber da ist dieses Gefühl, als wären wir von unserer Geburt an jede Zeit, jede Sekunde beieinander gewesen, und deshalb will ich, verdammt noch mal, wissen, was du plötzlich hast!“ Warum ich so ausrastete, wusste ich nicht, und eigentlich stand es mir nicht zu, so mit meinem Held des Tages zu sprechen. Aber, um Himmels Willen noch mal, ich wollte es unbedingt wissen! Er sah mir in die Augen und wollte etwas erwidern, schloss dann aber wieder den Mund. Ich ging auf ihn zu und legte ihm meine Hand auf seinen Arm. Er hielt meinen Blick fest und sagte: „Angel, das hört sich total bescheuert an, aber es ist wahr. Du hast dieses Gefühl, das wir uns kennen, weil ... weil ich dein Zwillingsbruder bin.“ Ich starrte ihn geschockt an. Hatte er das wirklich gerade gesagt? Das wir Geschwister wären? Am liebsten hätte ich ihn ausgelacht, aber irgendwie wusste ich, tief in meinem Inneren, dass Simon die Wahrheit sagte. Ich drehte ihm den Rücken zu.
„Woher willst du das wissen?“ Meine Stimme zitterte bei jeder Silbe und ich fröstelte plötzlich. Meine vorherige Freude und Wärme hatte sich in Achtsamkeit und Kälte verwandelt. Simon berührte mich an der Schulter, doch ich blickte ihn nicht an.
„Von unserer Mutter. Als wir geboren wurden musste sie ein Kind von uns in Sicherheit bringen und das andere musste stark sein. Sie hatte dich für die Geborgenheit gewählt, weil du am gefährdeten warst. Du hast besondere Kräfte, die du nur noch nicht alle entdeckt hattest, aber Mutter schon. Deshalb brachte sie dich auf die Erde, dachte, jeder würde dich im Engelsreich vermuten. Mich brachte sie hierher, setzte mich aus, da sie uns nicht beide verschwinden lassen konnte, das wäre ja aufgefallen. Doch leider ist der Plan in genau die andere Richtung losgegangen. Niemand hätte vermutet, dass ich ihr Kind bin, jeder wusste, wie schlau unsere Mutter war und alle haben sofort auf der Erde gesucht.“ Ich schaute unsicher über meine Schulter. Simon sah mir ernst mit seinen grünen Augen in die meinigen.
„Ich weiß nicht, ob ich dir Glauben schenken soll. Wie alt warst du, als sie dich hier zurückließ?“ Ich konnte es nicht glauben. Immer hatte ich mir jemanden gewünscht, der zu mir gehörte. Und hier stand er angeblich, meine zweite Hälfte. „Vier Jahre alt. Sie hatte mir immer wieder eingetrichtert, sie täte das nur für mich. Doch ich wusste es besser. Ich hatte sie öfters weinen gehört, hatte in ihr Zimmer gespäht und gesehen, wie sie auf ein kleines Gemälde von dir schaute. Darauf warst du noch klein und eines Tages ging ich zu ihr und fragte: ‚Mom, wer ist das da auf dem Bild?’ Sie hatte traurig geantwortet: ‚Deine Schwester, Simon. Ihr seid Zwillinge.’ Von da an wusste ich, dass sie das alles nicht für mich, sondern allein für dich getan hatte. Und es hatte mich jeden Tag mehr im Herzen verletzt.“
Jetzt drehte ich mich doch ganz um und sah Tränen in Simons Augen. Er sagte die Wahrheit. Niemand konnte so gut lügen. Ich schloss ihn in meine Arme und tröstete ihn mit meiner Wärme. Ich hatte es die ganze Zeit gewusst, dass es da draußen jemanden gab, der zu mir gehörte.
Und ich hatte ihn gefunden und hielt ihn im Arm.

Ich hatte herausgefunden, dass Simon mit Cleo verlobt war. Als ich das erfahren hatte, war ich fast umgekippt. Ich freute mich für die beiden, auch wenn ich es voreilig fand, schließlich waren sie erst achtzehn. Aber, wie hatte Simon gesagt? ‚Wenn man die wahre Liebe gefunden hat, muss man die Zeit nutzen und darf nichts davon verschwenden!’ Ich konnte ihm nur Recht geben. Und auch wenn ich mich für sie freute, war ich doch eifersüchtig. Sie hatten sich gefunden und wollten sich aneinander binden.
Und ich? Ich hatte es noch nicht einmal geschafft, mich in einen zu verlieben, der es auch ernst mit mir meinte. Meine Vorwürfe hielten an und quälten mich weiter.
Ich war in Morganas Haus - oder sollte ich eher sagen, Villa? - und hatte mich sofort von einem Butler auf mein Zimmer führen lassen, um mich dort zu verkriechen.
Johny und David waren die Einzigen, die mein Herz bisher je berührt hatten. David hatte mich nur ausgenutzt, und Jonny - oder auch Raphael - hatte es vorgehabt. Ich war so naiv.
Konnte ich mich nicht einfach in einen normalen Jungen verlieben?



Kapitel 8



Sam



Er hatte es nicht gemerkt! Wie konnte er es nicht gemerkt haben? Sie, er und David, hatten zusammen geredet, gelacht, und beide an Angel gedacht.
Angel...
Er hätte dem Auto hinterherlaufen sollen, versuchen sollen, sie zu retten. Alleine wenn er daran dachte, was dieser Bastard mit ihr machen würde, zerriss ihm das Herz. Nicht nur, weil sie beste Freunde waren, sondern auch, weil er sie...weil er sie liebte. Jetzt gestand er es sich endlich ein. Er war verliebt in Angel. Angel, seine beste Freundin. Aber sie ihn nicht, das musste er sich auch eingestehen. Sie trauerte immer noch Johny hinterher.
Er mochte Johny, sie waren gute Freunde gewesen, doch als er sich an Angel herangemacht hatte, hatte ihre Freundschaft darunter leiden müssen. Sam war schon seit vier Jahren in Angel verliebt gewesen, hatte sich aber nie getraut, es ihr zu sagen. Und jetzt könnte es schon zu spät sein! Sie könnte schon tot sein! Nein, niemals! Nicht Angel, nicht meine Angel! Sie wird bis zum letzten Atemzug kämpfen und siegen!
Das redete er sich die ganze Zeit ein, während er auf seinem Bett saß und auf seine Hände starrte. Er hatte sich schon fast eine Woche in seinem Zimmer verbarrikadiert, nur auf seine Hände gestarrt, sich Vorwürfe gemacht und gewartet, dass die Tage zu Ende gingen und die Nacht anbrach. Er war nicht zur Schule und auch nicht zu Johnys Trauerfeier gegangen, hatte nicht bei Angels Suche geholfen, da er wusste, dass sie nicht mehr auf der Erde war. Er hatte kein Wort mit seiner Mutter geredet und sich auch nicht um Sophie gekümmert. Ihre Attacken, die durch das Dämonengift hervorgerufen wurden, wurden von der Polizei und Ärzten auf Drogen geschoben. Sie war in einer Klinik gewesen, doch niemand hatte ihr helfen können. Niemand konnte ihr helfen, sie war zum Sterben verdammt gewesen. Und so war es heute auch gekommen. Sie war langsam an dem Gift gestorben, so wie es üblich war. Das Gift war wirklich wie eine Droge. Bekam man nichts mehr, starb man einen langsamen und qualvollen Tod. In der Zeitung stand nur, dass die Tochter des Bürgermeisters an Drogen gestorben war, mehr nicht. Er hätte ihr nicht helfen können, also sollte er auch keine Schuldgefühle haben. Doch warum hatte er es nicht wenigstens versucht? Angel hätte alles gemacht, um ihre Freundin zu retten, und er hatte sie einfach sterben lassen. Er würde Angel nie wieder in die Augen sehen können. Wenn sie das wüsste, sie würde ihn hassen!

Sam war im Sitzen eingeschlafen und wurde durch ein gleißendes Licht geweckt. Er starrte direkt hinein und seine Augen tränten. Vor ihm stand eine junge Frau mir schwarzen Locken, smaragdgrünen Augen und sah genauso aus wie Angel. Fast, nur dass Angel nicht so zerbrechlich wirkte und viel jünger war. Und sie hatte auch nicht diese dunkelgrünen Flügel. Trotzdem starrte er sie mit offenem Mund an.
„Angel?“, fragte er fassungslos. Der Engel kam auf ihn zu und blieb vor dem Bett stehen.
„Du musst Sam sein, stimmt’s?“ Er nickte leicht zur Antwort und ehe er fragen konnte, schnitt sie ihm das Wort ab.
„Du musst mit mir kommen. Angel ist in großer Gefahr, sie braucht deine Hilfe!“ Die Stimme des Engels überschlug sich und Sam starrte ihn ungläubig an.
„Wer sind sie?“ Die fremde Frau antwortete ihm nicht, sie zog ihn aus dem Bett in das grelle Licht hinein, welches ihn verschluckte. Nur einige Sekunden später stand er mit der unbekannten Frau auf einem mit bunten Blumen bewachsenem Hügel und starrte auf das Land unter ihnen. Ein Land auf Wolken. Doch da ergriff der Engel auch schon wieder das Wort und ließ ihn nicht weiter mit offenem Mund staunen.
„Du bist hier in Elynia, einer Engelsstadt hoch in den Wolken. Hier bist du dem Himmel näher als sonst ein Mensch es je gewesen ist. Ich werde dich mit einem Zauber belegen, damit Menschen, Dämonen, wie auch Engel dich nicht als den erkennen, der du wirklich bist. Halte dich von Spiegeln fern, in ihnen sieht einer dein wahres Ich. Nutze mein Geschenk an dich gut! Und vertraue niemandem, niemandem, nicht einmal dir selbst!“ Ihre Worte verklangen, während sie sich in Luft auflöste. Nun war er hier ganz allein.
Sam blickte sich verloren um. Da entdeckte er ein tränenförmiges Gefäß vor seinen Füßen. Um ein Haar wäre er drauf getreten, um es zu zerstören. Aber er hielt mitten in der Bewegung an und hob es hoch, um es genauer zu inspizieren. Das Gefäß enthielt eine blaue Flüssigkeit, welche gut zu sehen war in dem durchsichtigen Glas. Es hing an einen blauen Band an der Spitze. Es gab einen kleinen Verschluss, den er öffnete, um an dem darin enthaltenen Getränk zu riechen. Es roch nach Wald und Blaubeeren, sein Lieblingsgeruch. Angel und er hatten oft auf einer Lichtung im Wald gesessen und sich Blaubeeren in den schon fast überfüllten Mund gestopft. Er verspürte den Drang, davon zu trinken, also goss er sich ein paar Tropfen in den geöffneten Mund.
Sam durchfuhr ein Stromschlag und er fiel zu Boden. Er war wie betäubt, konnte nicht einmal mehr die Hand hochheben oder seine Augen öffnen, welche zugeschlagen waren, als er gefallen war. Er verspürten einen reißenden Schmerz zwischen den Schulterblättern, sein Magen verzog sich krampfhaft und er hörte seinen Kopf rattern und war sich sicher, dass er jeden Moment explodieren würde. Dies alles kam ihm wie Stunden vor, qualvolle Stunden, dabei waren es nur Sekunden. Blitzartig kam ihm Sophie in den Kopf, wie sie gelitten haben musste. Wie ihre schönen huskyblauen Augen getränt haben mussten und langsam zum Tode hin verblasst sein müssen. Er kam sich noch egoistischer, noch arroganter und noch eingebildeter vor, wenn er nur seine Schmerzen mit ihren verglich.

Was für ein Narr ich doch war! Ich dachte, ich würde sterben in wenigen Sekunden? Nein, ich würde das hier überstehen, mit oder ohne Hilfe. Aber Sophie, sie hätte niemals überleben können, egal wie viel Hilfe sie dabei bekommen hätte. Er schlug mit der Faust aufs Gras und zwang sich dazu, die Augen zu öffnen. Ich werde nicht so schnell aufgeben, mich nicht so schnell unterkriegen lassen!

Er setzte sich mit all seiner Kraft auf und biss die Zähne zusammen, als die Schmerzen von neuem noch stärker einsetzten. Du schaffst das, Sam! Du schaffst alles! Ihm vielen augenblicklich Angels aufmunternden Worte wieder ein, die sie immer zu mir gesagt, geschrieen oder geflüstert hatte, wenn er beim Aufgeben war. Und sie hatte jedes Mal Recht gehabt! Er hatte alles geschafft. Seinen ersten Dämonen umgelegt, den Schmerz bei der Scheidung seiner Eltern überwunden und er würde es noch einmal schaffen! Er würde Angel retten! Mit neuem Kampfeswillen stand er auf und stellte sich, trotz des Schmerzes, gerade hin und hob das Kinn. So hell wie sie strahlte, so stark würde er sein und so kampfeswillig, bis er Angel gerettet hatte oder gestorben sein würde!
Er brüllte einmal seinen ganzen Schmerz, all seine Wut und seine Furcht heraus, bis er sich besser fühlte. Wie ein Echo, schallte der Schrei zu ihm zurück und mit einer Genugtuung schloss er die Augen. Er war befreit, keine Gefühle mehr in ihm, die ihn sein Leben kosten würden, außer eines, welches sein ganzes Herz ausfüllte. Angel, für sie würde er selbst durch die Hölle gehen.
Sam fasste an seinem Handgelenk, wo er ihr Freundschaftsarmband trug. Kitschig, ich weiß, aber auch Mut bringend. Er drehte seinen Hals, um zu sehen, warum er diese unerträglichen Schmerzen im Rücken verspürt hatte. Und er bekam erneut einen Schock, der ihm die Luft in den Lungen versagte.
Er hatte Flügel! Hellblaue Flügel!



Kapitel 9



Sam strich über die weichen Federn, die an den Spitzen dunkelblau wurden, jede einzelne. Das ergab im Gesamtbild ein wunderschönes Muster. Er konnte nicht mehr aufhören, zu staunen. Mit offenem Mund stand er da und ergötzte sich an dem Glauben, die Flügel wären seine. Dann hörte er plötzlich Flügelschlagen hinter ihm und als er herumwirbelte, stieß ihm ein starker Wind ins Gesicht. Seine Haare wehten ihm in die Stirn und er bekam erneut einen Schock! Sie waren blond! Als hätte er einen neuen Körper!
Sam wäre fast umgekippt, da erkannte er, wem die dunkelblauen Flügel ihm gegenüber gehörten. Johny! Nein, das konnte nicht sein! Johny war tot!

Aber trotzdem steht er vor mir!

Er wich einen Schritt zurück und rieb sich die Augen. Seine Fantasie, sein Unterbewusstsein spielten ihm wahrscheinlich einen Streich.
„Nimm die Hände von deinen Augen, Fremder!“, befahl ihm Johny, er war also immer noch da. Sam öffnete zögerlich die Augen. Johny sah aus wie früher, nur das er nun Flügel auf dem Rücken hatte. War er vielleicht genauso, wie er selbst hierher verschleppt worden, um Angel zu retten?

Ich meine, wenn ich Flügel bekommen konnte, konnte manch einer bestimmt auch Tote zum Leben erwecken, oder?


„Na also. Fremder, sage mir deinen Namen und deinen Grund der Anreise.“ Seine Stimme war mit Macht gefüllt, die Sam einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Seinen Namen? Irgendetwas zwang ihn, Johny nicht seinen echten Namen zu sagen. Da durchschnitt dessen Stimme erneut die Stille. „Antworte mir!“
„Adrian“, gab Sam kleinlaut zu verstehen. Einem Instinkt folgend, wollte er nicht seinen echten Namen preisgeben. Schließlich hatte die Engelsfrau ihm ja scharf erklärt, er solle niemandem vertrauen. Er blickte zu Boden und hörte, wie Johny auf ihn zukam.
„So, Adrian. Warum stehst du noch hier? Warum kniest du nicht vor mir nieder, wie es vor einem Erzengel angebracht ist?“ Sam zuckte bei Johnys aggressivem Unterton zusammen und ließ sich augenblicklich auf die Knie fallen.
„Gut so“, meinte Johny selbstgefällig. „Und nun sage mir, weshalb du hier bist!“ Was soll ich antworten? Er konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, es kam ihm so falsch vor. Also schwieg Sam. Johny kam noch näher.
„Ich bin der Erzengel Raphael, und du ein Fremder in meiner Stadt. Wenn du leben willst, solltest du mir jetzt antworten.“ Doch wieder herrschte eisiges Schweigen. Sam blickte unter seinen Augenlidern hoch und sah, wie Erzengel Raphael, welcher Johny haargenau glich, ein goldenes Schwert zog und schon zum Schlag ausholte um ihm den Todesstoß zu versetzen. Da schrie in seinem Inneren eine Stimme und er rief sie heraus. „Halt!“ War das ich gewesen? Oder jemand anderes? Raphael blickte sich suchend um, das Schwert hoch in die Luft erhoben. „Wer hat das gesagt, wer hat mir meine Entscheidung angezweifelt?“, schrie er gegen den Wind an. Sam wusste, dass er es nicht gewesen war, doch hier war auch niemand anderes. Raphael suchte noch einmal forschend die Gegend mit einem Blick ab, bevor er das golden funkelnde Schwert wieder wegsteckte und ihm mit einer Geste zu verstehen gab, aufzustehen. Schwerfällig stellte er sich kerzengerade hin und blickte ihm stur in die Augen.
„Adrian“, erklang leicht zittrig Raphaels Stimme, „Komm mit mir! Du kannst bei mir wohnen, bis du eine andere Bleibe gefunden hast oder du wieder abreist, so wie das Gesetz es verlangt.“ Er drehte sich um, bewegte leicht die Flügel und stieg in die Luft auf. Wenn man ihn genau beobachtete, sah man, dass er seinen einen Flügel nicht im gleichen Takt wie den anderen bewegte, anscheinend war er erst kürzlich verletzt worden. Doch Sam wusste, dass, auch wenn er verletzt war, war er doch kein echter Gegner für ihn, er würde ihn binnen Sekunden umbringen. Wahrscheinlich kannte er zigtausende Methoden um jemanden zu töten oder zu foltern. Raphael warf ihm einen Blick über die Schulter zu und forderte ihn auf, ihm zu folgen. Sam nahm all seinen Mut zusammen, nahm viel Anlauf und sprang in die Luft. Fast wäre er wieder zu Boden gefallen, doch er zwang seine neuen Flügel, sich zu bewegen und stieg wackelig in die Lüfte auf, wo Raphael schon auf ihn wartete.
„Die fliegst wie ein Kleinkind“, spottete er, doch in seiner Stimme lag auch Vorsicht und Skepsis. Sam musste wirklich an sich arbeiten, wenn er unentdeckt zu Angel wollte. Aber er hatte auf jeden Fall schon einmal den richtigen Weg eingeschlagen, denn der Erzengel der Stadt wusste bestimmt, wo er sie finden konnte.



Kapitel 10



Der Erzengel einer Engelsstadt zu sein, hatte seine Vorteile. Raphael wohnte in einem riesigen, Atem beraubendem Palast, schon fast einem Schloss gleichend, und hatte hunderte von Dienern und Sklaven, die ihm das Essen brachten und alles mögliche andere. Sam war von einer jungen Magd auf sein Zimmer gebracht worden, welches fünfmal so groß war, wie das auf der Erde. Sie hatte ihm neue Kleidung gebracht, welche extra für Engel angefertigt war, da sie hinten leicht mit Bändern um die Flügel herum zusammen gebunden werden konnten. Ihm war davor gar nicht aufgefallen, dass sein Oberkörper die ganze Zeit über frei gewesen war. Die Magd sprach kein Wort, wenn man es ihr nicht befahl. Sie ließ ihm gerade ein Bad ein. So lange saß er auf einem weichen Bett und blickte sich um. Das Zimmer war schlicht weiß, mit Holzverzierungen an der Wand. Das Bett war groß und ebenfalls weiß bezogen.
Sam beugte sich nach vorne, um die Magd zu betrachten.

Sie hat keine Flügel, ist sie ein Mensch? Nein, wahrscheinlich nicht.

Aber er konnte es nicht genau sagen. Sie hatte gebräunte Haut, dunkelbraune Haare, wie auch braune Augen. Sie war jung, höchstens sechzehn Jahre alt und trug schmutzige Bauernkleidung.
„Bist du ein Mensch?“, fragte er rund heraus. Die Magd fuhr erschrocken zusammen, drehte sich zu ihm um und schüttelte leicht den Kopf.
„Du bist ein Engel?“ Dieses Mal nickte sie und wollte sich gerade abwenden, als er weiter bohrte. „Was ist denn mit Ihren Flügeln passiert?“ Er ging auf die ihn erschrocken anstarrende Frau zu und berührte sie leicht am Arm, worauf hin sie sich merklich entspannte, ihm jedoch keine Antwort gab.
„Was ist mit Ihren Flügeln passiert?“, wiederholte Sam flüsternd, dies Mahl jedoch drängender. Sie öffnete den Mund zögerlich.
„Sie wurden mir als Strafe herausgerissen“, flüsterte sie mit brüchiger Stimme, als hätte sie das Sprechen verlernt. Angeekelt kniff er die Augen zu Schlitzen zusammen, als ihn das Bild der Bestrafung vor Augen trat. Sam verdrängte es und flüsterte: „Wie heißen Sie?“ Er wollte es wissen. Die arme Frau war schrecklich eingeschüchtert. Er wollte ihrer Wärme geben, also faste er ihr mit beiden Händen an die Schultern, als sie ihm endlich antwortete. „Luce.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Luce, lassen sie ruhig mich das Wasser machen. Setzen sie sich einfach auf den Stuhl da drüben und ruhen sie sich einfach einmal ein bisschen aus. Sie sind total verspannt und müde.“ Verdutzt betrachtete ihn Luce und wollte sich schon Kopf schüttelnd wieder dem Badewasser zuwenden, da nahm er ihre Hand und geleitete sie zum Stuhl auf der gegenüber liegenden Seite des Zimmers. Er drückte sie leicht darauf und wandte sich um. Plötzlich kam ihm ein Gedanke und er wirbelte noch einmal zu Luce herum. Er musste es einfach wissen.
„Sagen sie, Luce, welche Farbe haben meine Augen?“ Luce betrachtete Sam wie einen Verrückten, so musste er ihr auch vorkommen. Aber er lächelte ihr nur aufmunternd zu. „Braun“, kam die Antwort und er drehte sich mit einem dankenden Lächeln der Badewanne zu, welches sofort verschwand, nachdem sie sein Gesicht nicht mehr erblickte.


Toll, ich sehe wirklich nicht mehr aus, wie ich selbst.



Nachdem Sam gebadet und sich neu angezogen hatte, führte ihn Luce, mit dem forschenden Blick auf ihn gerichtet, einen langen Flur entlang zu einem Speisesaal. Jeder, dem sie begegneten, betrachtete ihn vorsichtig, mit Abscheu, Neugierde oder Verachten in den Augen. Doch ihm machte das nichts aus, auch nicht die heimlichen Gespräche über ihn, Adrian, welcher ohne genannten Grund hier herkam. Die Gerüchteküche kochte, es begann bei ‚Er ist der große Bote Gottes und wird dem Allmächtigen alles über uns berichten’, bis hin zu ‚Adrian ist ein Spitzel des Teufels und will unsere Schwächen wissen und weiterleiten!’ Die meisten Sachen hatten nicht einmal einen Zusammenhang, aber was sollte es.
Ihm fiel auf, dass alle Diener, Sklaven und Mägde keine Flügel hatten. Warum sie diese Strafe jedoch bekommen hatten, war ihm noch unklar.
Sam fiel ebenfalls auf, dass Raphael nicht gut genug mit ihnen umging. Sie waren krank, dreckig, alt und schwach. Ihn ekelte sein Verhalten an. Doch wenn er ihm dies vorwürfe, würde der Erzengel wahrscheinlich keine Sekunde lang zögern, ihn umzubringen.
Luce bedeutete den Wachen, die Tür zum Speisesaal zu öffnen und sie hinein zu lassen. Raphael saß an einem langen, riesigen Tisch, der reich gedeckt war. Sam staunte nicht schlecht, als Engel musste man echt viel verdienen. Schade, dass er niemals diesem reichen Luxus nachgehen konnte. Natürlich kannst du, meldete sich eine innere Stimme zu Wort,

Lass Angel einfach zurück. Sie ist stark, sie wird schon überleben. Setz dich zur Ruhe, lebe hier als Engel, mit dem Zaubertrank wird das niemandem auffallen!

Für einen kurzen Moment ließ er sich von der Stimme in Trance versetzen, doch dann erinnerte er sich wieder an den Engel. Er hatte gemeint, Angel wäre in Gefahr und bräuchte ihn! Warum war er denn dann eigentlich noch hier? Er müsste überall nach ihr suchen, bis er sie gefunden hätte! Weil du jetzt nicht einfach verschwinden kannst, Sam. Raphael würde dir folgen und könnte für Angel gefährlich werden! Sam stimmte der Vernunft zu und setzte sich auf Raphaels Befehl hin auf einen Stuhl ihm gegenüber. Luce und ein paar andere Diener servierten ihnen das Essen, während Raphael ihn unaufhörlich abschätzend musterte.
„Woher kommst du?“, fragte er und unterbrach Sam beim Essen. Es schmeckt so köstlich! Er schluckte seinen Bissen erst herunter, bevor er antwortete. „Von weit her“, meinte er knapp. Sam erwartete mehr Nachfragen, aber der Erzengel aß nur mit zusammengebissenen Zähnen weiter.
Sam stopfte so viel wie nur möglich in sich hinein, sodass sein Magen nach dem Essen vollends gefüllt war. Mit einer leisen Verabschiedung, ging Raphael aus dem Saal und Sam ließ sich von Luce wieder auf sein Zimmer führen. Gerade erst angekommen wollte sie sich wieder zum Gehen abwenden, da ergriff er ihren Arm und drehte sie noch einmal zu sich. „Luce, können sie mir sagen, warum alle Diener von Raphael keine Flügel mehr haben?“ Sie seufzte hörbar auf, leicht genervt von seinen ständigen Fragen. „Also schön, sie geben ja doch keine Ruhe. Wir waren alle einfache Engel der Bürgerschaft von Elynia. Doch im Gegensatz zum Rest des Volkes, haben wir gegen das Gesetz verstoßen und wurden bestraft, zur Dienerschaft. Es gibt unterschiedliche Regeln in Elynia. Viele von uns, zu denen gehöre ebenfalls ich, haben sich gegen Raphael aufgebracht und sind ihm in den Rücken gefallen. Wir haben seine Herrschaftsqualitäten angezweifelt. Waren der festen Überzeugung, dass seine Vorgängerin, Erzengel Lilith, nicht verstorben war. Sie wurde einfach nur von ihm verbannt. Sie war gnädig, wohlwollend und reizend. Sie hat nie an sich und ihren Untertanen gezweifelt. Ebenfalls nicht an unserer Loyalität. Und das musste sie auch nicht. Wir alle haben sie verehrt. Nachdem sie verschwunden war, nahm Raphael ihren Platz ein. Sie hatte keinen Nachfahren, zumindest war es uns nicht bekannt. Also war er der neue Herrscher über Elynia, der einzige, übrig gebliebene Sohn zweier Erzengel. Jedoch ist er grausam und kaltherzig. Selbst die Kinder fürchten sich mehr vor seinem Schatten, als vor den Feinden, den Dämonen. Nach unserer Rebellion wurden wir hier in den Palast verbannt. Und dem Gesetz zur Folge, werden die meisten von uns nie frei kommen. Damit man nicht so schnell fliehen konnte, wurden uns die Flügel aus dem Rücken gerissen. Erst wenn sie wieder vollends nachgewachsen sind, sind wir frei. Doch von hundert Sklaven, wachsen nur einem einzigen die Flügel wieder nach. Das ist das Gesetz. Sklaven, Mägde und Bestrafte, müssen ihrem Herrn ihr Leben lang dienen, ehe sie nicht ihre zur Freilassung verhelfenden Flügel wieder erlangen. Und man kann nichts daran ändern.“ Nun löste sie sich von seinem Griff und ließ ihn in seinem Zimmer allein. Sam starrte wie geschockt auf die Stelle, wo sie gestanden hatte. Sie alle hatten so eine schreckliche Zukunft, da sie unsterblich waren.



Kapitel 11



Angel



Ich saß auf meinem Bett und starrte gelangweilt an die Decke. Ich hatte mich in meinem Zimmer eingeschlossen und jeden weggeschickt, der auch nur einen Fuß hierhinein setzen wollte.
Ich spielte mit Sams und meinem Freundschaftsarmband, während ich in meinen Gedanken versunken war. Würde Sam mich suchen und finden? Mich von hier wegbringen und unser Leben wieder von neuem beginnen lassen? Er war der einzige, dem ich jetzt noch mein Leben anvertraute, niemandem sonst. Ich vermisste ihn, hatte nie jemanden mehr gemisst und ich brach jedes Mal in Tränen aus, wenn ich an ihn dachte.

Denkt er auch an mich? Denkt David noch an mich? Oder haben sie beide mich schon vergessen? Nein, ich darf nicht mehr an David denken. Lieber durch Sams Abwesenheit zerbrechen, als in Tränen an David zu ertrinken.


Und doch durchfuhr mich jedes Mal ein Stich im Herzen, wenn ich an Raphaels harte Worte über David dachte. Ich war so eine Närrin.
Ich legte den Kopf in den Nacken und wünschte mir nichts sehnlicher, als Sam neben mir zu haben, ihm in die Arme zu fallen, mich geborgen zufühlen. Ja, Geborgenheit hatte ich bisher nur bei ihm gespürt, nicht einmal bei meiner Großmutter hatte ich mich sicher gefühlt. Mir liefen wieder die Tränen über die Wangen, aber ich wischte sie nicht weg. Ich vermisste Sam so sehr, dass ich wahrscheinlich Jahre um ihn weinen könnte. Ich sank auf mein Kissen und schluchzte unaufhörlich weiter, hielt meine Hand schützend um mein Handgelenk mit dem Armband, es war nämlich das einzige, was mich noch an die Erde und mein altes Leben hielt, Sams Freundschaft.

Ich war eingeschlafen und hatte nichts geträumt. Müde wachte ich auf und rieb mir verschlafen die Augen. Es kam mir vor, als hätte ich nie geschlafen, doch mich noch einmal hinzulegen wollte ich nicht, es würde mir eh nichts nützen, falls ich überhaupt einschlafen konnte. Ich stand wackelig auf und marschierte ins Badezimmer. Dämonen wie Engel wussten echt, wie man eine Luxusvilla baute. Ich wusch mir mein Gesicht mit den vom Weinen rot geschwollenen Augen, zog mir ein strahlend gelbes, kurzes Kleid an und steckte meine Haare locker hoch. Dann umklammerte ich noch einmal mein Armband, damit es mir Kraft gab, und öffnete zögerlich die Tür. Davor saß der schlafende Simon, welchen ich gerade aus Versehen geweckt hatte. „Angel, du bist wach“, nuschelte er verschlafen. Ich musste amüsiert auflachen. „Ja, und du jetzt auch!“ Simon grinste mich träge an und stand schwerfällig auf. „Sehr witzig, echt, Angel!“ Ich blieb vor ihm erwartungsvoll stehen. „Wie lange sitzt du schon hier?“, fragte ich amüsiert. Simon dehnte und streckte sich, wobei seine Knochen leise knackten. Dann sah er mir in die Augen. „Lange genug um dich weinen gehört zu haben. Woran hast du gedacht?“ flüsterte er und meine Freude verschwand augenblicklich. Ich dachte wieder an Sam und mir kamen erneut die Tränen. Simon nahm mich schuldbewusst in die Arme und drückte mich an sich, während er mir sanft und tröstend durch die Haare fuhr.
Ich nuschelte die ganze Zeit Sams Namen und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Wie lange wir so da standen, wusste ich nicht. Aber irgendwann erblickte ich Cleo, die uns betrachtete und mich mitleidig ansah. Sie hatte Tränen in den Augen und gab mir mit ihrem Blick zu verstehen, dass sie mich verstand. Ich löste mich von Simon, dessen Augen auch nass schimmerten und stürmte zurück in mein Zimmer, wo ich wieder alleine zurückblieb. Ich schmiss mich aufs Bett und konnte jetzt überhaupt nicht mehr aufhören zu heulen. Ich wusste nicht mehr, wie ich mich stoppen konnte und weinte das Kissen nass.
„Sam, Sam, Sam!“ Ich schrie und schrie immer und immer wieder seinen Namen. Warum war er nicht bei mir? Warum war er David und mir nicht gefolgt?

Weil er sich nichts aus dir macht!

, flüsterte eine Stimme ganz tief in mir drin.

Er hat sich nie etwas aus dir gemacht, du warst ihm schon immer egal! Und du solltest ihn auch vergessen! Er ist nichts anderes, als ein mieser kleiner Schleimer!

Fast hätte ich der Stimme geglaubt und ihr gehorcht, aber auch nur fast. Ich biss die Zähne zusammen und stand auf. Ich musste hier weg, musste aus Elynia und zurück auf die Erde. Dort würde ich Sam treffen und ein neues Leben beginnen. Mit neuem Mut sah ich aus dem Fenster und konnte Raphaels Palast sehen. Ich intensivierte meinen Blick, so wie Sam und ich es immer geübt hatten. Ich konnte so gut sehen, wie eine Katze in der Nacht und ein Adler in der Luft. Ich musterte das riesige Schloss des Erzengels und blickte durch die Fenster. Und bei einem blieb ich hängen und musterte es genauer. Dahinter stand ein blonder Junge mit braunen Augen und hellblauen Flügeln. Ich konnte den Blick nicht mehr von ihm nehmen und es kam mir vor, als suche er etwas, jemanden. Und tief in meinem Inneren wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass dieser Fremde mich von meinem Elend erlöste und rettete.



Kapitel 12



Sam



Er stand an dem großen Fenster, von wo man ganz Elynia erblicken konnte, und suchte das Land nach ihr ab, seiner Liebe. Er sah in der Nähe eine weiße Villa mit Goldgerahmten Fenstern vor dem schönen Morgenhimmel. Ihn lockte ein Fenster, fühlte, dass dahinter sein Ziel war, doch egal wie sehr er sich auch anstrengte, er konnte nichts erkennen. Betrübt und auch nachdenklich wandte er sich vom Ausblick ab und ging aus dem Zimmer. Schnurstracks war auch schon einer der Sklaven da und erinnerte ihn an deren schreckliche Zukunft. Er musste dagegen unbedingt etwas tun, nachdem er Angel gefunden hätte. Wenn er sie wieder im Arm halte, werde er sie nie wieder loslassen. Das war sein Vorsatz der ihn jede Minute weitersuchen ließ.
Sam kam in einen atemberaubenden Garten und spürte des Erzengels Anwesenheit. Oh Mist, kann ich nicht einmal hier alleine sein? Bevor er wieder ungesehen verschwinden konnte, rief ihn Raphael auch schon zu sich. Er saß auf einer Bank und sah zur Sonne hoch.
„Adrian!“ Fast hätte er nicht gehört, schließlich war das nicht sein Name, aber dann hörte er doch auf und ging zu ihm hinüber.
„Adrian, schön dich zu sehen.“ Er hörte sich wie ersetzt an. War ganz anders. Sam setzte sich ebenfalls, doch eher vorsichtig. „Guten morgen, ähm...?“ Raphael öffnete die Augen und blickte ihn amüsiert an. „Nenn mich einfach Raphael, du brauchst nicht diese Förmlichkeiten der anderen zu benutzen.“ Sam grinste ihn verschmitzt an. Okay, er ist echt ein anderer. Sam fand ihn sympathischer, und wie. Er war gar nicht so gewaltsüchtig, wie er ihm gestern vorkam. Sein Blick schweifte über den Himmel und das Land und blieb wieder an der großen Villa hängen. Mehr zu sich selbst, fragte er: „Wer wohnt da bloß?“ Raphael folgte seinem Blick und grinste breit. „Die wunderschöne Morgana, Adrian. Sie ist so perfekt, mutig, temperamentvoll und bezaubernd.“ Während Raphael vor sich hin schwärmte, dachte Sam über heute morgen nach. Da ist sie, da werde ich sie finden. Er hatte anscheinend seine Gedanken laut ausgesprochen. Raphael hörte auf und blickte ihn an. „Wen wirst du da finden?“, fragte Raphael plötzlich ernster als vorhin. Sam antwortete ihm wie in Trance.
„Meine große und wahre Liebe. Mein Herz und meine Seele. Mein Engel.“ Raphael starrte ihn schockiert an. „Redest du von dem Engel? Von Angel?“ Er nickte kaum merklich und Raphael sprang mit einem Siegesgeschrei auf. Erst jetzt erkannte Sam, was er getan hatte. Er hatte auf sich vertraut, und auf Raphael, obwohl der fremde Engel ihn sogar noch davor gewarnt hatte, und jetzt war Angel in großer Gefahr. Raphael baute sich vor ihm auf. „Adrian, du hast mir eine Menge Zeit erspart und für deine Hilfe werde ich dich reich belohnen. Ich werde dich schnell, und nicht langsam und qualvoll umbringen. Der Erzengel lächelte ihm boshaft zu und ließ wieder dieses goldene Schwert erscheinen. Sam wich noch im richtigen Moment aus und stieg in die Lüfte. Raphael folgte ihm und schwebte genau vor ihm. Er schlug wild auf Sam ein, wie ein Verrückter, und dieser konnte immer nur haarscharf ausweichen. „Warum?“, schrie der Junge gegen den Wind an und Raphael zögerte eine Sekunde lang. Das nutzte der andere aus und trat gegen das Schwert. Es segelte durch die Luft und Sam fing es leichtfertig auf. Es passte genau in seine Hand und war Feder leicht. Raphael feuerte nun Feuerbälle auf ihn ab, welche er schwerfällig mit dem Schwert abwies. Doch dann traf einer genau auf die Spitze des Schwertes und flammte dort weiter hin auf. Sam handelte ohne nachzudenken und traf mit dem Flammenschwert Raphaels Flügel, was ihm das Fliegen erschwerte. Der verzauberte Junge holte noch einmal aus und traf dieses Mal den anderen. Raphael fiel mit einem lauten Schrei zu Boden und Sam sah mitleidig zu ihm hinunter. Was hat ihn nur so boshaft werden lassen? Er überlegte nicht weiter und flog schnurstracks zu der großen Villa. In der Luft fühlte er sich frei und wollte nie mehr laufen müssen. Und wieder dachte er an Angel und wusste, dass er ihr mit jedem Flügelschlag näher kam.
Sam hielt genau vor dem mit Gold gerahmten Fenster und spähte hinein. Es war leer und ihm entfuhr ein enttäuschter Laut. Es wäre auch zu einfach gewesen.
Er klopfte zaghaft an die Scheibe und wie aufs Stichwort kam eine schlanke Gestalt in einem zitronengelben Kleid durch die Tür hinein. Sie hatte die schwarzen Haare locker hochgesteckt und ihre smaragdgrünen Augen glitzerten im Sonnenschein. Ihm wurde warm ums Herz, als er sie erblickte. Seine große Liebe. Angel. Er seufzte träumerisch und konnte den Blick nicht mehr von ihr nehmen. Sie setzte sich an einen Tisch und schrieb mit einer Feder auf dünnes Papier.
Sam konnte ihre Worte nicht entziffern, doch ihre Tränen umso deutlicher sehen. Er hörte, wie sie aufschluchzte und ihm stiegen Tränen in die Augen.
Sie stand wackelig auf und legte das Papier aufs Bett. Dann öffnete sie eine der Schubladen der Kommode neben dem Bett und holte etwas heraus. Ein Silberglänzender Dolch.
Sam konnte nicht mehr atmen und starrte nur noch gebannt auf die Szene vor ihm. Angel hielt sich das Messer an die Brust und erst jetzt verstand er. Er stürzte durch das Fenster hindurch auf sie zu. Sie schrie erschrocken auf und öffnete die Augen. Er warf sie zu Boden und sie ließ das Messer fallen.
„Nein, Angel, tu es nicht. Bitte, tu es nicht!“, flehte Sam mit tränenden Augen. Sie starrte ihn geschockt an. „Wer bist du?“ Er wollte ihr antworten, doch irgendetwas ließ ihn nicht. Er konnte seinen Mund nicht öffnen. Warum nicht?
Er stand auf und fragte enttäuscht: „Du erkennst mich nicht?“ Sam wollte noch etwas hinzufügen, doch wieder dieser Zwang.
„Doch, natürlich erkenne ich dich.“ Seine Augen funkelten freudig. „Du standest heute Morgen an einem der Fenster von Raphaels Palast. Ich habe dich gesehen.“ Seine Freude verflog so schnell, wie sie gekommen war. Er blickte auf seine Füße. Was kann ich nur machen? Da kam ihm ein Gedanke.
Sam rannte zu dem riesigen Spiegel an der Wand gegenüber und zog Angel mit sich. Er sah ihn so wie er war im Spiegel, doch Angels Gesicht behielt den gleichen unwissenden Ausdruck.
„Was wolltest du mir jetzt zeigen?“, fragte sie resigniert. Warum sieht sie mich immer noch als Adrian, und nicht als Sam? Ihm stiegen Tränen in die Augen. Sie erkannte ihn nicht. Nein, sie kennt mich überhaupt nicht. Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und blickte ihr intensiv in die Augen.
„Angel, ich wollte es dir schon immer sagen, doch habe mich nie getraut. Ich liebe dich. Ich liebe dich aus ganzem Herzen und mit meiner Seele. Und ich möchte, dass du das immer weißt. Ich war hierhin gekommen um dich zu finden und zu retten.“



Kapitel 13



Angel



„Angel, ich wollte es dir schon immer sagen, doch habe mich nie getraut. Ich liebe dich, ich liebe dich aus ganzem Herzen und mit meiner Seele. Und ich möchte, dass du das immer weißt. Ich war hierhin gekommen, um dich zu finden und zu retten.“ Der Fremde verstummte und ich sah ihm forschend in die Augen. Und da, sie wurden blau, matt blau. Ich kannte diese Augen nur zu gut.
„Sam ...“, stammelte ich und bekam Tränen in die Augen. Nun veränderte er sich vollends und ich fiel ihm in die Arme. Er drückte mich an sich und wir beide konnten uns nicht näher sein. Ich wiederholte tausendmal seinen Namen, während er mir über die Haare fuhr und meinen nannte. Aus mir strömten nun förmlich dir Tränen und auch er hatte nasse Augen. Er küsste mir auf die Stirn und auf den Scheitel und hielt mich fest umklammert. Alles war so schön und seine Nähe beruhigte mich wieder. Doch da drang ein anderer Ton an mein Ohr, welchen nicht von uns beiden kam. Jemand klatschte in die Hände. Sam sah auf und ich drehte mich erschrocken um. Auf den Glassplittern des kaputten Fensters stand Raphael mit zwei blutenden Flügeln. „Schöne Szene, so bewegend und emotional. Ein schönes Happy End. Die beiden Liebenden sterben zusammen in ihren Armen“, spottete er und Sam versteifte sich. Er murmelte: „Ich hatte gehofft, dich länger ausgeschaltet zu haben.“ Ich starrte ihn verdutzt an und deutete auf Raphaels blutende Flügel. „Warst du das?“ Er nickte stumm, starrte aber weiterhin ununterbrochen unser Gegenüber an. Ich wendete meinen Blick wieder Raphael zu, welcher mich amüsiert anlächelte. „Was meinst du mit Liebenden?“ Wieder spannte sich Sam an und mahlte mit dem Kiefer. Nun konnte der Erzengel nicht mehr aufhören zu grinsen. „Hast du gerade nicht zugehört? Der Junge hat dir seine Liebe gestanden.“, meinte er oberflächlich und ging ein paar Schritte auf uns zu. Sofort schloss Sam mich in die Arme und zog mich an sich. Ein überhebliches Lächeln umspielte Raphaels Lippen. „Ein Held, ein klitzekleiner Retter, der meint, sich mit mir messen zu können. Ein Narr!“ Er kam weiter auf uns zu und Sam schob mich mit einem wütenden Blick hinter sich, sodass ich ihm über die Schulter sehen musste um Raphael im Blick zu behalten. Wie konnte ich nur so einen Mistkerl einmal geliebt haben? Ich blickte zu Sam hoch und musterte ihn eingehend. War er wirklich in mich verliebt? Wie lange schon? Warum hatte er mir nichts gesagt? Dann wäre vielleicht alles anders geworden. Vielleicht würde ich ihn auch lieben. Ich dachte fieberhaft über meine Fragen nach.
Ich konnte meinen Blick nicht von ihm nehmen. Er sah gut aus, wirklich gut. Ich liebte seine Art, wie er mit mir umging, so zärtlich, als wäre ich aus Porzellan. Ich fühlte mich bei ihm immer so sicher und geborgen. Und als ich ihn erkannt hatte, hatte mein Herz einen Riesensprung gemacht und wollte nicht mehr aufhören so schnell zu schlagen. Ist es das, was er fühlt, wenn er mich sieht? Ist es das, was man Liebe nennt? Ich weiß es nicht. Weiß nicht mehr, ob dass, was ich fühlte Freundschaft oder mehr ist. Ich blickte zu Raphael, welcher Sam eingehend musterte. „Warum ist es mir nicht aufgefallen? Allein wie du geflogen bist und gesprochen hast, das war so unnormal für einen Engel. Aber eins hat mich noch mehr überrascht.“ Sam und ich sahen beide fragend zu ihm hinüber. Dann blickte mich der Erzengel breit grinsend an. „Du hast dich endlich, nach ganzen vier Jahren, getraut, Angel deine Liebe zu ihr zugestehen.“ Er klatschte anerkennend in die Hände und ich wurde blass im Gesicht. Vier Jahre? So lange schon? Und es ist mir nie aufgefallen? Ich stellte mich neben Sam, welcher mir einen beschämten Seitenblick zuwarf, und sah dann zum Erzengel auf. „Was willst du von uns? Kannst du uns nicht einfach gehen lassen?“ Ein schallendes Lachen erklang und ein schwarzhaariger Blitz kam durchs Fenster geflogen. Neben Raphael landete ein Engel, völlig in schwarz gekleidet, mit schwarzen Augen und pechschwarzen Flügeln mit roten Rändern. Er sah aus wie ein Racheengel. Augenblicklich wich ich erschrocken zurück und Sam legte mir schützend seinen Arm um die Hüfte. Sofort fühlte ich mich wieder besser in Sams Nähe. Ich lehnte mich an ihn und legte meinen Kopf an seine Schulter. Raphaels Stimme durchschnitt die angenehme Stille. „Jason, da bist du ja endlich! Was hast du herausgefunden?“ Jason starrte ununterbrochen Sam und mich an und ich fühlte mich unwohl.
„Herr, es gab einen Eindringling. Lilith war auf dem großen Hügel Ilius. Mit ihm.“ Jason deutete auf Sam und ich wurde leichenblass. Ich sah ungläubig zu Sam auf, der auch leichenweiß im Gesicht geworden war. „Lilith? Du warst mit Lilith hier? Mit meiner Mutter?“ Sam starrte geschockt zu mir. „Deine Mutter?“ Raphael hatte nichts gesagt, guckte nur starr gerade aus, an uns vorbei. Und wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür und Simon marschierte hinein. Als er die Versammlung bemerkte, blieb er verstutzt stehen und blickte in die Runde.
Augenblicklich kam er zu mir gelaufen. „Angel, was soll das hier? Warum ist Erzengel Raphael hier? Und wer ist er?“ Er deutete fragend auf Sam, während er das flüsterte. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und meinte: „Ein Freund von mir, stell jetzt bitte keine Fragen, wir können später noch darüber reden.“ Sofort zog Sam mich wieder Besitz ergreifend an sich, ich wusste, dass ihm die Situation nicht gefiel, ich merkte es an seiner Körperhaltung. Die ganze Zeit über hatte Raphael leise Worte gemurmelt. Nun wandte er sich an Jason und flüsterte seinem Spitzel etwas zu. Ich schärfte meine Sinne und lauschte. „Ich habe einen starken Zauber ausgesprochen, nun sind meine Kräfte fast am Ende. Bringe jeden einzelnen um, der sie retten möchte. Aber nicht sie. Wenn ihr Blut vergossen wird, werde ich ihre Macht nie besitzen und wir werden unserem niemals Ziel nahe sein. Dann werden wir das Götterschwert nie erlangen.“ Erschrocken schnappte ich nach Luft und wich zurück. Währenddessen breitete der Erzengel die kobaltblauen Flügel aus und ehe ich mich versah, war er auch schon durch das riesige Fenster verschwunden. Sam wollte ihm verzweifelt hinterher stürzen, doch ich hielt ihn mit eisernem Griff zurück. Jason schlich, einem schwarzen Schatten gleich, elegant und bedrohlich auf uns zu, und blieb bedrohlich nahe vor uns stehen.
„Also, wer will als Erster von euch sterben?“, fragte er boshaft. Ohne, dass ich es verhindern konnte, stürmte Simon auf ihn zu und packte unsanft einen der schwarzen Flügel des Racheengels. Er zerrte daran und als ein kleiner, feiner Riss entstand, schrie Jason gellend auf und schleuderte meinen neu gefundenen Bruder gegen die Wand hinter uns. Er schnellte nach vorne und packte mich fest bei den Schultern. Als Sam mich von ihm weg reißen wollte, fauchte Jason ihn an, was mir einen eiskalten Schauder über den Rücken jagte und meine Haut kribbeln ließ, und zerrte ihn von mir weg. Verlassen stand ich mitten im Raum, allein. Der beißende Geruch von Angstschweiß, Blut und Wut drang in meine Nase und setzte sich dort fest. Ein vom Ekel hervorgerufenes Würgen unterdrückte ich mutlos und stand auf wackeligen Beinen da. Simon lag bewusstlos an der Wand hinter mir und Sam und Jason lieferten sich einen unfairen Kampf. Plötzlich hörte ich etwas knacken, hoffte inständig, dass es der kleine Tisch, das hölzerne Bett oder der riesige Schrank gewesen war, doch ich wusste es natürlich besser. Sams Schrei erklang schrill in meinen Ohren und Jason ließ stolz von ihm ab. Mein bester Freund lag kurz vor der Bewusstlosigkeit am Boden und jammerte und schrie vergeblich nach Hilfe. Was hat der Mistkerl nur mit ihm gemacht?, schrieen meine Gedanken Wutentbrannt. Seine Beine waren in einem unnatürlichen Winkel von ihm gestreckt. Seine langen Arme schützend vor das beschattete Gesicht gehalten. Ich lief zu ihm hinüber und kniete mich neben ihn. Jason hatte sich auf den vor Schmerzen stöhnenden Simon gestürzt, doch das ließ mich kalt. Nun zählte nur noch Sam für mich. Ich legte ihm meine Hand an die Wange, während ich ihn zu beruhigen versuchte. Er sah mir traurig in die Augen und ich sah in seinen nur Schmerz. Mir liefen die Tränen unaufhörlich übers Gesicht und tropften auf Sams Haut. Ich habe ihn doch eben erst wieder, muss ich ihn jetzt schon verlieren? Wie kann ich ihm nur helfen. Irgendwas muss ich doch tun können.
„Sam, alles wird gut.“
Ich wusste, dass ich mein Versprechen höchst wahrscheinlich nicht einhalten konnte, da sein Rückrad so wie es schien gebrochen war, doch ich wünschte es mir, so sehr. Seine Stirn war mit Schweißperlen bedeckt und eine ungeheure Hitze wurde von seinem geschändeten Körper ausgestrahlt. Sam öffnete langsam die rauen Lippen und flüsterte mit zitternder Stimme und letzter Kraft: „Angel, egal was passiert, ich liebe dich, mehr als alles andere auf der Welt.“ Dann schloss er die wunderschönen, früher kristallklaren, jedoch jetzt verblassenden, blauen Augen und ich schluchzte erneut. „Sam! Sam, bitte verlass mich nicht! Ich will nicht auch noch dich verlieren, meine jetzige einzige Lebensquelle. Nur wegen dir bin ich noch hier. Nur durch dich konnte ich allen Schmerz in meinem Leben bisher überwinden! Sam, ich brauche dich, mehr denn sonst jemanden! Sam, ich...ich liebe dich!“ Schrie ich verzweifelt, doch es war schon zu spät. Dunkelrotes Blut floss aus unzähligen Wunden, zugefügt worden von Jason. Sein Atem drang Stoßweise aus seiner Kehle. Der Herzschlag wurde langsamer, müder. Was mache ich jetzt? Sam, wenn du jetzt stirbst, dann …
Sam atmete nicht mehr und sein Herz hörte träge auf zu schlagen. Ich sank benommen neben ihm zu Boden, legte mich auf das harte Holz und hielt seine eiskalte und schlaffe Hand. Jetzt war es mir egal, was passierte. Mir war alles egal, nun wollte ich wirklich sterben, denn mein Leben hatte ohne Sam keinen Sinn mehr. Das hörte sich wahrscheinlich melodramatisch an, doch es entsprach der Wahrheit.
Erinnerungen an unser vorheriges Leben überkamen mich.
Der erste Schultag.


„Sam, wo bleibst du?“ Mit ängstlichem Blick schlich er, seine Einschulungstüte in der Hand, auf mich zu. Ein leises Lachen meinerseits erklang und ich blickte ihn mitfühlend an. „Sam, hast du etwa Angst?“ Energisch schüttelte er den Kopf. Die schwarzen Locken wippten bei der schnellen Bewegung hin und her. „Ich habe doch keinen Schiss. Wie kommst du darauf?“ Doch er klang nicht halb so überzeugt von sich, wie erhofft.
Mitleidig legte ich ihm eine Hand auf die zierliche Schulter und schloss ihn in die Arme. „Ich habe auch Angst. Ich meine, dass ist unser erster Tag, in der Schule. Aber wir müssen uns nicht fürchten. Wir haben doch immer noch uns selbst. Wenn wir zusammen bleiben, schaffen wir das schon.“ Er lächelte mich träge an und nahm dann meine Hand. Zusammen liefen wir zu seiner Mutter Penelope und meiner Großmutter.
Gestärkt schritten wir auf das riesige Schulgebäude zu.


Und dann noch mit vierzehn, als ich ihm von meiner Abstammung erzählte.


„Ich muss dir etwas erzählen.“ Sam lauschte meiner zittrigen Stimme und blickte mich mit diesen hellblauen Augen an. Ich setzte mich ihm gegenüber und nahm seine Hände in die meinen. Skepsis trat in seinen Blick und ich lächelte leicht amüsiert über seine Reaktion.
„Heute ist etwas Schreckliches passiert.“ Unverhohlene Neugier stand in seinen Augen, doch sein Mund blieb geschlossen, seine Miene war ernst. „Ich … habe mich verwandelt.“ Sam fuhr zusammen.
Er stand ungeschickt auf und legte mir eine eiskalte Hand auf die Stirn. Zweifelnd hob er eine Braue. „Angel, wovon redest du? Was meinst du? Wirst du etwa krank?“ Ich lachte kurz auf, dann versteifte ich mich wieder. „Das war mein voller Ernst. Ich habe mich heute verwandelt. Und zwar in ein Monster.“ Meine Stimme brach und Sam setzte sich wieder. Unruhig schaute er sich in seinem kleinen Zimmer um. „Was hast du ausgefressen?“ Verzweifelt hob ich die Arme in die Luft und stöhnte auf. „Sam, mein Vater war ein Dämon, ein Monster! Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Und ich wurde heute ebenfalls zu einem Untier, wie mein so genannter Vater!“ Unwissend sah Sam mich an. Mitleid erfüllte seinen Blick. Dann nahm er mich in die Arme. Tränen rannen mir über die Wangen und ich verbarg mein Gesicht an seinem Hals. Er strich mir über die dunklen Locken und küsste mich auf die Schulter. Diese Geste ließ mich wohlig erschaudern und ich drängte mich noch näher an ihn. Unsere Verbundenheit spürte ich nun mehr denn je. Die Tränen versiegten langsam, doch noch immer löste ich mich nicht von Sam. Seine Lippen ruhte nur Zentimeter von meinem Hals entfernt, sein heißer Atem strich meine kribbelnde Haut und ich schloss Halt suchend meine Arme um seinen starken Körper.



Ich nahm Sam freudig in die Arme und küsste ihn auf beide Wangen. „Herzlichen Glückwunsch!“, flüsterte ich an seinem Ohr. Er grinste mich an und bot mir den Platz neben sich auf der Bettkante an. Ich setzte mich und überreichte ihm das kleine, dunkelblau verpackte Päckchen. Mit einem „Das war doch nicht nötig“ öffnete er es neugierig. Ich lächelte strahlend und musterte ihn eingehend. Als er mit einem erstaunten „Wow“ das Bild in dem Goldrahmen in die großen Hände nahm, küsste ich ihn stürmisch auf die mir zugewandte Wange. Er drehte sich mir beschämt zu und ich betrachtete die Fotografie von uns beiden. Meine schwarzen Locken waren locker hochgesteckt und ein strahlendweißes Lächeln lag auf meinen Lippen. Mein smaragdgrüner Blick war mit seinem kristallklaren blauen verschmolzen. Eine meiner zierlichen Hände war in seinen dunklen Wellen vergraben und unsere Gesichter berührten sich hauchzart. Unsere Lichtung war im Hintergrund zu sehen und mir lagen auf der weichen, hellgrünen Wiese.
Sam grinste breit und küsste mich mitten auf den Mund. Es war nur ein leichtes Streifen unserer Lippen, doch es hinterließ ein wohliges Kribbeln unter meiner gespannten Haut. Es hatte nichts zu bedeuten, und doch verband ich so vieles damit.
Erschrocken zog Sam sich zurück und lächelte mich beschämt an. Ich lachte freudig auf und die Pein verschwand aus seinem Gesicht.


Damals hatte ich nicht geahnt, was Sam für mich empfand. Doch nun wusste, wie es um seine Gefühle gestanden hatte. Ich wünschte mir inständig, ich hätte es früher erfahren. Denn nun war es zu spät.
Da fiel mir etwas ein. Ich schaute hoch zum Bett auf dem mein Abschiedsbrief und das Messer immer noch lagen. Ich stand mit neuer Kraft auf. Wenn ich schon mein Leben beenden wollte, dann würde ich wenigstens noch Jason mitnehmen. Er hatte es als Sams Mörder nicht verdient, weiter zu leben. Ich schlich mich von hinten an ihn heran und holte weit aus. Jason fuhr mit dem dunklen Kopf herum, doch es war schon zu spät für ihn, das Messer steckte schon bis zum Griff in seinem Rücken, im Herzen. Ein freudiges Lächeln erschien auf meinem Gesicht. „Ich habe Blutengel schon immer gehasst!“ Damit riss ich ihm den Blut beschmierte Dolch wieder heraus und hielt ihn fest umklammert. Simon lag schwer atmend am Boden und neben ihm sackte Jason zusammen. Ich ging hinüber zu Sam und flüsterte: „Sam, ich liebe dich. Ich folge dir überall hin, auch bis in den Tod.“ Damit hielt ich wieder den Dolch an meine Brust und stieß zu. Da erklang eine Stimme, sie kam mir so bekannt vor. „Halt!“ Ich fiel zu Boden und meine Augenlider flatterten. Eine mir bekannte Frau beugte sich über mich. „Mum“, flüsterte ich. Sie lächelte mir gequält zu. „Alles wird gut, mein Kind. Vertraue mir.“ Ich schüttelte leicht den Kopf und meine Augen schlossen sich.
Nein nichts wurde gut, denn Sam war tot.



Epilog



David



Er musste sie finden, doch wo sollte er anfangen. Nachdem er geflohen war, hatte er sie nicht mehr gesehen. Seine Stute Butterfly war ohne sie in der Nähe der Grenze zwischen Dämonenwelt und Erde aufgelistet worden.

Ist Angel in ihre Welt zurückgelaufen?

Verübeln konnte er es ihr nicht. Es war eine schreckliche Zeit für sie gewesen. Getrennt von ihrer Großmutter und ihrem Freund Sam. Abgeschnitten von der menschlichen Zivilisation und gefangen in dem dunklen Reich der bösartigen Dämonen. Dann hatte sie erfahren müssen, dass nun schon ihr Tod vorherbestimmt war, um eine der mächtigsten Waffen neu zu erschaffen.
David war aus Verzweiflung durch das Grenztor marschiert und befand sich nun in einer menschlichen Stadt namens Paris. Sie war dreckig und heruntergekommen. Wie sein Zuhause. Nur dass es hier keinen regierenden König gab, der das Land verpesstete. Hier waren es einzig und allein die Leute, die ihr Leben verschmutzten. Auf der Welt gab es süßen, den Verstand vernebelnden Alkohol. Abhängig und nahe zum Tode führende Drogen und ebenso gewalttätige Mörder, wie auch in den anderen Dimensionen. Es war genauso grausam, das Leben hier, wie bei ihm selbst im bevölkerten Reich.
Um in die Realität zurückzukehren, schüttelte David energisch den Kopf. Angel. Sie war jetzt wichtig. Nicht die Zusammenhänge zwischen Erde und Hölle.
David suchte jede Sackgasse, jeden Winkel und jede Ecke nach ihr ab, doch nirgends war sie zu finden. Er machte sich immer und immer wieder mehr Vorwürfe.

Ich hätte sie nicht alleine lassen dürfen! Wenn ihr nun etwas passiert! Das ist dann alles meine Schuld, ganz allein meine!

Der Gedanke daran, sie vielleicht nie wieder zu sehen, war entsetzlich. Er zerriss ihm das Herz. Und strapazierte seine Geduld. Wie lange würde er noch vergeblich nach ihr suchen, nur um auf ein tiefes Nichts zu stoßen?
Mutlos ging David durch die verdreckten Straßen und suchte alle beschatteten Winkel nach ihr ab.


Ich bin so ein Trottel! Wie konnte ich nur so blöd sein?


Er stampfte wütend auf sich selbst weiter durch zerknautschte CocaCola-Dosen und schoss träge Bier- und Wodkaflaschen beiseite. Müde starrte er über die jetzt noch befahrenen Straßen und sein Blick blieb an einigen Prostituierten hängen, die ihm säuselnd vom Alkoholkonsum Sachen zuriefen und ihm aufmunternd zuwinkten. Er schaute wieder weg und blieb trostlos an einer Kreuzung stehen. Zwei Wege, welchen sollte er nehmen? Er ging nach rechts. Nach circa zweihundert Metern erschien vor seinen Augen eine große Mauer. Selbst in der sternenlosen, Wolkenbehangenden Nacht entzifferte er das bunt geschriebene Graffiti.
„Verdammt, schon wieder eine Sackgasse!“, schrie er wütend. Eine junge Frau, höchstens zwanzig Jahre alt, mit hellbraunen Haaren, öffnete über ihm ein kleines, dreckiges Fenster und starrte ihn abschätzend an. David ignorierte sie nach einem wissenden Blick und rief verzweifelt in den peitschenden Wind hinein: „Wo bist du, Angel? Ich liebe dich!“ Die Frau murmelte verachtende Worte und ging wieder weg vom geöffneten Fenster. Er hörte ihre Stimme noch mit der eines verschlafenen Mannes sprechen, ehe das Glas mit einem lauten Knall zugeschlagen und die Vorhänge vorgeschoben wurden.
Währenddessen fiel David auf die Knie auf und dachte an Angel. Er sah ihre smaragdgrünen Augen in anstrahlen. Roch ihren frischen, aromatischen Duft, blendete den Gestank nach Erbrochenem und Alkohol aus. Er fühlte ihre seidigen, weichen Haare zwischen seinen Fingerspitzen. Und spürte ihre rosigen, verführerischen Lippen sanft auf den seinen.
Es fing leicht an zu regnen und die winzigen, nassen Tropfen vermischten sich mit den salzigen Tränen auf seinem Gesicht.


Angel ist weg. Sie ist fort. Für immer. Niemals werde ich sie wiederfinden.
Und niemals werde ich aufgeben, nach ihr zu suchen.



Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Cover by: cassyk.
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme es all denen, die ich in meinem Herzen trage.

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