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5.Kapitel



Ich rannte mal wieder, wie fast jeden Morgen, die Treppe runter und während ich dies tat hörte ich Draußen auch schon das Hupen. Wenige Sekunden später klopfte es dann bereits an der Tür. Ich hetzte in die Küche, schnappte mir mein Essen und das Geld und ließ den Zettel von Nora, der an meinem Essen klebte, unbeachtet. Dann sprintete ich zurück in den Flur. Durch das milchige Glas in der Tür sah ich die verschwommenen Umrisse einer Person, die schon ungeduldig hin und her lief. Ich öffnete den Wandschrank, schlüpfte in meine Lieblingsballerinas und zog mir meinen Mantel über. Mit einem Knall flog die eine Tür hinter mir zu und mit einem Windstoß öffnete ich die andere vor mir. Die Person blieb wie angewurzelt vor mit stehen, lächelte mich an, betrachtete mich einmal von oben bis unten und nahm mir dann wie selbstverständlich meine Tasche ab.
„Na Schlafmütze, wann wirst du es endlich schaffen die Tür nach meinem Klopfen sofort zu öffnen?“
„Mm…ich würde sagen zu jeder Zeit ab vierzehn Uhr.“ Ich lachte und auch neben mir ertönte das berauschende Lachen von Jason. Als wir den Kiesweg betraten wurde die morgendliche Stille durch das Knirschen unter unseren Füßen gestört. Am Ende von eben diesem Weg stand, am Straßenrand haltend, ein silberner Wagen, den ich mittlerweile schon gut kannte. Genauso wie die Person, die nun aus dem Auto stieg und es einmal umkreiste, um dann auf der Beifahrerseite die Tür zu öffnen. Ich sah Ryan vorwurfsvoll an.
„Hatte ich dir nicht gesagt, dass ich lieber Hinten sitzen will?! Ich finde es unfair gegenüber Jason, der, bevor ich gekommen bin, immer auf diesem Platz saß und sobald ich komme wird er auf die billigen Plätze abgeschoben oder was?“
„Ja, ganz genau.“, sagten die Zwillinge wie aus einem Munde.
Jason war schon längst eingestiegen und Ryan begann nun auch mich in das Fahrzeug zu schieben. Ich ließ diese Prozedur über mich ergehen, vermerkte aber in meinem Hinterkopf eine Notiz, dass ich mich Morgen nach Hinten manövrieren würde. Ryan fuhr los und mit dem Starten des Motors sprang auch das Radio an, so wie es jeden Tag der Fall war.
Ich hatte kaum bemerkt wie schnell die letzten zwei Wochen an mir vorbei geflogen waren. Es war als hätte ich nur für eine Sekunde die Augen geschlossen und als ich sie wieder geöffnet hatte war plötzlich alles anders.
Ich weiß nicht, wie es geschehen ist, aber mit Ryan und Jason habe ich mich gut angefreundet und sie zählen mittlerweile fast zu meinen engsten Vertrauten. Nie hätte ich mir ausmahlen können, dass ich einmal eine solche Zuneigung gegenüber Ryan haben könnte. Bei Jason hingegen gab es von Anfang an eine komisch, wattige Vertrautheit, die mir derzeit so natürlich und notwendig erschien, wie die Luft die ich zum Atmen brauchte. Es war faszinierend, wie leicht mir hier alles in letzter Zeit erschien. Meine Freunde, die Schule, zu Hause, Jill, es erschien mir alles so einfach.
Bridget war zu meiner besten Freundin geworden. Ich hatte das Gefühl sie schon mein ganzes Leben lang zu kennen und das Gleiche war auch bei den Zwillingen der Fall.
Das Auto hielt, die Musik klang aus und noch ehe ich auch nur einen Wimpernschlag tun konnte war meine Beifahrertür auch schon wieder geöffnet und mir wurde eine Hand entgegen gestreckt.
Spielerisch schlug ich Ryan auf die Finger.
„Lass das! Ich habe dir schon oft genug gesagt, dass das echt peinlich ist!“
„Ach komm’ schon Prinzessin, ich meine es doch nur gut.“
Er schenkte mir sein verführerischstes Lächeln, von dem er mittlerweile genau wusste, dass es bei mir nicht wirkt. Anstatt, wie alle anderen Mädchen weich zu werden verfinsterte sich mein Blick. Ich sah ihn wütend an und schoss in Gedanken durch meine Augen Blitze auf ihn. Er wusste es genau! Er wusste genau wie sehr ich es hasste wenn er mich Prinzessin nannte und mich, durch diesen Kosenamen von ihm jeder anstarrte, sobald er fiel. Ich kam mir immer vor, als würde er mich damit als besser bewerten, als andere Mädchen und die Tatsache, dass ich ihn auch anderes behandelte und nicht immer anhimmelte, wie alle Anderen änderte daran auch nichts.
Als ich keine Anstallten machte auszusteigen packte er mich am Arm und probierte mich aus dem Auto zu ziehen, doch ich war schnell genug um mich rechtzeitig am Sitz festzukrallen, sodass er mich nicht rausziehen konnte. Er wusste genau warum ich bockte. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum er nicht einfach damit aufhörte, wenn er doch wusste, dass ich es hasste? Als Ryan bemerkte, dass er keine Chance hatte beugte er sich zu mir herab, umgriff meine Taille, zog mich aus dem Auto und legte mich, mit meinem Kopf auf seinem Rücken, über seine Schulter. Ich schrie, kreischte und lachte wie ein kleines Kind, bis ich letztlich anfing zu betteln, dass er mich doch bitte wieder runter lassen sollte.
„Ah, nein. Bitte lass mich wieder runter. Ich mache auch alles was du willst. Wirklich. Du darfst mich sogar Prinzessin nennen…“, natürlich war Letzteres nur ein leeres Versprechen, doch es wirkte.
Langsam lies er mich von seiner Schulter auf den Boden gleiten. Die ganze Zeit über konnte ich sein schallendes Glockenlachen vernehmen. Selbst als ich vor ihm stand, die Arme vor der Brust verschränkt und ihn gespielt wütend ansah hörte er nicht auf damit und an eine Entschuldigung war gar nicht erst zu denken.
Als er so da stand, mit einem strahlenden Lächeln- das den Blick auf eine Reihe blendend weißer Zähne freigab, die man auch bei Jason finden konnte- mit seiner lässigen Pose, seinen, durch mich verwuschelten, strohblonden Haaren und den leuchtend blauen Augen, konnte ich die ganzen Mädchen verstehen, dass sie immer wieder auf ein Date mit ihm hofften, denn er sah nun mal wirklich hinreißend aus und jetzt konnte ich auch behaupten, dass er dazu noch nett und lustig war. Mädchen mochten es nun mal einfach, wenn ein Junge sie zum lachen bringen konnte und dazu noch so spontan und aufregend war, wie dieser hier.
Ich konnte mit Sicherheit sagen, dass ich seinem Bann verfallen war. Doch es war keines Wegs so, dass ich mich in ihn verliebt hatte und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass das jemals in frage kommen würde. Er war viel mehr der Bruder für mich, den ich nie gehabt hatte und ich konnte schon fast sagen, dass er allmählich zu meinem besten (männlichen) Freund wurde. Ryan war so erfrischend und oft erinnerte er mich an mich selbst.
Er platzte einfach mit den Dingen raus, die ihm grade im Kopf schwirrten und war so was von direkt, wie kein anderer Mensch, den ich je kennen gelernt hatte.
Wir mussten immer an genau denselben Stellen lachen, was ziemlich oft vorkam.
Jason trat neben uns, stark bemüht einen Lachanfall zu unterdrücken.
„Na los, ihr Kampfhähne. Jeder hier hat eure Vorstellung genossen, also werdet ihr bei den Klatschweibern mal wieder Thema sein.“
„Siehst du, was du wieder angerichtet hast!“, sagte ich lachend zu Ryan und schlug ihn leicht auf die Schulter. Jason schnitt ich eine Grimasse und steckte ihm, wie ein kleines Kind, die Zunge entgegen. Dann entzog ich ihm meine Tasche und schmiss sie mir über die Schulter, hackte mich bei Ryan unter und lief in Richtung Eingang los. Kurz bevor wir diesen erreicht hatte hackte sich plötzlich jemand in meinen anderen Arm ein.
„War mal wieder eine super Show.“, begrüßte Bridget mich fröhlich. Ich entzog Ryan meinen Arm, um Bridget spielerisch wegzustoßen.
„Also Erstens kann ich nichts dafür, wenn dieser Blödmann so einen Mist mit mir macht.“, widersprach ich B und grinste Ryan schelmisch an, „Und Zweitens war das keine Show! Denn wenn es eine gewesen wäre hätten wir Geld dafür genommen.“
Konnte man hier seinen Tag nicht einfach unbeobachtet leben? Nein, scheinbar gab es diese Möglichkeit nicht, wenn man sich mit zwei der beliebtesten Jungs angefreundet hatte. Auch dies war eine Tatsache, an die ich mich wohl noch gewöhnen musste: Wenn man mit den „Coolen“ befreundet ist wird man beobachtet. Es ist wirklich wie in diesen ganzen amerikanischen Filmen und Serien. Natürlich gibt es auch „normale“ Leute, aber halt auch die, die es brauchen etwas zum Klatschen zuhaben.
Wir betraten das Schulgebäude. Ich könnte wetten, dass, wenn dies wirklich so ein Teeniefilm wäre, jetzt augenblicklich alle ihre Tätigkeiten ruhen lassen würden und ihre Blicke an uns heften würden. Ein Windgebläse würde angestellt sein, damit die Haare von uns Mädchen schon flattern würden. Sie würden um uns einen hellen Schein setzten und uns in Zeitlupe zeigen. Doch zum Glück war dies kein Film und all dies passierte nicht, aber ein paar mehr oder weniger unauffällige Seitenblicke wurden uns schon zugeworfen.
Ein Mädchen kam auf mich zu. Sie hieß Sara und war in meinem Biologiekurs. Sara war ein sehr nettes, aber etwas eigenartiges Mädchen. Ihre brünetten Haare fielen in weichen Wellen ihren Rücken hinab, bis fast zu ihren Hüften und ihre kleinen, mandelförmigen Augen waren von dunklem Moosgrün.
„Hey Fay, ich brauche bitte mal deine Hilfe. Kann ich in der Mittagspause zu dir kommen?“
„Klar kannst du das tun. Bis dann, Sara.“
„Wobei braucht sie denn deine Hilfe?“, kam prompt die Frage von Bridget, als Sara außer Sichtweite war.
„Keine Ahnung. Ich schätze mal bei dem Bio-Projekt.“
Wir liefen den Weg in Richtung unserer Schließfächer. Kurz bevor wir bei den Fächern der Jungs waren, kam Jasons Freundin Lindsay auf uns zu.
„Da kommt auch schon die Hexe.“, flüsterte B mir, mehr singend als sprechend, ins Ohr.
„Und Tschüss!“, sagten Ryan und ich zur gleichen Zeit zu einander.
Er fügte jedoch noch hinzu: „Verschwindet aber nicht zu auffällig. Ich glaube Jason sieht das gar nicht gerne.“
Und damit hatte Ryan recht. Jason konnte es wirklich nicht leiden, wenn wir gingen, sobald Lindsay auftauchte oder wenn sie ging, sobald sie Bridget und mich sah. Ebenso wenig mochte er es, wenn wir uns während des Mittags angifteten (Ja, ich ließ mich von ihr leicht reizen!). Manchmal hatte ich den Eindruck Jason würde sogar darunter leiden, dass seine Freundin und ich nicht wenigstens versuchten miteinander klar zukommen. Und das Bridget Lindsay auch nicht mochte und mich somit meist unterstützte machte die Situation auch nicht besser.
Dabei war ich am Anfang völlig freundlich gewesen und ohne Vorbehalte auf sie zugegangen, trotz allem was ich über sie gehört hatte, doch nachdem sie die ersten fünf Beleidigungen zu meiner Person auf mich niederrieseln ließ war der gute Wille schnell verflogen.
Bridget und ich flüchteten also schnell weiter zu unseren Spinden, Jason bekam davon nichts mit, weil er von Lindsay zugequatsch wurde und Ryan war schon von drei Mädchen und ein paar seiner Team-Kumpels umgeben (er war nämlich- welch ein großes Wunder- Kapitän der Rugby-Mannschaft), die auf ihn zugestürmt waren, als Bridget und ich verschwanden.
„Was hast du jetzt?“, fragte sie mich, als ich anfing ein paar Blöcke und Hefter in meine Tasche zu stopfen.
„Musik. Ich hoffe nur wir singen heute nicht! Es grenzt nämlich an ein Wunder, dass ich bis jetzt noch nicht vorsingen musste. Andererseits wäre es auch nicht schlecht, weil ich es dann endlich hinter mir hätte und nicht jede Stunde aufs neue bibbern müsste. Und doch will ich es nicht so wirklich.“
„Da hast du es aber noch besser als ich! Ich habe jetzt Physik und wir schrieben einen Test. Ich kann das nicht, was wir zurzeit machen…“
„Na dann, viel Glück! Ich bin mir sicher du schaffst das.“
„Danke, das Glück kann ich gebrauchen!“
Ich schlug die Tür von meinem Schließfach zu, da ich sah, wie Jason auf mich zukam.
Bridget verabschiedete sich mit einem kurzen „Bis später.“ Und verschwand.
Jason und ich liefen stumm neben einander zum Musikraum.
Scheinbar war er, genauso wie ich, in seinen Gedanken versunken.
Ich, für meinen Teil, war jedenfalls voll und ganz mit der nächsten Stunde beschäftigt.
Es war ein unbestimmbares, mulmiges Gefühl in meiner Magengrube, das mir verriet, dass irgendetwas passieren wird, was mir gar nicht gefällt.
Als ich meine Sachen auf meinem Platz verteilt hatte und mich grade auf dem Stuhl niederließ setzte Jason sich neben mich.
Er kam mir plötzlich so komisch vor. Vorhin war er noch so wie immer, noch völlig normal. Doch seitdem er von Lindsay wieder gekommen war, war er anders. Er schien komplett in seine Gedanken vertieft und starrte dementsprechend vor sich hin.
Grade sah er mir ganz tief in die Augen. Fast hatte es den Anschein, als suche er in ihnen die Antwort auf eine Frage, die er mir nicht gestellt hatte. Ich machte mir ein wenig Sorgen um ihn, denn er war einfach zu still. Zwar war er der Ruhigere der Brüder, doch hinderte ihn das nie sich mit mir zu unterhalten. Ryan war nur einfach extrovertierter.
Ich legte meine Hand auf seine und meinen Kopf schief.
„Geht es dir gut?“, fragte ich ihn besorgt.
Er wollte mir antworten, doch das Stundenklingeln fuhr dazwischen. Jason stand auf und antwortete nur knapp: „Ja. Ich denke bloß nach.“
Ja, das hatte ich auch schon bemerkt. Trotz seiner Antwort, dass es ihm gut ging, war ich mir nicht sicher ob dies auch der Wahrheit entsprach. Ich hatte mir ehr erhofft, dass er mir sagen würde worüber er sich so den Kopf zerbrach, aber wenn er nicht wollte. Bitte.
Es machte mich ein wenig wütend, dass er mir nicht sagen wollte, was ihn so aus der menschlichen Welt riss. Ich dachte wir würden über alles mit einander sprechen können. Ich hatte ihm immer alles gesagt- na ja, fast alles.
Ich hatte keine Zeit mir weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, denn der Musiklehrer Mr. Brown betrat den Raum und begann den Unterricht schon während des Gehens.
Er teilte uns mit, dass er die erste Hälfte der Stunde für Theorie und die zweite Hälfte für Gesangskontrollen nutzen würde.
Der Theorieteil zog sich wie zäher Kaugummi: sehr schwer und doch länger und länger. Als wir uns die ersten Schüler mit dem Lied „Let it be“ anhörten wurde es auch nicht besser.
Meine Nervosität ließ den Spaß, den ich für gewöhnlich am Singen hatte verfliegen. Ich liebte es normalerweise zu singen und wie fast jeder hatte auch ich mir schon manchmal gewünscht die Sängerin einer Band zu sein. Doch das waren nur Spinnereien und die Nervosität holte mich jedes Mal in die Realität und auf den Boden der Tatsachen zurück.
Ich sang maximal vor meiner Familie und meinen Freunden, die- natürlich- der festen Überzeugung waren, ich könnte gut singen und mit meiner Stimme viel mehr anfangen. Doch das nahm ich ihnen nicht ab. Schließlich konnte ich mich auch selbst singen hören und ich fand es noch nie toll.
Mittlerweile waren nur noch vier Minuten des Unterrichts übrig. Grade war ein Junge, dessen Namen ich mir noch immer nicht merken konnte, fertig mit dem Lied.
Mr. Brown ließ seinen Blick über die Reihen wandern, auf der Suche nach seinem nächsten Opfer. Es war höchstens noch Zeit für eine Person.
Jetzt hatte ich sogar ein wenig Hoffnung, dass ich heute nicht mehr dran kommen würde und ich hatte mich allmählich wieder ein wenig entspannt. Doch als entschieden wurde, dass noch eine Person das Lied schaffen würde stieg die Anspannung sofort wieder an. Mein Herz schlug schneller und mir wurde mit einem Schlag übel. Es war immer das Gleiche. Wenn jemand fürs Singen ausgesucht wurde, wurde mir immer schlecht. Wenn jemand sang, ging es mir mit der Zeit besser und wenn ich sang wurde die Aufregung erst unerträglich und dann überkam mich die Freude am Singen.
Mein Herz hämmerte nun schmerzlich gegen meine Rippen, da der Blick des Lehrers sich an mich geheftet hatte und er nun auch noch sagte: „So Fay, wollen wir dich doch auch endlich mal singen hören.“
Mein Herzschlag setzte eine Sekunde aus. Ich wusste, dass diese Aufregung affig war und doch konnte ich nichts gegen sie tun.
Mit zitternden Knien erhob ich mich und blieb neben dem Klavier stehen.
Ich atmete tief ein und dachte nur: ‚Bitte lass es gut gehen und auch einigermaßen gut klingen.’
Es ertönten die ersten Noten des Stückes und ich setzte zum richtigen Zeitpunkt mit dem Gesang ein. Am Anfang musste ich mein Gewicht häufiger von einem Bein auf das andere verlagern, da sie so sehr zitterten, dass ich dachte, wenn ich das eine weiter belaste würde es gleich durchbrechen. Aber mit der Zeit wurde die Aufregung und das Zittern besser und die Freude am Singen gewann allmählich die Überhand.
Als ich fertig war, war ich erleichtert und glücklich. Ich hielt den Blick noch einige Sekunden gesenkt und hob ihn dann. Alle starrten mich an und doch sagte keiner einer einen Ton. Niemand bewegte sich großartig und es war noch nicht mal das Atmen der Schüler zu hören. Ich wette, wenn ich jetzt eine Stecknadel dabei gehabt und sie fallen gelassen hätte würde das Geräusch, wenn sie auf den Boden schlagen würde durch das ganze Zimmer hallen.
Diese Stille begann mir Angst zu machen und da auch Mr. Brown kein Wort sagte überlegte ich, ob ich mich einfach wieder hinsetzten sollt. Das war definitiv einer der peinlichsten Momente in meinem Leben!
Ich wollte mich grade zu meinem Platz begeben, als ich in meinem Rücken plötzlich das Geräusch zweier aufeinander treffender Hände hörte. Ich drehte mich um und sah, dass es Mr. Brown war, der zu klatschen begonnen hatte. Langsam vielen auch die Anderen in diesen Applaus mit ein. Ich war mir jedoch nicht sicher ob es ein guter oder schlechter Beifall war, da er so zögerlich gekommen war. Ich sank auf meinem Stuhl in mir zusammen. Um mich herum schall noch immer das Klatschen und ich hatte langsam die Hoffnung, dass es doch ein Applaus war, weil ich einigermaßen erträglich gesungen hatte und nicht einer, um mir die Peinlichkeit zu ersparen. Das Klingelzeichen erlöste mich und ich floh förmlich aus dem, mir viel zu eng vorkommenden, Raum.


* * *




Sie trat neben Mr. Brown an das Klavier. Man sah ihr an, dass sie in diesem Moment lieber weit weg von hier wäre. Irgendwo, wo sie nicht vor uns singen müsste. Ihre Knie zitterten und auch das Blatt in ihren Händen wurde durchgeschüttelt. Sie hielt den Blick strickt auf den Boden gerichtet und vermied jeglichen Blickkontakt, egal mit wem.
Mr. Brown fing an zu spielen und sie setzte mit dem Gesang ein. Die ersten Wörter waren so zaghaft, dass man sie kaum verstand. Doch dann wurde sie allmählich lauter und ihre Stimme gewann an Sicherheit.
Jetzt, da ich sie verstand, blieb mir die Luft weg. Ihre Stimme klang einzigartig, wie Engelsgesang, die schönste Symphonie, wie tausend Glöckchen. So gefühlvoll, so intensiv, so echt. Sie brachte die Emotionen so gut rüber, dass ich das Gefühl hatte, es wären ihre Erlebnisse von denen sie sang.
Ich konnte einfach nicht anders, als sie anzustarren. Sie strahlte nun solche Glückseligkeit, so eine Freude am Singen aus, dass sie auf mich Überschwang und ich wie gebannt war von ihr.
Eigentlich hatte sie mich schon vom ersten Tag, an dem wir uns gesehen hatten in ihren Bann gezogen, doch… Ich konnte es nicht erklären. Es war ein bisschen so, als wäre dies jetzt noch verstärkt worden. So, wie die Seefahrer früher von dem Sirenengesang angezogen wurden und sich nicht mehr von den Klängen befreien konnten war es, wenn Fay sang.
Die letzten Töne des Liedes waren gespielt, doch sie hallten noch lang in dem Zimmer nach. Ich war scheinbar nicht der Einzige, dem diese Gesangseinlage gefallen hat, denn im Raum war es Mucksmäuschenstill. Alle starrten Fay an und die sah dort Vorne etwas verloren aus. Ich hob und senkte ihren Blick im ständigen Wechsel und schielte gelegentlich zum Musiklehrer. Alle mussten das eben gehörte sacken lassen, doch ich hatte den Verdacht, dass dies Fay nicht bewusst war. Sie wollte wieder zu ihrem Platz gehen, als Mr. Brown anfing zu klatschen. Nach und nach vielen weitere Schüler mit ein, bis alle applaudierten.
Als das Klingeln zum Stundenende ertönte verschwand Fay so schnell aus dem Raum, dass ich mühe hatte meine Sachen so schnell in meinen Rucksack zu stopfen, sodass ich sie noch erwischen würde. Ich hetzte in den Flur und suchte ihn nach der Gestallt von Fay ab.
Am Ende des Ganges, bevor ein eine Linksbiegung hatte sah ich sie und rannte zu ihr.


* * *



Ich hörte Schritte in meinem Rücken und warf einen kurzen Blick zurück. Das Jason mich noch erwischen würde hatte ich mir fast denken können.
„Hey Fay, warte doch auf mich!“
Leicht genervt blieb ich stehen. Eigentlich wollte ich grade viel lieben allein sein, doch ich wusste, dass Jason es nur gut meinte.
„Was ist los? Wieso warst du so schnell weg?“ Er stand nun direkt vor mir und sah mich mit einem verständnislosen Blick an.
„Soll das etwa ein Scherz sein? Du warst doch auch dort drinnen.“, ich machte ein Geste in Richtung Musikraum, bevor ich weiter sprach, „Das war so unendlich peinlich.“ Ich barg mein Gesicht in meinen Händen und schüttelte meinen Kopf hin und her.
Jason legte seine Finger um meine Handgelenke und zog meine Hände von meinem Gesicht.
„Das war gar nicht peinlich. Das war alles andere als peinlich. Es war wunderschön, wie du gesungen hast!“
„Muntere mich nicht auf. Ich weiß das es grauenvoll war.“, murrte ich und ließ meinen Kopf an seine Schulter fallen.
„Das stimmt nicht! Du singst so gut!“, bei den letzten Worten hatte er mich an den Schultern gepackt und mich leicht geschüttelt. Ich ließ nur ein resignierendes Knurren von mir hören und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wieso hast du mir eigentlich nicht erzählt, dass du so gut singen kannst? Ich habe dir gesagt, dass ich mit meinem Bruder in einer Band spiele.“
Stimmt, das hatte er mir wirklich erzählt, aber es machte mich ein wenig wütend, dass er scheinbar nicht begriff, dass ich nicht fand, dass ich gut singen konnte.
„Ganz einfach: Weil ich nicht gut singen kann! Deswegen hab ich dir auch nicht erzählt, dass ich es könnte, denn es wäre eine Lüge gewesen.“
„Ich habe dir grade eben schon mal gesagt, dass das nicht der Fall ist. Fay, du bist begabt. Du solltest etwas daraus machen. Ich habe dir doch erzählt, dass unsere Band noch eine Sängerin sucht. Bis jetzt haben wir noch nicht die Passende gefunden, aber ich bin mir sicher, dass wenn die die Jungs hören dieses Problem gelöst sein wird.“
Ich spürte, wie du Wut in mir brodelte und immer größer wurde, doch ich wollte ihn auch nicht mit irgendwelchen dummen Worten verletzten, also probierte ich es ihm noch einmal klar zu machen: „Jason, ich will nicht in eurer Band singen. Ich finde nicht, dass ich das gut kann und außerdem würde mich so wie so nicht trauen, dazu ist mein Lampenfieber viel zu groß.“
„Ach, das gibt sich mit der Zeit. Bitte Fay, du kannst so gut singen. Ich glaube du bist eine der besten Sängerinnen, die ich je gehört habe. Wir brauchen dich.“
Das war der Moment, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich so wütend war, aber ich musste meiner Wut Luft machen.
„Gott Jason, bist du so Begriffsstutzig oder tust du nur so? Ich will nicht singen! Und schon gar nicht in einer Band vor Publikum. Verstehst du das denn nicht?“
„Nein, das tue ich nicht. Wenn jemand ein Talent hat sollte er doch etwas daraus machen, oder nicht?“
„Natürlich sollte derjenige das tun, wenn er wirklich ein Talent hat und das habe ich nicht.“
„Natürlich bist du begabt und hast Talent.“
„Jason, ICH WILL NICHT!“, schrie ich ihn an. Es reichte mir. Mit diesen Worten drehte ich mich um und verschwand, denn es war mir zu blöd geworden.
Ich hörte noch wie er mir nachrief: „Ich habe noch nie jemand so sturen gekannt wie dich!“
Der Junge verstand es einfach nicht. Er konnte nicht verstehen, dass ich angst davor hatte zu singen und dass ich auch nicht das Gefühl hatte gut singen zu können.
Ich lief schnell, weil ich so sauer war und somit hatte ich mein Schließfach bald erreicht.
Ich holte ein paar Bücher raus und warf achtlos meinen Musikhefter hinein. Dann schmiss ich die Tür mit einer Solchen wucht zu, dass sie die Schüler Rechts und Links von mir erschraken. Bridget kam zu mir und hatte natürlich alles mitbekommen.
„Hey, ist irgendetwas los?“
„Nein, alles in Ordnung.“, sagte ich, zugegebenermaßen ziemlich patzig, und lief weiter, auf den Weg zum Deutschraum.
„Entschuldige, dass ich nachgefragt habe.“, rief der zweite Mensch an diesem Tag mir beleidigte Worte nach.
Wenige Meter weiter lief ich Ryan auch über den Weg. Eigentlich gingen wir immer zusammen zur Deutschstunde, doch wie schon gesagt, ich wollte jetzt alleine sein.
Ich hatte das Gefühl, dass Ryan spürte das ich wütend war, denn er fragte schon ganz distanziert: „Möchtest du drüber reden oder lieber nicht?“
„Nein, will ich nicht.“, antwortete ich nur knapp und lief weiter.
Ich hatte das eigenartige Gefühl, dass ich nun der dritte Mensch an diesem Tag sauer auf mich war. Na super, Valentina Morris! Du hast es mal wider geschafft, dass alle Welt dich hasst! Ein bisschen kam es mir so vor, als würde es eine Fernbedienung mir der Aufschrift ‚Wenn man Fay quälen will bitte

hier drücken!’

geben, nur dass ich selbst diesen Knopf ständig betätigte und mir somit nur selbst Schaden zufügte. Ich hatte mir diesen ganzen Stress selbst eingebrockt. Warum war ich überhaupt so wütend geworden? Ich konnte es mir jetzt nicht mehr erklären.
Ich ließ mich auf meinen Sitzplatz im Deutschraum plumpsen und legte meinen Kopf auf die kühle Tischplatte.
‚Dumme, dumme, dumme Fay!’

, sagte ich mir immer wieder in meinen Gedanken, während ich meinen dicken Schäden immer wieder hob und ihn auf den Tisch fallen ließ.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die diese Geschichte bis hier hin verfolgt haben und die so lange auf die Fortsetzung warten mussten.

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