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Die alte Frau setzte mühsam einen Fuß vor den anderen. Der Weg war recht steil und sie spürte die Anstrengung die sie der Aufstieg kostete bei jedem Tritt.
Aber sie würde es schaffen, so wie sie es schon unzählige Male geschafft hatte. Es war ihr Weg, der Weg den sie in den vergangenen Jahren wieder und wieder gegangen war.
Sie mußte einfach dort hinauf, es war ihr erster Gedanke gewesen als sie heute morgen nach einer ruhelosen Nacht aufgewacht war. Alles andere würde sich dann schon ergeben.
Wie von einer inneren Macht getrieben lief sie weiter und erreichte außer Atem und mit letzter Kraft die verwitterte alte Bank, die am Rand der steilen Klippe stand.
Seufzend ließ sie sich nieder und faltete ihre Hände im Schoß.
Langsam beruhigten sich ihre Atemzüge wieder und ihr Blick schweifte über den Felsvorsprung zum Meer hinab.
Heute war es sehr unruhig, die Wellen kräuselten sich mit weißen Schaumkronen und schlugen krachend an das steinige Ufer.
Wie viele Male hatte sie schon hier gesessen, auf den Horizont geschaut und über ihr Leben nachgedacht.
Während in der Ferne ein Schiff auf seinem Kurs das Wasser durchpflügte sah sie sich das erste Mal den kleinen Pfad zu ihrem Aussichtsplatz erklimmen.
Wie jung war sie damals gewesen, wie schwungvoll ihr Schritt, wie übervoll ihr Herz.
Das war der Tag an dem sie ihren Mann zum ersten Mal gesehen hatte. Von weitem hatte sie den Einzug der schmucken Soldaten in ihren gestärkten Uniformen beobachtet.
Kichernd hatte sie mit ihrer Freundin am Straßenrand gestanden und hatte den jungen Männern zugelächelt, die gekommen waren um ihr Land von der Unterdrückung zu befreien.
Der in der ersten Reihe hatte ihr diesen langen heißen Blick zugeworfen, der ihr Herz augenblicklich zum schnelleren Schlagen gebracht hatte.
" Schau doch " hatte sie ihrer Freundin zugeraunt, " ich glaube ich bin verliebt".
Ihre Freundin hatte sich köstlich amüsiert und sie eine Träumerin genannt.
Aber Jahre später, wenn sie darüber redeten, sagte sie immer wieder das ihr schon beim ersten Anblick klar gewesen war das es er und kein anderer sein würde, dem sie ihr Herz schenken wollte.

Nachdem die Truppe auf dem Weg zur Unterkunft aus ihrem Blickfeld verschwunden war hatte sie sich von ihrer Freundin verabschiedet und war auf der Suche nach Einsamkeit hier herauf gelaufen. Obwohl sie schon fast drei Monate in dem kleinen Dorf am Meer lebte und hier auch eine Arbeit in der nahe gelegenen Fabrik gefunden hatte war sie bisher doch noch nie hier oben gewesen.
Was für ein wunderbarer Ort, fern von den Blicken der Dorfbewohner, nur sie und die Aussicht auf einen schier endlosen Horizont.
Während die Wellen unter ihr rauschten und die Seevögel kreischen in die Wogen stürtzen saß sie hier und träumte von einer glücklichen Zukunft, in der ein dunkelhaariger junger Mann eine nicht unwesentliche Rolle spielte.
Und dann war ihr Traum in Erfüllung gegangen. Eine Woche war der monatliche Tanz im Dorfgasthof gewesen. Voller Vorfreude war sie mit ihrer Freundin durch die Tür getreten und hatte ihn sogleich erspäht. Anfangs tauschten sie nur einige schüchterne Blicke, später nahm er seinen ganzen Mut zusammen und forderte sie zu einem Tanz auf.
Wie auf Wolken war sie damals in seinen Armen über die Tanzfläche geschwebt, ihr grünes Seidenkleid wirbelte beschwingt um ihre Beine.
Auf dem Heimweg bat er sie um ein Wiedersehen und wenn auch der erhoffte Kuss an diesem Abend ausblieb, so träumte sie doch die ganze Nacht und die Tage bis zum nächsten Treffen nur von ihm.
Sie feierten im darauf folgenden Juni Hochzeit, kein großes Fest, nur sie und die Trauzeugen. Die Zeiten waren hart und das Geld für eine ausgelassene Feier hatten sie nicht. Dennoch war es der schönste Tag ihres Lebens gewesen und nach der Trauung war sie gemeinsam mit ihrem Ehemann hier heraufgekommen und genau hier an dieser Stelle hatten sie sich geschworen das nichts und niemand sie jemals trennen würde.
Und doch war es anders gekommen. Nichts ist für die Ewigkeit, egal wie sehr sie es sich auch gewünscht hatten.
Der Krieg hatte ihn ihr das erste Mal genommen. Monatelang war er verschollen gewesen und kaum jemand hatte noch Hoffnung das er jemals wiederkehren würde.
Aber sie wusste das er zurückkommt. Unerschütterlich glaubte sie daran das es nicht sein konnte das er so einfach von ihr ging. Jeden Abend nach der Arbeit stieg sie den steilen Pfad an der Kippe hinauf und setzte sich auf ihre Bank. Während sie über das graue Meer blickte wusste sie ganz fest im Inneren das er wieder kommen würde. Und das tat er dann auch - er kam zu ihr zurück. Auch wenn er jetzt nicht mehr der sorglose junge Draufgänger war, den sie kennen und lieben gelernt hatte, so war er doch wieder bei ihr und das war alles was zählte.
Viele Jahre später wurde er krank, eine Krankheit von der er sich nie erholte.
Wind kam auf und die alte Frau zog das Wolltuch, das sie um ihre Schultern geschlungen hatte, ein wenig fester an ihren Körper. Sie wollte noch nicht zurück gehen, sie wollte hier bleiben und noch ein wenig in den Erinnerungen schwelgen. Zu Hause erwartete sie nicht als Einsamkeit.
Er war im letzten Herbst gestorben, hatte sie nach so vielen glücklichen Jahren allein gelassen. Es gab Tage an dem sie es ihm regelrecht übel nahm das er als erster gegangen war, auch wenn sie wusste das diese Gedanken ungerecht und unsinnig waren.
Aber die vielen gemeinsamen Jahre hatten eine Leere hinterlassen die sie manchmal kaum noch ertragen konnte.
Als das Licht lange Schatten auf die Klippen warf und die Nacht über den Horizont hereinbrach stand sie auf. Langsam ging sie bis an den Rand des steilen Abhangs und blickte hinunter in das tosende Meer zu ihren Füßen.
Eine Träne rollte langsam über ihre faltige Wange und in ihrem Inneren wisperte die Stimme, die sie schon so oft gehört hatte wenn sie hier oben stand: " Nur ein Schritt..."

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Tag der Veröffentlichung: 10.12.2010

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