von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht Taschenbuchseiten.
Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.
Gesamtumfang: 557 Taschenbuchseiten
Dieses Buch enthält folgende Krimis:
Abendessen mit Konversation
Kubinke und die Katze
Ein Fall für den Norden
Tod in Tanger
Die programmierten Todesboten
Mörderpost
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
Kurz-Krimi von Alfred Bekker
Ein CassiopeiaPress Buch
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© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Es ist eine traurige Sache.
Warum bleiben sie nicht?
Warum erschrecken sie, wenn sie das Haus betreten? Weshalb beklagen sie alle sich über einen bestimmten Geruch, von dem sie nicht sagen können, wodurch er verursacht wird?
Sie wollen nicht bleiben und mit mir reden.
Ich weiß nicht warum.
Ist es zuviel, was ich verlange?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Und doch, es ist immer dasselbe. Sie wollen nicht bleiben. Ich kann von Glück sagen, wenn sie sich wenigstens mit mir an den gedeckten Tisch setzen.
Ich zünde die Kerzen an.
Der Schein des Lichts fällt auf ihre ebenmäßigen Züge und taucht sie in ein diffuses Licht.
Ich konnte sie nicht gehen lassen.
Ich konnte einfach nicht.
"Sie wollen wirklich schon gehen?"
Ihr Gesicht wirkt verlegen.
"Ja."
"Aber..."
"Ich muss mich auf den Weg machen. Verstehen Sie mich doch, es ist höchste Zeit..."
"Ich habe den Tisch gedeckt!"
"Hören Sie, ich will Sie nicht kränken, aber..."
"Aber?"
"Ich weiß nicht, ob es richtig war, Ihre Einladung anzunehmen... Was ich sagen will ist..."
"Sie können mir das nicht antun! Ich habe für Sie gekocht!"
"Das ist sehr nett, aber - "
"Alles ist vorbereitet... "
Sie runzelt genau in diesem Moment die Stirn.
"Vorbereitet?"
Viele von ihnen haben genau in diesem Moment die Stirn gerunzelt.
Ich kann es unmöglich erklären, aber es ist so.
Ich habe kein gutes Gefühl.
"Es gibt Lachs in Kräuterbutter. Dazu einen guten Wein. Es wird Ihnen schmecken..."
Ich habe etwas Scheußliches getan.
Naja, das haben die meisten vielleicht irgendwann schonmal in ihrem Leben. Aber das, was ich getan habe, ist von besonderer Scheußlichkeit. Ich weiß es, aber ich kann es nicht ändern.
Ich empfinde auch keine Schuld.
Es ist so gekommen.
Aus.
Fertig.
Reden wir über etwas anderes.
Ich sehe ihr in die Augen, diese leuchtend blauen Augen, die mich eigentlich ganz friedlich anblicken.
Sie sitzt mir gegenüber, mit diesen Augen, mit ihrem schmalen Mund, mit ihrem feingeschnittenen Gesicht. Ihr Mund lächelt nicht mehr. Er ist vielmehr unbeweglich, etwas starr, ich weiß auch nicht.
Ich hebe mein Glas und proste ihr zu.
Sie schweigt.
Ich rede mit ihr. Oder besser: Ich erzähle ihr alles Mögliche. Über mich. Über meine Ansichten. Über Gott. Und die Welt.
Nein, vielleicht doch nicht über Gott. Was ich damit sagen will ist folgendes: Gott hat in dieser Geschichte eigentlich nicht allzuviel verloren.
Ich sollte ihn aus dem Spiel lassen.
Um seinetwillen.
Mein Mund produziert Worte. Eins nach dem anderen, ohne Unterlass. Eigentlich bin ich ein schweigsamer Mensch, vielleicht sogar schüchtern. Ich lebe zurückgezogen mit meinen drei Katzen. Das Haus, in dem ich wohne, liegt etwas abseits, nicht weit von der Steilküste entfernt.
Ich habe es für mich allein und das ist gut so.
Oft bin ich oben bei den Klippen.
Es herrscht immer ein starker Wind dort.
Man trifft Leute dort. Touristen. Manchmal komme ich mit ihnen ins Gespräch und lade jemanden zu mir nach Hause ein.
Zum Essen.
Die meisten wollen nicht, aber bei einigen gelingt es mir.
Kein Mensch kann immer allein sein. Kein Mensch. Auch ich nicht.
Ein Tag vergeht. Und ein weiterer.
Ich lasse sie am Tisch sitzen. Sie blickt mich starr an, wenn wir uns unterhalten.
Hätte ich sie doch gehen lassen sollen?
Vielleicht.
Ich konnte es nicht.
Es war einfach unmöglich.
Ich brauchte sie.
Und ich hoffe nur, dass ich ihr nicht allzu sehr wehgetan habe. Jedenfalls hat sie nicht geschrien. Sie war wohl sofort tot. Ganz bestimmt.
Am vierten oder fünften Tag nahm ich sie über die Schulter und setzte sie in einen der großen Ohrensessel, die bei mir im Wohnzimmer stehen. Wir saßen beieinander. Es war schön.
Jedenfalls besser, als wenn man alleine dasitzt.
Von Tag zu Tag gab es mehr Fliegen im Haus und mir war klar, woher das kam.
Ich betrachtete wehmütig ihr Gesicht.
Schade, aber ich würde mich von ihr verabschieden müssen.
Ich schob es noch ein paar Tage vor mir her. Schließlich hatte ich mich an ihre Gesellschaft gewöhnt.
Dennoch, es war unvermeidlich.
Ich löste ein paar Fußbodenbretter, unter denen ich eine Art Grube angelegt hatte, und legte sie zu den anderen.
ENDE
Ein Harry Kubinke Krimi
von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 120 Taschenbuchseiten.
Harry Kubinke und Rudi Meier ermitteln in einem Fall, in dem eine Katze mit einer Kamera einen Toten fotografiert hat. Nicht nur der Zeuge ist ungewöhnlich, auch die Leiche bleibt erstmal unauffindbar. Dafür sterben allerdings nach und nach die Zeugen. Kubinke und Meier ermitteln auf Hochtouren...
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.
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© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.
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„Mir ist heute eine schwarze Katze über den Weg gelaufen“, sagte mir mein Nachbar. „Icke denk mir, das bedeutet nichts Gutes.“
Ich stand auf dem Balkon meiner Berliner Wohnung, hatte eine Kaffeetasse in der Hand und sah auf das Gewimmel der Hauptstadt herab.
Ein freier Tag. Kommt bei einem Kriminalhauptkommissar nicht so häufig vor. Aber der Überstundenberg musste irgendwie abgebaut werden.
Mein Nachbar war Taxifahrer.
Ein Berliner Taxifahrer mit Berliner Schnauze.
Und Muslim.
Sein Vater war Perser, seine Mutter Türkin und er sprach genauso, wie eben jemand spricht, der sein ganzes Leben in Berlin verbracht hat.
„Sind Sie abergläubisch?“, fragte ich und nahm einen Schluck Kaffee.
„Wieso?“
„Wegen der schwarzen Katze.“
„Meinen Sie ditte jetzt ernst?“
„Meine ich.“
„Ich bin nicht abergläubisch. Aber gläubig. Das ist ein Unterschied.“
„Sie glauben an Allah.“
„Ja.“
„Und an schwarze Katzen, die Unglück bringen.“
„Nicht ganz so stark, aber: ja.“
„Ist das denn mit dem Islam vereinbar?“
„Keine Ahnung. Um das zu beurteilen, da müsste ich mal einen Imam fragen.“
„Ah ja.“
„Ist das denn bei Christen vereinbar?“
„Nun...“
„Ditte wissen Sie auch auch nicht so genau, wat?“
„Ich denke, es ist nicht vereinbar. Deswegen heißt es ja auch Aberglauben.“
„Sie sind doch Kommissar, oder?“
„Kriminalhauptkommissar“, sagte ich.
„Ditte wundert mich. Icke dachte immer, die hätten Abitur und studiert.“
„Ja, aber nicht Religionswissenschaft.“
„Aber sowas weiß man dann doch. Icke bin ja nur ein doofer Taxifahrer, aber Sie, Herr Kubinke... Kubinke! Ditte steht an Ihre Tür.“
„Sagen Sie Harry zu mir. Wir sind ja jetzt Nachbarn.“
„Ich bin Reza.“
„Angenehm.“
„Ich habe mich dreimal um die Wohnung beworben. Man wollte mich nicht. Wahrscheinlich, weil ich Muslim bin und jeder gleich an einen Terroristen denkt.“
„Menschen mit Vorurteilen gibt es überall“,, sagte ich.
„Die Wohnung wurde immer wieder angeboten und icke bin ja hartnäckig. Ich komm aus dem Wedding. Ich lass mich nicht unterkriegen, verstehen Sie?“
„Verstehe ich.“
„Offenbar hat die Wohnung niemand gewollt. Die sind sie einfach nicht losgeworden.“
„Tja...“
„Und so habe icke sie dann doch bekommen.“
„Glückwunsch.“
„Aber jetzt mal unter uns, Herr Kommissar...“
„Harry!“
„Also, Harry! Unter uns! Wat stimmt mit dieser Wohnung nicht? Warum wollte ditte niemand? Ist doch In Ordnung. Preis in Ordnung, Heizung funktioniert, Kabelfernsehen funktioniert...“
„Könnte mit dem Vormieter zusammenhängen“, sagte ich.
„Aha...“
„Der wurde erschossen.“
„Oh.“
„Und jetzt hatte die Verwaltung Schwierigkeiten, Mieter zu finden. Das habe ich jedenfalls gehört. Wenn die davon gehört haben, haben sie wieder abgesagt.“
„Warum?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Aberglauben.“
„Wie mit der schwarzen Katze.“
„Genau.“
Zwei Tage später sah ich die schwarze Katze auch. Sie war auf meinen Balkon geklettert und dann auf die Fensterbank. Von dort sah sie ins ins Innere meiner Wohnung.
Sie hatte keine Scheu, gähnte, zeigte ihre Zähne und schien mich mit ihren gelben Augen zu mustern.
Nein, dachte ich. Ich bin nicht abergläubisch.
Ein anderer Ort, eine andere Katze...
Die schwarze Katze näherte sich mit geschmeidigen Bewegungen dem rechten Hinterrad der Limousine. Ihre Schritte waren vollkommen lautlos. Sie verharrte regungslos und spitzte die Ohren.
Das breite, weiße Halsband bildete einen starken Kontrast zu dem pechschwarzen, seidigen Fell. An der linken Seite befand sich eine Verdickung - ein streichholzschachtelgroßer, quaderförmiger Gegenstand.
Es handelte sich um eine digitale Mini-Kamera.
Das kleine, nur wenige Millimeter hervorragende Objektiv zeigte in die Blickrichtung des Tieres. Alle dreißig Sekunden machte diese Kamera ein Bild aus der Katzenperspektive, sodass man später nachvollziehen konnte, wo es herumgestreunt war.
Vorsichtig schlich die Katze unter den Wagen. Ihre Pfoten hinterließen Spuren, nachdem sie durch die dunkelrote Flüssigkeitslache gegangen war.
Dann erreichte sie einen lang hingestreckten menschlichen Körper. Blut war aus einer Wunde an der Schläfe geronnen. Ein Augenpaar starrte die Katze starr an. Sie blickte lang genug zurück, sodass der Selbstauslöser der Kamera gemäß seines 30 Sekunden-Rhythmus aktiv wurde und ihre Sicht der Szene auf einen Daten-Chip bannte.
Lars Thölkes war Kommissar im Dienst des Potsdamer Kriminalpolizei. Zwanzig Jahre Mordkommission hatte er hinter sich und dabei alles mit angesehen, was es da an Schrecklichem zu ertragen gab.
Aber der Fall, mit dem Thölkes an diesem Dienstag konfrontiert wurde, begann so skurril, dass er erst an einen Scherz der Kollegen glaubte.
Er lehnte sich zurück und strich sich nachdenklich über das glatte, dunkle Haar, dessen Ansatz sich bereits in bedenklicher Weise nach oben verlagert hatte.
Sein Blick war auf die Frau gerichtet, die vor ihm in dem stickigen Büro Platz genommen hatte, das Lars Thölkes seit seiner verspäteten Beförderung für sich allein hatte.
Sie war blond. Das gelockte Haar hing ihr als wilde, ungebändigte Mähne über die Schultern herab. Ihr Kleid war sehr enganliegend und verbarg so gut wie nichts von dem, was darunter war. Ein paar Steine und Ringe machten sofort klar, dass sie nicht in Armut lebte – genauso wie die Designer-Handtasche.
„Ihre Katze hat also einen Mord gesehen“, sagte Thölkes gedehnt. Einer der uniformierten Kollegen hatte die Frau zuerst befragt. Erst danach war sie an die Mordkommission weitergereicht worden und musste nun alles noch einmal von vorn berichten.
„Nein, sie hat keinen Mord gesehen, sondern einen Mann, der ermordet wurde. Eine Leiche mit einem Schussloch im Kopf“, korrigierte die Frau etwas genervt.
Thölkes blickte auf den Personalbogen, den sein Kollege angelegt hatte. Sie hieß Sabrina Kädinger, war 26 Jahre alt, gab an als Tänzerin in einem Club zu arbeiten. Sie wohnte in Potsdam. Thölkes hielt sie für eine Edel-Prostituierte, und es juckte ihn, ihren Namen in das Datenverbundsystem einzugeben, um nachzusehen, ob sie einmal wegen Prostitution verurteilt oder wenigstens in einem einschlägigen Zusammenhang verhaftet worden war.
Eigentlich interessierte ihn das nur, um die eigene Instinktsicherheit unter Beweis zu stellen.
Sie beugte sich vor. Ihr Dekolleté kam dabei so gut zur Geltung, dass Thölkes einen Moment lang abgelenkt war. Zwischen ihren Augen bildete sich eine tiefe Furche. „Hören Sie, man hat mir gesagt, Sie wären bei der Mordkommission…“
„Das bin ich auch! Zwanzig Jahre Mordaufklärung!“
„Ich würde es schätzen, wenn mich hier endlich mal jemand ernst nehmen würde! Ich habe ein Verbrechen zu melden – und wenn ich auch nicht selbst die Zeugin bin, so ist meine Katze doch mindestens genauso glaubwürdig.“
„Wo ist Ihre Katze?“, fragte Thölkes.
„Zu Hause“, erwiderte sie mit schneidendem Unterton. „Sie mag nämlich Männer mit aufdringlichem Parfum nicht. Dann fängt Sie immer an zu kratzen und ich wollte das Risiko vermeiden, deswegen Schwierigkeiten zu bekommen.“
Thölkes seufzte. „Also noch mal ganz von vorn.“
Sabrina Kädinger verdrehte die Augen. „Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was eine Cat Cam ist.“
„Ehrlich gesagt nein.“
„Das ist eine Minikamera, die man seiner Katze am Halsband befestigt. Ein automatischer Auslöser sorgt dafür, dass alle 20 oder 30 Sekunden ein Bild aus der Perspektive der Katze geknipst wird. Man kann auf diese Weise nachträglich ansehen, wo sie gewesen ist, unter welchen Wagen sie nach Mäusen gejagt hat, in welche Keller sie eingestiegen ist und welche anderen Katzen sie getroffen hat.“
Thölkes schüttelte den Kopf. „Das muss der totale Überwachungsstaat sein, in dem schon nicht einmal mehr Katzen den Kater ihrer Wahl treffen können, ohne dass die Besitzer das mitbekommen!“
„Sie können sich ruhig darüber lustig machen, Kommissar Thölkes. Aber mir ist es sehr ernst. Meine Katze hat nämlich bei einem ihrer Streifzüge einen Toten entdeckt, dem jemand eine Kugel verpasst hatte. Jedenfalls sah das für mich als Laie so aus. Aber Sie können sich gerne selbst davon überzeugen!“
Sie griff in ihre Handtasche nach ihrer Geldbörse. Aus dem Münzfach holte sie dann einen 1 GB Chip hervor. „Ich hoffe, Sie haben hier einen Computer, der modern genug ist, um diese Dinger lesen zu können. Da sind alle Bilder dieses besagten Ausflugs drauf. Es ist sogar jedes Mal die Zeit angegeben, wann die Kamera ausgelöst wurde.“
Thölkes’ Gesicht wurde jetzt ernster. Er nahm den Chip und begann seinen Rechner hochzufahren. Als das geschehen war, steckte er den Chip in den Schlitz des integrierten Kartenlesers.
Wenig später erschienen die ersten Bilder auf dem Schirm. Man konnte sich tatsächlich sehr gut vorstellen, wie der Weg der Katze aus ihrer Perspektive ausgesehen hatte. Sie ging über eine Straße. Man konnte Reifen und Radklappen aus der Bodenperspektive bewundern, einen Hundehaufen in Großaufnahme, der einen Rinnstein verstopfe, mehr oder weniger gut geputzte Schuhe von Männern und Frauen, einen Hund, der grimmig die Zähne fletschte und an seinem Halsband riss und dann noch jede Menge Aufnahmen, die offenbar unter parkenden Fahrzeugen gemacht worden waren.
„Was machen Sie normalerweise mit diesen Aufnahmen?“, fragte Thölkes während er weiterklickte und dabei den abenteuerlichen Weg einer Katze mehr oder weniger lustlos mitverfolgte.
Sabrina Kädinger hob das Kinn etwas an. „Es gibt Leute, die stellen diese Bilder ins Internet. Aber das finde ich krank…“
„Sie machen nur einen privaten Diaabend daraus?“
„Da ich Sie nicht einmal dazu einladen würde, wenn Sie der letzte Mann auf Erden wären, kann Ihnen das getrost egal sein!“, versetzte sie schneidend und so schroff, dass Thölkes sich zu ihr umdrehte.
„Uh, Sie haben ja Haare auf den Zähnen!“, grinste er.
„Sehen Sie besser in die andere Richtung. Das nächste Bild müsste es nämlich sein!“
Thölkes’ Gesicht veränderte sich, als er das nächste Bild ansah. Er veränderte den Zoom, sodass es etwa größer zu sehen war. Dann verengten sich seine Augen.
Zu sehen war ein Mann, der ausgestreckt dalag – offenbar unter einem parkenden Wagen. Aus einer Wunde an der Schläfe war offenbar sehr viel Blut gesickert. Auf dem Boden konnte man eine dunkelrote Lache sehen, durch die das Tier offenbar durchgetapst war. Thölkes sah sich auch noch das nächste Bild an. Die Szenerie schien für die Katze interessant genug gewesen zu sein, um etwas länger an dieser Stelle auszuharren. Insgesamt gab es vier Bilder, die den Toten aus leicht veränderten Perspektiven zeigte. Auf einem war das Gesicht besonders gut zu erkennen.
„Sie scheinen da tatsächlich auf etwas gestoßen zu sein.“, sagte Thölkes.
„Das sage ich doch die ganze Zeit.“
„Ich ziehe mir die Bilder von Ihrem Chip herunter. Dann können Sie den Datenträger wieder mitnehmen, falls Sie Ihre Katze…“
„Meinen Sie, die lasse ich in nächster Zeit noch mal raus?“, schnitt Sabrina Kädinger ihm das Wort ab. „Was werden Sie jetzt tun?“
„Wir werden in einem gewissen Umkreis um Ihre Wohnung nach Parkplätzen suchen, die als Tatort in Frage kommen. Und natürlich werden sich unsere Spezialisten die Sache ansehen. Falls der Mann auf dem Bild ein Straftäter war oder aus irgendeinem Grund in unseren Archiven gespeichert ist, dann stehen unsere Chancen gar nicht so schlecht, dass wir ihn mit einem Bilderkennungsprogramm identifizieren können.“
„Und falls nicht?“
„Dann ist das noch lange kein Grund aufzugeben. Wir bekommen heraus, wer das ist. Versprochen. Sind Sie in den nächsten Tagen zu Hause?“
„Ich bin Tänzerin in einem Club und arbeite am Abend. Tagsüber treffen Sie mich fast immer in meiner Wohnung an. Die Adresse hat Ihr Kollege aufgenommen.“
Thölkes nickte. „Wir melden uns bei Ihnen. Ganz bestimmt.“
Es war dunkel. Die Straßenbeleuchtung war in den Spar-Modus geschaltet. Zwischen ein Uhr nachts und vier Uhr in der Früh brannte nur jede zweite Leuchte. Eine feuchtkalte Nacht in einem Gewerbegebiet am Rand von Potsdam. Nach den zwei Stunden, die wir schon hier draußen waren, gab es wohl niemanden, der nicht fror.
Wir trugen Kevlar-Westen und waren über Headsets funktechnisch miteinander verbunden. Die Dienstwaffe vom lag schussbereit in meiner Hand. Zwanzig Beamte des BKA waren an diesem Einsatz auf dem Gelände der Speditionsfirma Broderich & Dirkens GmbH in der Braden Straße in Potsdam beteiligt. Frank Schachmann, ein Informant aus der Szene des illegalen Kunsthandels hatte uns Ort, Zeitpunkt und Beteiligte eines Riesendeals mit illegal eingeführten Asiatika gegeben. Es ging um Kunstgegenstände aus dem Khmer Reich in Kambodscha, dessen legendäre Hauptstadt Angkor vor tausend Jahren neben Bagdad und Kairo eine der wichtigsten Metropolen der Welt gewesen war. Die Umsätze der Kunst-Mafia können inzwischen locker mit denen anderer Zweige des organisierten Verbrechens mithalten und nahmen zwischen dem illegalen Handel mit Drogen, Waffen, Müll, Menschen und Falschgeld einen der vorderen Plätze ein.
Die Gewinne konnten sich sehen lassen und das Risiko erwischt zu werden, war viel geringer als beispielsweise im Drogenhandel, was vor allem damit zu tun hatte, dass es an Kunst-Spezialisten fehlte.
Jetzt warteten wir zusammen mit unseren Kollegen darauf, dass dieser Deal des Jahres, den Frank Schachmann uns verraten hatte, auch tatsächlich über die Bühne ging und wir unsere Falle zuschnappen lassen konnten.
Wir versprachen uns sehr viel davon, denn einige der Beteiligten gehörten zu den derzeit aktivsten Mitspielern in diesem illegalen Match. Wir hofften, dass wir durch ihre Festnahme endlich auch einige der Hintermänner dingfest machen konnten. Leute, die die Kunst-Mafia durch ihr Geld und ihre Aufträge überhaupt am Leben hielten, auch wenn sie selbst peinlich genau darauf achteten, sich nicht in die Schusslinie der Justiz zu begeben.
„Langsam könnte dieser Reinhardt aber auftauchen“, raunte mir mein Kollege Rudi Meier zu. Wir hatten uns an der Ecke einer Lagerhalle verschanzt. Der gesamte Bereich war von unseren Kollegen umstellt.
Daniel Reinhardt war einer der Kunst-Mafiosi, von denen wir hofften, dass er uns hier in die Falle ging. Eine Spezialität von ihm waren Asiatika aller Art. Er hatte exzellente geschäftliche Kontakte vor allem nach Südostasien und China und verdiente im Jahr dreistellige Millionenbeträge durch den Zwischenhandel mit illegal ausgeführten Kunstgegenständen aus diesen Ländern. Insider nannten ihn einfach „die Drehscheibe“ – und das beschrieb wohl auch seine Position in diesem Business.
Wenn es uns gelang, Reinhardt aus dem Verkehr zu ziehen, wäre das ein entscheidender Schlag gewesen.
Eine Limousine fuhr jetzt auf den Hof der Speditionsfirma. Gleich gefolgt von einem Möbelwagen und einem Van.
Aus dem Van sprangen sechs Mann in dunklen Anzügen. Sie waren mit automatischen Waffen ausgerüstet. Zwei trugen sogar MPis vom israelischen Typ Uzi.
Diese Leibwächter–Truppe verteilte sich und sah sich kurz um.
Einer der Kerle gab dann ein Handzeichen an die Insassen der Limousine. Die Türen wurden geöffnet. Ein Mann im weißen Anzug stieg aus. Das war Jamal „White Jacket Kalif“ Rahmani, eine große Nummer in der Kunstmafia. Er fiel durch sein exzentrisches Gehabe auf und trug grundsätzlich nur weiße Anzüge. Sein Anfangsvermögen hatte er im Drogenhandel gemacht, war aber früh genug ausgestiegen, bevor man ihm rechtlich etwas anhaben konnte – und vor allem bevor die Konkurrenz ihn aus dem Weg gedrängt hatte. Im Laufe der Jahre hatte er eine mächtige Organisation aufgebaut, die auch vor Mord nicht zurückschreckte, wenn jemand ihre Kreise störte.
Zwei weitere Männer stiegen aus der Limousine. Beide relativ unauffällig. Einer war ein Leibwächter. Er hieß Gernot Braganza, war ein eher schmächtiger Mann mit dunkelblondem Haar, der auf den ersten Blick wie ein Bankangestellter wirkte. Braganza war Jamal „White Jacket Kalif“ Rahmanis Mann fürs Grobe und sein Name wurde mit mindestens fünf Morden in Verbindung gebracht, ohne dass es auch nur in einem Fall überhaupt zur Anklage gekommen war. Spätestens die Voranhörung vor der Grand Jury war die Endstation der Ermittlungen gegeben, obwohl sich die Kollegen der Staatsanwaltschaft wirklich alle Mühe gegeben hatten. Aber die Beweise reichten einfach nicht aus und außerdem waren immer wieder wichtige Zeugen im letzten Moment abgesprungen. Bei den Morden, die mit Braganza in Verbindung gebracht wurden, handelte es sich um Taten, die wir als Säuberungsaktionen innerhalb der Organisation interpretierten, die „White Jacket Kalif“ aufgebaut hatte.
Der andere Mann, der mit dem Syndikats-Boss aus dem Wagen gestiegen war, wirkte genauso unscheinbar. Er war klein, etwas übergewichtig und hatte eine hohe Stirn. Sein Name war Brian Patterson, Deutsch-Brite und Sohn eines britischen Offiziers, der während der Vier-Mächte-Zeit in Berlin gedient hatte. Patterson war Rahmanis Kunstexperte, Spezialist für Süd- und Südostasien. Insbesondere was die Kunst der Khmer anging, hatte er sich einiges an wissenschaftlichen Meriten erworben. Aber in den Diensten eines Mannes wie Jamal „White Jacket Kalif“ Rahmani konnte Patterson sein Fachwissen natürlich sehr viel besser zu Geld machen, als wenn er sich irgendwo als Leiter eines wissenschaftlichen Instituts an einer Universität anstellen ließ.
Rahmani sah auf die Uhr. Er wirkte nervös und ungeduldig. Zwei seiner Männer öffneten den Möbelwagen.
„Die Ladefläche scheint leer zu sein“, meldete sich unser Kollege Tommy Kronberg über Headset. Er war so positioniert, dass er einen besseren Blick in den Möbelwagen hatte.
In diesem Moment klingelte ein Handy bei Rahmani.
Der Mann im weißen Anzug griff zum Apparat und führte ihn ans Ohr. Unsere Kollegen hatten Richtmikrophone auf den Ort des Deals ausgerichtet, sodass wir jedes Wort mithören konnten.
„Wir warten schon eine Weile! Wenn Sie in fünf Minuten nicht hier sind, sind wir weg und das war’s dann.“
Jamal „White Jacket Kalif“ Rahmani klappte das Handy ein und steckte es wieder weg. Es handelte sich um ein Prepaid-Mobiltelefon, über das er offenbar solch sensible Geschäftskontakte abwickelte. Wir waren leider nicht in der Lage gewesen, es im Vorfeld abzuhören.
Johann-Friedrich Delvecchio, der Einsatzleiter der Potsdamer Polizei, meldete über Funk die Ankunft einer weiteren Limousine und eines Lastwagens nur wenige Minuten entfernt. Delvecchios Einsatzkräfte waren dafür zuständig, im Notfall Straßensperren zu errichten und das Gebiet weiträumig abzuriegeln. Selbst wenn uns bei dieser Aktion jemand durch die Lappen ging, würde er nicht weit kommen.
Die zweite Limousine erreichte das Firmengelände, gefolgt von einem Mercedes Lastwagen. Ein 7,5-Tonner mit Plane. Dort befand sich vermutlich die Ware, die dann in den Möbelwagen umgeladen werden musste.
Drei Männer stiegen aus der Limousine. Zwei trugen MPis, der dritte schien der Anführer zu sein. Ein breitschultriger, fast kahlköpfiger Mann im Anzug und dunklem Schnauzbart. Wir erkannten ihn von den Fahndungsfotos. Er hieß Mehmet Daryas und war Daniel Reinhardts rechte Hand.
„Schachmann hat gesagt, dass Reinhardt persönlich den Deal über die Bühne bringt“, raunte Rudi mir zu.
„Aber von Reinhardt sehe ich weit und breit nichts, Rudi“, stellte ich fest.
„Fragt sich, wie die andere Seite das aufnimmt!“
Rahmani schien etwas irritiert zu sein. „Wo ist euer Boss?“, fragte der „White Jacket Kalif“. „Ich verhandele nicht mit der Nummer 2!“
„Dann entgeht Ihnen eine sehr lukrative Ladung zu einem Preis, den Sie sonst nie bekommen würden. Ich bin sogar befugt, noch etwas nach unten zu gehen“, sagte Mehmet Daryas.
„Was Sie nicht sagen…“
„So ist es eben!“
„Ach, nee!“
„Ihr Gelehrter soll sich die Sachen erst einmal ansehen – und wenn er dann vor Staunen seinen Mund endlich wieder schließen kann, werden wir uns sicher einig!“
Mehmet Daryas machte ein Zeichen. Zwei Männer stiegen aus dem Lastwagen. Sie begannen damit, ihn hinten zu öffnen.
Brian Patterson blickte fragend zu Rahmani. Als der Mann im weißen Anzug ihm zunickte, ging er zur Rückfront des Lastwagens, ließ sich auf die Ladefläche helfen und begann damit, den Inhalt der Kisten zu überprüfen, die sich dort befanden. Die Scheinwerferkegel von Taschenlampen kreisten durch die Gegend.
Einige Augenblicke lang sagte niemand ein Wort.
„Ich nehme an, Sie haben das Geld bar dabei, wie abgemacht“, sagte Mehmet Daryas.
Jamal Rahmani schnipste mit den Fingern. Gernot Braganza ging daraufhin zum Kofferraum von Rahmanis Limousine und holte ein Diplomatenköfferchen heraus.
„Darf ich mal sehen?“, fragte Daryas. Unter dem Jackett des Kahlkopfs zeichnete sich eine großkalibrige Waffe im Schulterholster ab. Seine Begleiter wirkten nervös. Zahlenmäßig waren sie in der Unterzahl.
Jamal Rahmani sagte an Gernot Braganza gewandt: „Gib dem Mann ein Bündel Scheine.“
„Okay.“
„Den Rest kriegt er, wenn unser Schlaukopf grünes Licht gibt!“
„Okay.“
„Sag nicht immer okay.“
„Okay.“
Braganza öffnete den Koffer, sodass Daryas kurz hineinsehen konnte. Dann nahm er ein Bündel Scheine heraus und warf es Daryas zu. Dieser fing es sicher mit der Linken. Daryas sah sich die Scheine an. Er hielt sie ins Licht eines Autoscheinwerfers. Es schien alles in Ordnung zu sein.
Brian Patterson kehrte ein paar Minuten später zurück.
Auf Seiten unserer Einsatzkräfte waren natürlich jetzt die Nerven bis auf das Äußerste gespannt.
Der Deal musste über die Bühne gegangen und dokumentiert worden sein, damit das ganze juristisch entsprechend ausgewertet werden konnte. Wenn Geld und Ware eindeutig den Besitzer gewechselt hatten, waren wir auf der sicheren Seite. Erst wenn dass geschehen war, durften wir zuschlagen.
Jetzt musste es sich entscheiden.
„Alles klar, Herr Rahmani“, wandte sich Brian Patterson an seinen Boss. „Die Ware macht einen exzellenten Eindruck. Ich kann natürlich in der Kürze der Zeit keine Expertise machen, aber es scheint alles in Ordnung zu sein.“
Der Mann im weißen Anzug verzog das Gesicht.
„Ich weiß nicht… Mir wäre es lieber, wenn Reinhardt persönlich anwesend wäre. So war es auch abgemacht.“
„Wir gehen mit dem Preis herunter…“, lenkte Daryas ein.
„Ach, ja?“
„Also, was ist?“
„Tja...“
„Ey, was ist das denn für eine Ansage!“
„Ich denke immer lieber eine Minute länger nach.“
„Manche Gelegenheit ist dann verpasst.“
„Und manch einer ist dann froh darüber, noch am Leben zu sein und nicht im Knast zu sitzen.“
„Was soll der Scheiß jetzt?“
Rahmani hob die Schultern. „Wie gesagt, so ein Deal ist Vertrauenssache. Bei Reinhardt wusste ich, dass er nicht versucht, mich zu bescheißen. Und eigentlich mache ich keine Geschäfte mit Leuten, denen ich nicht hundertprozentig vertraue.“
Mehmet Daryas wirkte nervös.
Er kaute auf der Unterlippe herum.
Kein gutes Zeichen.
Er sagte: „Zwanzig Prozent Nachlass. Das müsste Ihre Bedenken doch zerstreuen.“
Rahmani hob die Augenbrauen.
Er schien einen Fleck an seinem weißen Anzug entdeckt zu haben. Der „Kalif“ wischte mit der Hand darüber.
Dann sagte er: „Und wenn ich bei einer genaueren Untersuchung feststelle, dass Sie mir Müll angeboten haben?“
„Wir wollen weiter mit Ihnen Geschäfte machen, Herr Rahmani. Das würden wir daher nicht versuchen!“
Rahmani verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Sie sollten nicht einmal daran denken, Daryas! Sonst sind Sie nämlich ein toter Mann.“
„Entscheiden Sie sich jetzt. Es ist nicht so, dass Sie der einzige Interessent für die Ware sind.“
Rahmani überlegte. Dann beriet er sich kurz mit seinem Kunstexperten Patterson – und zwar so leise, dass wir nichts davon mitbekamen.
Schließlich stimmte der „Kalif“ im weißen Anzug zu. Der Kaufpreis wurde um zwanzig Prozent gemindert. Gernot Braganza nahm ein paar Bündel mit Geldscheinen aus dem Koffer heraus, danach übergab er ihn Daryas. Dieser reichte ihn zum Nachzählen an einen seiner beiden Leute.
In diesem Moment gab unser Kollege Jürgen Carnavaro, das Zeichen zum Zugriff.
Eine Megafonstimme ertönte. „Hier spricht das BKA! Sie sind verhaftet! Legen Sie die Waffen auf den Boden und heben Sie die Hände. Das Gelände ist umstellt…“
Das Gesicht von Mehmet Daryas veränderte sich. Er riss eine Automatik unter dem Jackett hervor. Seine beiden Leibwächter griffen zu den MPis. Die Waffen knatterten los. Blutrot leckte das Mündungsfeuer aus den kurzläufigen Waffen.
Jamal „White Jacket Kalif“ Rahmani zuckte unter einem halben Dutzend Kugeln. Getroffen brach er zusammen. Brian Patterson warf sich zu Boden und blieb bewegungslos liegen. Gernot Braganza und Rahmanis andere Leibwächter feuerten wild um sich. Sowohl auf uns, als auch auf Mehmet Daryas und seine Männer. Die Frontscheibe des Lastwagens mit den Khmer-Kunstgegenständen ging zu Bruch. Der Fahrer und der Beifahrer versuchten sich in Sicherheit zu bringen.
Mehmet Daryas erreichte um sich schießend seine Limousine. Der Fahrer hatte bereits ein Stück zurückgesetzt. Daryas riss die Tür auf und hechtete hinein, während der Wagen mit quietschenden Reifen davon fuhr.
Doch er kam nicht bis zur Straße.
Ein Ford aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft schnellte auf die Ausfahrt zu und blieb nach einer Vollbremsung stehen.
Daryas’ Limousine war der Weg versperrt. Zwei Männer sprangen mit der Waffe im Anschlag aus dem Ford. Es war unser Kollege Tommy Kronberg und sein Dienstpartner Leonhard Morell.
Leonhard feuerte der Limousine in den vorderen rechten Reifen. Der Wagen blieb stehen.
Gernot Braganza rannte in unsere Richtung.
Offenbar hoffte er auf der dunkleren Rückseite, der zu der Speditionsfirma gehörenden Lagerhalle, abtauchen zu können. Dort schloss sich ein Parkplatz an, auf dem mehrere LKWs standen. Und der Zaun, der das Firmengelände von den Nachbargrundstücken abgrenzen sollte, wies ein paar Lücken auf, an denen der Maschendraht schon einmal aufgeschnitten worden war.
Gernot Braganza spurtete los, als wir aus unserer Deckung kamen.
„Keine Bewegung! BKA!“, rief ich.
Er stand wie erstarrt da. Wir kamen hinter der Ecke der Lagerhalle hervor.
Braganza feuerte sofort. Ohne zu zögern. Rudi bekam die volle Ladung ab. Die Wucht des Schusses ließ ihn rückwärts zu Boden gehen. Ich feuerte nur den Bruchteil einer Sekunde später. Meine Kugel traf Braganza in die Brust. Das Projektil riss seine Kleidung auf. Darunter kam grauer Kevlar zum Vorschein.
Er taumelte zurück, schnappte nach Luft und prallte mit dem Rücken gegen das Wellblechtor der Lagerhalle. Dort rutschte er zu Boden.
Die kugelsichere Weste, die er offenbar trug, hatte zwar verhindert, dass das Geschoss in seinen Körper eindrang, dessen Wucht aber damit nur auf eine größere Fläche verteilt. Die Wirkung war mit einem kräftigen Tritt vergleichbar. Blaue Flecken und möglicherweise sogar ein paar gebrochene Rippen konnten die Folge sein - je nachdem, wo man getroffen wurde.
Braganzas Rechte krallte sich immer noch um die Waffe. Er riss die Pistole erneut hoch.
„Weg damit!“ rief ich.
Braganza zögerte einen Augenblick zu lang.
Er atmete schwer. Der Aufprall des Projektils musste ihm schwer zu schaffen machen.
„Der nächste geht in den Kopf!“, kündigte ich an. „Also weg mit der Waffe!“
Einen Augenblick lang hing alles in der Schwebe. Braganzas Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Endlich sah er ein, dass er keine Chance mehr hatte. Bevor er richtig auf mich zielen und abdrücken konnte, hätte ihn mein Schuss getötet. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn nicht verfehlte, schätzte er offenbar hoch genug ein, um die Waffe sinken zu lassen. Ich ging auf ihn zu und nahm die Waffe an mich, die er auf den Boden hatte sinken lassen.
„Rudi?“, rief ich.
„Es geht schon!“, ächzte mein Partner. Braganzas Kugel hatte ihn ebenfalls in die Kevlar-Weste getroffen, die wir bei solchen Einsätzen tragen müssen. In diesem Fall hatte dieses Kleidungsstück ihm zweifellos das Leben gerettet.
Unser Kollege Oliver „Olli“ Medina war inzwischen auch aus der Deckung gekommen. Er half Rudi auf, während ich Gernot Braganza die Handschellen anlegte.
„Sie haben das Recht zu schweigen. Falls Sie von diesem Recht keinen Gebrauch machen, kann und wird alles vor Gericht gegen Sie verwendet werden, was Sie von nun an sagen…“
„Sparen Sie sich Ihre Sprüche!“, knurrte Braganza. „Ich kenne mich aus!“
„Das glaube ich gerne! Aber diesmal wird Sie Ihr Anwalt wohl kaum heraushauen!“, war ich überzeugt. Schließlich war alles auf Video dokumentiert.
Überall klickten jetzt die Handschellen. Die Gefangenen wurden – sofern sie unverletzt waren, in verschiedene Einsatzwagen gebracht, um sie zum Präsidium abzutransportieren. Der Rettungsdienst traf schon nach wenigen Minuten ein, um die Verletzten zu versorgen.
Für Jamal „White Jacket Kalif“ Rahmani kam jedoch jede Hilfe zu spät. Ein halbes Dutzend Schüsse von Mehmet Daryas waren ihm in den Oberkörper gefahren und hatten seinen schneeweißen Anzug zerfetzt. Allerdings hatte er darunter eine Kevlar-Weste getragen, sodass er daran nicht gestorben war.
Getötet hatte ihn ein Treffer in den Kopf und eine Kugel, die ihm in den Hals gefahren und in der Wirbelsäule stecken geblieben war.
Die Ballistiker würden eine Menge zu tun haben, um genau rekonstruieren, wer in welcher Reihenfolge welchen Schuss abgegeben hatte.
Zwei Stunden später saßen wir Gernot Braganza in einem der Verhörräume in unserem Präsidium gegenüber.
„Sie gehen mir vielleicht auf die Eier!“, sagte Gernot Braganza. „Sie beide!“
„Das Vergnügen ist ganz meinerseits“, sagte ich.
„Scheiße...“
„Ich denke, es ist auch in Ihrem Interesse, wenn dieses Gespräch einen vernünftigen Verlauf nimmt, Herr Braganza.“
„Ach. Wirklich?“
„Wirklich.“
„Wie kommt es dann, dass ich davon nicht so richtig überzeugt bin?“
„Vielleicht liegt das daran, dass Ihnen Ihre Lage nicht so richtig klar ist.“
„Ja, klar!“
„Aber ich vermute, dass sich das im Verlauf unseres Gesprächs noch ändern wird.“
„Die Hoffnung stirbt zuletzt, was?“
Braganza war ärztlich behandelt worden.
Meine Kugel hatte dafür gesorgt, dass er jetzt ein ziemlich großes Hämatom am Oberkörper hatte. Aber es war nichts gebrochen. So lange er weder einen Hustenanfall bekam oder lachte, ging es ihm einigermaßen gut.
Rudi ging es ganz ähnlich, auch wenn er etwas besser dran war, was vielleicht mit der Qualität der verwendeten Weste zu tun hatte. Die Westen, die wir bei unseren Einsätzen verwenden, trägt man normalerweise über der Kleidung. Das heißt, sie sind dicker und enthalten mehr Lagen der hochwertigen Kunststofffasern, die das Geheimnis dieser Schutzwesten sind. Braganza hingegen hatte eine sehr dünne Weste getragen, damit sie unter der Kleidung nicht gleich auffiel.
Parallel zu unserem Verhör von Braganza nahm sich unser Kollege Jürgen Carnavaro zusammen mit dem Verhörspezialisten Schneider den Urheber der Schießerei in einem anderen Raum vor: Mehmet Daryas, die Nummer zwei in Reinhardts Organisation.
„Sie sollten mit uns kooperieren, Herr Braganza“, sagte ich. „Die Videoaufzeichnungen belegen, dass Mehmet Daryas auf Jamal ‚White Jacket Kalif’ Rahmani gefeuert hat. Ob auch der tödliche Schuss von ihm oder einem seiner Komplizen kam, wird erst die ballistische Untersuchung zweifelsfrei nachweisen, aber eigentlich habe ich nach Ansicht der Video-Aufzeichnungen wenig Zweifel daran.“
„Dieser Hurensohn!“, knurrte Braganza vor sich hin.
„Wen meinen Sie jetzt?“, mischte sich Rudi ein. „Daryas? Oder Rahmani!“
„Vermutlich alle beide“, meinte Rudi.
„Ich sage nichts“, sagte Braganza. „Erst will ich meinen Anwalt sprechen!“
„Ihr Anwalt ist auf dem Weg hier her“, erklärte ich ihm. „Aber ich dachte, ich mache Ihnen trotzdem vorher schon mal Ihre Lage klar: Daryas hat mit der Schießerei angefangen und er wird wohl wegen Mordes verantworten müssen. Alles was danach geschah, einschließlich Ihres tätlichen Angriffs auf zwei BKA-Beamte, ist rechtlich unterschiedlich interpretierbar. Schließlich hätte wahrscheinlich niemand geschossen, wenn Daryas nicht zur Waffe gegriffen hätte!“
„Was wollen Sie jetzt? Mir ein Angebot machen?“, fauchte Braganza.
„Sie kommen vielleicht mit einem blauen Auge davon“, sagte ich.
Und Rudi ergänzte: „Aber das läuft nur, wenn Sie jetzt gleich mit uns kooperieren.“
„Ich warte auf ein Angebot des Staatsanwalts“, sagte Braganza.
Rudi sagte: „So läuft das nicht, Herr Braganza.“
„Ach, nein?“
„Sie haben anscheinend zu viele amerikanische Gangsterfilme gesehen“, sagte Rudi. „Sie werden kein 'Angebot' bekommen, sondern nur eine mehr oder weniger lange Haftstrafe.“
Braganza sagte: „Ich warte einfach mal ab...“
Ich sagte: „Dann warten Sie vielleicht zu lang, denn es könnte sein, dass bis dahin Ihre Aussage gar nichts mehr wert ist, weil wir die Informationen inzwischen auf anderem Weg erlangt haben.“
„Na, wenn Sie gar nicht auf mich angewiesen sind…“
„…dann sollten wir uns vielleicht auch nicht länger mit ihm aufhalten“, meinte ich. „Es wird uns sicher auch jemand anders verraten, weshalb Daniel Reinhardt diesen größten Deal seiner Karriere als illegaler Kunsthändler verpasst hat!“
Das war nämlich die entscheidende Frage für uns. Unser Informant Frank Schachmann hatte uns versichert, dass Reinhardt den Deal selbst machen würde. Geschäfte dieser Größenordnung basierten auf persönlichem Vertrauen der Beteiligten. Und an Jamal „White Jacket Kalif“ Rahmanis Reaktion war auch deutlich zu sehen gewesen, wie irritiert er darüber gewesen war, nicht Reinhardt persönlich anzutreffen.
Braganza schwieg. Er lehnte sich zurück.
„Wieso kommen Sie darauf, dass ich darüber etwas wüsste? Fragen Sie besser Daryas’ Leibwächter – sofern Sie noch antworten können!“
Die Leibwächter von Mehmet Daryas wurden derzeit in der Gefängnisklinik von Berlin Moabit behandelt. Sie hatten beide schwere Schussverletzungen davongetragen und es würde wohl noch ein paar Tage dauern, bis sie vernehmungsfähig waren.
Aber es hatte einen guten Grund, dass wir uns in dieser Sache Braganza vornahmen.
„Unser Labor nimmt sich gerade Ihr Prepaid-Handy vor, Herr Braganza. Die Kollegen sind noch lange nicht fertig damit, aber Sie haben anderthalb Stunden vor dem Deal ein Gespräch mit Mehmet Daryas geführt! Die Nummer passt jedenfalls zu dem Prepaid Handy, dass wir bei Herr Daryas sichergestellt haben.“
Braganza war blass geworden.
Weiß wie die Wand.
Er begriff offenbar, was das bedeutete.
Aber das hieß noch lange nicht, das er seinen Widerstand schon aufgab.
Rudi sagte: „Ist doch merkwürdig, dass der Leibwächter von des ‚White Jacket Kalif’ beim Stellvertreter eines Handelspartners anruft, der dann wenig später seinen Herrn und Meister bei einem Riesen-Deal vertritt!“
„Warum finden Sie das merkwürdig?“, fragte Braganza. „Möglicherweise habe ich ja in Herr Rahmanis Auftrag dort angerufen, um mich zu erkundigen, ob alles glatt gehen wird.“
„Wie praktisch, dass wir Herr Rahmani nicht mehr fragen können“, erwiderte ich kühl.
„Ach, wirklich!“
„Sowas fällt uns auf.“
„Sie sind anscheinend ein Wunderbulle!“
„Wo Sie recht haben, haben Sie Recht, Herr Braganza.“
Sein Kopf veränderte abermals die Farbe.
Diesmal von blassbleich in dunkelrot.
Er wurde zornig.
Und das hörte man seinem Tonfall auch deutlich an.
Na wenn schon, dachte ich. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass die Sache endlich einen Schritt vorankam. Zornigen Widerspruch zu erzeugen kann dabei ein sehr effektives Mittel sein.
Braganza sagte: „Es war aber genau so, wie ich sage! Ich habe Daryas angerufen und gefragt, ob alles glatt geht.“
„Und? Was hat er gesagt?“
„Er hat es bestätigt.“
„Ah, ja.“
„Ja, wirklich!“
„Hat Daryas irgendetwas davon gesagt, dass Reinhardt nicht persönlich erscheinen wird?“
„Nein, natürlich nicht. Wenn er das gesagt hätte, wären wir gar nicht gekommen. Die Sache ist eigentlich auch noch etwas anders.“
„Wie?“
„Das Prepaid-Handy, das ich anrufen habe, gehörte Reinhardt.“
„Nicht Daryas?“
„Nein. Nicht Daryas. Ich habe mehrfach mit Reinhardt über diese Nummer gesprochen und den Deal abgemacht…“
Ich runzelte die Stirn. „Sie? Reinhardt hat sich damit zufrieden gegeben, mit dem Leibwächter zu sprechen anstatt mit dem Boss?“
„’White Jacket Kalif’ hatte eine panische Angst davor abgehört zu werden.“
„Was bei einem Prepaid Handy sehr unwahrscheinlich ist.“
„Aber nicht unmöglich!“
„Das stimmt.“
„Eben!“
„Sprechen Sie weiter!“
„Er wollte einfach nicht, dass seine Stimme irgendwann mal aufgezeichnet und identifiziert wird, deswegen, habe ich diese Gespräche für ihn geführt.“
„Okay.“
„Reinhardt wusste das – und vielleicht hätte er sich auch bei niemand anderem darauf eingelassen.“
„Habe ich verstanden.“
„Aber es war sehr wichtig für Reinhardt, mit ‚White Jacket Kalif’ ins Geschäft zu kommen.“
Ich lehnte mich zurück, wechselte einen kurzen Blick mit Rudi und fragte Braganza dann: „Und Sie haben sich nicht gewundert, dass Sie nur Daryas am Apparat hatten?“
„Er hat es mir plausibel erklärt.“
„Wie?“, hakte ich nach.
„Im Hintergrund war eine Frau zu hören und Daryas hat erzählt, dass Reinhardt gerade mit ihr herummachen würde und deswegen nicht zu sprechen sei…“
„Anderthalb Stunden vor einem Deal, der für ihn angeblich so wichtig war?“, fragte jetzt Rudi.
„Ja, ich weiß...“
„Was erzählen Sie uns da eigentlich für eine Geschichte?“
„Es ist die Wahrheit.“
Rudi fragte: „Sowas sollen wir glauben?“
Braganza zuckte mit den Schultern.
„Was hätte ich davon, Sie anzulügen? Sie haben mir meine Situation ja klar eindringlich klar gemacht. Und mein Boss lebt nicht mehr.“ Er atmete tief durch. „Ihre Leute haben ihn ja erschossen.“
„Mehmet Daryas hat Ihren Boss erschossen!“, korrigierte ich ihn.
„Ist das etwa nicht einer Ihrer Spitzel? Genau wie Reinhardt, der sich wohl schon abgeseilt hatte. Als er nicht bei dem Deal auftauchte, war mir klar, dass das Ganze eine Falle war. Hat sich dann ja auch so herausgestellt…“
„Und was denken Sie, warum hat Daryas sofort geschossen?“, fragte Rudi.
Braganza zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, er wollte nichts riskieren. Seine Leute waren in der Unterzahl…“
In diesem Moment flog die Tür des Verhörzimmers zur Seite. Ein groß gewachsener Mann im grauen Dreiteiler trat ein. Seine Haare passten farblich dazu. „Bertold Rahnstein von Rahnstein & Partner. Der Zirkus hier ist zu Ende. Ich bin Herr Braganzas Anwalt.“
Er trug eine abgewetzte Aktentasche, die überhaupt nicht zu dem piekfeinen Rest seines Outfits passte. Offenbar hatte sie irgendeine ideelle Bedeutung für ihn. Vielleicht hatte er sie schon, als er seinen ersten Prozess gewann.
Vielleicht hatte sie ihm auch Glück im Examen gebracht.
Oder es war ein Weihnachtsgeschenk seiner Frau und jetzt musste er das abgewetzte Lederding tragen, so lange er noch nicht verwitwet oder geschieden war.
Rahnstein wandte sich an mich. „Lassen Sie mich bitte mit meinem Mandanten allein.“
Ich sagte gelassen: „Kein Problem. Er hat bereits eine Aussage gemacht.“
Rahnstein hob die Augenbrauen und machte eine ausholende, raumgreifende Geste, die seine Wichtigkeit unterstreichen sollte, was unfreiwillig komisch wirkte.
Geckenhaft und aufgeblasen.
„Eine Aussage, die wir anfechten werden!“, kündigte er an.
„Warum? Sie könnte sich positiv für ihn auswirken!“
„Das können weder Sie noch er wirklich beurteilen. Und jetzt lassen Sie uns allein oder Sie fangen sich eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein, weil Sie einem Verhafteten seine verfassungsmäßigen Rechte vorenthalten.“
Rahnstein wollte offenbar gleich klarstellen, wer hier der Platzhirsch war. Wir gingen auf den Flur.
„Dieser Kerl hat den Charme einer Dampfwalze“, sagte Rudi.
Ich zuckte mit den Schultern „Das muss sein Erfolgsgeheimnis sein. Dieser Rahnstein hat Braganza doch schon mehrere Male herausgepaukt.“
„Aber diesmal nicht.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“
„Rudi, wahrlich, ich sage dir: Diesmal nicht!“
„Na, das würde ich ja gerne glauben, Harry!“
„Kannst du ruhig.“
Es dauerte nur fünf Minuten, bis Rahnstein in den Flur trat. „Mein Mandant wird kein Wort mehr sagen“, erklärte er. „Wer von Ihnen beiden ist Kommissar Kubinke?“
„Das bin ich.“
„Sie haben meinen Mandanten mit einem potenziell tödlichen Schuss in die Brust niedergestreckt. Dass er eine Kevlar-Weste unter der Kleidung trug, konnten Sie ja nicht ahnen!“
„Er hat auf meinen Partner geschossen!“
„Werden Sie nicht darauf trainiert auf Arme oder Beine zu schießen?“
„In diesem Fall ging es um einen lebensbedrohlichen Angriff auf einen BKA-Kommissar“, erklärte ich. „Ich hatte keine andere Wahl, als so zu schießen, dass eine mannstoppende Wirkung erzielt wird!“
„Ist das bei Ihnen die spezielle Ausdrucksweise für besondere Rücksichtslosigkeit und Polizeibrutalität?“
„Nein. Das ist die besondere Ausdrucksweise für eine eindeutige Notwehrsituation, die mein Vorgehen rechtfertigt.“
Ein dünnes Lächeln spielte um seine blutleeren Lippen.
„Ich teile Ihre Sicht der Dinge nicht, Kommissar Kubinke. Und die Öffentlichkeit wird es auch kaum gutheißen, wenn schießwütige Polizisten selbst zu einem Sicherheitsrisiko werden.“
„Sie verdrehen die Tatsachen, Herr Rahnstein!“
Er lächelte kalt. „Bin wirklich ich der derjenige, der hier etwas verdreht?“
„Die ganze Szene ist auf Video dokumentiert. Ich habe mir nichts vorzuwerfen!“
„Wir werden sehen, ob die Gerichte das genauso sehen, Kommissar Kubinke“, sagte Rahnstein.
Damit zog er ab. Ich sah ihm ziemlich perplex nach. Mit vielem hatte ich gerechnet – aber nicht damit.
„Der kommt damit nicht durch!“, war Rudi überzeugt.
„Ich hoffe, du hast Recht! Aber jemand, der in der Vergangenheit dafür gesorgt hat, dass Gernot Braganza keinen einzigen Tag im Knast verbringen musste, dem traue ich alles zu!“
„Harry, der will sich nur wichtig machen und dich einschüchtern.“
„Mag sein.“
„Das ist alles.“
Ich atmete tief durch. „Na, hoffentlich!“
Braganza hielt sich von nun an die Anweisungen seines Anwalts. Er redete kein einziges Wort mehr mit uns. Aber die entscheidende Information hatten wir bereits.
Eine halbe Stunde später sprachen wir mit unserem Kollegen Kommissar Schneider, der mit Mehmet Daryas gesprochen hatte.
„Ein harter Brocken!“, meinte Schneider. „Er hat wohl gedacht, dass Rahmani mit der Polizei zusammenarbeitet und deswegen sofort auf ihn geschossen. Er war mit seinen Leuten in der Minderzahl…“
„Und deswegen musste er gleich losballern?“, fragte ich zweifelnd. „Ich glaube wir müssen noch mal genauer darauf eingehen, wer hier wem eine Falle stellte.“
„Was willst du damit sagen, Harry?“, fragte Schneider.
„Vielleicht hatte Reinhardt einen guten Grund, um nicht dort zu erscheinen, wo der Deal über die Bühne ging. Und es leuchtet mir nach wie vor ebenso wenig ein, wieso Mehmet Daryas gleich geschossen hat!“
„Er sagt, er sei in Panik gewesen“, berichtete Schneider. „Er habe gedacht, dass er schießen muss! Schließlich sei die andere Seite zahlenmäßig überlegen gewesen!“
„Überzeugt mich nicht“, sagte Rudi.
Malcolm verschränkte die Arme vor der Brust. „Mich auch nicht – und vor einem Schwurgericht wird er mit dieser Tour wohl kaum Glück haben.“
„Hat er irgendetwas dazu gesagt, weshalb Reinhardt nicht am Ort des Deals erschienen ist?“
„Nein.“
Eigentlich hätten wir Schneider gerne bei der nächsten Runde des Verhörs begleitetet. Aber stattdessen wurden wir ins Besprechungszimmer unseres Chefs gerufen.
Irgendetwas Dramatisches hatte sich getan.
Kriminaldirektor Bock, unser Chef, nippte an seinem Kaffeebecher und machte ein sehr ernstes Gesicht. Er nickte uns kurz zu, als wir den Eingang seines Büros betraten. Wir setzten uns. Offenbar wartete er noch auf ein paar Kollegen. Jürgen und Olli waren bereits dort. Wenig später tauchten noch Tommy und Leonhard, sowie Max Vandersteen, ein Innendienstmitarbeiter aus der Fahndungsabteilung auf. Zu guter Letzt erschien noch Kommissar Schneider. Was ihn noch aufgehalten hatte, wusste ich nicht.
„Ich reiße Sie ungern aus Ihrer Arbeit heraus, aber es gibt etwas, worüber Sie umgehend Kenntnis haben sollten“, eröffnete Kriminaldirektor Bock. Er wandte sich an Max Vandersteen. „Sie haben das Wort, Max.“
„Danke, Herr Bock.“
Max aktivierte den Beamer seines Laptops.
Ein paar Aufnahmen aus einer sehr eigenartigen, bodennahen Perspektive folgten. „Der letzte Schrei hier in Berlin ist es derzeit, die eigene Katze mit einer Mini-Kamera auszurüsten, die in regelmäßigen Abständen Bilder knipst. Auf diese Weise kann der Katzenbesitzer dann nachträglich mitverfolgen, wo sich sein Stubentiger so herumgetrieben hat“, berichtete Max. „So etwas nennt man eine Cat Cam. Es gibt im Internet inzwischen zahlreiche Seiten, auf denen Cat Cam User ihre Katzenbilder präsentieren.“
„Schön und gut, aber was hat das mit einem geplatzten Deal mit Khmer-Kunst zu tun?“, fragte der Kollege Schneider.
„Der Zusammenhang ist hier!“, erklärte Max und drückte dabei auf die Fernbedienung seines Beamers. Das Bild, das nun zu sehen war, zeigte einen Mann, der offenbar tot war. An der Schläfe gab es eine Wunde, die wie eine Schussverletzung aussah und eine Blutlache ergoss sich auf den Boden.
Max zoomte das Bild nähe ran, sodass nun das Gesicht besser zu sehen war. „Das hier ist Daniel Reinhardt“, erklärte unser Kollege aus dem Innendienst der Fahndungsabteilung. „Jedenfalls sagt das unser Bilderkennungsprogramm. Insgesamt zwölf telemetrische Punkte stimmen mit den Aufnahmen, die wir von Reinhardt haben überein. Damit gilt er als identifiziert.“
Ein weiteres Bild aus leicht veränderter Perspektive folgte. Offenbar lag der Tote unter einem parkenden Fahrzeug.
„Woher stammen diese Aufnahmen?“, fragte Rudi.
„Eben von einer solchen Cat Cam. Die Katze hatte offenbar ein Faible für Parkplätze und die Jagd im Schatten von Autos. Man beachte die Angabe von Datum und Uhrzeit im oberen linken Eck. Dadurch ist nachvollziehbar, wann die Aufnahmen entstanden sind, nämlich gestern Mittag. Wir können von Glück sagen, dass sich die Besitzerin der betreffenden Katze die Aufnahmen gleich angesehen hat und dies nicht erst nach Wochen geschah. Die Frau heißt Sabrina Kädinger und wohnt in Potsdam. Sie hat sich umgehend an die dortige Polizei gewandt, die den Toten mit Hilfe des Bilderkennungssystems identifizierte. Sobald das abgeschlossen war, hatte wohl niemand mehr Zweifel daran, dass das ein Fall für uns ist. Daniel Reinhardt ist schließlich kein unbeschriebenes Blatt.“
„Dann wird uns Mehmet Daryas noch ein paar Fragen zu beantworten haben“, stellte ich fest. Die anderen wandten den Blick in meine Richtung.
„Wovon sprechen Sie, Harry?“, fragte Kriminaldirektor Bock.
„Gernot Braganza hat anderthalb Stunden vor Ablauf des Deals mit Daryas telefoniert. Er sagt, dass sein Boss eine Art Telefonphobie hatte, weil er befürchtete, abgehört zu werden. An Reinhardts Apparat meldete sich Daryas und behauptete, dass Reinhardt gerade mit einer hübschen Lady beschäftigt und nicht zu sprechen sei, aber man sich darauf verlassen könne, dass alles glatt ginge.“
„Anderthalb Stunden vor dem Deal?“, echote Kriminaldirektor Bock. „Zu diesem Zeitpunkt war Reinhardt offensichtlich schon tot!“
„Genau“, nickte ich.
„Leider wissen wir noch immer nicht, wo diese Aufnahme gemacht wurde“, sagte Max Vandersteen. „Die Polizei von Potsdam sucht nach wie vor alle Parkplätze und Fahrzeuge ab, die als zumindest zeitweilige Ruhestätte von Herr Reinhardt in Frage kämen. Das sind natürlich in erster Linie alle Parkgelegenheiten in einem gewissen Umkreis um Sabrina Kädingers Wohnung.“
„Ich hoffe, dass sie bald Erfolg damit haben“, meinte Kriminaldirektor Bock.
Wir begleiteten den Kollegen Schneider zur weiteren Befragung von Mehmet Daryas. Wir konfrontierten ihn mit den Bildern von Reinhardt. „Zu einem Zeitpunkt, da Ihr Boss längst tot war und Sie wussten, dass er nicht zum Deal erscheinen konnte, haben Sie gegenüber Braganza das Gegenteil behauptet“, stellte ich fest. Zuvor hatte der Kollege Schneider ihm schon eindringlich seine rechtliche Situation klargemacht. Schließlich hatte Mehmet Daryas die Schießerei begonnen. Wenn er nicht zur Waffe gegriffen hätte, wäre vielleicht überhaupt kein weiterer Schuss gefallen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte er darüber hinaus Rahmani auf dem Gewissen. Die Videoaufzeichnungen zeigten das so eindeutig, dass man nicht erst die ballistischen Untersuchungen abwarten musste, um dies als gegebene Tatsache anzusehen.
Auf einen Anwalt hatte Daryas bisher verzichtet.
Allerdings wäre es uns in diesem Fall durchaus lieber gewesen, wenn er einen Rechtsbeistand gehabt hätte, dem er vielleicht eher den Ernst seiner Lage geglaubt und der ihn zur Kooperation hätte überreden können.
„Jetzt zieht sich die Schlinge zu, Herr Daryas“, stellte der Kollege Schneider fest. „Irgendwann – und zwar in Kürze – wird die Polizei von Potsdam diesen Wagen und die Leiche finden. Und falls Sie etwas damit zu tun haben, Herr Daryas, dann werden sich dort auch Spuren von Ihnen finden! So gut ist niemand, dass er das vollkommen vermeiden kann! Dazu sind die technischen Möglichkeiten, die wir heute haben auch viel zu weit fortgeschritten! Selbst kleinste Partikel, Hautreste, DNA-Material oder Faserspuren reichen heute schon für eine Analyse aus! Also, wenn Sie etwas zu sagen haben, dann sollten Sie das wirklich jetzt tun! Ein Anwalt würde Ihnen da auch nichts anderes raten!“
„Was wollen Sie denn von mir? Mir vielleicht den Mord an Reinhardt anhängen?“, fuhr Daryas nun auf. „Warum sollte ich denn so etwas tun? Das ist doch alles Blödsinn, was Sie mir da vorhalten?“
„Vielleicht haben Sie es nicht mehr ausgehalten, die Nummer zwei in Reinhardts Organisation zu sein“, sagte ich. „Vielleicht wollten Sie an seine Stelle treten und haben ihn kurz vor dem großen Deal aus dem Weg geräumt, um von nun an die Geschäfte selbst übernehmen zu können.“
„Das ist nicht wahr!“, zeterte er.
„Dann klären Sie uns doch darüber auf, was wahr ist!“, erwiderte ich. „Sie haben nichts mehr zu verlieren! Sie haben Jamal ‚White Jacket Kalif’ Rahmani auf dem Gewissen – und noch Ihren eigenen Boss!“
„Ich will jetzt doch einen Anwalt!“, erklärte er.
Das war sein gutes Recht. Und er würde einen Rechtsbeistand angesichts seiner Lage auch zweifellos nötig haben.
Wir fuhren nach Potsdam. Sabrina Kädinger wohnte in einem luxuriösen Altbau. Die Kollegen von der Potsdamer Polizei hatte sie überprüft. Es gab eine Vorstrafe wegen Drogenkonsums, aber da war sie noch minderjährig gewesen. Außerdem eine anonyme Anzeige wegen Prostitution innerhalb des Sperrbezirks, die aber im Sande verlaufen war und nicht zu einem Verfahren geführt hatte. Den Kollegen in Potsdam hatte sie angegeben, in einem Club als Tänzerin zu arbeiten.
Als wir an ihrer Tür klingelten, öffnete uns eine gut aussehende Blondine in einem atemberaubend engen und zweifellos sehr teuren Kleid.
Rudi und ich zeigten ihr unsere Ausweise und wir stellten uns kurz vor.
„Kommissar Harry Kubinke, BKA – und dies ist mein Kollege Kommissar Rudi Meier. Ich hoffe, wir kommen nicht gerade ungelegen“, sagte ich, weil sie so aussah, als wolle sie ausgehen.
Sie blickte auf die Uhr und schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin erst in einer Stunde verabredet.“ Sie bat uns herein und bot uns in dem großzügig ausgestatteten Wohnzimmer einen Platz an. An den Wänden hingen sehr modern wirkende Gemälde.
„Setzen Sie sich. Und wenn ich Ihnen etwas zu Trinken anbieten darf…“
„Wir sind im Dienst“, wehrte Rudi ab.
Sie sah uns prüfend an und zuckte dann mit den schmalen Schultern.
„Wie Sie meinen!“
Eine schwarze Katze fiel mir auf, die uns aufmerksam zu beobachten schien. Vollkommen lautlos bewegte sie sich über den Teppichboden.
Sabrina Kädinger bückte sich, um sie auf den Arm zu nehmen. Aber die Katze hatte offenbar andere Pläne. Sie fauchte und sprang davon. Sabrina richtete sich wieder auf und setzte sich dann zu uns. „So ist das eben“, meinte sie. „Wenn man ein Kuscheltier sucht, sollte man sich einen Hund anschaffen – und keinen Kater. Die haben ihre eigenen Vorstellungen und dass sie einem aufs Wort gehorchen oder dergleichen, funktioniert schon mal gar nicht.“
„Wie heißt das Tier denn?“, fragte Rudi.
„Willy. Ein edles Rassetier. Wenn ich ihn rauslasse, dann schnalle ich ihm jetzt immer seine Cat Cam um. Ich bin erst vor kurzem darauf gestoßen, dass man auf diese Weise verfolgen kann was so ein Tier da draußen so treibt…“ Eine dunkle Röte überzog nun ihr feingeschnittenes Gesicht. Sie schluckte. „Wenn ich gewusst hätte…“ Ihre Stimmte erstickte und sie schüttelte den Kopf und wich meinem Blick aus.
„Möglicherweise wird Ihr Kater Willy dazu beitragen, ein Verbrechen aufzuklären“, sagte ich und musterte sie dabei. Ihr Verhalten wirkte reichlich theatralisch, aber das schien ihre Art zu sein.
Sie erwiderte jetzt plötzlich meinen Blick und fragte: „Diese Dorfpolizisten von der Potsdamer Polizei haben mich zuerst überhaupt nicht ernst genommen! Ich wurde behandelt wie eine Hysterikerin, die man am besten in eine geschlossene Abteilung einweist!“
„Sie müssen zugeben, dass der Fall schon etwas ungewöhnlich ist“, gab ich zurück.
„Wie kommt es, dass sich plötzlich das BKA für den Fall interessiert?“
„Weil der Tote im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen das organisierte Verbrechen steht“, sagte ich. „Er heißt Daniel Reinhardt.“ Ich holte einen Ausdruck hervor, der aus dem uns zugänglichen Archivbestand stammte und legte es vor ihr auf den niedrigen Wohnzimmertisch aus Glas.
„Haben Sie diesen Mann vielleicht schon einmal gesehen?“, fragte Rudi.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wie kommen Sie darauf, dass ich ihn kennen sollte?“
„Er heißt Reinhardt. Da der Aktionsradius Ihrer Katze ja begrenzt ist, könnte es ja sein, dass Herr Reinhardt öfter hier war und Sie ihm mal begegnet sind.“
„Nein.“ Sie schüttelte energisch den Kopf. Mir fiel auf, dass sie sich das Bild kaum angesehen hatte. „Was werfen Sie ihm denn vor?“
„Illegalen Kunsthandel“, sagte ich. „Er war darauf spezialisiert, Kunstschätze aus Asien illegal ins Land einzuführen und weiter zu verkaufen.“
Sie hob die Augenbrauen. „Damit lässt sich Geld machen?“
„Die Gewinnspannen sind derzeit höher als bei Drogen“, erklärte ich. „Aber gleichgültig, was Daniel Reinhardt auch auf dem Kerbholz gehabt haben mag – für uns ist er jetzt in erster Linie ein Mordopfer und wir werden versuchen, alles in unserer Macht stehende zu tun, um den oder die Täter zu ermitteln.“
Sie verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln. „Seien Sie ehrlich: Es geht Ihnen doch mehr darum, seine Komplizen und Hintermänner zu fangen, als darum, wer diesen Gangster umgebracht hat!“
Ich sah sie etwas verwundert an. „Woher wollen Sie das wissen? Schlechte Erfahrungen mit der Polizei!“
„Die Drogensache von damals hängt mir wohl ewig an…“
„Nein. Das ist lange her und Ihre Aussage ist nicht weniger glaubwürdig, nur weil Sie mal Probleme mit der Polizei hatten!“
„Wissen Sie was: Damals war es genauso: Die Polizisten waren nur auf eins aus: Den Dealer, von dem ich den Stoff hatte! Alles andere hat die überhaupt nicht interessiert!“
„Sie sollten das nicht verallgemeinern, Frau Kädinger“, sagte ich. „In welchem Club arbeiten Sie übrigens?“
„Hat das irgendetwas mit dem Fall zu tun? Tut der Club, in dem ich tanze, irgendetwas zur Sache, wenn es um die Schnappschüsse meiner Katze geht?“
Ihre Empfindlichkeit überraschte mich.
„Wir wollen uns nur ein Gesamtbild machen“, sagte Rudi. „Es ist nicht unsere Absicht, gegen Sie zu ermitteln oder Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten machen.“
„Und was Ihre früheren Schwierigkeiten mit dem Ordnungsamt der Stadt Potsdam wegen dem Nachgehen der Prostitution innerhalb eines als Sperrgebiet ausgewiesen Wohngebietes angeht, so fällt das nicht in unseren Zuständigkeitsbereich“, ergänzte ich. „Ähnliches gilt für den eventuell daraus resultierenden Ärger mit dem Finanzamt und den Sozialversicherungsträgern...“
Sie atmete tief durch. „Es ist der Blue Lagoon Club, hier in Potsdam. Sie können dort gerne jeden über mich ausfragen, wenn Sie es für nötig halten. Und wenn Sie weiter die Absicht haben, mich alles doppelt zu fragen, dann gehen Sie doch am besten gleich zu Ihrem Kollegen Kommissar Thölkes von der Mordkommission der Potsdamer Polizei. Dem habe ich nämlich ausführlich Rede und Antwort gestanden!“
„Hat Ihre Katze irgendwelche speziellen Angewohnheiten?“, brachte ich das Gespräch jetzt auf ein anderes Thema. Ich bemerkte ihre Unruhe und begriff nach einem kurzen Moment auch, wodurch sie ausgelöst wurde. Willy beschäftigte sich auf wenig zartfühlende Weise mit einem bestickten Seidenkissen. Die ausgefahrenen Krallen ritzten den Stoff auf. Sabrina Kädinger scheuchte Willy wütend davon. Mit einem Fauchen verzog sich der Kater hinter einen Sessel.
Sabrina Kädinger lächelte gezwungen. „Willy ist eben ziemlich verwöhnt!“, meinte sie. „Ich fürchte, dem wird niemand mehr seinen eigenen Kopf weg-erziehen.“
„Ich fürchte, da haben Sie Recht“, sagte ich.
„Sie haben auch eine Katze?“
„Nein.“
„Aber Sie wissen trotzdem Bescheid.“
„Ja.“
„Willy ist ist er genau wie ich.“
„In wie fern?“
„Ich bin auch schwer erziehbar.“
„Aha.“
„Willy hat übrigens ein ausgesprochenes Faible für parkende Fahrzeuge. Er kriecht immer wieder darunter. Der Inhalt des Chips, den ich Ihrem Kollegen von der Mordkommission überließ, war voll von Bildern, die zeigten wie er unter irgendwelche Fahrzeuge kroch und dort nach was weiß ich wonach suchte…“
„Nun denn, jedem das seine, Frau Kädinger.“
„Sie sagen es, Kommissar Kubinke.“
„Man könnte auch sagen: jedem Tierchen sein Pläsierchen“, ergänzte Rudi.
Sabrina Kädinger wandte sich daraufhin Rudi zu. „Ich mag Männer mit besonders ausgeprägtem Charme.“
„Tja...“
„Sind leider selten.“
„Die Lady wohnt ziemlich luxuriös für eine einfach Club-Tänzerin, würde ich sagen“, meinte ich, nachdem wir Sabrina Kädingers Wohnung verlassen hatten und wieder in den Dienst-Porsche gestiegen waren. Eine Spezialanfertigung, die darüber hinaus natürlich mit allen kommunikationstechnischen Finessen ausgestattet war, die in ein ziviles Dienstfahrzeug des BKA gehörten – zum Beispiel einen integrierten Bordrechner mit Online-Verbindung und hochauflösenden TFT-Bildschirm.
„Vielleicht hat Frau Kädinger einen reichen Gönner, der sie aushält“, glaubte Rudi. „Und ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass sie ihr Geld nur mit Tanzen verdient.“
„Immer noch Prostitution?“
„Das oder Drogen.“
„Oder beides.“
„Hast du ihre rote Nase gesehen, Harry? Sie hat sich alle Mühe gegeben, das wegzupudern und vielleicht hatte sie auch wirklich nur einen Schnupfen, weil es im Blue Lagoon Club zu zugig ist und sie beim Tanzen nichts an hat. Aber ehrlich gesagt, denke ich an etwas anderes.“
„Du glaubst, sie schnupft Kokain?“
„Ja.“
„Aber wir ermitteln nicht gegen sie, sondern sie ist unsere wichtigste Zeugin!“
„Richtig, Harry.“
„Naja, wenn wir sie nochmal befragen sollten, werde ich dir den Vortritt lassen.“
„Wieso?“
„Na, das hast du doch gerade gehört.“
„Ach, Quatsch!“
„Dein Charme scheint genau auf ihrer Wellenlänge zu liegen.“
„Sehr witzig.“
„Ich wusste gar nicht, dass an dir so ein Frauenversteher verloren gegangen ist, Rudi.“
„Und an dir so ein Labersack, Harry.“
„Was soll das den heißen?“
„Das wir zusehen sollten, in diesem Fall endlich einen Schritt weiter zu kommen.“
„Warum so gereizt, Rudi?“
„Nur so.“
Als nächstes suchten wir Kommissar Thölkes von der Mordkommission der Potsdamer Polizei auf. Wir trafen ihn in seinem Büro an, wo er vor dem Bildschirm seines Computers saß und sich digitalisierte Tatortfotos ansah. Ein Anblick, der nichts für zarte Gemüter war, denn vom Gesicht des Opfers war so gut wie nichts mehr erkennbar.
„Harry Kubinke, BKA – die ist mein Kollege Rudi Meier“, stellte ich uns vor und zeigte ihm meinen Ausweis. „Sie sind Kommissar Thölkes?“
„Ja, bin ich. Sie kommen wahrscheinlich wegen des Mordes an Daniel Reinhardt!“
„Ja. Wir haben uns bereits ausführlich mit Sabrina Kädinger unterhalten.“
Thölkes grinste und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Eine hysterische Ziege ist das. Die hat mich den letzten Nerv gekostet. Ich hatte es gleich im Gefühl, dass sie was mit Drogen und Prostitution zu tun hat – oder zumindest hatte – und siehe da, beim Daten-Abruf gab es gleich einen Treffer.“
„Uns geht es eigentlich mehr um den Toten auf den Bildern der Cat Cam“, stellte Rudi fest.
„Auf einem der vorhergehenden Bilder ist in Großaufnahme einer Radkappe zu sehen. Wir wissen daher, dass es sich bei dem Fahrzeug, unter dem der Tote gelegen hat, um einen Mercedes gehandelt hat. Ich nehme an, Sie haben sich die Bilderserie ebenfalls zu Gemüte geführt.“
„Haben wir“, sagte ich. „Zumindest die relevanten Bilder. Unsere Leute sind nach wie vor auf der Suche.“
„Auf einer der Aufnahmen, die nicht relevant zu sein scheinen, ist aus der Ferne ein Autokennzeichen eines Ford Maverick zu sehen“, stellte Thölkes fest. Er drückte ein paar Tasten an seiner Computertastatur. Die grässlichen Tatort-Fotos verschwanden. Thölkes murmelte irgendetwas von einer Leiche, die am Morgen in einem städtischen Park gefunden worden war und von der noch niemand wusste, um wen es sich handelte.
Dann wählte er den Ordner mit den Bildern an, die er sich von Sabrina Kädingers Cat Cam Chip herunterkopiert hatte.
Wir sahen zunächst noch einmal die Bilder, die uns auch Max Vandersteen vorgeführt hatte. Thölkes machte uns dann jedoch auf ein Bild aufmerksam, das der Uhrzeit- und Datumsangabe im oberen linken Eck nach einen Tag vor den Aufnahmen von Reinhardt entstanden war.
Willy war offenbar nicht nur auf einem Parkplatz unterwegs gewesen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bildern, auf denen nur Rinnsteine, Gullydeckel, Radkappen und Treppenabsätze Haustüren zu sehen waren, hatte man hier freie Sicht auf die Vorderfront eines Ford Maverick.
„Wir haben das Bild etwas bearbeitet“, sagte Thölkes. Er zoomte das Nummernschild heran. Die Nummer war jetzt gut zu erkennen. „Der Halter heißt Claus-Hinrich Markowitsch, ist 76 Jahre alt, pensionierter Schulleiter und bis gestern auf Besuchsreise zu seinem Sohn, der an der USC in Kalifornien studiert.“
„Sie sind gut informiert“, sagte ich.
„Glücklicherweise gibt es redselige Nachbarn“, gab Thölkes zurück. „Wenn Sie wollen, können wir zu ihm fahren.“
„Okay“, meinte Rudi.
Ob Claus-Hinrich Markowitsch uns weiterhelfen konnte, war natürlich nicht gesagt. Aber immerhin war Willy in der Nähe seine Wagens gewesen und vielleicht lernten wir auf diese Weise wenigstens einen Lieblingsplatz des Katers kennen. Ob das dann auch der Ort war, an dem es sich lohnte, nach Spuren des toten Daniel Reinhardt zu suchen, musste sich erst noch herausstellen.
Kommissar Lars Thölkes fuhr zusammen mit einer jungen Kollegin namens Rebecca Duvalier in einem Dienst-BMW des Potsdam Polizei voraus, wir folgten mit dem Dienst-Porsche.
Die Adresse von Claus-Hinrich Markowitsch lag nur ein paar Blocks von dem Haus entfernt, in dem Sabrina Kädinger lebte. Aber das hatten wir auch nicht anders erwartet.
„Ich verstehe nicht, wieso die Kollegen aus Potsdam den Parkplatz, auf dem der Tote von der Cat Cam fotografiert wurde, nicht längst gefunden haben“, übte Rudi deutliche Kritik an den Kollegen. „Das kann doch nicht so schwer sein!“
„Die haben lange nicht so viele Spezialisten zur Verfügung wie wir“, nahm ich Lars Thölkes und seine Leute in Schutz. „Du weißt, dass der Erkennungsdienst der Potsdamer Polizei nicht einmal ausreicht, um alle Fälle zu bearbeiten, die hier anfallen und sie immer wieder auf Unterstützung durch die Erkennungsdienstliche Abteilung des BKA in Berlin angewiesen sind.“
„Dann sollten wir vielleicht besser auf die Amtshilfe der Potsdamer Kollegen verzichten und die Sache unseren Kollegen im Präsidium übergeben“, knurrte Rudi.
„Abwarten. Geben wir ihnen noch ´ne Chance“, schlug ich vor. „Wunderdinge könnten wir selbst von unseren eigenen Leuten da nicht erwarten.“
„Trotzdem... Es gibt doch nur eine Handvoll öffentlicher Parkplätze, die von Sandra Kädingers Wohnung aus für diesen Kater erreichbar sind…“
„Der Täter wird wohl kaum darauf gewartet haben, bis sich dort weitere Katzen und noch anderes Getier einfinden, um mal kurz an der Leiche zu schnüffeln. Ich nehme an, der Tote war nur vorübergehend unter den Wagen gelegt worden, und später ist jemand gekommen, hat die Leiche und den Wagen verschwinden lassen und auch alle Spuren vernichtet – so weit das möglich ist.“
„So weit das möglich ist“, echote Rudi. „Das ist der springende Punkt. Du weißt so gut wie ich, dass das fast unmöglich ist. Denn wenn wir den Ort hätten, wo der Tote gelegen hat, dann würden wir auch etwas von ihm finden… Und wenn es nur ein einziger DNA-Strang sein sollte!“
Wir parkten hinter Thölkes’ BMW am Straßenrand. In einem mehrstöckigen Mietshaus aus Sandstein, dass durchaus der gehobenen Mittelklasse angehörte, fanden wir die Wohnung von Claus-Hinrich Markowitsch.
Ein rüstig wirkender Mann in den Siebzigern öffnete uns.
Das Haar war grau-weiß, aber immer noch erstaunlich voll für sein Alter.
Er trug einen grauen Kinnbart. Zwei blaue Augen musterten uns zunächst misstrauisch. Nachdem wir ihm unsere Ausweise gezeigt hatten, entspannte sich seine Körperhaltung etwas.
Thölkes zeigte ihm einen Ausdruck des Fotos und eine vergrößerte Fassung. „Sie sind der Halter dieses Ford Maverick, nicht wahr?“
„Ja, der bin ich. Was ist mit dem Wagen? Ich war in den letzten Tagen auf Reisen und hatte ihn auf einem Parkplatz hier in der Nähe stehen. Hat es da irgendeinen Unfall gegeben… Aber Moment mal, da würde ja wohl kaum das BKA auftauchen!“
„Wir möchten, dass Sie uns zeigen, wo der Wagen steht“, sagte ich ruhig.
„Wenn ich Ihnen damit helfen kann – warum nicht? Geht es um irgendeinen Terror-Verdacht? War vielleicht eine Bombe im Kofferraum oder so etwas? Ich habe mit solchen Machenschaften nichts zu tun!“
„Zeigen Sie uns einfach den Wagen, Herr Markowitsch“, beruhigte ich ihn. „Wir ermitteln nicht gegen Sie oder wollen Sie in Zusammenhang mit irgendeinem Verbrechen bringen. Uns geht es nur um den Parkplatz.“
Markowitsch zuckte mit den Schultern.
„Ich ziehe mir eben noch eine Jacke an“, kündigte er an.
Markowitsch brachte uns zu einem Parkplatz, der sich nur wenige Schritte entfernt auf einem abgegrenzten Gelände befand. Man musste für das Parken bezahlen. Markowitsch erläuterte uns das Tarifsystem und meinte, dass das extrem ungerecht sei. „Die nutzen einfach die Parkplatzknappheit hier in der Gegend aus!“, sagte er. „Man kann zwar auch an der Straße stehen, aber wenn ich ein paar Tage verreist bin, ist mir das zu unsicher. Früher habe ich in Berlin gewohnt und war Lehrer. Wir sind weggezogen, als die Kinder kamen – aber heute sind die Verhältnisse hier in Potsdam kaum anders als die Berlin Mitte!“
„Der Parkplatz wird bewacht?“, hakte ich nach. „Das heißt, es gibt auch Überwachungskameras?“
Malkovich nickte. „Natürlich! Wofür bezahle ich denn sonst?“
Kommissar Thölkes meldete sich zu Wort. „In dem Fall können wir davon ausgehen, dass die entsprechenden Aufzeichnungen von unseren Leuten bereits sichergestellt wurden“, erklärte er. „Allerdings sind unsere erkennungsdienstlichen Kapazitäten nicht so groß, dass wir die Videoaufzeichnungen von Dutzenden bewachten Parkplätzen schon hätten auswerten können…“
„Ich schlage vor, dass wir das ganze Material später mitnehmen und unseren Spezialisten übergeben“, sagte ich.
„Tun Sie das, Herr Kubinke“, nickte Thölkes.
„Aber es ist extrem unwahrscheinlich, dass dies der Parkplatz ist, den wir suchen“, mischte sich seine Kollegin Duvalier ein. Sie hatte eine Liste der Parkplätze dabei. Dieser war von ihren Kollegen laut Liste überprüft worden – allerdings bevor man die Nummer des Maverick identifiziert hatte. „Die Überwachungskameras erfassen den gesamten Parkplatzbereich und es wäre unmöglich gewesen, dass jemand eine Leiche unter irgendein Fahrzeug hätte legen können, ohne das das aufgenommen worden wäre.“
„Eine Leiche unter einem Fahrzeug?“, fragte Markowitsch. „Worum geht es hier eigentlich? Und was sind das für Bilder, die Sie mir gerade gezeigt haben?“
„Bilder aus einer Cat Cam, die am Halsband eines schwarzen Katers befestigt war“, erläuterte ich. „Und die hat auch einen Toten fotografiert. Wir wissen allerdings nicht wo – und Ihre Wagennummer ist der erste konkrete Hinweis.“
Wir erreichten den Parkplatz.
Der Ford Maverick war schnell gefunden und wir konnten ungefähr den Punkt bestimmen, wo die Katze gestanden hatte, als sie ihn geknipst hatte.
Lars Thölkes hatte den Rest der Bildsequenz auf ein PDA geladen und jetzt suchten wir nach weiteren Übereinstimmungen.
Markowitsch runzelte die Stirn. „An die schwarze Katze erinnere ich mich“, sagte er.
„Erzählen Sie, Herr Markowitsch“, forderte ich ihn auf.
Markowitsch zuckte mit den Schultern. „Was wollen Sie denn wissen? Ich habe ja keine Ahnung, was für Sie wichtig sein könnte!“
„Alles, was Ihnen zu dieser Katze einfällt. Legen Sie einfach los. Was wichtig ist, werden wir schon herausbekommen – aber dieser schwarze Kater ist leider der einzige brauchbare Zeuge, den wir haben!“
Markowitsch seufzte hörbar. „Das war vor einer Woche, als ich den Wagen hier abstellte und die Dauerkarte löste, weil ich doch zu meinem Sohn an die Westküste fliegen wollte! Da war eine Frau und ein Mann. Die haben sich gestritten.“
„Worum ging es?“
„Es ging um die Katze.“
„In wie fern?“
„Sie haben versucht, dem Tier irgendetwas um den Hals zu schnallen.“
„Was?“
„Das war so ein breites Halsband in Weiß.“
„Was geschah dann?“
„Die Katze ist dann auf und davon – ohne das Band. Und die beiden haben sich angeschrien!“
„Können Sie mir die beiden beschreiben?“, fragte ich.
Markowitsch nickte. „Die Frau war blond und hatte ein ziemlich enges Kleid an.“
„Und der Mann?“
„Den Mann habe ich leider nur von hinten gesehen.“
„Über den kann ich nichts weiter sagen?“
„Nein. Leider.“
„Nicht irgendein Merkmal?
„Tut mir Leid.“
„Gut...“
Markowitsch hob die Augenbrauen. „Habe ich Ihnen damit irgendwie weiterhelfen können?“
„Möglicherweise, Herr Markowitsch“, gab ich zur Antwort.
„Das würde mich freuen.“
„Wir bedanken uns für Ihre Mühe.“
„Ich finde, die Polizei sollte man unterstützen.“
„Das finden wir auch.“
„Ist nicht mehr üblich, oder?“
„Nicht immer.“
„Ja, davon liest man ja jeden Tag in der Zeitung.“
„Naja, hängt immer davon ab, welche Zeitung man liest.“
„Wie?“
„Ach, nichts.“
„Hm.“
Rudi sagte: „Wir müssen jetzt weiter, Harry!“
Etwa zur selben Zeit trafen sich unsere Kollegen Jürgen Carnavaro und Oliver „Olli“ Medina mit unserem Informanten Frank Schachmann in einem Bistro in Berlin Mitte. Er hieß Antonios Bistro.
Jürgen und Olli hatten bereits einiges unternommen, um Schachmann aufzutreiben.
In seiner Wohnung war er nicht erreichbar gewesen und sein Handy hatte er abgeschaltet.
Schließlich war er es, der sich über ein neues Prepaid-Handy bei Jürgen gemeldet und mit ihm dieses Treffen verabredet hatte.
Aber jetzt ließ Schachmann auf sich warten. Olli blickte ungeduldig auf die Uhr.
Jürgen nippte an seinem Espresso.
„Ich fürchte, der hat uns im Stich gelassen“, meinte Olli.
„Abwarten.“
In diesem Moment kam ein Mann im grauen Dreiteiler durch den Hinterausgang des Bistros herein.
Das war Schachmann.
Das Haar war grau meliert, das Gesicht kantig.
Er wechselte ein paar Worte mit dem Besitzer des Bistros und setzte sich dann zu uns.
„Tut mir leid, dass ich etwas zu spät dran bin“, sagte er.
Jürgen fiel gleich die Wölbung unter der Jacke auf. Er trug offenbar eine Waffe.
Außerdem wirkte er dicker als sonst und der Anzug saß schlecht, was wohl nur damit zu erklären war, dass er eine Kevlar-Weste unter der Kleidung trug.
„Ist Ihnen jemand auf den Fersen oder was ist los?“, fragte Jürgen.
„Genauso ist es“, bestätigte Schachmann. „Ich wurde verfolgt.“
„Sie waren nicht zu Hause.“
„Dahin werde ich auch so schnell nicht hin zurückkehren. Ich habe mir ein Hotelzimmer genommen.“
„Haben Sie eine Ahnung, wer dahinter steckt?“, hakte Jürgen nach.
Schachmann zuckte mit den Schultern. „Jemand, der herausgefunden hat, dass ich mit Ihnen gemeinsame Sache mache! Kann mir fast egal sein, wer das ist. Von denen würde niemand zögern, einen Verräter einfach über den Haufen zu schießen.“
„So wie es jemand mit Daniel Reinhardt gemacht hat“, stellte Jürgen fest.
Schachmann verengte die Augen, sah sich einmal kurz um und fragte dann: „Was?“
Entweder seine Reaktion war sehr gut gespielt oder tatsächlich echt.
Weder Jürgen noch Olli trauten sich in dieser Situation eine abschließende Beurteilung in dieser Frage zu.
Jürgen schob ihm einen der Fotoausdrucke zu, die es von den Cat Cam-Fotos ab.
„Oder haben Sie irgendeinen Zweifel daran, dass das Reinhardt ist?“
„Hundertprozentig! Das ist der.“ Schachmann atmete tief durch. „Einige aus der Organisation sind jetzt höchst misstrauisch geworden. Und was unsere Geschäftspartner angeht, so gilt das natürlich doppelt und dreifach! Daniel Reinhardt ist nicht zum Deal erschienen, es gab eine Riesen Schießerei…“
„…die von Mehmet Daryas vom Zaun gebrochen wurde!“, gab Jürgen zu bedenken. Er beugte sich etwas vor und sein Gesichtsausdruck wurde jetzt sehr ernst. „Ich schlage vor, Sie erzählen uns jetzt umgehend alles, was Sie über diese Sache wissen, Herr Schachmann – und zwar ohne jede Einschränkung! Sonst können wir nämlich nichts mehr für Sie tun…“
„Aber…“
„Wissen Sie, wie das aus unserer Sicht jetzt aussieht, Herr Schachmann?“
„Ich ahne es, aber ich sage Ihnen: Sie irren sich!“
„Für mich wirkt das so, als hätten Sie die ganze Bande und uns zu dem Deal bestellt und wir sollten ein paar Leute aus dem Verkehr ziehen, die Ihnen vielleicht in Ihre ganz persönlichen Geschäfte hineingefunkt haben!“
„Das ist nicht wahr!“, behauptete Schachmann.
„Wann haben Sie das letzte Mal mit Daniel Reinhardt gesprochen?“, fragte Olli.
Schachmann schluckte. Sein Gesicht wurde dunkelrot. Er löste den ersten Hemdknopf und lockerte etwas die Krawatte. „Werde ich jetzt verdächtigt?“
„Nein, das ist noch ein informelles Gespräch zwischen ermittelndem BKA-Kommissar und Informant. Sonst hätte ich Sie auch bereits auf Ihre Rechte hingewiesen. Aber der Status eines Gesprächspartners kann sich ja bekanntlich sehr schnell ändern – also wenn Sie jetzt schon der Meinung sind, dass Sie einen Rechtsbeistand brauchen, dann führen wir das Gespräch vielleicht besser im Büro unseres zuständigen Staatsanwalts oder in einem der Verhörräume des Präsidiums fort – falls Ihnen das lieber ist!“
Jürgens Tonfall machte klar, dass er nicht bereit war, sich länger etwas vormachen zu lassen. Schachmann hatte dem BKA gegenüber bisher offenbar nicht so umfänglich ausgepackt, wie er bis dahin immer behauptet hatte. Und auch jetzt schien er aus irgendeinem Grund ein Versteckspiel aufzuziehen. Wahrscheinlich, weil er noch eigene Geschäftsinteressen mit der Organisation verband. Er hatte seine Schäfchen wohl noch nicht ins Trockene gebracht. In wie fern seine Angaben darüber, dass er verfolgt wurde, der Wahrheit entsprachen, oder nur Theater waren, vermochte Jürgen nicht zu beurteilen. Zweifellos hatte Schachmann eine dramatische Ader. Das hatte sich auch bei früheren Treffen mit dem Informanten immer wieder gezeigt.
Oft dramatisierte er Dinge stark, um damit das Interesse seines jeweiligen Gesprächspartners zu wecken oder in eine bestimmte Richtung zu manipulieren.
Jürgen wusste inzwischen, dass man bei ihm immer auf der Hut sein musste und sich am besten nie nur auf seine Angaben allein verließ.
„Na los, diese Frage kann ja wohl nicht so schwer zu beantworten sein, oder?“, hakte Jürgen nach.
„Ich habe ihn vorgestern Abend zum letzten Mal gesehen“, gab Schachmann Auskunft. „Das war vierundzwanzig Stunden vor dem Deal. Ich wollte unbedingt sicher gehen, dass das ganze auch tatsächlich über die Bühne gehen würde. Darum wollte ich mit ihm sprechen. Ich habe einem seiner Jungs fünfhundert Euro gegeben, damit er mir verriet, wo er war.“
„Welcher von seinen Jungs war das?“
„Toni Strothmann. Ein übler Finger. Er rasiert sich den Schädel immer kahl. Reinhardt hat ihn bei offiziellen Geschäftsterminen immer nur mitgenommen, wenn er ein Hemd mit langen Ärmeln oder ein Jackett an hatte, weil er jede Menge Tätowierungen an den Unterarmen hat und die Abnehmer unserer hochwertigen Asiatika eher – wie soll ich sagen - konservativ eingestellt sind.“
„Wo haben Sie Strothmann getroffen?“
„In seiner Stamm-Bar. Ich habe ihm irgendetwas vorgelogen, dass da wegen dem Deal noch etwas zu klären sei und so. Er hat es geschluckt, und weil ich ihm fünfhundert Euro gegeben habe, konnte ich auch sogar sicher sein, dass er darüber gegenüber Herr Reinhardt nichts gesagt hätte.“
Jürgen nickte. „Okay, und wo haben Sie Reinhardt dann gefunden?“
„Im Blue Lagoon, einem Nachtclub in Potsdam.“
„Kam das öfter vor, dass Reinhardt zum amüsieren das kleine Dorf Berlin Mitte verließ und die Weltstadt Potsdam aufsuchte?“
Frank Schachmann schüttelte energisch mit dem Kopf.
„Noch nie. Zumindest nicht, dass ich davon wüsste, Herr Carnavaro. Ich habe dann so getan, als würde ich Reinhardt zufällig im Blue Lagoon treffen. Er hat versichert, dass mit dem Deal alles glatt gehen würde. Und dann hat er mich noch gefragt, dass er diesen Brian Patterson mal überprüfen könnte.“
„Jamal ‚White Jacket Kalif’ Rahmanis Kunstexperte?“, hakte Jürgen nach.
„Genau. Rahmani hat wohl angekündigt ihn mitzubringen und Reinhardt war das nicht geheuer.“
„Haben Sie etwas herausgefunden?“
„Ja. Der Mann ist als Experte wirklich eine Kapazität. Im Internet finden Sie Dutzende von Fachaufsätzen von ihm. Was das Khmer-Reich und die Geschichte Südostasiens angeht, macht ihm keiner was vor. Das habe ich am Tag gegen Mittag per Handy übermittelt. Allerdings nicht ihm direkt, sondern Mehmet Daryas. Reinhardt war irgendwie verhindert.“
„Wir nehmen an, dass er da schon nicht mehr lebte…“
„Hören Sie, ich glaube, da war eine Rebellion gegen Reinhardt innerhalb der Organisation im Gang. Und Mehmet Daryas gehörte dazu!“
„Wer noch?“
„Das kann ich Ihnen vielleicht morgen oder übermorgen sagen.“
„Ich dachte, Sie werden verfolgt. Wollen Sie nicht lieber in Schutzhaft genommen werden?“, fragte Jürgen.
„Nein, ich kann gut auf mich selbst aufpassen. Ich muss noch ein paar geschäftliche Dinge in Ordnung bringen.“
Frank Schachmann stand auf. „Versuchen Sie nicht mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich rufe Sie an – nicht umgekehrt. Verstanden, Herr Kommissar?“
Jürgen Carnavaro nickte.
„War ja deutlich genug!“
Er verließ das Bistro durch den Hinterausgang, so wie er gekommen war.
Olli trank seinen Espresso aus. „Ich habe bei diesem Typen immer das Gefühl, dass er uns an der Nase herumführt!“
„Urteile nicht zu hart über ihn. Ohne ihn wären wir an Reinhardt oder diesen Kerl im weißen Anzug nicht herangekommen, Olli.“
„Ich mag ihn trotzdem nicht. Kann ich leider nicht ändern.“
Schussgeräusche ließen Jürgen und Olli zusammenzucken. Zwei Schüsse kurz hintereinander wurden im hinteren Teil des Bistro abgegeben.
Die beiden BKA-Kollegen zogen ihre Dienstwaffen und stürzten hinter den Tresen. Der Besitzer stand wie erstarrt da. Olli hielt ihm den Ausweis hin. „Zur Seite! BKA!“
Jürgen trat die Tür zum Hintereingang zur Seite. Dahinter befand sich ein halbdunkler Flur.
Ein Stöhnen klang ihm entgegen.
Auf dem Boden lag jemand und krümmte sich.
Am Ende des Gangs bewegte sich etwas.
Ein Mann.
Er drehte sich herum.
Das Mündungsfeuer einer Pistole leckte wie eine blutrote Zunge aus dem Lauf.
Der Schuss ging knapp an Jürgen vorbei und schlug in den Türrahmen.
Ein Loch so dick wie drei Finger wurde in das lackierte Holz hineingerissen.
Jürgen feuerte ebenfalls. Aber der Kerl war schon um die nächste Ecke.
Jürgen setzte nach.
Olli folgte ihm, beugte sich zu dem Verletzen hinab. Es war Schachmann.
Eine Kugel hatte ihn in der Brust erwischt, eine zweite am Kopf.
Ein Streifschuss an der Schläfe.
Es blutete entsetzlich.
Olli griff als erstes zum Handy und rief den Rettungsdienst – und dann Verstärkung.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: Hendrik Bekker
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2017
ISBN: 978-3-7438-1286-4
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