1. Kapitel
Das Glas entglitt meiner Hand mit jeder Sekunde die verstrich ein wenig mehr. Meine Finger rutschen an dem glatten, mit Wasser beschlagenen Material ab. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich zu, wie das Glas hinab fiel. Durch den Schock, den ich empfand, kam es mir so vor, als würde es in Zeitlupe den Boden entgegen rücken. Mit einem lauten Klirren traf es schließlich auf die Küchenfliesen.
Die Scherben sprangen in alle Richtungen, das Wasser spritze empor und hinterließ schließlich eine Pfütze. Eine kurze Zeit lang sah ich mein Missgeschick noch an, bis ich meinen Blick wieder hob und in die Augen meines Vaters sah. Er schien nun eine Reaktion von mir zu erwarten, doch ich brachte nicht viel mehr fertig, als ihn fassungslos anzustarren. Ich war mir einfach nicht sicher, ob er mich veralbern wollte oder ob es sein voller Ernst war.
Noch einige Sekunden, in denen ich steif da stand, verstrichen, bis die Information vollständig in meinem Kopf angekommen war. Ich rannte aus der Küche, die Treppe hoch, in mein Zimmer.
Das durfte doch einfach nicht wahr sein!
UMZIEHEN?! Ich wollte nicht umziehen! Und dann auch noch in ein anderes Land.
Als meine Eltern sich vor vier Jahren getrennt hatten und ich mit meinem Vater in eine neue Wohnung gezogen war empfand ich es schon als schlimm und das war alles in der gleichen Stadt gewesen. Jetzt sollte ich sogar in ein anderes Land auswandern. Also das ging nun wirklich zu weit!
Reichte es denn nicht schon, dass ich mich von all meinen Freunden trennen musste?
Nein, da musste ich auch noch eine neue Sprache lernen. Na gut, ich konnte sie schon etwas von der Schule, aber eine Sprache ein paar Stunden in der Woche im Unterricht zu sprechen oder sie jede Minute des Tages sprechen zu müssen machte doch einen erheblichen Unterschied.
Wie konnte er mir das nur antun? War er es denn nicht, der mir seit meiner Geburt predigte ich solle in meinem Leben nicht immer nur an mich, sonder auch an meine Mitmenschen denken?
Und wie war es jetzt? Er dachte nur an sich und seine Freundin mit dem Baby. Und was ist mit mir? Dachte er denn nicht auch nur einmal an mich in dieser Angelegenheit? Daran, dass ich mich von meinen Freunden und vor allem von meiner Mutter trennen müsste. Das uns bald tausende von Kilometern trennen würden und ich nicht einfach mal so zu ihr laufen könnte.
Doch mir blieb nichts anderes übrig, als mit ihnen zu gehen. Zu meiner Mama konnte ich nicht ziehen. Sie hatte genug eigene Probleme. Es war nicht so, dass sie das nicht für mich getan hätte, es war so, dass ich wusste, dass es besser für sie und leider auch für mich war, wenn ich nicht bei ihr lebte. Ich liebte meine Mutter abgöttisch und ich empfand sie als eine der besten Mütter auf der Welt, aber ich würde ihr damit nur Probleme bereiten. Sie müsste sich eine neue Wohnung suchen, weil die Wohnung grade so für sie und Kai, ihren Freund, reichte. Außerdem müsste sie weniger arbeiten und könnte wegen mir nicht mehr so viel Reisen, was sie aber von ihrem Beruf aus musste.
Es war also beschlossene Sache, dass ich mit meinem Vater und seiner Freundin Nora nach Amerika ziehen würde.
Ich konnte einfach nicht mehr. Ich warf mich auf mein Bett und rollte mich zusammen. Nach wenigen Minuten bemerkte ich, wie mir eine warme Träne sie Wange entlang rann, bis sie schließlich an meinem Mundwinkel ankam. Sie schmeckte salzig, genauso wie jede der Tränen, die an diesem Abend noch den Weg aus meinen Augen fanden und auch so, wie jede Träne, die jemals auf der Welt vergossen wurde.
Vor meinen Augen verschwammen die Konturen meines Zimmers, ich hatte das Gefühl, dass sich in meinem Kopf alles zu drehen begann und nach gefühlten drei Tagen dauer-heulen schlief ich dann, völlig erschöpft, mitten in der Nacht ein.
Schweiß tropfte von meiner Stirn auf den Boden unter mir. Doch eben diesen Boden konnte ich nicht sehen. Ich stand in einem engen Gang und war von Dunkelheit umgeben. Am Ende des Ganges sah ich gleißendes Licht, doch es kam nicht mal annähernd bei mir an.
Ich hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit langsam immer näher auf mich zu kroch, sich an meinen Beinen empor wand und meinen Körper hinauf schlängelte. Sie war wie eine Würgeschlange, die einem erst nichts antut und dir dann mit einem Ruck die Kehle abschnürt.
Genauso fühlte es sich grade an, als würde die Dunkelheit mir die Kehle abschnüren. Langsam fing ich an keine Luft mehr zu bekommen.
Und dann hörte ich sie. Diese Stimmen. Stimmen die ich nicht kannte, von Personen, die ich nie gesehen hatte. Sie redeten wild durcheinander, so dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Langsam beruhigten sie sich und dann verstand ich sie auch.
„Wir wollen dich hier nicht!“ „Geh wieder nach Hause!“ „Du gehörst hier nicht her, du wirst es nie tun!“
Immer mehr solcher Dinge wurden mir an den Kopf geworfen und mit der Zeit schienen die Stimmen in meinem Kopf zu kreisen. Er pulsierte wild und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gedacht, dass er gleich zu explodieren drohte.
Ich konnte nicht anders. Ich lief los. Probierte vor den Stimmen und der Dunkelheit weg zulaufen, doch sie verfolgten mich, machten es mir schier unmöglich ihnen zu entkommen.
Ich sah das Licht vor mir, welches mir Erlösung versprach, doch mit jedem Schritt den ich tat schien es, als würde sich das Licht immer ein Stückchen mehr von mir entfernen.
Ich stolperte und fiel zu Boden. Mit wackligen Beinen stand ich wieder auf und dann spürte ich sie. Eine kühle, verschwitzte Hand, die sich auf meine Schulter gelegt hatte. Ich hielt die Luft an und meine Gliedmaßen erstarrten. Ganz langsam fing ich an mich umzudrehen und kurz bevor ich die Person erblicken konnte ertöte ein ohrenbetäubendes Geräusch.
Ich schrak auf und brauchte ein paar Sekunden bis ich verstand, dass ich schweißgebadet in meinem Bett saß und dieses Geräusch mein Wecker war.
Texte: ©Anna-Marie
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für all die Leute, die mich bisher bei dieser Geschichte inspiriert und vorallem für die, die mir geholfen haben und sich meine Texte durchlesen.
Ich danke euch! (: