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3. Kapitel



Kurz nachdem die Tür ins Schloss gefallen war trällerte mir eine freundig-erregte Stimme entgegen.
„Hallochen. Uuuuund wie war dein Tag?“
Dank ihres echt coolen Berufs war Nora, wie nicht anders zu erwarten, zu Hause.
Sie war Modedesignerin und zwar eine wirklich gute. Wegen ihres Berufs waren wir auch umgezogen, sie hatte hier ein verdammt gutes Angebot bekommen und es angenommen. Das tolle an ihrem Job war, dass sie oft zu Hause arbeiten konnte und ab und zu auch mal das ein oder andere Stück für mich abfiel. Schon oft wurde ich angesprochen und gefragt wo ich denn das T-Shirt her hatte, das ich grade trug.
„Ganz okay. Nicht ganz so schlimm, wie ich es erwartet hatte.“
Ich ließ meine Tasche einfach unbeachtet liegen und ging ins Wohnzimmer, wo Nora grad über ihrem neusten Entwurf saß.
„Wie findest du das?“
Sie hockte im Schneidersitz auf dem hellen Parkettboden und hielt mir ein Blatt entgegen, auf dem ein knielanges Kleid gezeichnet war. Es hatte einen mit Rüschen besetzten Ausschnitt. Von der linken Schulter aus zogen sich Ranken und Schörkellinien in den verschiedensten Farben und eine von ihnen entfaltete sich in eine weiße Lilie, das Kleid an sich war schwarz und die Ärmel leicht gerafft.
„Es ist wirklich toll- wenn es in echt auch so gut aussieht hast du mal wieder eine hervorragende Leistung gebracht.“
Sie strahlte mir entgegen. Nora lag oft Wert auf meine Meinung, ich kann nicht sagen warum, aber scheinbar fühlte sie sich sicherer, wenn ich ihre Entwürfe gut finde oder Verbesserungsvorschläge mache. Sie sagte immer ich hätte einen guten Riecher, was den Leuten gefallen würde.
„Perfekt. So und nun erzähl doch mal wie das Alles heute gelaufen ist.“
Und das tat ich dann auch und da ich mich mit Nora so gut verstand, war es für mich auch kein Problem ihr auch von dem Jungen aus meinem Musikkurs zu erzählen und das, was Bridget mir berichtet hatte.
„Danach waren wir in die Cafeteria gegangen- es war wirklich grauenvoll! Die Augen der Schüler hatten die ganz Zeit förmlich an mir geklebt. Nachdem wir uns das Essen geholt hatten- das übrigens gar nicht schlecht war- hatte Bridget mich mit ihren Freunden bekannt gemacht. Sie waren wirklich sehr nett und ich denke wir werden uns gut verstehen. Der Rest des Tages verlief ganz ruhig. Noch ein paar Stunden und ein paar Fragen, die ich beantworten sollte, ein paar neue Leute und immer Ein oder Zwei, die sich trauten und mich ansprachen und das war’s dann auch schon. So und jetzt sitze ich hier mit dir.“
„Also hat dir der Weg hierher auch keine Schwierigkeiten bereitet.“
Es war keine Frage, es war ja schließlich offensichtlich, dass ich ihn ohne große Probleme bewältigt hatte.
„Nein, ich habe mich noch nicht mal verlaufen oder musste nach dem Weg fragen. Die meisten meiner Mitschüler fahren jedoch mit dem Auto. Da ich ja schon sechzehn bin dürfte ich meinen Führerschein auch schon machen… Also, darf ich?“
„Klar, bestimmt. Wir müssen deinen Vater nur noch davon überzeugen- ich bin mir nicht so sicher ob er es verkraften, dass sein kleine Mädchen so schnell groß wird.“
Wir brachen beide in Gelächter aus.
„Aber ich denke wenn er es herauszögern will werden wir schon Wege finden ihn umzustimmen.“
Nora zwinkerte mir verschwörerisch zu.
Ich schenkte ihr ein strahlendes Lächeln sprang auf, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und dankte Gott nochmals dafür, dass er mir eine so coole Stiefmutter geschenkt hatte.
Nachdem ich meine Hausaufgaben erledigt hatte schaltete ich den Computer ein- ich hatte schließlich das Versprechen abgegeben mich nach dem heutigen Tag zu melden.
Ganz automatisch schaltete ich im Hintergrund den Media Player mit meiner Lieblingswiedergabeliste und fing an zu schreiben. Die Nachricht an meine Mutter ging relativ schnell. Ich berichtete die Ereignisse der letzten Tage kurz und knapp und erwähnte meine Träume vorsichtshalber nicht, da ich sie nicht unnötig beunruhigen wollte. Meine Ma war zwar nicht die Sorte Mutter, die bei einer Verspätung von fünf Minuten aus Angst die Polizei rief, aber auch nicht so eine die sich keine Sorgen um ihr Kind machte und wenn sie erfahren würde, dass ich in den letzten drei Nächten höchstens sechs Stunden Schlaf bekommen hatte würde sofort ein Anruf bei meinem Vater folgen, der mir dann nur unnötig auf meine ohne hin schon blank liegenden Nerven fallen würde und das konnte ich jetzt wirklich nicht auch noch verkraften. Dann schrieb ich an Jill.

Jill,
wie versprochen schreibe ich dir nach meinem ersten Schultag (Ich wär’ ja auch doof wenn ich es nicht täte, mit wem sollte ich denn sonst über alles reden?).
Ich weiß nicht genau wie ich diesen Tag abschließend betrachten soll.
Eigentlich ist größtenteils alles gut verlaufen, ich bin nicht ausversehen auf die Jungstoilette gegangen und habe auch nicht aus Dussligkeit jemanden als hässlichen, fetten Sack bezeichnet, weil ich mich ohne Absicht mit einem falschen Wort ausgedrückt habe… Und doch kann ich auch nicht sagen das es ein erfolgreicher Tag war, auch wenn mir ein riesiger Felsbrocken, ach was sag ich- eine ganze Klippe- vom Herzen gefallen ist.
Mit der Verständigung hat es viel besser geklappt als erwartet- und soll ich dir etwas Erstaunliches sagen: Ich wusste auf einmal Wörter, von denen ich noch nicht mal wusste das sie existieren. Ich sag dir das war echt unheimlich.
Ich fühle mich hier so verloren und unvollkommen ohne dich- ich vermisse dich so!

Ich musste eine kurze Pause machen, denn bis ich die Worte geschrieben hatte waren sie mir noch nicht so schmerzlich bewusst gewesen und als ich sie auf dem Bildschirm gestallt annahmen sah wurde mir nochmals richtig bewusst wie sehr mir Jill, meine Mutter und alle Anderen doch fehlten. Durch diese erneute Erkenntnis stießen mir, wie so oft in letzter Zeit, die Tränen in die Augen und mein Computer verschwamm vor mir. Ich braute einige Zeit bis ich mich so weit gefasst hatte, dass ich weiter schreiben konnte.

Falls es dich beruhigen sollte, ich habe hier auch schon ein paar Leute kennengelernt- ein nettes Mädchen, sie heißt Bridget. Mit ihr habe ich ein paar Stunden zusammen und ich war auch mit ihr beim Mittag. Sie und ihre Freunde sind bis jetzt wirklich freundlich.
Und du wirst es nicht glauben, aber hier gibt es doch tatsächlich eine „coole Clique“ und in der Cafeteria gibt es auch bestimmte Tische, an denen zum Beispiel „die Coolen“, die Cheerleader und die Künstler sitzen. Klar, es gibt auch normal, wie Bridget und ihre Freunde, aber trotzdem komme ich mir vor als wäre ich in irgendeiner Teenieserie gelandet.
Zu den Coolen zählen- was für ein Wunder- die meisten „Topmodels“ der Schule. Viele Cheerleader, eine Lindsay (es würde mich nicht wundern, wenn sie auch ein Cheerleader wäre), ein paar echt gut aussehende Rugby-Spieler, zwei Jungs- sie heißen Jason und Ryan und sind Zwillinge (ich kann durchaus verstehen warum die Beiden Mädchenschwärme sind!) und Jason und Lindsay sind- du wirst es nicht erraten- zusammen. Das war ja so klar- Elite-Mädchen sucht sich heißen Typen.
Ach so und Nora will mir helfen meinen Dad zu überreden, dass ich Fahrstunden nehmen darf. Ich bin schon so aufgeregt, dann kann ich ehr fahren als du. (-:
Du musst mich unbedingt bald besuchen kommen!
Tausend Küsschen und Umarmungen,
Fay


Als ich die E-Mail abgeschickt hatte starrte ich noch lange vor mich hin. Im Hintergrund dudelte leise die Musik und als eines der Lieder kam, die ich mit meiner alten Tanzgruppe getanzt hatte stand ich wie völlig von allein auf und ging in meinen Kleiderschrank, stellte mich vor den Spiegel und begann zu tanzen.
Es hatte mir schon immer geholfen mich zu Musik zu bewegen, dabei konnte ich Zeit und Raum vergessen und meine Gedanken waren wie auf Eis gelegt. Ich liebte das Gefühl, dass es bei mir auslöste- Freiheit, das Wissen meinen Körper beherrschen zu können, Gelassenheit und unendliches Glück. Ich merkte gar nicht, dass das Lied vorbei war. Meine Bewegungen passten sich einfach der Musik an, ich ließ mich jetzt von ihr leiten und tanzte nicht mehr nach eine Choreografie.
Ich bemerkte nicht mal, dass mein Vater im Türrahmen stand, bis er ein leises Räuspern von sich gab und ich vor Schreck zusammen zuckte.
„Ich unterbreche dich ja nur sehr ungern mein Schatz, aber ich wollte mich mal nach deinem Tag erkundigen.“
Ich seufzte. Ich empfand immer etwas Scham, wenn mir jemand beim Tanzen zusah, genauso war es auch beim Singen und bei anderen diversen Dingen, ich konnte einfach nichts dagegen tun.
Wir setzten uns auf mein Bett und ich begann die gesamte Geschichte erneut herunter zu rasseln.
Hier und da nickte oder seufzte mein Dad und streichelte mir abwechselnd mit einem Finger über Arm oder Wange.
Wir sprachen auch über meine gewünschten Fahrstunden und zu einer Überraschung war er einverstanden, ja sogar regelrecht begeistert von der Idee.
Und dann fing er zu meinem Leidwesen an von meiner Tanzerei zu reden.
„Du weist gar nicht wie wundervoll du tanzen kannst, oder?“
Ich machte ein gequältes Gesicht.
„Nein Dad, dessen bin ich mir nicht bewusst.“
„Wir- also deine Mutter und ich- bemerkten es schon sehr früh. Schon als du noch ganz klein warst und grade erst angefangen hast zu laufen bewegtest du dich schon zur Musik. Sobald du eine Melodie gehört hast die dir gefallen hat fingst du an hin und her zu wippen. Als du vier warst und sich dies nicht geändert hatte- im Gegenteil es wurde immer ausgeprägter- schickten wir dich dann zu deinen ersten Ballettstunden.“
Ich lag mit meinem Kopf in seinem Schoß und hörte das Lächeln in seiner Stimme.
An meine erste Ballettstunde konnte ich mich noch ganz genau erinnern. Ich war so aufgeregt, dass ich fast den ganzen Tag nichts gegessen hatte (eine schlechte Eigenschaft von mir, ich konnte nie etwas essen wenn ich Aufgeregt war oder einen überdurchschnittlichen Adrenalinausstoß hatte, da wurde mir immer schlecht).
Ich war schon nach wenigen Wochen eine der besten aus meiner Klasse- zumindest nach meiner Lehrerin- und nach einigen Jahren war ich der Ansicht, dass ich weitgehend alles beherrschte und mal was Neues ausprobieren sollte. Und so kam ich mit zehn Jahren zu meiner Tanzgruppe, in der ich bis vor wenigen Tagen auch noch war.
Ich wurde aus meinen Gedankengängen gerissen, als mein Dad weiter sprach. Anscheinend hatte er sich bis eben auch in seinen Erinnerungen an vergangene Zeiten verloren.
„Beim singen war es fast genauso. Wir bekamen es aber erst reichlich spät mit, da du dich lange Zeit immer vor uns versteckt hattest.“
Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Da hatte er recht. Gesungen hatte ich auch schon immer gerne, doch nur wenn ich alleine war. Bis ich zwölf war hatte ich mich, wie es mein Vater so schön ausdrückte, immer vor ihnen versteckt. Eines Nachmittags hatte ich während der Hausaufgaben die Musik laut gedreht und mitgesungen. Nora kam jedoch früher nach Hause und bekam die ganze Sache mit. Sie erzählte es meinem Dad und von da an ging ich- jedoch freiwillig und mit großer und wachsender Begeisterung- in den Schulchor. Gegen Gesangsunterricht hatte ich mich strickt geweigert- aus welchem Grund wusste ich nicht mehr- doch Nora, mein Dad und meine Mom wollte mein Talent auch nicht unbeachtet lassen und so einigten wir uns auf den Chor.
„Weißt du eigentlich warum wir dich schon immer Fay nannten?“
Ich sah von unten auf das lächelnde Gesicht meines Vaters, es lag meist ein Lächeln auf seinen Lippen wenn er in alten Zeiten schwelgt.
„Ich schätze mal weil ihr diesen Spitznamen mögt.“
„Ja, das auch. Es gibt aber noch einen anderen Grund. Du weißt warum wir in genau dieses Haus gezogen sind?“
„Weil ihr euch in das Haus verliebt habt?“
„Dieses Haus habe ich schon immer geliebt- ich habe hier meine Kindheit verbracht.“
Ich sah ihn ungläubig an und zog eine Augenbraue hoch.
„Ja? Ehrlich? Das wusste ich ja gar nicht. Also ist dies das Haus in dem Grandma früher gewohnt hat?“
„Ja, ganz genau.“
Mein Dad ist in den USA geboren und hat auch hier seine gesamte Kindheit und Jugend verbracht. Irgendwann lernte er auf einer Reise in Deutschland meine Ma kennen. Sie sagte früher immer es war Liebe auf den ersten Blick. Ich musste lächeln als ich daran dachte. Sie schienen in ihren ersten Jahren wirklich die glücklichsten Menschen auf der Erde zu sein. Drei Jahre später heirateten sie und noch ein Jahr darauf wurde meine Mutter mit mir schwanger. Sie sagt immer, dass der Augenblick, als ihr der Schwangerschaftstest anzeigte, dass sie bald ein Baby hätte der schönste in ihrem Leben gewesen sein. Doch leider hielt ihr Glück nicht alt so lange an. Als ich fünf war trennten sich meine Eltern. Ich kann mich fast nicht mehr daran erinnern- hier stimmt scheinbar der Satz „Schlimme Dinge verdrängt der Mensch“. Wenn ich daran denke sehe ich immer nur ein Bild vor mir: Ich, im Ehebett meiner Eltern, am linken Rand festgeklemmt, weinend. Ich kann mich auch noch blass daran erinnern, wie sie es mir gesagt hatten, aber nur sehr dunkel und lückenhaft. Es war an einem Abend. Ich bekam mit das irgendetwas nicht stimmte und stellte meine Eltern zur Rede. Mein Vater wollte schon anfangen mir alles zu erzählen, als meine Mutter sagte: „Nicht jetzt. Das ist nicht der passende Zeitpunkt. Sie will doch jetzt ins Bett.“
Doch ich beharrte darauf zu erfahren was passiert ist und so sagten mir meine Eltern, dass sie sich trennen wollten. Sie nahmen mich in den Arm, trösteten mich. An den Rest kann ich mich nicht mehr erinnern und wenn ich es versuch sehe ich mich immer weinend im Bett meiner Eltern. Ich kann es mir nicht erklären. Ich weiß nicht ob ich in ihr Schlafzimmer gegangen bin. Ich kann auch nicht mehr den Schmerz des Augenblicks spüren. Ich sehe mich immer von oben, blicke auf mich selbst herab.
Meine Grandma zog mir Dad zusammen nach Deutschland. Ich wusste immer, dass sie aus Amerika kamen. Ich bin nicht direkt Zweisprachig aufgewachsen. Dad und Grandma konnten beide gut Deutsch. Aus welchem Grund sie so selten Englisch mit mir gesprochen haben weiß ich auch nicht. Sie ist wieder nach Amerika gezogen als ich Zehn war und vor ein paar Jahren gestorben. Ich leide darunter, dass ich sie vor ihrem Tot nicht noch mal gesehen habe und auch, dass ich sie nie hier besucht habe. Man sollte doch eigentlich das Haus seiner Großeltern kennen, ich habe es noch nicht einmal gewusst als wir in es gezogen sind.
Ich hatte das eigenartige Gefühl das ich dieses Haus jetzt noch mehr mochte.
Und schon wieder wurde ich durch die Stimme meines Vaters aus meinen Gedanken gerissen.
„Weißt du, du erinnerst mich an sie. Du ähnelst ihr sehr. Sogar mehr als du denkst…“
Den letzten Satz murmelte er nur. Er irritierte mich, doch mir blieb nicht lange Zeit um weiter darüber zu grübeln, wie er das gemeint haben könnte, denn er redete weiter.
„Sie hatte auch solche langen blonden Haare wie du und das gleiche mitreißende Lachen. Auch ihre Augen strahlten einem immer förmlich entgegen.“ Er stupste mir mit einem Finger auf die Nasenspitze und lächelte mich an. „Deine Grandma hatte auch eine so offene und freundliche Art, jeder mochte sie. Doch sie war nicht so direkt und vorlaut wie du.“ Mein Paps grinste mich an und ich schnitt eine Grimasse. Das meine Oma beliebt war wusste ich und konnte es voll und ganz nachvollziehen. Sie war immer herzlich und hilfsbereit. Meine Freundinnen beneideten mich oft um sie.
„Sie war etwas ganz Besonderes und du bist es auch mein Schatz. Ich lass dich dann jetzt auch mal wieder alleine, du hast bestimmt noch eine Menge zu tun.“
„Danke Dad. Ich hab dich lieb.“
„Ich dich auch mein Engel.“
Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und schloss beim Gehen leise meine Zimmertür.
Mittlerweile war es draußen dunkel. Ich ging zu dem Fenster rechts neben meinem Bett- das größte- und öffnete es. Es war eine sternenklare Nacht. Ich setzte mich auf das Fensterbrett und drehte mich so, dass meine Füße nach draußen baumelten. Es war nicht sehr kalt, wie man es zu dieser Jahreszeit erwartet, sondern mild. Die Musik dudelte noch immer leise im Hintergrund. Gedankenverloren griff ich nach einer Haarsträhne und musste seufzen- schon wieder eine Vollmondnacht. Ich betrachtete das Funkeln und Glitzern meiner Haare, sie schimmerten wie Gold, in das man Dutzende von Diamanten gestreut hat. Das passierte nur im Vollmondlicht. Erklären konnte ich es mir noch nie. Ich wuchs mit der Versicherung auf, dass es nichts Schlimmes sei, ich es aber lieber nicht den anderen Kindern zeigen sollte, denn sie hätten so etwas nicht und es könnte sie verschrecken. Auf meine Fragen warum ich das hatte bekam ich nur kryptische Antworten, nichts was mir wirklich weitergeholfen hätte. Irgendwann hatte ich es aufgegeben sie danach zu fragen, denn es brachte nichts. Ich probierte es auch auf eigene Faust und auch mit Jill- denn sie war die Einzige, der ich mich je anvertraut hatte- doch wir fanden nie etwas heraus. Und so musste ich lernen aufzupassen, dass mich nie jemand uneingeweihtes im Vollmondlicht zu sehen bekam und mich mit der Tatsache zurrecht zu finden, dass ich anders war- ein Freak. Ich fühlte mich dadurch schon immer unvollkommen und konnte meine Eltern auch nie verstehen. Warum sagten sie mir nicht was los war mit mir? Wollten sie mich etwa schützen- vor mir selbst? Oder wussten sie es selbst nicht und hatten angst vor der Wahrheit? Ich konnte es mir einfach nicht erklären. Es machte mich wütend darüber zu grübeln und auch traurig.
Ich ließ die Strähne fallen, so als wäre ich von ihr angewidert. Dann sprang ich von meinem Platz am Fenster auf und schaltete die Musik schnell aus. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon längst Zeit zum Essen war. Gerade in dem Moment, in dem ich es dachte rief mich Nora von unten schon zum Abendbrot.
Heute aßen wir verhältnismäßig schnell. Normalerweise dauerte jede Mahlzeit um die dreiviertel Stunde bei uns, doch heute schien jeder schnell wieder zu seinen eigenen Aufgaben zurückkehren zu wollen.

Diese Nacht war nicht so nervenaufreibend wie die zuvor. Ich träumte zwar wieder ungefähr das gleiche, doch diesmal war es etwas anders. Ich schrak nicht schweißgebadet, mitten in der Nacht auf, ich schlief durch und das war ein ausgesprochen gutes Gefühl. Das nervtötende Piep-Piep

meines Weckers hatte mich an diesem Morgen geweckt.
Erschreckender weise hatte ich vor meinem zweiten Schultag noch immer viel Angst. Zwar nicht mehr ganz so große, aber doch noch genug, dass ich hätte anfangen können zu zittern.
Bei der Schule angekommen sprang ich schnell aus dem Auto. Heute hatte mein Vater mich gebracht- ich winkte ihm zum abschied noch schnell zu, drehte ihm dann den Rücken zu um auf den Eingang zuzugehen.
Den Parkplatz hatte etwas von einer Autobahn, die man überqueren musste. Ich musste höllisch aufpassen, dass mich keiner erwischte.
Ich lief gerade an einem schwarzen Wagen vorbei, als mich jemand an der Schulter packte und von meinem Weg riss. Erschrocken taumelte ich wenige Schritte zurück und blickte hinauf zu Bridget.
„Hi. Und wie geht es dir heute? Immer noch alles so neu?“
„Hey. Na du bist gut, als würde ich mich durch nur einen einzigen Tag hier so gut auskennen, wie in meine Westentasche…“
Bridget sah mich verdutzt an.
„Was? Wie in deiner Westentasche?“ Sie grinste und fing kurz darauf an lauthals zu Lachen.
„Lach nicht! Sagt man das bei euch nicht so?“
Ich hatte das eigenartige Gefühl, dass ich auf meine Frage heute keine Antwort mehr bekäme, denn Bridget lachte immer noch.
„Na, ist ja auch egal.“
„Du trägst ja noch nicht mal eine Weste, geschweige denn eine mit Taschen.“
„Wer macht das heute schon noch? Das hat man vielleicht in den 90-ern gemacht…“
Sie hackte sich bei mir unter und lachend und plappernd schlenderten wir in Richtung Gebäude. Wir hatten in der ersten Stunde beide Mathe. Der Unterricht fand in einem andern Gebäude statt. Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich glaube es war Haus fünf…

Die Klingel läutete und ich war heilfroh es endlich hinter mir zu haben! Ich war noch nie eine Leuchte in Mathe gewesen und würde es auch nie sein. Erschwerend kam auch noch hinzu, dass hier zurzeit ein völlig anderes Themengebiet durchgenommen wurde, als bei uns.
Ich kramte in meiner Tasche- ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich als nächstes hatte, also brauchte ich dringend meinen Stundenplan! Doch der Zettel, den mir die Sekretärin gestern überreicht hatte war einfach nicht zu finden, also ging ich mit Bridget die Fächer durch, die ich gewählt hatte. Schließlich, nach Zehn Minuten des scheinbar nicht endenden Herunterrasselns meiner Fächer, fanden wir heraus, dass ich jetzt zum Kunstkurs musste.
Sie beschrieb mir den Weg zum Kunstsaal kurz, aber verständlich und wir beide sprinteten in die entgegen gesetzten Richtungen los. Ich hatte nicht mehr viel Zeit, der Kurs würde bald beginnen. Mit dem Klingelzeichen betrat ich den Raum, doch ich kam nicht sehr weit. Im Türrahmen blieb ich wie angewurzelt stehen. Es war ein kleiner Schock für mich, den Vergleich wischen dem Kunstraum hier und den in meiner alten Heimat zu ziehen.
Überall standen in leicht gebogenen Reihen Staffeleien. An den Wänden waren auf Tischen begonnene und schon fertig gestellte Skulpturen, Plastiken und Töpfereien und an den Wänden hangen einige Bilder von Schülern. Doch was meine volle Aufmerksamkeit auf sich zog, war die Decke. Man hatte scheinbar einem Kurs erlaub sie zu bemalen- es sah aus wie ein Traumbild, inspiriert von Alice im Wunderland. Es waren frohe, kräftige Farben, die verworrenen Mustern Leben einhauchten. Lila blühende Bäume, Blumen in allen Farben, ein Regenbogen, ein Weg, Tiere und Fabelwesen, Früchte und das alles in einem riesigen Kopf, der scheinbar die Erde für diese kleine, harmonische Welt darstellte.
Zu spät bemerkte ich, dass ich von allen angestarrt wurde, einschließlich der Lehrerin.
Schnell ging ich an eine freie Staffelei- die einzig übrige.
Die Lehrerin sah mich noch immer an.
„Du musst dann wohl Valentina sein. Es ist ein wirklich schönes und faszinierendes Werk nicht? Es ist von ein paar meiner besten Schüler.“
Ich senkte meinen Kopf und lief leicht rot an, weil mir das Alles ein wenig peinlich war.
„Ja, es ist wunderschön.“
Ich sah mich noch mal mit einem durchdringenden, jedoch etwas eigenartigen Blick an und begann dann mit dem Unterricht. Wir sollten die enge Bindung zwischen zwei Menschen ausdrücken, ob es nun Liebe oder Freundschaft ist sei uns überlassen. Wir durften auch entscheiden wie wir sie darstellten, es durfte alles sein: eine Collage, ein Bild, eine Skulptur,…
Ich entschied mich für ein Aquarellbild. Doch was sollte ich darstellen- Lieb oder Freundschaft oder doch eine andere Art von enger Bindung zwischen zwei Menschen? Und wodurch sollte ich es verkörpern? Die einzige Bedingung war nämlich, dass wir keine Menschen in unser Werk bringen durften.
Die Stunde verging unter meiner Grübelei recht schnell. Am Ende packte ich mein Zeug zusammen und verließ den Raum.
Schon wieder wurde ich auf die Schulter getippt. Ständig machen sie so was. Entweder stoße ich mit Menschen zusammen oder werde einfach weggerissen oder man tippt mich auf die Schulter. Kann mich denn keiner ganz normal

ansprechen, ganz klassisch?
„Hey Prinzessin. Du hast was verloren.“
Mit einem Ruck drehte ich mich um. Nur mit mühe konnte ich ein Lachen verhindern.
Ryan Thomson stand mit einem selbstgefälligen Lächeln vor mir und hielt mir einen Zettel entgegen- meinen Stundenplan. Wo kam der denn plötzlich her? Ich hatte doch überall gesucht, oder nicht? Beim Anblick seines Lächelns war meins im Keim erstickt worden und ich war aus einem unbegreiflichen Grund wütend.
„Das glaub ich ja jetzt nicht.“, es klang spöttisch, was es eigentlich nicht sollte.
Es sah mich verständnislos an.
„Hast du mich grad ernsthaft Prinzessin

genannt? So nennt man doch nur Fünfjährige und noch nicht mal da hat mich irgendjemand so genannt. Mir hat man zwar gesagt du seiest ein Mädchenschwarm, doch bei solchen Sprüchen wäre ich mir da nicht so ganz sicher.“
Sein Mund war ihm aufgeklappt- er war völlig Baff. Scheinbar war es eine neue Erfahrung für hin das von einem Mädchen direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen.
Manchmal hasste ich mich für die Eigenschaft immer so direkt seien zu müssen, doch stoppen konnte ich es auch nicht, es platzte einfach so aus mir heraus.
Klar, er war schon sehr hübsch- aus der nähe sogar noch mehr, als von weiter weg- doch mit seiner selbstgefälligen Machoart schlug er mich dich ehr in die Flucht.
Es war sehr groß und schlank, sehr muskulös. Seine saphierbauen Augen leuchteten mir mittlerweile belustigt entgegen. Es setzte ein schiefes Grinsen auf und führ sich mir den langen Fingern seiner linken Hand durch seine strohblonde Wuschelmähne. Er hatte eine gerade Nase- es war eine Stupsnase, doch nicht so rund und feminin, wie die meisten, ehr etwas kantiger, männlicher. Es hatte einladende Lippen und doch nicht so einladende wie sein Bruder. Seine Haut war leicht gebräunt und hatte einen Gelbstich.
Wir standen uns noch immer gegenüber und starrten uns an. Es hatte etwas von einem Blickduell und doch merkte man, dass wir uns gegenseitig musterten. Abermals raufte er sich durch die Haare, doch er hatte sein Selbstbewusstsein wiedergewonnen.
„Also das hat mir wirklich noch keiner gesagt und schon gar nicht ein Mädchen von der Sorte, die sich sonst immer an meinen Hals werfen.“
Es grinste verschmitzt. Ich war etwas geplättet von seiner Ehrlichkeit in wie offen er mit seinem Image umging.
„Tja, man lernt halt nie aus.“
Ich nahm ihm das Blatt aus der Hand und setzte ein zuckersüßes Lächeln auf.
„Ich verzeihe dir aber und danke für meinen Stundenplan.“
Ich drehte mich um und ging los, als er mich noch etwas hinterher rief.
„Hey, warte mal!“
Ich drehte mich noch im laufen zu Ryan um, verlangsamte lediglich mein Tempo ein wenig.
„Hättest du nicht Lust mal was mit mir zu machen, mich wieder zu sehen?“, sagte er ironisch.
„Ich denke wir werden uns schon noch oft genug begegnen- spätestens nächste Kunststunde.“
Er sah mich an, ich drehte mich um und ging weiter. Ich konnte deutlich seinen Blick in meinem Rücken brennen spüren und die aller Anderen, die ich dank dieser kleinen Absage nun wieder auf mich gezogen hatte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.05.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Kapitel widme ich meiner verstorbenen Oma, die auch mich lehrte an mich zu glauben und dafür, dass sie immer probiert hat mich zu erziehen,es jedoch nie so ganz geschafft hat. Und weil ich sie noch immer abgöttisch liebe, bewundere und vermisse.

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