Cover

Das große Krimi Strand-Paket Juni 2017

Krimis von Alfred Bekker

 

 

Krimis der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.

Mal provinziell, mal urban. Und immer anders, als man zuerst denkt.

 

Gesamtumfang: 1107 Taschenbuchseiten

 

Dieses Buch enthält folgende Krimis:

 

Alfred Bekker: Kubinke und der verschwundene Flüchtling

Alfred Bekker: Der Hurenmörder von Berlin

Alfred Bekker: Mord am East River

Alfred Bekker: Tuch und Tod

Alfred Bekker mit M. Munsonius: Die toten Augen von Schmilka

Alfred Bekker mit Rupert Bauer: Passauer Mords-Dessert

Alfred Bekker: Nach all den Jahren

Alfred Bekker: Ein Hai im Swimming-Pool

Alfred Bekker mit M.Munsonius: Killer im Käfig

Alfred Bekker: Die schlesische Zeitmaschine

Alfred Bekker mit W. A. Hary: Treffpunkt Hölle

Alfred Bekker: Der Satansbraten

Alfred Bekker: Ein Mann für besondere Aufträge

Alfred Bekker: Kein Grund zum Feiern

Alfred Bekker: Der perfekte Coup

Alfred Bekker: Der Juwelen-Coup

Alfred Bekker: In der Falle

Alfred Bekker: Robbies Coup

Alfred Bekker: Der Safe des Country Sängers

Alfred Bekker: Der Motorrad-Mörder

Alfred Bekker: Der Barbier von Lloret de Mar

Alfred Bekker: Das Mörderschiff

Alfred Bekker: Wer killte den Zahnarzt?

Alfred Bekker: Der Pförtner sah den Mörder

Alfred Bekker: Tote Zeugen reden nicht

Alfred Bekker: Wann starb Joe Brodkey?

Alfred Bekker: Amok-Wahn

Alfred Bekker: Bilder eines Mordes

Alfred Bekker: Die Tour des Mörders

 

 

 

 

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.

 

Titelbild: Steve Mayer

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Kubinke und der verschwundene Flüchtling

Krimi von Alfred Bekker


Der Umfang dieses Buchs entspricht 130 Taschenbuchseiten.


Die beiden BKA-Ermittler Harry Kubinke und Rudi Meier hat es aus der Hauptstadt in die sächsische Provinz verschlagen. Der Mord an einem Kollegen muss aufgeklärt werden. Die Liste der Tatverdächtigen ist lang. Und die örtliche Polizei ist leider keine Hilfe. Hat der verschwundene Flüchtling mit dem Mord zu tun?


Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.




Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de



Personen:

Harry Kubinke - Kriminalhauptkommissar beim BKA.

Rudi Meier - sein Kollege.

Der Wirt - mag die beiden nicht.

Rüdiger Schmitten - ein BKA-Mann, der ermordet im Wald gefunden wurde.

Abdullah Abu Khalil - ein syrischer Flüchtling, der im Verdacht steht, Kontakte zu islamistischen Terrorgruppen zu haben.

Jürgen Dahlheim - Leiter der örtlichen Polizeidienststelle.

Regina Dörfner - eine junge Polizeibeamtin.

Bernd Ludwig - besitzt eine doppelläufige Jagdbüchse

Heino Zäuner - wird von Harry Kubinke erschossen.

Devid Dresel - hat einen Baseballschläger.

Ferdinand von Bleicher - ein Kämmerer, der eine dubiose Rolle spielt.

Martin Keller - der windige Bürgermeister.

Jennifer Möhrke - kennt Devid Dresel etwas besser - oder auch nicht.

Dr. Sven Frankenberg - Devid Dresels Verteidiger, Studienfreund und Burschenschaftskamerad von Ferdinand von Bleicher




1

Es war ein ziemlich öder Dezembertag, als wir in dieses kleine Dorf in Sachsen fuhren. In Berlin war gerade ein islamistischer Terrorist mit einem gekaperten Dreißigtonner in einen gut besuchten Weihnachtsmarkt hineingerast. Die Kollegen dort waren jetzt nicht zu beneiden. Ermittlungen unter besonderer Anteilnahme der Öffentlichkeit und der Politik sind immer besonders unangenehm. Leute wie uns sollte man einfach ihre Arbeit machen lassen. Aber noch bevor der erste Fingerabdruck genommen und die erste DNA-Spur ausgewertet ist, gibt es immer jede Menge Schreihälse, die gleich irgendwelche - meistens nicht sehr sinnvollen - Konsequenzen fordern.

Wir hatten mit der Sache in Berlin jedenfalls ermittlungstechnisch nichts zu tun.

Wir waren nicht involviert.

Stattdessen hatten wir einen anderen Fall, der auch dringend war.

Und es bestand die reelle Chance, dass man uns in Ruhe ermitteln ließ. Im Windschatten eines viel größeren Verbrechens gibt es so etwas hin und wieder.

Kommt selten vor, aber es kommt vor.

Wie auch immer: Wir fuhren in dieses Dorf in Sachsen. Ich will seinen Namen nicht nennen. Der Ruf dieser Ortschaft ist schon schlecht genug. Und er wird durch diese Geschichte sicher nicht besser.

“Ermitteln Sie mit Fingerspitzengefühl”, hatte Kriminaldirektor Bock uns am Morgen noch gesagt. “Und möglichst schnell. Und vergessen Sie nicht, dass es um einen Kollegen geht.”

Als ob das Leben eines Kollegen für uns mehr wert gewesen wäre als das irgendeines Penners, der von Neonazis zusammengetreten wird und an seinen Verletzungen stirbt. Ich zumindest habe das nie so gesehen. Und bei Bock konnte ich mir das eigentlich auch nicht vorstellen. Ich denke, , dass er einfach nervös war. Kam bei ihm selten vor, aber wie es schien, hatten mein Dienstpartner Rudi Meier und ich einen dieser seltenen Momente erlebt. Wie es dazu gekommen war, konnten wir uns natürlich denken. Kriminaldirektor Bock hatte das gar nicht weiter ausführen müssen. Es war sonnenklar, dass er Druck von oben bekommen hatte.

Der Fall war brisant.

Ein BKA-Ermittler hatte in diesem sächsischen Dorf nach einem syrischen Flüchtling gesucht, der im Verdacht stand, mit radikalen islamistischen Terrorgruppen in Kontakt zu stehen. Aber anstatt, dass der Kollege den Flüchtling aufspürte, verschwand auch der Spürhund. Und nach einiger Zeit fand man unseren Kollegen dann. Jemand hatte ihm den Schädel eingeschlagen.



2

Das Hotel, das man für uns gebucht hat, war nicht gerade erstklassig.

“Sag jetzt nichts”, raunte mir Rudi zu, nachdem er meinen Blick registriert hatte und wohl auch richtig zu deuten wusste. Rudi und ich sind schon sehr lange Dienstpartner. Und wir sind Freunde. Schon eine dieser Eigenschaften würde ausreichen, um irgendwann in der Lage zu sein, die Gedanken des anderen zu lesen.

Der Wirt war ein kleiner, hutzeliger Mann mit einer unangenehm scharf klingenden Stimme. Dazu kam noch sein sächsischer Akzent. Man kann so etwas durchaus als Folter für die Ohren bezeichnen.

“Also Ihr Zimmer ist im ersten Stock und hat die Nummer 12.”

“Aha”, sagte ich.

“Es ist die Nummer 12 auf der rechten Seite. Wir haben auch links eine Nummer zwölf, weil wir die Nummer 13 nicht vergeben. Sie verstehen, nicht wahr?”

“Nein.”

Er beugte sich über den Tresen und sprach in gedämpftem Tonfall weiter. “Aberglauben.” Er klopfte auf das Holz des Tresens. “Ich glaub ja nicht dran.”

“Nee, schon klar.”

“Aber sicher ist sicher, würde ich sagen.”

“Was ich nicht verstehe, ist, wie Sie von einem Zimmer sprachen”, mischte sich jetzt Rudi ein. “Wir brauchen zwei. Und die sind auch gebucht worden.”

“Es tut mir leid, aber da muss ein Missverständnis vorliegen. Es gibt nur ein Zimmer für Sie.” Der Wirt grinste schief. “Aber es macht so Leuten wie Ihnen doch sicher nichts aus, etwas enger zusammenzurücken”, meinte er dann noch. “Sie verstehen schon, was ich meine.”

“Nee, verstehe ich nicht”, sagte ich.

Ich wollte es auch eigentlich gar nicht verstehen. Das dreckige Grinsen des Wirtes machte ihn mir auch nicht gerade sympathischer.

“Na ja …”

“Na ja, was?”, fragte ich.

“So Leute wie Sie … Aus der Hauptstadt … Da ist doch kaum noch einer vom richtigen Ufer. Die Schwulen sind doch da vermutlich schon in der Mehrheit.” Er knallte den Schlüssel auf den Tisch. “Ich habe auch nur einen Schlüssel. Tut mir leid, den zweiten Schlüssel hat mal ein Gast verbummelt. Das war letztes Jahr, als dieser Monteurstrupp hier war. Aus Polen. Die haben sowieso alles mitgenommen, was nicht festgeschraubt war, kann ich Ihnen sagen. Dagegen sollten Sie mal was unternehmen. Sie sind doch von der Kripo, oder?”

“Bundeskriminalamt”, sagte ich.

“Früher hätte man gesagt Stasi. Ist ja auch egal.”

“Nein, das ist nicht egal.”

“Meine Güte, so humorlos, wie Sie sind, Herr …”

“Kubinke”, unterbrach ich ihn.

“Sie sind wegen dem Bullen hier, den man umgebracht hat?”

“Das war ein Beamter des Bundeskriminalamtes. Für Bullen sind Veterinäre zuständig.”

“Was?”

Er sah mich einen Moment lang verständnislos an.

Ich nutzte die Gelegenheit, um gleich eine Frage hinterherzuschieben, denn der Wirt stand ohnehin auf der Liste der Personen, mit denen wir uns unterhalten wollten. Ich hielt ihm mein Handy hin. Auf dem Display war ein Bild des ermordeten Kollegen zu sehen. “Wir reden über diesen Mann, nicht wahr?”

Auf dem Foto war zu sehen, dass er tot war. Und da der Kollege ein paar Tage im Wald gelegen hatte und man ihm mit einem stumpfen Gegenstand auf den Schädel gehauen hatte, sah er entsprechend aus.

Der Wirt wagte nur einen kurzen Blick.

Er runzelte die Stirn.

“Er hat hier gewohnt”, stellte ich fest. “Hier in diesem Hotel.”

“Hatte aber schon ausgecheckt”, sagte der Wirt. “Er war nur eine Nacht hier, dann hat er am Morgen seine Sachen genommen und ausgecheckt. Und da lebte er noch. Schmitten heißt er, nicht wahr? Also ich wollte sagen: So hieß er.”

“Rüdiger Schmitten”, wiederholte ich.

“War hinter einem Terroristen her. Irgendein Abu Abdul irgendwas.”

“Woher wollen Sie wissen, dass das ein Terrorist war?”, fragte mein Kollege Rudi Meier.

Der Wirt hob die Augenbrauen. “Na, was denn sonst?”

“Der Mann, den Kommissar Schmitten gesucht hat, müsste sich laut unseren Informationen hier im Ort aufhalten”, sagte ich.

“Müsste”, wiederholte der Wirt. “Tut er aber nicht.”

“Wieso sind Sie da so sicher?”

“Na, weil …” Er zögerte. “Der ist sicher wieder weg. Und überhaupt, was spielt das für eine Rolle?” Er wirkte plötzlich nervös. Sehr nervös sogar. “Also, ich kann dazu eigentlich auch gar nichts weiter sagen. Wirklich nicht.” Er druckste etwas herum. Redete davon, dass er es nicht gut fände, dass so viele Fremde ins Land gekommen seien. Und das dürfte man ja wohl auch mal sagen.

Dann zeigte er uns das Zimmer.

“Davon habe ich immer schon geträumt, Rudi”, meinte ich.

“Wie bitte?”

“Na, mit dir in einem Bett schlafen.”

“Ich hoffe, du schnarchst nicht, Harry.”

“Doch, tue ich”, sagte ich.

“Wenn ich das geahnt hätte …”

“Was dann?”

“Dann hätte ich Ohropax mitgenommen. Aber in diesem Ort gibt es wahrscheinlich nicht einmal einen Laden, wo man sich so etwas besorgen kann.”

Der Wirt war die ganze Zeit über im Zimmer geblieben. Er hatte uns mit einem Gesichtsausdruck zugehört, der schwer zu deuten war. Aber mir war die v-förmige, tiefe Furche auf seiner Stirn gleich aufgefallen. Er wirkte skeptisch.

“Was ist noch?”, fragte ich.

“Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben dürfte …”

“Aber immer”, meinte Rudi. “Oder bist du da anderer Ansicht, Harry?”

“Keineswegs”, meinte ich.

Der Wirt schluckte. Er rieb die Handflächen gegeneinander. Und er wich meinem Blick aus. “Sehen Sie zu, dass Sie das erledigen, was Sie hier zu erledigen haben und dann verschwinden Sie am besten wieder. Wir mögen hier keine …”

“Keine was?”, hakte ich nach.

“Leute von auswärts, die hier nicht hinpassen.”

“Na, das beruhigt mich aber”, meinte mein Kollege Rudi Meier daraufhin. “Ich hatte schon gedacht, Sie wären ausländerfeindlich oder so. Aber in Wahrheit mögen Sie anscheinend nicht einmal deutsche Polizisten!”

“Hier gelten ungeschriebene Gesetze”, sagte er. “Wie gesagt: Ich kann Ihnen nur einen guten Rat geben. Mehr nicht. Befolgen müssen Sie ihn nicht.”

“Hat Herr Schmitten Ihre Ratschläge vielleicht auch nicht befolgt?”, hakte ich dann nach.

Der Wirt sah mich an. Und zwar auf eine Weise, die erkennen ließ, dass er mich zum Teufel wünschte. Aber da war noch etwas anderes in seinem Gesichtsausdruck.

Angst.

Eine sehr deutliche Portion Furcht, von der ich mir im Augenblick nur noch nicht erklären konnte, wodurch sie begründet war.

Aber das sollten wir noch erfahren.

Schneller, als es uns lieb war im Übrigen.

Aber ich will an dieser Stelle nicht vorgreifen.



3

Mein Kollege Rudi Meier stellte den Nachttisch etwas um, sodass er sein Laptop besser darauf abstellen konnte. Bevor wir in das Dorf gefahren waren, hatten wir uns im gerichtsmedizinischen Institut in Leipzig von einem Pathologen mit der Feinfühligkeit eines Veterinärs erläutern lassen, was die gerichtsmedizinische Untersuchung ergeben hatte.

“Unser Kollege Schmitten muss irgendetwas herausgefunden haben, was er nicht herausfinden sollte”, meinte ich.

“Und irgendjemand hat ihm dann eins über den Schädel gezogen”, ergänzte Rudi.

“Genau. Ein Baseballschläger könnte die Tatwaffe gewesen sein.”

“Oder irgendein anderer stumpfer Gegenstand, Harry. Davon gibt es unzählige. Aber mal was anderes.”

“Und was?”

Rudi Meier tippte auf der Tastatur herum. Dann nahm er sein Handy. Offenbar musste er einen mobilen Hotspot einrichten.

“Schnelles Internet ist in dieser Gegend anscheinend ein Fremdwort”, meinte Rudi.

“Du hättest den Wirt ja um das Passwort für das W-LAN fragen können, Rudi.”

“Der weiß doch gar nicht, was das ist.”

“Vielleicht unterschätzt du ihn.”

“Glaube ich nicht. Worauf ich hinaus wollte, ist noch ein anderer Punkt, Harry.”

“Dann mal raus damit.”

“Der Leiter der örtlichen Polizei war vor ein paar Jahren mal in den Schlagzeilen.”

“Wieso?”

“Weil er die Ermittlungen gegen eine Gruppe von Neonazis mehr oder minder boykottiert hat, die den einzigen Punk des Ortes so übel verprügelt haben, dass er eine Woche später an den Folgen seiner Verletzungen starb.”

“Hat das was mit unserem Fall zu tun, Rudi?”

Mein Kollege zuckte mit den Achseln. “Keine Ahnung, ich würde sagen, das muss sich noch herausstellen.”

“Wundert mich, dass der Kerl noch im Polizeidienst ist”, meinte ich.

“Wundert dich das wirklich?”, fragte Rudi. “Früher hieß es doch immer: ‘Sachsen, wo die hübschen Mädchen wachsen ...’”

“Na ja ...”

“... und heute ist es das Land der Neonazis.”

“Ich würde sagen, dass weder früher alle Sächsinnen hübsch waren noch dass heute alle Sachsen Nazis sind.”

“Nicht alle, Harry. Aber viele. Zu viele.”

“Und du meinst, die haben diesen Dienststellenleiter gedeckt?”

Rudi deutete auf das Display seines Laptops. “Ich habe mir das Dossier über die Vorgänge von damals nochmal aufgerufen und wenn du mich fragst, gibt es eigentlich nur diese eine Erklärung.”

“Na dann auf freundliche Zusammenarbeit”, murmelte ich.

Wenige Tage bis Weihnachten - und wir hatten diesen Mistfall an der Backe.

Da kann man sich wirklich Schöneres vorstellen.



4

Wir fuhren zur örtlichen Polizeidienststelle. Eine junge Beamtin begrüßte uns. Sie hieß Regina Dörfner und dies war ihre erste richtige Stelle. Dementsprechend unsicher war sie auch.

“Wir würden gerne mit dem Dienststellenleiter sprechen”, sagte ich.

“Also der Herr Dahlheim ist gerade nicht da”, sagte die junge Beamtin. Die Uniform hing ihr wie ein Sack am Leib. Der Stress war ihr ins Gesicht geschrieben. Und es hätte mich in diesem Moment schon interessiert, ob dieser Stress etwas mit ihrem Vorgesetzten zu tun hatte.

“Das ist aber seltsam”, meinte mein Kollege Rudi.

“Was ist seltsam?”, fragte die junge Beamtin. Sie wirkte abwesend und irgendwie nicht so ganz in der Spur.

“Na, wir sind mit Herrn Dahlheim verabredet. Sowas nennt man auch landläufig einen Termin. Und da finde ich es schon eigenartig, dass er ausgerechnet dann nicht im Büro ist.”

“Waren Sie das, mit dem ich gesprochen hatte? Am Telefon?”, meinte Regina Dörfner jetzt und sah Rudi mit großen Augen an.

“Ja, das war ich. Ich hatte angerufen, als wir noch auf der Autobahn waren.”

“Ja, ich habe Jürgen … also Herrn Dahlheim … natürlich Bescheid gesagt. Aber da war irgendwas Dringendes, weswegen er wegmusste.”

“Und Sie wissen nicht was”, hakte Rudi nach.

“Nee, weiß ich nicht”, sagte sie.

“Ist auch seltsam”, meinte Rudi. “Einfach so zu verschwinden und nicht sagen, wo man hingeht. Ich dachte immer, der Polizeidienst sei vor allem Teamarbeit …”

“Na ja, hier draußen auf dem Land, da …”

“Da gibts keine Teamarbeit?”, unterbrach Rudi sie.

“Will ich jetzt so nicht sagen.”

“Dann sagen Sie's doch mal so, wie Sie es meinen.”

Sie atmete tief durch. “Ich bin noch nicht lange hier und möchte eigentlich auch nicht unbedingt gerne anecken, wenn es sich vermeiden lässt. Können Sie das verstehen?”

Ihre Abwehrhaltung war nicht zu übersehen.

“Wir sind wegen unserem BKA-Kollegen Rüdiger Schmitten hier”, sagte ich, um das Gespräch irgendwie wieder in eine Bahn zu bringen, die zumindest die Chance beinhaltet, dass es nicht als völliges Desaster endete und in das mündete, was man auch als eine kommunikative Sackgasse bezeichnen könnte.

“Ich hatte eigentlich nicht viel mit ihm zu tun. Das hat der Jürgen alles mit ihm geregelt. Also, der Herr Dahlheim.”

“Sie kennen den Herrn Dahlheim gut? Ich meine, wenn Sie ihn Jürgen nennen”, meinte ich.

“Das hat nichts zu sagen.”

“Wieso nicht?”

“Das ist hier halt so üblich. Auf unserer Wache, meine ich. Und wie ich schon sagte …”

“Sie wollen einfach nur nicht anecken.”

“Eben!”

“Und was hat ‘der Jürgen’ in Bezug auf Rüdiger Schmitten so geregelt, wie Sie das nennen?”

“Am besten Sie besprechen das mit dem Jürgen selbst. Ich glaube wirklich, dass das das Beste ist …”

“Ja, aber der ist doch nun mal nicht hier!”, erwiderte ich.

Eine Pause entstand.

Es war eine Pause von der Art, die sich für alle Beteiligten irgendwie unangenehm anfühlt. Aber meistens lohnte es sich, solche Pausen auszuhalten. Wer als Erster redet, hat dann verloren. Und ich bin das in der Regel nicht.

“Also, ich weiß wirklich nicht viel über die Sache. Aber es ist natürlich furchtbar, was da mit dem Kollegen Schmitten passiert ist. Wer auch immer das getan haben mag …” Sie redete plötzlich wie ein Wasserfall. Manchmal tun Leute das, um die eigentliche Information zu verbergen. Man verbirgt Worte in Worten, Informationen in Informationen, die nichts bedeuten. Manche machen das bewusst, andere instinktiv. Falls das bei unserer jungen Kollegin der Fall war, dann war sie meinem Gefühl nach eher der instinktive Typ.

Aber egal.

Manchmal kommt bei solchem Redeschwall auch noch irgendetwas heraus, was eigentlich gar nicht gesagt werden sollte. Und genau das sind dann die interessanten Dinge.

“Also, ich weiß, dass der Herr Schmitten hier war und der Jürgen sich so aufgeregt hat”, fuhr sie fort.

“Wieso?”, hakte ich nach.

“Weil sich der Schmitten so aufgeführt hat, als hätte er hier das Sagen, weil er vom BKA kommt. Und das kann der Jürgen nun mal nicht leiden.”

“Weil er es selber gerne zu sagen hat”, schloss ich.

Ihr Lächeln war flüchtig. Aber authentisch.

“Genau”, meinte sie. “Jedenfalls ging es darum, dass der Schmitten einen Flüchtling gesucht hat. Und der war aber nicht hier im Ort.”

“Laut unseren Unterlagen hätte er aber hier sein müssen”, sagte ich.

Sie zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme vor der Brust. “Keine Ahnung. Es ist nicht immer jeder da, wo er sein sollte, wenn Sie verstehen was ich meine.” Sie seufzte. “Ich komme aus Dresden. Ich habe es mir nicht ausgesucht, meine erste Stelle in so einem Loch zu bekommen und sobald ich mich versetzen lassen kann, bin ich hier auch weg.”

“Kann ich absolut nachvollziehen”, sagte ich. “Aber ich weiß jetzt nicht, was das jetzt eigentlich mit unserem Kollegen Rüdiger Schmitten zu tun hat oder mit dem Flüchtling, hinter dem er her war.”

In diesem Moment ging die Tür auf und der Dienststellenleiter kam herein. Jedenfalls nahm ich an, dass es der Dienststellenleiter war. Die Körpersprache sagte alles: Hier bin ich der Boss! Gesehen hatte ich ihn ja noch nicht, aber eigentlich war ich mir sicher, dass er kein einfacher Kollege war. Und ich sollte Recht behalten. Jürgen Dahlheim musterte zuerst uns, dann seine Kollegin, dann wieder uns.

“Harry Kubinke, BKA”, stellte ich mich vor und zeigte meinen Ausweis. Dann deutete ich auf Rudi. “Das ist mein Kollege Rudi Meier. Wir sind wegen des Falls Schmitten hier.”

“Ah, ja …”

“Sie sind Jürgen Dahlheim?”

“Bin ich.” Er wandte sich an die junge Kollegin. “Hast du mit denen geredet?”

“Herr Dahlheim, hier stellen wir die Fragen. Und wir haben ein paar davon an Sie.”

Er sah mich ziemlich ärgerlich an. “Man hat Sie mir schon angekündigt.”

“Wir hatten einen Termin”, erinnerte Rudi ihn.

“Nennen Sie es, wie Sie wollen.”

“Wollen wir das hier machen, oder haben Sie dafür noch einen gemütlichen Raum?”, fragte ich.

“Kaffee gibt's nicht”, sagte Dahlheim ziemlich unfreundlich. “Maschine ist kaputt.” Er wandte sich an die junge Kollegin. “Geh mal für eine Weile an die frische Luft.”

Sie wirkte etwas irritiert.

Dahlheim schien es für nötig zu halten, seiner Aufforderung noch etwas Nachdruck zu verleihen. “Na los! Bei unserer hohen Kriminalitätsrate ist es unerlässlich auch mal Streife zu gehen.”

Sie verließ den Raum.

Die Art, wie sie dafür sorgte, dass die Tür knallte, sagte auch einiges über das gute Betriebsklima dieser Dienststelle.

Ich wechselte mit Rudi einen kurzen Blick.

Da wir schon lange Dienstpartner sind, verstehen wir uns manchmal auch ohne, dass einer was sagen muss.

Der Gedanke, der Rudi im Moment im Kopf herumschwirrte, war ihm quasi auf die Stirn geschrieben: Hier möchte ich nicht arbeiten müssen!

In dem Punkt waren wir uns einig.

“Was wollen Sie?”, fragte Dahlheim.

“Ein bisschen Unterstützung wäre nicht schlecht”, meinte ich.

Er verzog das Gesicht. “Unterstützung ist gerade ausverkauft”, meinte er. “War ein Witz”, fügte er dann hinzu. “Stellen Sie einfach Ihre Fragen und lassen Sie uns zusehen, dass wir den Mist hinter uns bringen.”



5

Das Gespräch mit Jürgen Dahlheim verlief ziemlich unbefriedigend. Wir erfuhren kaum etwas, was wir nicht schon vorher gewusst hätten. Danach hatte Schmitten den syrischen Flüchtling, der im Verdacht stand, Kontakte zu einer Terrorgruppe zu unterhalten, nicht aufgefunden.

“Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, wieso Schmitten danach nicht einfach sofort wieder abgereist ist”, meinte Dahlheim.

“Sie kennen doch die Leute hier”, meinte ich.

“Ja, das will ich hoffen.”

“Dann haben Sie doch vielleicht auch eine Theorie darüber, wer möglicherweise dafür in Frage kommt, einem BKA-Mann eins über den Schädel zu ziehen.”

“Was soll das denn nun heißen? Dies ist ein ordentlicher Ort. Es gibt hier keine Drogensüchtigen und Obdachlose. Und die Leute haben Anstand.”

“Eigenartig, dass man da immer wieder auch andere Dinge hört”, sagte ich.

“Ich bin mal gespannt, wer Ihrer Meinung nach ‘man’ in diesem Fall ist und worauf Sie damit hinauswollen!”

“Nun …”

“Wenn Sie irgendeine Kritik an unserer hiesigen Polizeiarbeit haben, dann wenden Sie sich bitte an meine Vorgesetzten. Sie kennen ja den Dienstweg. Ansonsten habe ich dazu nichts zu sagen.”

“Es heißt, es soll hier schon mal üblich sein, dass die Polizei wegsieht, wenn rechte Schläger einen Punk verprügeln oder ein Asylantenheim anzünden.”

Jürgen Dahlheim hob das Kinn. Sonst veränderte sich nichts in seinem Gesicht. Es blieb völlig regungslos. Aber das Anheben des Kinns genügte schon, um ihm trotzdem einen völlig anderen Ausdruck zu verleihen.

“Niemand kann alles sehen”, sagte er dann.

“Das klingt jetzt genau so, wie ich es eigentlich nicht hören wollte”, bekannte ich.

“War’s das?”, fragte Dahlheim. “Ich denke, wir haben beide noch viel zu tun heute. Zumindest gilt das für mich.”

“Nett und kollegial klingt das nicht gerade”, meinte Rudi.

“Nett und kollegial ist es auch nicht, wenn Sie eine junge, unerfahrene Kollegin hinter meinem Rücken ausquetschen, nur damit Sie irgendwelche Munition gegen mich in der Hand haben”, platzte es jetzt aus Dahlheim heraus.

Das war nun wirklich eine komplette Verdrehung der Tatsachen.

Eine gelinde gesagt sehr unfreundliche Über-Interpretation unserer Unterhaltung mit Dahlheims Kollegin.

“Zu dem Gespräch mit Frau Dörfner ist es nur gekommen, weil Sie Ihren Termin mit uns nicht eingehalten haben”, erinnerte ich ihn.



6

“Was hältst du von dem Kerl?”, fragte mich Rudi, als wir die Wache verlassen hatten.

“Dem Jürgen?”

“Dem Jürgen und seiner Regina. Ich nehme an, dass er sie auch beim Vornamen nennt.”

Ich zuckte mit den Schultern. Wir waren auf dem Weg zu unserem Wagen. Ein gutes Dutzend Schritte hatten wir noch vor uns. “Die haben was zu verbergen.”

“Na, dazu muss man nicht studiert haben, um das zu merken, Harry!”, meinte Rudi.

“Ja, aber falsch wird es dadurch doch auch nicht, oder?”

“Mann, du lässt aber auch manchmal ein paar Klöpse raus, Harry!”

“Ich frage mich die ganze Zeit schon, was wir partout nicht wissen sollen.”

“Es muss nichts mit Schmittens Tod und unserem Fall zu tun haben, Harry.”

“Ach, nein?”

“Die sind vielleicht einfach nur nicht gut auf Leute wie uns zu sprechen.”

“Das glaubst du doch nicht wirklich.” Rudi hob die Augenbrauen.

“Nein.”

“Eben!”

“Aber wir sollten diese Möglichkeit trotzdem nicht ganz außer Acht lassen. Wenn bei uns in der Abteilung jemand von außen käme und jeden Stein dreimal umdreht, wären wir auch sicher nicht begeistert.”

“Das ist was anderes!”

“Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.”

Wir stiegen in den Wagen.

Ein paar Sekunden herrschte Schweigen.

Ich tickte nervös mit den Fingerkuppen auf dem Lenkrad herum.

Rudi mag das nicht. Aber es war zu spät. Ich hatte nicht dran gedacht. Und mir hilft diese Tickerei manchmal, meine Gedanken besser zu sortieren.

Rudi verdrehte also genervt die Augen.

“Schon gut, sag nichts!”

“Nützt sowieso nichts, oder?”

Ich atmete tief durch. “Fahren wir als Nächstes dorthin, wo auch Schmitten hinwollte.”

“Okay.”

“Unter anderen Umständen hätte ich Dahlheim nach dem Weg gefragt.”

“Oder ihn sogar mitgenommen!”, ergänzte Rudi.

Ich nickte.

“Schließlich kennt er die Leute hier. Und unter normalen Umständen ist das auch ein Vorteil.”

“Aber nur unter normalen Umständen … Macht nichts, wir haben ja ein Navi.”

Aber noch ehe einer von uns dazu gekommen wäre, die Adresse ins Navi einzutippen, die wir jetzt als Nächstes ansteuern würden, klingelte mein Handy.

Ich stellte das Gerät auf laut, denn schon an der Anzeige im Display sah ich, dass es sich um niemand anderen als Kriminaldirektor Bock handelte.

Ein flüchtiger Blick zur Uhr sagte mir, dass die Bürostunden unseres Chefs eigentlich gerade seit einer halben Stunde vorbei waren.

Eigentlich.

Aber Kriminaldirektor Bock kannte so etwas wie einen geregelten Feierabend gar nicht. Nein, ich muss mich korrigieren: Er kannte den Begriff Feierabend nicht. Er schien ständig an seinem Schreibtisch zu sitzen. Morgens, wenn unsereins dort auftauchte, dann war er schon längst da und vermittelte jedem Kollegen den Eindruck, schon seit Stunden auf dem Posten zu sein. Und spät abends oder mitten in der Nacht, dann konnte man ihn oft noch immer in seinem Büro antreffen. Eine Liege oder ein Feldbett habe ich dort nie gesehen. Es schien so, als wäre Kriminaldirektor Bock einfach ein Mensch, dessen Schlafbedürfnis in Relation zu anderen Menschen extrem reduziert war.

Aber es gab natürlich auch noch einen anderen, tragischeren Grund dafür, dass unser Vorgesetzter offenbar schwer Schlaf zu finden vermochte.

Man kann das in diesem Fall wirklich einmal wörtlich nehmen.

Vor Jahren hatte ein Straftäter seine Familie umgebracht. Seitdem widmete sich Bock mit ganzer Kraft und vor allem nahezu rund um die Uhr der Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Jeder hat seine Triebfeder, um zu tun, was er tut. Bei unserem Chef war es ein furchtbarer Verlust.

Weder mein Kollege Rudi Meier noch ich hatten etwas erlebt, was auch nur annähernd damit vergleichbar war.

“Es geht um den Flüchtling, dessen Aufenthaltsort der Kollege Schmitten überprüfen solle”, sagte Kriminaldirektor Bock.

“Was gibt es Neues über ihn?”

“Dass er mit dem Tod unseres Kollegen nichts zu tun haben kann”, erklärte Kriminaldirektor Bock. “Er ist nämlich bereits vor zwei Monaten in Paris erschossen worden.”

“In Paris?”, echote ich.

“Er hat sich mit einem Kontaktmann einer radikalen Organisation getroffen, die in Europa für die Anwerbung von Kämpfern für den Djihad wirbt und mit Drogengeldern Waffen besorgt. Bei einer Routine-Razzia der Polizei eröffnete der Kerl sofort das Feuer und unser Mann bekam eine ganze Handvoll potenziell tödlicher Treffer dabei ab.”

“Wieso wissen wir das erst jetzt?”, fragte ich.

“Tja”, sagte Bock. Es war ein ganz besonderes ‘Tja’, in dem noch viel mehr mitschwang. Dinge, die der Kriminaldirektor eben entweder nicht so einfach sagen konnte oder wollte. “Tja”, wiederholte er sich dann noch einmal. “Sowas nennt man europäischen Informationsaustausch. Aber vielleicht kann man den Kollegen diesmal auch gar keinen besonders großen Vorwurf machen.”

Nanu, dachte ich. War Kriminaldirektor Bock von einer Art vorzeitigen Altersmilde erfasst worden?

Ansonsten kannte ich ihn, was seine Beurteilungen anging, als jemanden, der durchaus streng und hart argumentierte und dem es zuwider war, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Und zwar ganz gleich, um wen es ging. Wenn es Kollegen betraf, war er sogar besonders streng, hatte ich manchmal den Eindruck. Diesmal aber wohl offenbar nicht.

Bock fuhr fort: “Unser Mann lag zunächst als unidentifizierte Leiche in einem Gefrierfach in Paris. Sein Gesicht war durch die Schießerei in einem Zustand, der eine Identifikation schwierig machte und darüber hinaus unterscheidet sich die französische Transkription desselben arabischen Namens manchmal erheblich von der deutschen Schreibweise.”

“Wenn ich das richtig verstanden habe, dann war unser Mann schon länger nicht in diesem idyllischen Örtchen in Sachsen, wo er eigentlich hingehört hätte”, meldete sich Rudi zu Wort.

“Sie sagen es”, meinte Bock. “Genau dieser Punkt bereitet auch mir Kopfzerbrechen. Denn in dem idyllischen Ort, wie Sie dieses Nest in Sachsen nennen, hätte das eigentlich jemandem auffallen müssen, wenn sich jemand wie Abdulla Abu Khalil einfach davonmacht.”

“Scheint, als hätten es da ein paar Verwaltungsbeamte am nötigen Ehrgeiz fehlen lassen”, sagte ich.

“Wie auch immer. Das ändert nichts an der Tatsache, dass ein BKA-Kollege in diesem idyllischen sächsischen Ort ums Leben gebracht worden ist und Sie herausfinden sollen, was passiert ist.”

“Das kriegen wir raus”, sagte ich, obwohl ich zugeben muss, dass da im Moment wohl eher der Wunsch Vater des Gedankens war, denn ich hatte diesmal wirklich keine Ahnung, in welche Richtung es fahndungstechnisch gehen sollte. Wirklich nicht die geringste.

“Ich vertraue Ihnen”, sagte Kriminaldirektor Bock.

“Wenigstens einer”, meinte Rudi, nachdem das Gespräch beendet war.



7

Wir fuhren zu der Adresse, wo Abdul Abu Khalil, der Mann, den der Kollege Schmitten gesucht hatte, gemeldet gewesen war und fanden ein altes Haus. Früher mal eine Villa, dann das Lagerhaus einer landwirtschaftlichen Genossenschaft und jetzt …

Ein Flüchtlingsheim.

Ich stellte den Wagen ab und wir stiegen aus.

“Sieht aus wie …”

“... ein Geisterhaus?”, erriet ich Rudis Gedanken.

“Sieht ein bisschen so aus.”

“Ja, es gibt wirklich trostlose Ecken hier in der DDR …”

“Na, die Zeiten haben sich aber inzwischen ein bisschen geändert, Rudi.”

“Was soll ich sonst sagen? Fünf neue Bundesländer?”

“Neu sind die nicht mehr.”

“Mein Vater sagte immer Ostzone.”

“Jetzt mal im Ernst, Rudi: Hier soll ein Flüchtlingsheim sein und offensichtlich wohnt hier niemand.”

Rudi Meier atmete tief durch und zog sich die Hose hoch. Das ist nämlich der Nachteil, wenn man eine schwere Dienstwaffe trägt. Die zieht einem nach und nach die Hose runter, wenn sie im Holster steckt.

“Jetzt wundert es mich auch gar nicht mehr, dass wir nie jemanden erreicht haben, der für die Betreuung der Flüchtlinge zuständig ist”, meinte er.

“Sehen wir uns mal um”, schlug ich vor.

Rudi hob die Augenbrauen. “Denkst du, die sind alle nur auf Urlaub oder was?”

“Ja, kann doch sein. Was weiß ich. Ich will mich einfach mal umsehen.”

Das Haus glich einer Ruine. Teilweise fehlten die Fenster. Manche waren eingeschlagen, andere hatte man ausgebaut. Die Tür stand offen. Der Wind bewegte sie etwas und ließ sie dann herumschlagen.

Vor dem Hintergrund der hereinbrechenden Dämmerung mit dazugehörigen dramatischen Wolkengemälde sah das wirklich so aus wie ein Geisterhaus aus einem Horror-Film der Sechziger und Siebziger. Irgendein B-Movie von Roger Corman oder etwas in der Art.

Ich betrat das Gebäude.

Rudi folgte mir.

“Sieht nicht so aus, als hätte hier in den letzten Jahren überhaupt mal jemand gewohnt”, meinte ich.

“Vielleicht doch”, widersprach mir Rudi und wies mich auf die Reste einer Feuerstelle hin, die sich mitten in einem großen, möbellosen Raum befunden haben musste. Und zwar vor noch gar nicht so langer Zeit.

“Vielleicht hat es sich hier ein Obdachloser gemütlich gemacht”, meinte ich.

Rudi betätigte einen Lichtschalter.

Ohne Reaktion.

“Ohne Strom und Heizung - was bleibt einem da anderes, als es sich bei einem Lagerfeuer gemütlich zu machen”, meinte er.

“Ein Flüchtlingsheim ist das jedenfalls nicht”, stellte ich fest.

“Harry! So weit waren wir schon”, meinte Rudi mit tadelndem Unterton.

“Wir sollten uns mal erkundigen, wo die alle geblieben sind.”

“Wer?”

“Na, die hier angeblich sein sollen! Die Flüchtlinge, die Betreuer … Alle!” Rudi griff zum Smartphone. Wenig später hatte er den Kollegen Max Vandersteen am Apparat, einen Innendienstler in unserer Zentrale in Berlin. “Hallo, Max! Schön, dass du noch im Büro bist … Was? Überstunden darfst du im Moment nicht abfeiern wegen Terrorgefahr und so? Ja, was sollen wir sagen? Kurz vor Weihnachten in einem Rattenloch in Sachsen … Hör mal, es ist wichtig. Du musst was für uns überprüfen …”

Ich hörte nur mit halbem Ohr hin, wie sich Rudi mit unserem Kollegen Max Vandersteen unterhielt, denn jetzt waren von draußen Geräusche zu hören.

Motorengeräusche.

Ich ging zu einem der glaslosen Fenster. Ein paar Scherben steckten noch im Kitt.

Draußen brausten ein halbes Dutzend Fahrzeuge heran.

Männer stiegen aus. Stimmen waren zu hören. Ich sah Bomberjacken, Baseballschläger, grimmige Gesichter und sogar ein paar Gewehre.

“Rudi! Wir kriegen Besuch.”

“Einen Moment.”

“Rudi, das wird unangenehm.”

Rudi trat neben mich, nachdem er das Gespräch mit Max Vandersteen beendet hatte. “Uff”, meinte er.

“Ein wahres Wort.”

“Soll ich Verstärkung rufen?”

“Und wer würde da schnell genug kommen? Unsere Kollegen aus Berlin vielleicht.”

“Na ja …”

“Bei den Kollegen hier im Ort bin ich mir nicht so sicher, auf welcher Seite die stehen würden.”

“Auch wieder wahr.”



8

Natürlich machten wir trotzdem eine kurze Meldung. An die Zentrale in Berlin. Das ging am schnellsten. Zumindest würde man dann wissen, was uns zugestoßen war.

Ich ging vor die Tür, das Smartphone in der Hand, und machte Fotos. Ein paarmal Klick-Klick und ich hatte sie alle einmal im Kasten. Ein Knopfdruck und die Bilder waren bei unserem Kollegen Max Vandersteen in Berlin.

“Hey, du Arsch!”, rief einer der Kerle und hob die doppelläufige Schrotflinte.

“Das würde ich nicht machen!”, erwiderte ich. Rudi hatte schon die Waffe herausgerissen. “Bundeskriminalamt”, rief er.

“Das kann ja jeder sagen!”, meinte der Kerl.

“Das Gewehr weg! Sofort!”

Die anderen starrten uns an und warteten ab.

Mir fiel auf, dass einer unter seine Bomberjacke griff.

Er zog eine Pistole. Oder besser, er versuchte es, denn ehe er die Waffe auf uns richten und abdrücken konnte, hatte ich meine Dienstwaffe aus dem Holster gerissen und gefeuert.

Er sackte zusammen.

Noch ehe sein Körper den Boden erreichte, gab er einen ungezielten Schuss ab, der irgendwo in die Wand hinter uns ging. Dann blieb er liegen und rührte sich nicht mehr.

Blut sickerte aus der Schusswunde.

“Ey Scheiße, der ist tot!”, rief einer der anderen Kerle.

Der Typ mit der doppelläufigen Schrotbüchse drückte auch ab, aber es löste sich kein Schuss. Irgendetwas blockierte da. Vielleicht wusste er auch einfach nicht richtig, wie man mit so einer Waffe umgehen musste oder hatte sie nicht geladen.

Rudi ging auf ihn zu. “Jetzt aber runter mit dem Schießprügel!”, sagte er.

Der Mann gehorchte nun. Er sah sich vorher noch kurz um, aber von seinen Kampfgefährten mit Baseballschlägern hatte wohl keiner Lust, sich eine Kugel einzufangen.

“Scheiße, der ist wirklich tot!”, rief derselbe Rufer von eben noch einmal. Er schien einem psychischen Ausnahmezustand sehr nahe. Sein Gesicht hatte sich zu einer Fratze verzerrt, die zur einen Hälfte Wut und zur anderen Entsetzen ausdrückte. Das ist eine gefährliche Mischung.

“Ganz ruhig!”, sagte ich und näherte mich nun dem Toten. Ich holte meinen Ausweis heraus und hielt ihn hoch. “Bundeskriminalamt! Auch wenn das hier keiner glauben will.”

Ich konnte das Raunen hören.

Einer machte ein paar Schritte in Richtung seines Wagens.

“Hier verlässt keiner diesen Ort!”, sagte ich im Brustton eines Mannes, der tatsächlich die Macht gehabt hätte, das zu verhindern.

Hätte ich nicht.

Mir war das wohl bewusst.

Wenn sich all diese Kerle einig gewesen wären und einfach angefangen hätten, wegzulaufen, wären Rudi und ich wohl erstmal machtlos gewesen. Wir hätten sie schließlich nicht alle mit Kugeln in den Rücken niederstrecken können. Und davon abgesehen, BKA-Leute, die flüchtenden Bürgern in den Rücken schießen, so etwas kommt nicht gut in der Presse.

Wir wären am Ende die Dummen gewesen und hätten uns auch noch strafbar gemacht. So sind nun die Gesetze. Kann man bedauern oder nicht.

Aber manchmal gewinnt nicht die Seite, die in Wahrheit die stärkere ist, sondern derjenige, der mit der größeren Überzeugungskraft auftrat. Und da hatten Rudi und ich durchaus einiges an Routine vorzuweisen.

“Ihr legt jetzt alle eure Knüppel nieder und setzt euch auf den Boden”, sagte ich. “Und wer das nicht tut, wird erschossen!”



9

“Haben Sie das wirklich gesagt?”, fragte mich Kriminaldirektor Bock sehr viel später in seinem Büro.

“Was?”

“Na, dass jeder erschossen wird, der sich nicht auf den Boden setzt!”

“Sie kennen mich, Herr Bock.”

“Ja, ja …”

“Und Sie wissen doch …”

“... dass Sie so etwas nie sagen würden?”

“Das haben Sie jetzt gesagt!”

“Allerdings gibt es ein Dutzend Aussagen, die das Gegenteil behaupten.”

“Ich kann ja nichts dafür, dass die anderen in der Mehrheit waren, oder?”

“Nein.”

“Wir hatten keine andere Wahl”, sagte ich.

“Wenn man es genau betrachtet, dann war das rechtlich gesehen eine Bedrohung. Und dazu kommt noch, dass Sie im Amt begangen wurde.”

“Und wenn Sie mal genauer darüber nachdenken, dann werden Sie feststellen, dass jede denkbare Alternative schlechter gewesen wäre.”

“Da will ich Ihnen nicht widersprechen.”

“Ich nehme an, dass ich noch Ärger wegen der Sache bekomme, nicht wahr.”

“Mehr Ärger jedenfalls als wegen des Kerls, den Sie erschossen haben.”

“Das war Notwehr.”

Kriminaldirektor Bock nickte. “Daran hat inzwischen auch niemand mehr irgendeinen Zweifel”, versicherte er.

Aber wie ich schon sagte, das war viel später.



10

An jenem Tag, als Rudi und ich das Geisterhaus aufgesucht hatten und ich diese Gruppe von lokalen Schlägern mit meiner brutalen und entgegen meiner sonstigen Gewohnheit gesetzlosen Drohung dazu genötigt hatte, sich auf den Boden zu setzen, geschah noch so einiges.

Erstmal musste ich noch einmal in den Boden schießen, um meiner Forderung auch etwas Nachdruck verleihen zu können.

Dass die Stimmung etwas angespannt war, lag wohl auch daran, dass ein Mann tot in seinem Blut lag.

Rudi sammelte alle Baseballschläger und sonstige Waffen ein. Es kamen auch ein paar Messer und Schlagringe zum Vorschein. Und die doppelläufige Flinte nahm er natürlich auch an sich.

Ein Schuss löste sich aus der Waffe.

Zum Glück ging die Ladung ins Nichts und niemand wurde verletzt.

“Scheint nicht mehr ganz zuverlässig zu sein, dieses Ding”, meinte Rudi.

“Das ist mein Eigentum!”, meinte der Kerl, dem sie gehört hatte. Sein Name lautete Bernd Ludwig. Und da er eine Schusswaffe auf uns gerichtet und abgedrückt hatte, genoss er das Privileg, eines von zwei Paar Handschellen angelegt bekommen zu haben, die Rudi und ich dabeihatten.

Das andere Handschellenpaar trug jetzt ein kahlköpfiger Typ in den Dreißigern, der auf mich einfach besonders aggressiv gewirkt hatte.

Für einen Fall wie diesen waren Rudi und ich einfach nicht richtig ausgerüstet.

Wir stellten vor allem die Personalien fest, soweit das möglich war. Aber anhand von Führerscheinen, Personalausweisen und Mitgliedsausweisen im örtlichen Schützenverein ließ sich schnell feststellen, mit wem wir es zu tun hatten.

“Hast du sowas schon mal gesehen?”, fragte Rudi und zeigte mir etwas, das wie ein selbstgemachter Fantasieausweis aussah. ‘Vorläufiger Ausweis des Deutschen Reichs’, stand dort zu lesen.

“Gesehen noch nicht, aber ich habe davon gehört, dass es so etwas gibt”, meine ich. “Ein Reichsbürger.”

Der Fantasieausweis hatte dem Toten gehört und war auf den Namen Heino Zäuner ausgestellt - wenn das das richtige Wort dafür ist. Gefälscht wäre wohl passender. Aber das sahen diese sogenannten Reichsbürger wohl genau andersherum. Schließlich waren die ja der Meinung, dass das Deutsche Reich niemals aufgehört habe zu existieren und sie deswegen den staatlichen Autoritäten und der Gerichtsbarkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht zu gehorchen hätten. Diesem irrigen Gedanken folgend war es natürlich auch kein besonders großer Schritt mehr, es für völlig in Ordnung zu halten, auf die Polizei oder andere Repräsentanten dieses verhassten Staates einfach zu schießen.

“Die Welt ist voller Spinner”, meinte Rudi.

“Ich habe das Recht, eine Waffe zu tragen”, sagte jetzt Bernd Ludwig, der Kerl, der mit seiner Doppelläufigen auf uns zu schießen versucht hatte. “Ich bin Jäger!”

“Aber wir sind keine Hirsche”, sagte ich.

“Aber ich habe einen Waffenschein und ich bin Jäger!”

“Dann wird es Zeit, dass man Ihnen den Waffenschein schleunigst abnimmt”, meinte ich. “Bei einer so offensichtlich unzuverlässigen Person dürfte das wohl auch keine Schwierigkeit sein.”

“Das ist mein Recht!”, rief er. “Ich bin ein freier Deutscher und ich kann …”

“Auch du liebe Güte!”, meinte Rudi. “Ich hoffe, es kommt bald jemand und holt den Idioten ab.”

“Und ich lasse mich nicht beleidigen, du Schwuchtel!”, rief er dazwischen.

Rudi machte eine wegwerfende Handbewegung. “Erstmal hätten wir noch ein paar Fragen an Sie.” Er ließ den Blick über die auf dem Boden sitzenden Männer schweifen. “An Sie alle!”

“Wir wollten nur gucken, wer sich da an dem Haus zu schaffen macht”, meinte einer.

“Wie heißen Sie?”, fragte ich.

“Leck mich!”

“Muss ich erst alle eingesammelten Ausweise durchsehen?”

“Devid Dresel”, sagte er.

“Devid mit >e<”, meinte Rudi mit dem Blick auf einem der Führerscheine, die er eingesammelt hatte. “Wie in der DDR früher. Die konnten eben kein Englisch.”

“Scheiß-Wessi!”, knurrte Devid Dresel. “Und scheiß Kanaken-Arsch!”

“Ich glaube, wir unterhalten uns besser in gepflegter Atmosphäre mit den Herren”, meinte ich.

“Du meinst, einen Verhörraum?”, gab Rudi zurück.

“Exakt.”

Rudi machte trotzdem noch einen Versuch. “Hier soll eigentlich ein Flüchtlingsheim sein”, sagte er. “Wieso ist das nicht hier?”

“Weiß ich doch nicht”, meinte Devid Dresel.

“Sind eben weg”, ergänzte Bernd Ludwig. Wenigstens wiederholte er nicht zum hundertsten Mal seine Ansicht, wonach er ein Recht dazu hatte, eine Waffe zu tragen.

“Was soll das heißen: Sind weg?”, wandte sich Rudi jetzt an Bernd Ludwig, den großen Jäger, der meinen Kollegen und mich als Jagdwild auserkoren hatte und jetzt mit beiden Pobacken auf dem Boden der Tatsachen saß.

“Na, was ich gesagt habe: Die sind nicht mehr hier, die Kanaken. Sieht man doch. Haus ist leer.”

“Heißt das, es hat hier tatsächlich ein Flüchtlingsheim gegeben?”, wunderte ich mich, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass in den letzten Jahren hier tatsächlich jemand unter einigermaßen menschenwürdigen Bedingungen hatte leben können.

“Ich sag nichts mehr”, knurrte Bernd Ludwig nun.

Dann herrschte Schweigen. Und außerdem kam die örtliche Polizei, die wir eigentlich gar nicht dabeihaben wollten. Wir hatten sie auch gar nicht verständigt. Die Sache war vermutlich so gelaufen: Unsere Kollegen in der Zentrale hatten die Polizei in Dresden verständigt und um Hilfe gebeten und diese Idioten hatten dann nichts Besseres zu tun gehabt, als ihre Kollegen vor Ort anzurufen.

“Da hätten wir uns auch die ganze Mühe sparen können”, meinte Rudi.

“Da sagst du was!”

“Wie immer die Wahrheit, Harry!”

Wir sahen bei dieser Gelegenheit auch unsere Kollegen Jürgen Dahlheim und Regina Dörfner wieder. Begleitet wurden sie von ein paar weiteren Kollegen. Alle schon etwas älter. Die meisten sicherlich seit Jahrzehnten bei der Polizei und mutmaßlich schon zu Zeiten im Dienst, als die Polizei in diesem Teil des Landes noch Volkspolizei hieß.

Sie schauten Rudi und mich an wie exotische Tiere.

“Wir warten eigentlich auf die Kollegen aus Dresden”, sagte ich.

“Aber hier sind wir zuständig”, meinte Jürgen Dahlheim.

“Hier ist der zuständig, von dem wir sagen, dass er zuständig ist”, erwiderte ich ruhig. “Es ist nett, dass Sie uns bei der Bewachung der Gefangenen unterstützen, aber …”

“Gefangene?”, fragte Dahlheim.

“Ey, Jürgen, sorg mal dafür, dass die blöden Ärsche uns freilassen und der ganze Spuk sein Ende hat!”, rief einer der Festgesetzten.

“Dein Jürgen hat da nichts zu sagen”, erklärte nun Rudi in Richtung des Sprechers. “Sie sind alle vorläufig festgenommen. Und wir werden Ihre Baseballschläger und was Sie sonst noch so bei sich hatten, sehr genau unter die Lupe nehmen. Genau genommen nicht nur wir, sondern auch einige Kollegen, die in den kriminaltechnischen Labors arbeiten. Und wenn an einem dieser Prügel auch nur ein mikroskopisches Tröpfchen Blut oder irgendeine andere Spur unseres Kollegen Rüdiger Schmitten sein sollte, dann werden die das herausfinden. Das verspreche ich Ihnen.”

“Hören Sie, ich finde, Sie übertreiben hier ein bisschen”, sagte Dahlheim. “Sie können doch nicht …”

“Ich kann sehr wohl”, schnitt ich ihm das Wort ab. “Und Sie halten sich bitte auch noch zu unserer Verfügung, denn es kann sein, dass wir noch ein paar Fragen an Sie haben.”

“Wie kommen Sie mir denn?”

“Es ist genau genommen sogar sehr wahrscheinlich, dass wir noch Fragen an Sie haben”, ergänzte Rudi. “Man könnte auch sagen: Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche.”



11

Die Kollegen aus Dresden trafen dann doch noch ein. Klar, dass ihr Weg etwas weiter war als der der Kollegen vor Ort. Dass sie denen Bescheid gesagt hatten, war ärgerlich, aber nicht zu ändern.

Rudi und ich fuhren auch nach Dresden. Es würde spät werden. Und Rudi hatte schon Zweifel, ob wir unsere Hotelbetten in dem Doppelzimmer überhaupt noch brauchen würden.

“Konnte ja keiner ahnen, dass wir am Abend noch nach Dresden müssen”, sagte ich.

“Nee, ahnen konnte man das nicht”, stimmte Rudi zu. “Eigentlich schade.”

Ich fragte: ”Wieso?”

“So werde ich nie erfahren, ob du schnarchst.”

“Rudi, das ist politisch nicht korrekt.”

“Was?”

“Wenn zwei Hetero-Männer sich über Schwule lustig machen, indem sie sich vorstellen, man könnte sie für schwul halten, nur weil sie gut befreundet sind.”

“Seit wann kümmerst du dich um Political Correctness, Harry?”

“Na ja …”

“Außerdem hört es hier im Wagen ja niemand.”

“Bist du dir sicher?”

“Ich traue den Kollegen aus der sächsischen Provinz vieles zu, aber nicht, dass sie es geschafft haben könnten, bei uns im Wagen eine Wanze zu installieren.”

Das überzeugte mich.



12

Die Verhöre in Dresden waren zäh. Das lag auch daran, weil wir nicht viel Unterstützung von den dortigen Kollegen bekamen. Sie hatten einfach nicht genügend Vernehmungsspezialisten, hieß es. Schon die Tatsache, dass sie Dahlheim und seine Kollegen vor Ort alarmiert hatten, was sie ausdrücklich nicht hatten tun sollen, zeigte uns, dass wir auch hier mit Gegenwind zu rechnen hatten. Nicht ganz so stark wie in dem Provinzloch, aber immer noch stark genug, dass wir es zu spüren bekamen.

Ich rechnete jetzt nicht unbedingt damit, dass die Dresdner Kollegen die Typen, die wir gerade verhaftet hatten, gleich wieder freiließen. Da stand die Justiz vor. Und die Staatsanwaltschaft war durchaus auf unserer Seite.

Bei den Polizei-Kollegen hingegen mussten wir wohl am ehesten mit einem hinhaltenden, passiven Widerstand rechnen. Die hatten einfach nicht vor, uns mehr zu unterstützen als unbedingt nötig.

Dieses Eindrucks konnten wir uns einfach nicht erwehren.

Also mussten wir die meisten Verhöre selbst führen und die Protokolle derjenigen, die wir nicht geführt hatten, waren am Ende kaum zu gebrauchen. Sicher, es war viel verlangt von den Kollegen, sich so schnell in die Materie einzuarbeiten, aber eigentlich waren sie das gewöhnt. Und mit etwas mehr Engagement hätten sie das ganz sicher auch etwas besser hinbekommen.

Ich konnte nur hoffen, dass die Abteilung für kriminaltechnische Untersuchungen besser arbeitete. Rudi hatte schon erwogen, die ganzen Baseballschläger und was wir sonst noch so eingesammelt hatten, nach Berlin zu schicken. Da waren schließlich unsere eigenen Spezialisten. Die besten, die es in Deutschland gab. Und vor allem garantiert Leute, die keine Sympathien für rechte Schläger hatten und vielleicht ein Auge mehr zudrückten, als einer unabhängigen und vor allem zielführenden Ermittlung am Ende dienlich war.

In einer Verhörpause sprachen wir darüber mit unserem Chef, der offenbar entschlossen war, die Nacht in seinem Büro zu verbringen.

Es wäre nicht die erste gewesen.

In einem der Schränke in Herrn Bocks Büro befand sich angeblich ein ausklappbares Feldbett. Niemand hatte es wirklich je mit eigenen Augen gesehen, nicht einmal Mandy, seine Sekretärin. Aber das Gerücht hielt sich seit Jahren und ich war inzwischen überzeugt davon, dass auch etwas dran sein musste.

Und mit dieser Überzeugung war ich keineswegs allein.

“Ich schicke ein paar Kollegen, die das ganze Beweis-Zeug noch in dieser Nacht abholen”, meinte Kriminaldirektor Bock. “Sie haben völlig recht, wir dürfen da kein Risiko eingehen.”

Ich hatte mein Smartphone auf laut gestellt, sodass auch Rudi mithören konnte. Wir hatten für das Telefonat eines der Büros im Dresdner Polizeipräsidium zur Verfügung gestellt bekommen. Die Beamten, die hier normalerweise ihren Dienst nachgingen, hatten längst Feierabend.

Etwas, wovon unsereins wohl nur träumen kann.

Aber daran wird sich auf absehbare Zeit wohl auch nichts ändern.

“Ich hatte schon befürchtet, Sie würden unsere Sorgen für übertrieben halten”, meinte Rudi.

“Nein, das tue ich nicht, wie ich Ihnen ausdrücklich versichere”, sagte Kriminaldirektor Bock.

“Was wir brauchen, sind schnelle Ergebnisse”, sagte ich.

“Mehr als den Kollegen die Dringlichkeit der Sache klar zu machen, kann ich nicht tun”, erwiderte Bock. “Sie wissen ja, wie das läuft. Und im Übrigen haben wir bei uns in Berlin sicher die allerbesten kriminologischen Kapazitäten versammelt, aber Sie wissen ja, wie das im Moment hier läuft.”

“Der Terror …”, meinte ich wissend.

“Nennen wir es: die Sicherheitslage”, korrigierte mich Kriminaldirektor Bock. Je höher man in der Hierarchie kommt, desto mehr scheint man die Tendenz zu bekommen, die Dinge freundlicher auszudrücken. Oder unklarer. Vielleicht auch so verschwurbelt, dass niemand mehr so genau weiß, was eigentlich gemeint ist.

“Meinetwegen, die Sicherheitslage”, gab ich zurück.

“So etwas wie die Sache mit dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt frisst einfach Kapazitäten und Ressourcen, die dann anderswo fehlen”, stellte Kriminaldirektor Bock fest, fast so, als müsste er sich bei mir dafür entschuldigen. Musste er natürlich nicht. Aber anscheinend schien er im Moment viele Gespräche führen zu müssen, bei denen er sich rechtfertigen musste.

Mal auf die eine und mal auf die andere Weise.

Und das färbte ganz offensichtlich auf seinen gegenwärtigen Sprachgebrauch stark ab.

Ich konnte ihm das nicht verdenken.

Das war in seinem Fall wohl so etwas wie eine Art Berufskrankheit.



13

Es war fast vier Uhr morgens, als wir schließlich unser Hotel erreichten.

Es ist schon dumm, wenn man fast nichts erreicht hat und man das Gefühl einfach nicht loswird, trotz all der Bemühungen in seinen Ermittlungen irgendwie auf der Stelle zu treten.

So etwas verbessert nicht unbedingt die Laune, und die ist morgens um vier sowieso auf einem Tiefpunkt.

Ich gähnte, als wir aus dem Wagen stiegen. Rudi hatte schon die ganze Fahrt über so stark und ausdauernd gegähnt, dass das auf mich so richtig ansteckend gewirkt hatte. Nur unter Aufbietung all meiner Kräfte hatte ich wach bleiben können.

“Wenn du jetzt nochmal gähnst, übernachten wir auf einem Parkplatz und nicht im Hotel!”, hatte ich ihm gedroht.

“Nee, dann fahre ich das letzte Stück”, war seine Erwiderung gewesen.

“Das glaubst du auch nur!”

“Wieso?”

“Weil ich lebend ankommen will und mich nicht von einem Schlaftrunkenen fahren lasse!”

“Ach, und du bist immer noch fit wie ein Turnschuh, Harry?”

“Na ja, wie ein Turnschuh …”

“Eher wie eine alte Socke, oder?”

Jetzt hatten wir es also geschafft und waren tatsächlich angekommen. Unterwegs hatten wir schon befürchtet, dass der Wirt in unserem Provinzhotel bereits alle Schotten dichtgemacht hatte und uns einfach draußen stehen ließ.

Angesichts der überwältigenden Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft, die uns ja bisher in diesem Nest zuteilgeworden war, hielt ich nichts mehr für unmöglich.

Aber man erlebt immer wieder Überraschungen.

In diesem Fall bestand sie darin, dass der Wirt offenbar auch zu dieser nachtschlafenden Zeit noch wach war.

Es brannte Licht und er öffnete uns.

Man hatte fast den Eindruck, dass er regelrecht auf uns gewartet hatte.

“Guten Abend”, sagte er unpassenderweise und in einem erwartungsvollen Tonfall.

“Abend ist gut”, gab ich zurück. “Man könnte eher von frühem Morgen sprechen.”

“Ist doch egal”, meinte der Wirt. “Dunkel ist doch dunkel, oder?”

“Ja, wenn man das so sieht”, musste ich zugeben.

“Sehe ich so”, sagte er.

“Na, dann …”

“Sollen ich Ihnen noch was zu trinken hinstellen?”

Ich hatte in diesem Moment nur einen Gedanken: Wenn der Kerl glaubt, dass er uns jetzt zu dieser Stunde über den Stand der Ermittlungen ausfragen kann, dann hat er sich aber getäuscht!

Genau deswegen war er nämlich noch auf den Beinen.

Er war schlicht neugierig und konnte es nicht abwarten, bis all die Neuigkeiten irgendwann mal in der örtlichen Zeitung standen. Oder zumindest im lokalen Internet-Portal des Heimatvereins.

“Sind müde”, sagte ich und Rudi unterstützte meine Argumentation mit einem für seine Verhältnisse recht hemmungslosen Gähnen.

“Wann gibt es Frühstück?”, fragte ich.

“Ab acht.”

“Für uns bitte ab sieben, wenn’s recht ist.”

“Für Sie tue ich doch alles”, behauptete er.

“Vielen Dank.”

“Es gibt dann allerdings keine frischen Brötchen, wenn Sie so früh frühstücken wollen.”

“Das ist nicht weiter tragisch”, meinte ich.

Rudi und ich ließen uns den Schlüssel geben und wollten bereits hinauf zum Zimmer gehen, aber dann sagte der Wirt den Satz, auf den ich eigentlich schon die ganze Zeit gewartet hatte, seit wir wieder zurück waren.

Er fragte: “Was haben Sie denn herausbekommen - bis jetzt?”

“Gute Nacht”, sagte ich.

“Man hört ja so einiges hier im Ort.”

“Gute Nacht.”

“Und man macht sich auch so seine Gedanken.”

Rudi hatte schon die erste Treppenstufe genommen, da setzte der Wirt noch einen drauf und meinte: “Unter anderem habe ich darüber nachgedacht, ob ich Ihnen nicht vielleicht doch noch etwas mehr erzählen sollte.”

Jetzt hatte er uns.

Wir standen da, wechselten erst einen kurzen Blick miteinander und sahen dann zum Wirt hinüber. Eins musste man ihm wirklich lassen: Er verstand etwas davon, sich zu verkaufen.

Vielleicht wollte er uns allerdings auch nur für dumm verkaufen, ging es mir durch den Kopf. Auch das lag immerhin im Bereich des Möglichen. Einen Hang zur Wichtigtuerei hatte er ja ohnehin, wie mir nicht entgangen war.

“Heißt das, Sie haben uns noch irgendetwas Wichtiges nicht gesagt, was zur Aufklärung des Falles beitragen könnte?”, hakte ich nach und gab mir redlich Mühe, auch zu dieser je nach Perspektive späten oder sehr frühen Stunde einen hinreichend strengen Tonfall hinzubekommen. Einen Tonfall, der das Gegenüber möglichst dazu brachte, doch noch auszupacken.

“Tja …”

“Ja oder nein? Wenn Sie nur Wind machen wollen, ohne dass etwas dahintersteckt, sind mir die letzten paar Minuten meiner schon fast nicht mehr vorhandenen Nachtruhe zu schade dafür. Aber sollten Sie irgendetwas wissen, was ich auch wissen sollte, dann …”

“Ja, so meine ich das ja nicht.”

War das jetzt schon der Rückzug auf Raten, wie man ihn bei Wichtigtuern und Schwätzern häufig antrifft?

Ich wechselte einen kurzen Blick mit Rudi, der mindestens so genervt war wie ich. Rudi verdrehte die Augen und machte sich diesmal auch gar nicht die Mühe, sein Gähnen zu unterdrücken.

“Wie meinen Sie es denn?”, hakte ich nach.

“Hier gehen manche Dinge etwas anders”, sagte der Wirt.

“Etwas anders als wo?”, hakte ich nach.

Er druckste herum. Vielleicht wusste er doch etwas und hatte nur nicht den Mut, es zu sagen. Oder er war doch nur ein neugieriger Wichtigtuer. Ich war mir im Moment nicht mehr so ganz sicher.

“Wissen Sie etwas darüber, wer von den vielen Baseballschläger-Benutzern in diesem Ort unserem Kollegen Rüdiger Schmitten eins über den Schädel gezogen hat? Oder haben Sie eine Vermutung?” Ich sah ihn ernst an und machte einen Schritt auf ihn zu. Nur einen. Ich wollte ja schließlich nicht zu bedrohlich auf ihn wirken. Nur ein bisschen. Bedrohlich genug, dass er redete. Aber nicht so bedrohlich, dass es ihm den Mund völlig verschloss. Das ist immer eine schmale Gratwanderung. Und nicht immer liegt man dabei richtig. Aber das ist eben so. Fehler macht man in jedem Job und mit der Zeit hilft einem die Erfahrung, das richtig abzuschätzen.

“Ich sag besser nichts”, meinte der Wirt dann.

“Hören Sie, wir waren bei diesem alten Haus, in dem sich angeblich ein Flüchtlingsheim befinden sollte. Wissen Sie darüber etwas.”

“Wieso soll ich darüber was wissen?”

“Wo sind die Flüchtlinge jetzt?”

“Was weiß ich. Weg. Also wenn ich …”

“Ja?”

“Wenn ich ein Flüchtling wäre, dann würde ich auch zusehen, dass ich so schnell wie möglich von hier wegkomme.”

“Wieso?”

“Na ja, die Leute sind hier sehr eigen. Die mögen keine Fremden.”

“Für Sie gilt das nicht?”

“Ich mag keine Muslime und Turbanträger und so etwas. Gegen Neger habe ich nichts.”

“Ach, wirklich?”

“Zu DDR-Zeiten hatten wir manchmal so Vertragsarbeiter aus befreundeten Bruderländern. Zum Beispiel aus Moçambique. Die waren schwarz und es gab trotzdem keine Schwierigkeiten.”

“Na, dann …”

“Nur die Vietnamesen, die konnten richtig hinterhältig sein. Nee, mit denen sind die meisten hier nie so richtig warm geworden.”

“Und mit den Flüchtlingen, die vor kurzem hier einquartiert wurden, wohl auch nicht, oder?”

Er atmete tief durch. “Es gibt da ein paar Leute hier in der Gegend, die greifen da ziemlich grob durch.”

“Die meinen mit dem Baseballschläger”, stellte ich fest.

“Ich find das auch nicht gut, aber so ist das hier nun mal. In der DDR durfte es keine Faschisten geben. Schließlich waren wir doch per Definition die Anti-Faschisten. Und deswegen hat man auch nichts gegen sie gemacht und sich stattdessen lieber um harmlose Friedensaktivisten gekümmert, die keiner Fliege was zuleide getan haben und Udo Lindenberg hören wollten.”

“Gewalt gegen Ausländer gibt es hier seit Jahren”, sagte Rudi jetzt. “Aber wir sind eigentlich hier, weil ein Kollege von uns ums Leben gekommen ist.”

Ich sah Rudi kurz an.

Es schien ihm selbst inzwischen aufgefallen zu sein, dass das, was er gerade gesagt hatte, ziemlich eigenartig klang.

Fast so, als wäre es ganz normal, dass das BKA und sein Fahndungsapparat erst aktiv werden, wenn einer umgebracht wird, der selbst dazu gehört.

Jemand, der als wichtig genug gilt.

Ein Zielfahnder wie Rüdiger Schmitten zum Beispiel.

“Also ich will ja nichts sagen, und ich finde auch nichts dabei, dass einige hier im Ort dafür sorgen, dass sich hier nicht so viel Gesindel herumtreibt. Aber einem Polizisten eins über den Schädel zu geben, das geht dann doch zu weit.”

Asylbewerber mit dem Baseballschläger verprügeln war für ihn offenbar in Ordnung. Ich verschluckte die Bemerkung, die mir dazu auf der Zunge lag. Immerhin schien das Gewissen dieses Wirtes wenigstens bei einem Polizistenmord angesprungen zu sein. Und ich hatte schon gedacht, dass es so etwas wie ein Gewissen bei diesem Kerl gar nicht gab.

“Also jetzt heraus damit, was wissen Sie über den Tod des Kollegen Schmitten?”, konnte Rudi seine Ungeduld nicht bremsen.

“Sie haben ein paar Männer verhaftet”, wich der Wirt aus.

“Weil Sie uns angegriffen und bedroht haben, als wir uns in dem Haus umgesehen haben, in dem angeblich ein Flüchtlingsheim sein sollte”, sagte ich.

“Es spricht sich hier alles sehr schnell herum, Herr Kubinke. Sehr schnell.”

“Mag sein.”

“Unter anderem wird gesagt, dass Sie Devid Dresel verhaftet haben.”

“Wenn Sie das schon wissen, brauche ich ja nichts mehr dazu sagen”, meinte ich.

“Devid ist eigentlich ein guter Kerl, aber er hatte eine schwere Kindheit und es hätte sich in den entscheidenden Jahren jemand mehr um ihn kümmern sollen …”

“Was wollen Sie mir damit sagen?”

Eine Pause entstand. Der Wirt zögerte noch einen Augenblick, ehe er schließlich weitersprach. Was er dann sagte, hatte es in sich. Ich hatte mit so einem Hammer zu dieser späten Stunde nicht mehr gerechnet und Rudi wohl auch nicht. Meinem Kollegen blieb fast der Mund offen stehen, was vielleicht auch daran lag, dass er gerade gähnte, als unser Gegenüber die entscheidenden Sätze sprach.

“Ich habe gehört, wie Devid zu einem der anderen gesagt hat, dass er den Herrn Schmitten umgebracht hat. Mit seinem Baseballschläger.”

“Wann und wo soll das gewesen sein?”, fragte ich.

“Sie glauben mir nicht?”

“Ich muss Ihre Angaben einfach überprüfen, sonst kann ich damit nichts anfangen.”

“Sie glauben mir nicht. Aber ich kann Ihnen nicht mehr als die Wahrheit sagen und Sie davor warnen, Devid Dresel wieder auf freien Fuß zu setzen. Nach 48 Stunden, glaube ich, müssen Verdächtige doch freigelassen oder dem Haftrichter vorgeführt werden. Sehe ich das richtig?”

Ich nickte. “Das sehen Sie richtig”, bestätigte ich.

“Na, also!”

“Und warum wollen Sie uns warnen, Herrn Dresel wieder auf freien Fuß zu setzen?”

“Weil er mich dann vielleicht umbringen wird. Deshalb.”

Rudi und ich wechselten einen Blick.

Hätte dem das nicht früher einfallen können?, schien Rudis Gesicht zu sagen. Und der Gedanke, der mir zurzeit im Kopf herumschwirrte, war ganz ähnlich. Aber manche Dinge hat man eben einfach nicht im Griff. Vor allem gilt das für das Verhalten anderer Leute.

Man mag es manchmal als Frechheit empfinden, aber sie empfinden mitunter einfach, was sie wollen.

“Wo und wann haben Sie das mitbekommen?”, fragte ich. “Und wer war Dresels Gesprächspartner?”

“Das war Heino Zäuner.”

“Der ist leider tot und kann das nicht bestätigen.”

“Habe ich auch von gehört. Der Heino, das war ein ganz harter. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, dass Sie ihn erschossen haben.”

“Das ist also auch schon herum.”

“Was denken Sie denn! Und ich sag Ihnen eins: Freunde haben Sie sich hier in der Gegend damit sicher nicht gemacht!”

“Ich bin auch nicht hier, um Freundschaften zu schließen”, sagte ich. “Und abgesehen davon würde Herr Zäuner noch leben, wenn er nicht versucht hätte, uns mit der Waffe anzugreifen.”

“Ja, das ist alles richtig. Wie gesagt, ich habe ja Verständnis dafür …”

“Verständnis dafür, dass wir gerne am Leben bleiben wollten?”, mischte sich Rudi ein. “Zu gütig. Mit so viel Mitgefühl hätte ich gar nicht gerechnet.”

“Verstehen Sie mich bitte nicht falsch!”, meinte der Wirt.

“Und jetzt mal Tacheles: Wo fand das Gespräch statt?”

“Na im FDJ-Haus.”

“Wie bitte?”

“Ja, wissen Sie, Herr Kubinke, das nennt man hier immer noch so, obwohl es die FDJ natürlich schon lange nicht mehr gibt. Aber Versammlungen finden da immer noch statt. Wenn hier im Ort irgendetwas ist, dann kommen alle dahin.”

“Und was war das dann für eine Versammlung?”

“Es ging um verschiedene Dinge, die eben geregelt werden mussten. Mit den Flüchtlingen zum Beispiel. Das überfordert ja viele Gemeinden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Na jedenfalls, da steht der Devid Dresel bei dem Heino Zäuner und erzählt ihm, dass er den Typ vom BKA - so hat er sich ausgedrückt: Typ vom BKA - allegemacht hätte.”

“Allegemacht. Das hat er so gesagt?”, hakte ich nach.

“Ja, das waren seine Worte. Ich dachte erst, er wollte nur vor dem Heino Zäuner angeben, diesem superharten Reichsbürger, wie er sich nennt, der keine Sau auf sein Grundstück lässt, weil das ein eigener Staat sei und was dem nicht alles für eine Kacke im Hirn rumschwirrt. Aber dann habe ich gehört, dass Ihr Kollege erschlagen worden ist und da war mir klar, dass das nicht einfach nur Angeberei war.”

“Und wieso sollte dieser Devid Dresel unseren Kollegen umgebracht haben?”, hakte ich nach.

“Was heißt hier schon ein Grund? Was hatte er denn für einen Grund, um Sie anzugreifen?”

“Wo er recht hat, hat er recht”, meinte Rudi.

Ich sah auf die Uhr. “Wir werden aus dem, was Sie uns gesagt haben, noch eine richtige Aussage machen müssen. Mit Unterschrift und schriftlich.”

“Können Sie mich da nicht besser offiziell rauslassen?”

“Rauslassen?”, echote ich. “Es geht hier um einen Mord an einem Kriminalbeamten! Also entweder, Sie haben wirklich gehört, was Sie gehört haben wollen, dann ist das eine wesentliche Aussage oder Sie sind nur ein Wichtigtuer und haben sich durch eine falsche Beschuldigung strafbar gemacht. So oder so - rauslassen kann man Sie da jetzt nicht mehr.”

“Verstehen Sie doch”, sagte der Wirt. “Ich will hier eigentlich den Rest meines Lebens verbringen und der Dresel hat hier seine ganze Verwandtschaft und viele Freunde. Also möchte ich ungern irgendwas unterschreiben oder irgendwie in Erscheinung treten. Aber der Tipp, den ich Ihnen gegeben habe, müsste doch eigentlich ausreichen, damit Sie was daraus machen können, oder?”

Ich seufzte.

Ganz ehrlich. Solche Zeugen würde ich jedes Mal gerne ohrfeigen.

Aber das ist natürlich gegen unsere Dienstvorschriften und sämtliche Gesetze und kommt daher nicht in Frage. Aber in seinen Wünschen ist man ja frei.

“Wir sehen morgen weiter”, meinte Rudi.



14

In meinem Job bin ich kurze Nächte gewöhnt. Aber diese war besonders kurz.

Es war mein Smartphone, das mich weckte. Ich verwünschte den Klingelton, den ich im Moment programmiert hatte. Es war das Beam-Geräusch aus >Raumschiff Enterprise<.

“Ja, hier Kubinke. Was ist los? Wer gönnt mir keinen Schlaf?”

“Ich bin‘s.”

“Wer ist ich?”

“Max Vandersteen, BKA-Innendienst, Berlin. Siehst du das nicht auf deinem Display? Sag bloß, du hast mich gar nicht einprogrammiert. Mann, Harry, was ist das für eine Dienstauffassung. Weiß Kriminaldirektor Bock davon?”

“Um das Display sehen zu können müsste ich erst ein Streichholz finden, dass ich unter eines meiner Augenlider klemmen könnte, Max.”

“Was ist los? Ihr hattet doch eine gemütliche Fahrt und eine Nacht in einem schönen Hotel.”

Inzwischen war auch Rudi im Begriff, wach zu werden. Aber ich sah nicht ein, dass ich auf ihn Rücksicht nehmen sollte. Und wenn der Kollege Max Vandersteen uns irgendetwas mitzuteilen hatte, dann war es ja schließlich auch wichtig, dass Rudi das mitbekam.

“Ich schalte mein Smartphone mal eben auf laut”, kündigte ich Max gegenüber also an. “Der Rudi soll dich auch hören.”

“Was ist los?”, knurrte der schlaftrunken.

“Ist das Rudi oder irgendeine Schnapsleiche, die du freundlicherweise in dein Zimmer gelassen hast?”, fragte Max Vandersteen, der aus irgendeinem Grund ganz gegen seine sonstige Art zu Scherzen aufgelegt zu sein schien.

“Sehr witzig”, knurrte Rudi.

“Jetzt schieß schon los, Max”, verlangte ich. “Und ich kann nur hoffen, dass du uns nicht umsonst geweckt hast. Oder aus nichtigem Anlass!”

“Sowas würde ich nie tun”, versicherte Max.

Ich seufzte. “Na, dann …”

“Also, es geht darum, dass es in den vergangenen zwölf Monaten zahlreiche Anfragen des BAMF zur Aufenthaltsfeststellung von Flüchtlingen gab. Unter anderem zum Abgleich von Doppelmeldungen.”

Das BAMF - eine der schönen Abkürzungen, die man sich in Deutschland zur Bezeichnung von Behörden so ausgedacht hat. BAMF heißt eigentlich Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Das klingt etwas weniger nach dem Namen für einen Verwandten des Krümelmonsters als BAMF, oder?

“Okay, und was haben sich da für Auffälligkeiten ergeben?”

“Bei keinem Einzigen der nachgefragten Personen konnte schließlich bestätigt werden, dass der Betreffende sich tatsächlich in eurem beschaulichen sächsischen Provinznest aufhielt.”

“Und was ist daran ungewöhnlich? Ich dachte, im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise sei es massenhaft zu Doppelmeldungen gekommen.”

“Richtig. Aber auffällig ist, dass in diesem Fall keine einzige der nachgefragten Personen auch dort war, wo sie hätte sein sollen. Das ist mehr als nur irgendein statistischer Ausreißer.”

“Dann sollte man dem vielleicht weiter nachgehen”, meinte ich. Und Rudi nickte dazu.

“Auch meine Meinung”, sagte er.

Das war wohl sein ultimatives Signal dafür, dass er inzwischen auch wach genug war, um an dieser frühmorgendlichen Telefonkonferenz geistig teilnehmen zu können. Mein Kollege unterdrückte dann allerdings vergeblich ein Gähnen, das auf jeden Fall laut genug ausfiel, dass unser Innendienstler Max Vandersteen das mitbekommen haben musste.

Allerdings war Max taktvoll genug, es einfach zu überhören, anstatt noch einen weiteren Witz auf Rudis Kosten daraus zu machen.

“Es gibt noch ein paar weitere Seltsamkeiten, was das Stichwort Flüchtlinge in eurem sächsischen Kleinstadtnest angeht”, berichtete Max anschließend.

“Noch mehr?”, fragte ich.

“Die Person, die dieses Flüchtlingsheim angeblich leitet heißt Annemarie Högel.”

“Wir haben vergeblich versucht, sie zu erreichen oder uns mit ihr zu treffen”, stellte ich klar.

“Das ist auch kein Wunder”, gab Max zurück. “Jüngsten Informationen nach wohnt diese Frau Högel schon seit geraumer Zeit dauerhaft auf Mallorca.”

“Das ist interessant.”

Rudi warf ein: “Scheint ein nicht so anspruchsvoller Job zu sein, wenn man den von Mallorca aus erledigen kann.”

“Vorausgesetzt, es hat diesen Job und dieses Flüchtlingsheim je gegeben”, meinte ich. “In dem Haus, wo es sich angeblich befinden soll, ist es jedenfalls nicht. Und wahrscheinlich haben dort auch nie Flüchtlinge gelebt, wie wir gestern feststellen konnten.”



15

Der Wirt war ziemlich einsilbig, als wir das Frühstück einnahmen. Dass es zu früh für frische Brötchen war, hatte er uns ja schon angekündigt. Insofern hielt sich die Enttäuschung bei Rudi und mir über diesen Punkt in engen Grenzen.

Das Wichtigste war ohnehin der Kaffee. Und immerhin war der einigermaßen stark, sodass ich auf eine Dosis Koffein hoffte, die ausreichte, um mich die nächsten Stunden über so wach zu halten, wie es unser Job zweifellos erforderte.

“Wollen wir nochmal über gestern Nacht sprechen”, wandte ich mich schließlich an unseren Gastgeber, nachdem ich das Gefühl gewann, dass er uns mehr oder minder auszuweichen versuchte.

“Ich weiß nicht, was Sie meinen“, behauptete er.

“Wir haben uns doch gestern Nacht - oder heute Morgen, ganz wie Sie wollen - noch unterhalten.“

“So?”

“Über Devid Dresel und das, was er zu Heino Zäuner gesagt hat.”

“Da müssen Sie sich irren”, erklärte er dann. Er konnte lügen, ohne rot zu werden. Diese Fähigkeit immerhin ist so selten, dass ich nicht umhinkonnte, ihm dafür ein gewisses Maß an Anerkennung zu zollen.

“Wie bitte?”, fragte Rudi.

Seine Stirn war so stark gefurcht, wie ich es bei meinem Kollegen selten bemerkt hatte.

“Ich erinnere mich nicht an ein Gespräch. Wollen Sie noch Kaffee?”

Offensichtlich hatte er es sich anders überlegt, was seine Aussage anging.

Vielleicht war seine Angst vor der Baseballschläger-Fraktion im Ort einfach auch nur sehr viel stärker ausgeprägt als die Ehrfurcht vor dem Gesetz und denjenigen, die es verkörpern und durchsetzen sollten.

Also uns.

Rudi wollte noch einmal nachhaken, aber ich schüttelte den Kopf.

Es hatte einfach keinen Sinn. Das hatte ich im Gespür.

“Es möchte Sie übrigens jemand heute Morgen dringend sprechen”, eröffnete der Wirt dann. Er vermied dabei den Blickkontakt.

“Und wer?”, fragte ich.

“Der Bürgermeister. Herr Martin Keller.” Der Wirt sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. “Er hat gesagt, dass er rechtzeitig hier sein wird, um Sie noch anzutreffen.”

In diesem Moment betrat ein Mann in den Vierzigern den Raum. Er trug einen Anzug, der ihm offenbar vor ein paar Jahren mal gepasst hatte, jetzt aber deutlich zu klein war. Darüber einen Parka, den er jetzt abstreifte und über den nächstbesten Stuhl warf.

Die Krawatte hing ihm wie ein Strick um den Hals. Sein Kopf war hochrot.

Auf seiner hohen Stirn war eine Ader zu sehen, die deutlicher hervortrat, als es gesund wirkte.

Er sah zu mir, zu Rudi, dann zum Wirt und wieder zu mir. Dabei rieb er die Handflächen gegeneinander.

“Sie sind die Herren vom BKA, nicht wahr?”

Es war keine ernst gemeinte Frage, sondern eigentlich eine Feststellung.

“Kommissar Harry Kubinke”, stellte ich mich vor und deutete auf Rudi. “Und das ist mein Kollege Rudi Meier.”

“Ich bin Martin Keller.”

“Der Bürgermeister”, stellte Rudi fest.

Keller lächelte breit und verlegen. “Wie ich sehe, wurde ich bereits angekündigt.”

“Wir werden nicht viel Zeit haben”, kündigte ich an.

Keller sah noch einmal kurz zum Wirt hinüber und der verstand das Signal jetzt endlich. Es hieß: Verschwinde und lass uns allein!

Also verdrückte sich der Wirt, obwohl seine Neugier ihm sicher etwas anderes eingeflüstert hatte.

“Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze”, sagte Keller dann und wartete gar nicht erst ab, bis Rudi oder ich dazu etwas sagen konnten.

Da saß er nämlich schon.

“Was können wir für Sie tun?”, fragte Rudi für meinen Geschmack eine Spur zu ehrerbietig. Bürgermeister sind ja schließlich auch nur Menschen. Meistens jedenfalls.

“Sehen Sie, ich weiß, dass Sie nur Ihre Pflicht tun, aber ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie Ihre Ermittlungen nicht künstlich in die Länge ziehen würden.”

“Wir machen einfach nur so gründlich wie möglich unsere Arbeit.”

“Ja, das weiß ich ja!”, fuhr mir Keller gleich in die Parade.

“Na, dann sind wir uns doch im Grunde einig. Oder habe ich da irgendetwas nicht richtig verstanden?”

“Ich hoffe nur, dass Sie auch mich richtig verstehen”, sagte Martin Keller jetzt mit einem Gesicht, das auf einmal sehr ernst wirkte. Fast schon konnte man seinem Mienenspiel zusammenfassend die Note ‘finster entschlossen’ geben. Und die Art und Weise, in der er mit uns sprach, gefiel mir ganz und gar nicht.

“Ich habe leider keine Ahnung, was Sie meinen”, erklärte ich.

“Ganz einfach: Jede Stunde, die Sie hier im Ort sind, richtet Schaden für das Ansehen unserer Gemeinde an. Das ist nicht von Ihnen beabsichtigt, aber es ist eine Tatsache, die Sie nicht bestreiten können. Und deswegen wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie die Sache so schnell wie möglich abschließen.“

“Ein Kollege ist brutal ermordet worden - und um herauszufinden, wer der Täter war, werden wir uns so viel Zeit nehmen, wie wir brauchen”, mischte sich jetzt Rudi etwas ungehalten ein.

Ich hob die Augenbrauen. “Mein Kollege hat eigentlich schon alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt”, fügte ich noch hinzu. “Oder wollen Sie etwa irgendeinen Einfluss auf unsere Ermittlungen nehmen?”

“Sie haben doch jemanden verhaftet, nicht wahr?”

“Wir haben eine Reihe von Personen festgenommen, die uns tätlich angegriffen haben. In den nächsten Tagen wird sich herausstellen, gegen welche dieser Personen sich vielleicht der Verdacht erhärtet, dass sie auch etwas mit dem Tod unseres Kollegen zu tun hat.”

“Das heißt, Sie haben gegen keinen dieser Festgenommenen irgendwelche konkreten Beweise, dass sie für den Tod Ihres Kollegen verantwortlich sind?”, hakte Keller jetzt nach.

“Das scheint Sie ja fast etwas zu erleichtern”, stellte ich überrascht fest.

Kellers Lächeln wurde jetzt sehr breit.

“Ich persönlich glaube nicht, dass Ihr Kollege von jemandem aus unserer Gemeinde umgebracht wurde. Allerdings hat sich die Sicherheitslage sehr zugespitzt, seit wir einen dramatisch hohen Zuzug von Menschen aus anderen Kulturkreisen zu verzeichnen haben.”

“Sie meinen Flüchtlinge.”

“Wie auch immer. Hat Ihr Kollege nicht nach einem Flüchtling gesucht?”

“Hat er”, bestätigte ich.

“Ist dieser Flüchtling eine Person, die sich Ihren Erkenntnissen nach noch hier im Ort aufhält?”

“Nein, davon gehen wir nicht aus.”

“Dieser Flüchtling wollte vielleicht nicht gefunden werden. Wenn er tatsächlich Kontakte zu terroristischen Gruppen hatte, dann bedeutete das Auftauchen dieses BKA-Zielfahnders eine Bedrohung für ihn und das wiederum ergibt ein perfektes Motiv für einen Mord. Oder sehe ich das falsch?”

“Nein, das sehen Sie richtig”, sagte ich.

“Na, also!”

“Ihre Theorie hat nur einen Schönheitsfehler.”

“Und der wäre?”

“Der Mann, den Kollege Schmitten suchte, war zu dem Zeitpunkt längst in Paris erschossen worden.”

“Oh”, murmelte Keller.

“Sie scheinen gut über die Sache informiert zu sein”, stellte Rudi fest.

“Durch Ihren verstorbenen Kollegen, Herrn Schmitten.”

“Er hat mit Ihnen gesprochen?”

“Ziemlich lange sogar. Ich habe natürlich alles getan, um ihn zu unterstützen und vielleicht hier und da ein paar Türen zu öffnen, wenn Sie verstehen, was ich meine.”

Ich schüttelte entschieden den Kopf. “Nein, wenn ich ehrlich bin, verstehe ich nicht, was Sie meinen.”

“Naja, es gibt hier Leute, die gegenüber Außenstehenden ziemlich verschlossen sind und noch aus der DDR-Zeit ein sehr reserviertes Verhältnis zu staatlichen Stellen und der Polizei haben …”

“Wenn Sie diese Reichsbürger meinen, dann hat das wohl weniger mit der DDR-Zeit und irgendwelchen miesen Erfahrungen mit der Volkspolizei zu tun”, widersprach ich.

“Wie auch immer. Aber Sie sind ja in Eile, wie Sie sagten. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich auch Sie natürlich voll umfänglich unterstütze, wann immer das opportun ist.”

“Wir kommen dann gerne auf Sie zurück, Herr Keller”, erklärte ich. “Für den Anfang könnten Sie uns ja mal etwas dazu sagen, wie es kommt, dass eine Frau Högel hier ein Flüchtlingsheim leitet, aber in Wahrheit auf Mallorca lebt. Und das wir außerdem weder die Flüchtlinge noch das Heim irgendwo finden konnten.”

“Da muss irgendwas mit dem Datenaustausch und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht so richtig geklappt haben. Aber wie auch? Da sind eine Million Menschen innerhalb kürzester Zeit über die Grenzen gekommen und man hört ja allerorten, dass da einiges ziemlich chaotisch abgelaufen ist. Gerade bei Ihnen da oben in Berlin … Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Ich bin eigentlich nämlich auch auf dem Sprung, wenn Sie verstehen, was ich meine.”

Nachdem Martin Keller den Gastraum verlassen hatte, schaute Rudi mich fragend an. “Kommt mir das jetzt nur so vor, oder hat er uns gar keine Antwort auf unsere Frage gegeben?”

“Ist eben ein Politiker”, sagte ich.



16

Martin Keller griff nach seinem abgelegten Parka und war so schnell verschwunden, wie er hereingekommen war. Ich sah durch das Fenster, dass er zum Handy griff, nachdem er sich im Freien befand. Noch während er auf seinen geparkten Mercedes zuging, tippte er eine Nummer ein und hatte wenig später das Gerät am Ohr. Natürlich konnte man nicht verstehen, was er sagte, aber seiner ausholenden, ausdrucksstarken Gestik war anzumerken, dass der Bürgermeister dieses beschaulichen Ortes offenbar ziemlich mit den Nerven am Ende war.

Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass Rudi und ich auf irgendeine Art und Weise dazu beigetragen hatten, ohne dass ich bislang dafür den genauen Grund hätte benennen können.

Da blieb einfach nur ein beständiges Rumoren in der Magengegend. Ein untrügliches Gefühl dafür, dass hier irgendetwas zum Himmel stank.

“Was war das denn für ein Spinner, Harry?” hörte ich Rudis Kommentar zum Auftritt des Bürgermeisters wie aus weiter Ferne. Ich antwortete zuerst nicht, denn meine Gedanken rasten in diesem Augenblick nur so.

Ich versuchte verzweifelt, die Einzelteile dieses Ermittlungspuzzles auf eine Art und Weise zusammenzufügen, die irgendeinen Sinn nahelegte.

Aber so weit waren Rudi und ich wohl einfach noch nicht.



17

Martin Keller saß am Steuer seines Wagens. Schneeregen hatte eingesetzt. Die Scheibenwischer schafften es kaum, eine freie Sicht zu gewährleisten.

Sein Handy klingelte.

“So‘n Mist aber auch”, murmelte der Bürgermeister vor sich hin.

Er griff nach dem Apparat.

Sollte man eigentlich nicht machen, wusste er.

War nicht erlaubt. Aber erstens war die Wahrscheinlichkeit recht gering, dass ihn auf dieser Straße ein Polizist erwischte. Und noch unwahrscheinlicher war, dass dieser Polizist ihn dann auch für sein Vergehen zur Kasse bat, wie es eigentlich hätte sein müssen. Dass Jürgen Dahlheim oder einer seiner Kollegen tatsächlich den Bürgermeister anhielten, weil er während der Fahrt verbotenerweise sein Handy benutzte - undenkbar!

Hier galten eben ein paar andere Regeln.

Alle waren gleich, aber es gab ein paar, die gleicher waren. Normalerweise fiel Martin Keller das gar nicht auf. Aber ab und zu, wenn er in die Kreisstadt oder gar nach Dresden fahren musste und ihn unterwegs die Polizei anhielt, weil er während der Fahrt mit dem Handy telefoniert hatte, dann wurde der Unterschied umso offensichtlicher.

Sobald er nämlich den engeren Umkreis um seine Gemeinde verlassen hatte, galten die Privilegien nicht mehr, die hier für ihn selbstverständlich waren.

Was diesen speziellen Fall anging, waren die Grenzen seiner privilegierten Existenz mit den Grenzen des Zuständigkeitsbereichs der örtlichen Polizeidirektion identisch.

“Jetzt mach dir nicht ins Hemd”, sagte Keller in sein Handy, während er mit der anderen Hand am Lenkrad klebte. Und diese andere Hand hatte im nächsten Moment auch eine Menge zu tun. Mit einer ruckartigen Bewegung musste er einem Traktor ausweichen, der mehr von der Fahrbahnbreite einnahm, als ihm zugestanden hätte.

Es ging gerade noch einmal gut.

“Idiot”, murmelte Keller, nur um sich im nächsten Moment bereits zu korrigieren: “Nein, nicht du, Ferdi!”, beeilte er sich.

Dann hörte er eine Weile zu, während der Schneeregen heftiger wurde. Das matschige graue Etwas, verwandelte sich mehr und mehr in richtige weiße Flocken. Die Umgebung wirkte wie gepudert. “Ich habe mit den BKA-Leuten gesprochen … Ja, auch wenn die sich nicht reinreden lassen, eins ist aber wohl auch klar: Richtige Beweise haben die nicht. Ja, wenn ich’s doch sag! Die stehen mit leeren Händen da. Ganz bestimmt!”



18

Wir hatten noch keine Neuigkeiten vom Erkennungsdienst und der kriminaltechnischen Untersuchung, kurz KTU, wie man das eigentlich nennt. Aber solche Bezeichnungen ändern sich auch alle paar Jahre und wenn man ein bisschen länger dabei ist, verliert man die Lust darauf, sich jedes Mal sprachlich anzupassen. Ist sowieso meistens alter Wein in neuen Schläuchen.

Manche Dinge brauchen Zeit.

DNA-Abgleiche, ballistische Tests und so weiter. Es gibt Fälle, die sind wie Gras. Und Gras wächst ja auch bekanntlich nicht schneller, nur weil man dran zieht.

Möglich, dass irgendeine Erkenntnis, die sich dabei ergab, der ganzen Sache einen völlig neuen Dreh gab.

Jedenfalls hatten wir so die Gelegenheit, der Devid-Dresel-Spur noch etwas tiefergehend nachzuspüren. Wir fuhren zunächst mal zu seiner Adresse. Ein Durchsuchungsbeschluss war uns elektronisch zugegangen. Rudi hatte ihn mit dem Mobildrucker seines Laptops ausgedruckt.

“Dort, wo dieser Dresel wohnt, ist nur ein gewisser Ferdinand von Bleicher gemeldet”, sagte Rudi während der Fahrt. “Ist wohl so eine Art Herrensitz.”

“Und Dresel?”

“Na, der wohnt da … irgendwo. Ich habe mir das auf einem Satellitenbild im Netz mal angesehen.”

“Und?”

“Großflächiges Gelände. Wenn uns dieser Herr von Bleicher nicht behilflich ist, können wir lange suchen.”

“Vielleicht sollten wir mal etwas mehr Personal für diesen Einsatz anfordern.”

“Ich denke, man geht in Berlin davon aus, dass uns die lokale Polizei unterstützt, Harry. Aber im Moment würde ich nicht mal der Polizei in Dresden oder dem Landeskriminalamt trauen.”

“Du sagst es.”

“Mal wieder ein Film mit dem Titel ‘Allein für das Recht’.”

“Kennen wir doch, Rudi.”

“Gut finden muss ich es trotzdem nicht, oder.”

“Nee.”

“Übrigens gibt es über diesen Ferdinand von Bleicher einiges Interessante im Internet zu lesen. Erstens ist er der Kämmerer der Gemeinde. Und zweitens ….”

“So, wie du jetzt Luft holst, hört sich das an, als wäre zweitens etwas länger als erstens, Rudi.”

“Also Ferdinand von Bleicher ist der Enkel eines gleichnamigen Wehrmachtsoffiziers, der zum erweiterten Kreis des 20. Juli gehörte und den Widerstand gegen Hitler unterstützte. Der jetzige Träger dieses Namens ist politisch allerdings ganz anders eingestellt. Er hängt den sogenannten Reichsbürgern an, wurde wegen Holocaust-Verleugnung verurteilt, darf nicht mehr als Anwalt praktizieren und hat ein Buch darüber geschrieben, welche Schande sein Großvater angeblich über die Familie gebracht habe, weil er sich dem Widerstand gegen Hitler anschloss.”

“Ach so einer ist das”, meinte ich.

“Sein Buch über den gleichnamigen Großvater heißt ‘Der Volksverräter’ und ist in einem obskuren rechtsorientierten Verlag erschienen, der ansonsten vor allem Bücher über Verschwörungstheorien, Kritik an Israel und Kriegsverbrechen der Alliierten publiziert.”

“Ich dachte immer, Adeligen sei Harmonie in der Familie immer sehr wichtig, Rudi.”

Rudi zuckte mit den Schultern.

“Harmonie herrschte in dieser Familie offenbar nicht.”

“Und was hat dieser Herr von Bleicher jetzt mit Devid Dresel zu tun?”, hakte ich nach.

“Tja, wie wär’s, wenn wir ihn gleich mal selbst fragen.”

“Wenn dieser Ferdinand von Bleicher auf diese Weise in der rechten Szene aktiv ist, dann gibt es vielleicht Berichte des Verfassungsschutzes oder dergleichen mehr.”

Rudi verzog das Gesicht.

“Hier in Sachsen? Da ist man doch auf dem rechten Auge eher blind. Dieser Herr von Bleicher ist außer wegen Holocaust-Verleugnung auch noch mehrfach wegen Verstößen gegen die Waffengesetze verurteilt worden. Das scheint aber auch niemanden alarmiert zu haben.”

“Unser Kollege Max kann doch mal sehen, ob es da nicht doch was gibt.”

“Ich habe ihm schon eine Mail geschrieben.”

“Du befürchtest nur, dass nichts dabei herauskommt?”

“Sollte ich mich da wirklich so irren, Harry?”

“Du kennst mich doch.”

“So?”

“Ich bin grundsätzlich Optimist, Rudi.”

“Na, dann.”



19

Wir erreichten den ausgedehnten Landsitz, auf dem sich Ferdinand von Bleicher niedergelassen hatte. Wir parkten vor dem Haupthaus. Es gehörten noch ein paar Nebengebäude zum Anwesen. Außerdem ausgedehnte Ländereien. Auf einer Wiese grasten Pferde.

“Dass sich ein so aristokratisch angehauchter Lebensstil gerade hier erhalten konnte”, staunte Rudi.

“Du meinst, in der ehemaligen DDR?”

“Genau. Das ist schon eine Ironie. Von Bleicher kommt allerdings aus dem Westen.”

“Also irgend so ein Graf, der seine Ostbesitztümer nach der Wende wieder in Besitz genommen hat?”

“Könnte man fast so sagen.”

“Vielleicht erzählt er uns ein paar Einzelheiten.”

“Sofern er überhaupt mit uns redet.”

“Wieso?”

“Na, er ist doch ein sogenannter Reichsbürger. Für den sind wir Polizisten eines fremden Landes, die auf seinem Territorium keinerlei Befugnisse haben.”

“So soll der mir mal kommen!”

“Vielleicht ist es besser, wenn wir Schutzwesten anlegen. Was meinst du?”



20

Wir stiegen aus. Die Schutzwesten ließen wir dann aber doch dort, wo sie waren - im Kofferraum nämlich. Es hatte zwar Fälle gegeben, in denen sogenannte Reichsbürger auf Polizisten geschossen hatten, aber das musste ja nicht immer so ausgehen.

Vielleicht traute ich dem Adel einfach gepflegtere Umgangsformen zu als dem Otto Normal-Neonazi.

Na ja, die Wahrheit ist wohl, dass ich diese Kevlar Westen einfach hasse. Sie sind unbequem und man kann sich darin schlecht bewegen.

Wir klingelten an der Tür.

Ein junger Mann öffnete uns. Er war kahlköpfig. Und sehr breitschultrig.

“Sie wünschen?”

“Wir wollen mit Herrn Ferdinand von Bleicher sprechen”, eröffnete ich.

“Die Frage ist, ob der auch mit Ihnen sprechen will”, sagte der Kahlköpfige. Ein breites Grinsen in seinem Gesicht mischte sich mit dem eher gleichgültig wirkenden Ausdruck, der bis jetzt seine Züge beherrscht hatte.

“Ich glaube schon”, sagte ich und zeigte ihm meinen Dienstausweis.

“Dann werde ich mal sehen, ob der Ferdi Zeit für Sie hat”, lenkte der Kerl ein. Ich hatte mich innerlich schon auf eine unsinnige Diskussion darüber eingestellt, ob dieses Grundstück nun ein Teil des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland war oder nicht und ob das BKA hier irgendeine Zuständigkeit hatte.

Aber das blieb uns Gott sei Dank erspart.

Warum auch immer.

“Warten Sie hier”, sagte der Kahlköpfige dann und schlug uns erstmal die Tür wieder vor der Nase zu.

“Und sowas sollen wir uns bieten lassen?”, meinte Rudi.

“Abwarten und ruhig bleiben, Rudi.”

“Also nach deeskalierendem Verhalten ist mir im Moment nicht unbedingt zumute.”

“Kann ich gut verstehen, nützt aber nichts.”

Rudi seufzte.

“Ich weiß.”

“Soll ich dir sagen, was mir im Kopf herumgeht?”

“Vielleicht der Polizist, der neulich von einem sogenannten Reichsbürger erschossen wurde, weil der es gewagt hatte, dessen persönliches ‘Reich’ zu betreten?”

“Sag bloß, du kannst das wirklich ganz ausblenden.”

“Nein, kann ich nicht”, gab ich zu.

“Na eben, Harry.”

Ich versuche mir immer zu sagen, dass das ein genauso fieses Vorurteil ist, wie das Vorurteil, dass ein bärtiger Araber in seinem Rucksack wahrscheinlich eine Bombe hat.”

“Und trotzdem muss man darauf gefasst sein.”

“Ach, hör auf, Rudi.”

“Wieso denn?”

“Wenn man darüber zu viel nachdenkt, traut man sich am Ende nicht mehr aus dem Haus - geschweige denn in die Höhle eines …”

Die Tür ging auf.

Der Kahlkopf war wieder da.

Sein Gesicht wirkte betont grimmig. So als wollte er damit auf uns Eindruck machen. Oder es lag ein krasses Beispiel für Botox-Missbrauch vor. Aber ich beschloss, darüber nicht weiter nachzudenken.

“Kommen Sie mit”, sagte der Kahlkopf ungefähr auf die Art und Weise, wie man sich das vielleicht in einem finsteren, vergangenen Zeitalter, als man diesen Landstrich noch die ‘sowjetisch besetzte Zone’ genannt hatte, von einem politischen Kommissar vorgestellt hätte.

“Dann hat es sich Herr von Bleicher also überlegt”, meinte Rudi.

Der Kahlkopf hatte sich schon beinahe ganz den Rücken zugewendet.

Aber jetzt drehte er sich wieder zu uns um und unterzog uns einer verächtlichen Musterung. Einmal von oben bis unten. Keine Frage, dass seine letzte Bemerkung das ausgelöst hatte.

“Herr von Bleicher ist bereit, mit Ihnen zu sprechen. Allerdings ohne Anerkenntnis Ihrer Rechtsbefugnis. Sie sind Gast auf exterritorialem Gebiet, und ich möchte Sie bitten, sich auch so zu verhalten.”

Dann drehte er sich um und lief voraus.

Ich wechselte mit Rudi einen erstaunten Blick.

Natürlich enthielten wir uns jetzt beide jeden Kommentars, aber wir kannten uns gut genug, um im Wesentlichen sofort zu erfassen, was der andere dachte.

Kollegiale Gedankenübertragung sozusagen.

Manchmal, so ging es mir durch den Kopf, waren einem die alten Neonazis herkömmlicher Machart doch irgendwie lieber. Die brüllten unflätig herum und griffen einen an, sodass man ihnen im Rahmen der Selbstverteidigung eins aufs Maul geben konnte.

Aber was machte man mit diesen neuartigen Faschisten, die so geschwollen reden, dass man fast glauben könnte, dass sie einen Schulabschluss hätten?



21

“Hier sind die Auswärtigen, Ferdi”, sagte der Kahlkopf, nachdem wir in einen weiträumigen, an das Haupthaus angebauten Wintergarten geführt worden waren.

Ferdi …, ging es mir durch den Kopf. Ich fragte mich, wie nahe sich Ferdinand ‘Ferdi’ von Bleicher und sein kahlköpfiger Hanswurst und Türöffner wirklich standen. Flache Hierarchien widersprachen doch eigentlich dem von diesen Leuten propagierten Führerprinzip.

Aber da lag ich vielleicht nicht hundert Prozent richtig, was diesen Punkt betraf.

“Wenn es Probleme geben sollte …”, begann nun der Kahlkopf und vollendete seinen Satz nicht. Stattdessen blickte er in unsere Richtung.

“Wir wollen doch nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen”, meinte von Bleicher. Seine Haltung war betont aufrecht. Ungefähr so, wie man sich in vergangenen Zeiten die Haltung eines Offiziers vorgestellt hätte. Sein Anzug war eigenartig geschnitten. Insbesondere die Jacke ähnelte in ihrem Schnitt den Fantasie-Uniformen mancher James-Bond-Bösewichte. Feldgrau schien die Farbe zu sein, die er bevorzugte.

Sein durchdringender Blick musterte uns.

Ein Blick, in dem Hass und Verachtung so offensichtlich und völlig ungeniert offenbart wurden, dass einem schaudern konnte.

“Harry Kubinke, Bundeskriminalamt”, stellte ich mich vor und zeigte auch meinen Ausweis. Ordnung muss schließlich sein. Und auch wenn mein Gegenüber darüber vielleicht etwas anders dachte - wir waren ja immerhin in Deutschland! Ich deutete auf Rudi. “Das ist mein Kollege Herr Meier.”

“Mit welcher Anmaßung dringen Sie denn heute in mein Reich ein?”, fragte von Bleicher. “Will mir die Systempolizei irgendetwas anhängen? Nur zu, es wäre nicht das erste Mal.”

“Eigentlich haben wir nur ein paar Fragen an Sie.”

“Und die wären, Herr …”

“Kubinke”, erinnerte ich ihn an meinen Namen, den er offenbar demonstrativ vergessen wollte. Er sollte sich an diesen Namen erinnern. So oder so. Dafür wollte ich sorgen. So wahr ich hier vor diesem eigenartigen Landadeligen neueren Typs stand.

“Die Unverbindlichkeit meiner Auskünfte und die Tatsache, dass ich Ihnen gegenüber zu nichts verpflichtet bin, möchte ich durchaus noch einmal betonen. Aber ich bin gerne bereit, Ihnen Ihre Fragen zu beantworteten, soweit sie nicht Sachverhalte betreffen, über die ich Ihnen keine Auskunft geben möchte. Eine Begründung werde ich Ihnen im Einzelfall dafür nicht geben, da ich dazu Ihnen gegenüber keine Verpflichtung sehe.”

Oh Mann, dachte ich. Die AGB so mancher Versicherungsgesellschaft klangen dagegen schon fast wie sensible Lyrik.

“Hier wohnt ein gewisser Devid Dresel”, stellte ich fest.

“Das trifft zu”, erklärte von Bleicher.

Na, immerhin!, dachte ich. Ein Anfang war gemacht. Und mein Gegenüber hatte mir sogar eine Frage beantwortet, ohne mir gleich auch noch eine zusammenfantasierte Rechtsbelehrung zu geben. Wenn das kein Grund zum Optimismus war!

“Wir haben einen Beschluss, der uns erlaubt, die Räume zu durchsuchen, die von ihm bewohnt werden”, sagte ich.

“Sie haben ihn verhaftet”, stellte von Bleicher fest. Seine Stimme erinnerte dabei an den Klang von klirrendem Eis. Sein Mund bewegte sich kaum, als er sprach. Die Lippen bildeten einen dünnen Strich. “Die Anschuldigungen gegen ihn und die anderen Verhafteten …”

“Der Buschfunk scheint hier gut zu funktionieren”, meinte ich.

“... sind absurd, wollte ich sagen. Und sie werden sich in Nichts auflösen.”

“Wie können Sie sich da so sicher sein?”, fragte ich verblüfft. “Ich meine, schließlich war ich dabei - und Sie nicht!”

“Sie haben einen Menschen erschossen, der hier in der Gegend viel Wertschätzung genoss.”

“Sie sprechen von Heino Zäuner!”

“Exakt.”

“Das war leider nicht zu vermeiden. Wir wurden mit Schusswaffen angegriffen.”

“Ja, das nennt man dann wohl eine Schutzbehauptung. Aber Sie hatten mich ja eigentlich nach Devid Dresel gefragt.”

“Richtig”, nickte ich, immer noch mit einer Mischung aus Verblüffung und Bestürzung darüber, wie gleichgültig meinem Gegenüber das Leben von Kriminalbeamten war.

“Devid - und das gilt auch für die anderen, für deren Festnahme Sie gesorgt haben, ist ein guter Kerl.”

“Tja, ehrlich gesagt habe ich bis jetzt seinen guten Kern noch nicht so richtig kennengelernt”, gab ich zurück.

“Ach, nein? Hätte ich mir denken können.”

“Aber Sie können mich gerne aufklären, Herr von Bleicher.”

“Devid hat es nicht leicht gehabt. Schwieriges Elternhaus, Vater früh an den Folgen von Alkoholismus verstorben, die Mutter … Ich will jetzt nicht den Eindruck entstehen lassen, dass ich Mitleid für ihn erwecken will. Das hat Devid auch gar nicht nötig. Ich habe ihn etwas unter meine Fittiche genommen. Er hat einen Job, er wohnt hier und er ist auf einem guten Weg.”

“Was hat er für einen Job?”

“Er kümmert sich hier auf dem Anwesen um die Rasenflächen und das Grün. Und das wird er auch bald wieder.”

“Da wäre ich nicht so optimistisch”, mischte sich Rudi ein. “So, wie es aussieht, wird er sich wegen einem gemeinschaftlichen Angriff gegen Kriminalbeamte verantworten müssen.”

“Das warten Sie mal getrost ab. Ich habe hier viele Freunde und Bekannte. Einer der für das Verfahren zuständigen Staatsanwälte ist ein Studienkollege von mir und ich könnte mir gut vorstellen, dass alle diejenigen, die da in das Netz einer übereifrigen Staatsgewalt geraten sind, schon bald wieder auf freiem Fuß sind.”

“Einer der Staatsanwälte hat mit Ihnen zusammen studiert?”, hakte ich nach. “Wer ist das denn?”

“Herr Dr. Frankenberg. Sven Frankenberg. Wir gehörten im Übrigen auch derselben Burschenschaft an und auch das dürfte ihn für meine Argumente empfänglich machen. Ich selbst darf mich in die Verteidigung leider offiziell nicht einschalten, aber ein anderer Spezi aus Studientagen, ist bereit da einzuspringen. Ein hervorragender Strafverteidiger. Es wird nicht einfach werden, Herr Kubinke. Am Ende wird sich die kranke Justiz dieses fiktiven Staates namens Bundesrepublik allerdings komplett blamieren. Da bin ich mir vollkommen sicher. Und ich sage Ihnen dies: Ich werde es genießen und als Zuschauer im Saal sitzen - sofern man mir nicht wieder meine Grundrechte beschneidet und mich nicht dabei sein lässt.”

“Warum sollte man das tun?”, fragte ich etwas erstaunt. “Prozesse sind in Deutschland normalerweise öffentlich. Schließlich werden die Urteile ja auch im Namen des Volkes gesprochen.”

“Ja, ja ... Schöne Theorie, Herr Kubinke! Schöne Theorie!”

Herr von Bleicher räusperte sich leicht und nahm dabei die Hand vor den Mund.

“Soweit ich mich erinnere, ist Devid Dresel über 21 Jahre alt. Damit ist ein Prozess nach Jugendstrafrecht ausgeschlossen und somit ist auch ausgeschlossen, dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird … “ Mein Satz klang ziemlich eigenartig, wie ich dann selbst fand. “Anscheinend habe ich jetzt eine ganze Menge ausgeschlossen, wie es scheint.”

“Jemand wie Sie muss ja auch nicht unbedingt ein Meister des geschliffenen Wortes sein, Herr Kubinke.”

“Nein, das sehen Sie sicher richtig.”

“Sie fragten danach, weshalb man mir möglicherweise nicht erlauben wird, in Dresden einen Gerichtssaal zu betreten.”

“Ja, richtig, darauf haben Sie noch nicht geantwortet.”

“Wissen Sie, was ein Platzverweis ist? Ein Hausverbot?”

“Was haben Sie getan? Im Gerichtsgebäude randaliert?”

“Man sieht mich als Querulanten an. Und man hat mir mit den Mitteln der gelenkten Siegerjustiz verbieten lassen wollen, Justizangestellte darauf anzusprechen, dass sie einem illegalen, fiktiven Staatsgebilde dienen und ihre Handlungen gegen die Menschenrechte und die UNO-Charta verstoßen.”

“Ich bin jetzt über diese Sachverhalte nicht weiter informiert, Herr von Bleicher …”

“Die Lügenpresse hat das totgeschwiegen!”, unterbrach mich von Bleicher.

Ich nahm meinen Faden wieder auf:

“... aber kann es sein, dass Ihre Ansprache der Justizangestellten von diesen vielleicht als aggressiv empfunden wurde und man Ihnen deshalb einen Platzverweis erteilt hat?”

Von Bleicher verzog verächtlich den dünnlippigen Mund. Sein Kinn hob sich dabei etwas. Die Verachtung, die sich in seinen Zügen spiegelte, war nicht zu übersehen.

“Das braucht ja nicht Ihr Problem zu sein, Herr Kubinke.”

“Das ist sicher richtig.”

“Wenn ich dann noch irgendetwas für Sie tun kann …”

“Führen Sie uns zu Devid Dresels Wohnung.”

“Befindet sich im Nachbargebäude.”

“Wenn Sie uns aufmachen oder den Schlüssel geben, brauchen wir die Tür nicht aufzubrechen.”

Von Bleicher atmete tief durch. Eigentlich hatte ich jetzt einen Anfall seiner querulantischen Renitenz erwartet, aber er schien sich auch zurückhalten zu können. “Ich will mit Ihnen jetzt keine Grundsatzdiskussionen über die Unrechtmäßigkeit Ihres Vorgehens anfangen ...”

“Da würden Sie bei uns auch keinen Erfolg haben”, meinte Rudi.

Von Bleicher drehte sich sehr langsam, man hätte auch sagen können, betont langsam in Rudis Richtung und bedachte meinen Kollegen mit einem derart verächtlichen Blick, dass es einem kalt den Rücken herunterlaufen konnte. Woher diese Verachtung?, fragte ich mich. Was war die Wurzel dieses Hasses, der da offenbar schon seit längerem auf dem Land um sich greifen konnte?

“Ich werde Ihre offene Gewaltandrohung gegen mein Eigentum einfach überhören”, sagte von Bleicher dann.

“Offene Gewaltandrohung?”

“Sie wollten die Tür zu Devids Wohnung eintreten. Das nenne ich eine offene Gewaltandrohung. Aber lassen wir das. Ich bringe Sie hin. Offenbar überfordert Sie die Weiträumigkeit meines Anwesens bei der Orientierung.”

“Wir wären Ihnen sehr dankbar, Herr von Bleicher”, sagte Rudi, während ich einen Moment lang sprachlos war.

Passiert mir selten.

Aber in diesem Augenblick war ich es.

Es gibt eben Momente, in denen bleibt einem im wahrsten Sinn des Wortes einfach die Spucke weg.



22

Ferdinand von Bleicher ging mit uns zu einem der Nebengebäude. Mit weiten, raumgreifenden Schritten ging er voran und wir folgten ihm. Schließlich standen wir vor einem der Nebengebäude. Die Wohnung von Devid Dresel machte nur einen Teil dieses Gebäudes aus, hatte aber einen separaten Eingang.

“Wer wohnt hier sonst noch?”

“Dauerhaft - niemand außer mir, meiner Frau und dem ein oder anderen Angestellten.”

“Und in der zweiten Wohnung in diesem Nebengebäude?”

“Das ist eigentlich als Gästehaus konzipiert. Und genauso wird es von mir auch genutzt - mit Ausnahme von Devids Domizil.”

“Was für Gäste sind das denn?”

“Sie wollen aber viel wissen, Herr Kubinke.”

Ich zuckte mit den Schultern.

“Bin neugierig.”

“Habe ich schon gemerkt.”

“Ist ‚ne Berufskrankheit.”

“Deswegen nehme ich das auch nicht persönlich übel.”

“Das beruhigt mich ja.”

“Mancher ist eben zur Schnüffelei geboren. Und unser Staat zieht solche Existenzen an wie das Licht die Motten. Das war immer schon so und daran wird sich auch nie etwas ändern.”

“Komisch, gerade hatte ich angefangen daran zu glauben, dass Ihre Phase des freundlichen Small Talks noch etwas andauern könnte.”

Er verzog den dünnlippigen Mund.

“So kann sich eben auch ein Kommissar täuschen, Herr Kubinke.”

“Ja, in der Tat. Man lernt nie aus.”

“So ist es.”

“Meine Frage sollten Sie mir trotzdem beantworten.”

Von Bleicher lachte auf. “Die nach den Gästen?”

“Genau.”

“Ist das nicht eher eine Privatsache?”

“Das finde ich nicht.”

“Frage ich Sie vielleicht nach Ihren Gästen?”

“Ich empfange keine. Meine Wohnung in Berlin ist zu klein und Zeit hat unsereins für sowas ohnehin nicht. Wenn Sie wüssten, was für einen Berg von Überstunden wir vor uns herschieben.”

“Sie tun mir leid.”

“Ach, hören Sie auf!”

“Nein, wirklich, Herr Kubinke. Sie tun mir leid. So ein armer Staatssklave, der in einer Mönchszelle leben muss und nicht einmal mehr Zeit hat, um Gäste einzuladen …” Sein Tonfall troff nur so vor Zynismus. Es schien ihm wichtig zu sein, sich über seinen Gesprächspartner zu erheben, ihm zu zeigen, dass er in jeder Hinsicht überlegen war. Der überlegene Geist eines Übermenschen, konfrontiert mit dem schlichten Gemüt einer Beamtenseele von Kommissar - so schien seine Wahrnehmung unserer Begegnung zu sein.

Ich hatte nicht vor, dieses Bild vorschnell zu korrigieren.

Das hatte Zeit.

Manchmal kam Hochmut vor dem Fall - und vielleicht war das auch bei Ferdinand von Bleicher irgendwann so.

Noch ehe mir oder Rudi auf so viel unverschämte Überheblichkeit eine passende Antwort einfiel, fuhr von Bleicher dann fort: “Da Ihnen anscheinend so viel an der Klärung der Frage zu liegen scheint, was für Gäste ich hier so empfange: Ich nutze mein Anwesen dafür, bisweilen Seminare zu veranstalten.”

“Seminare?”, echote ich.

“Mein Haus ist zu einem Ort des Wissens geworden. Einer Bildungsstätte für all jene, die unkonventionelle Ansichten vertreten und denen ansonsten kein Gehör geschenkt wird.”

Ich konnte mir so ungefähr vorstellen, was für Leute hier auftraten. Vom Holocaust-Leugner bis zu Verschwörungstheoretikern war wahrscheinlich alles dabei, was in dieser Szene Rang und Namen hatte.

“Und die Teilnehmer kommen dann in den Genuss Ihrer Gästequartiere”, fasste ich zusammen.

“Und unsereins muss in einem Doppelzimmer mit dem Kollegen auskommen!”, knurrte Rudi.

Herr von Bleicher hatte die Tür aufgeschlossen und dabei erst recht umständlich nach dem richtigen Schlüssel gesucht. Er trug einen beeindruckenden Schlüsselbund bei sich, der jedem Gefängniswärter zur Ehre gereicht hätte.

“Den Schlüssel händigen Sie mir bitte aus”, sagte ich. “Wir müssen die Wohnung versiegeln.”

“Was?”, entfuhr es ihm.

“Das kann sich durchaus zu Gunsten von Devid Dresel auswirken. Schließlich könnte es ja sein, dass wir entlastendes Material finden, dass aber dann nicht entsprechend bei der Beweiswürdigung gewichtet werden kann, weil die Regeln nicht eingehalten wurden oder die tatsächliche Herkunft unklar ist.”

Rudi war schon ins Innere gegangen, um sich umzusehen.

Von Bleicher hingegen blieb wie angewurzelt stehen und bedachte mich mit einem für seine Verhältnisse fassungslos wirkenden Blick.

“Sie wollen mich aber auch um jeden Preis provozieren, Herr Kubinke.”

Ich streckte die Hand aus. “Na kommen Sie: Ein guter Rat an das Oberhaupt eines imaginären Klein-Staates vom Repräsentanten einer militärisch überlegenen Großmacht - geben Sie mir den Schlüssel!”

Von Bleicher blieb einen Augenblick wie erstarrt. Aber dann bemerkte ich ein Schmunzeln. Ganz ohne Humor war er offensichtlich doch nicht. Und manchmal ist eine witzige Bemerkung ebenso gut, dass sie sich den Weg zum Gehirn des anderen auch dann bahnt, wenn der Betreffende das gar nicht will.

Er griff zu seinem Schlüsselbund.

Das klirrte wie man sich das sonst von den Ketten eines leibhaftigen Schlossgespenstes vorzustellen pflegte.

Und dann nahm er tatsächlich den Schlüssel ab und gab ihn mir. “Bitteschön”, sagte er.

“Danke.”

“Wie lange habe ich mit der eingeschränkten Nutzung meines Eigentums zu leben?”

“Das weiß ich nicht. Aber wenn es nach mir geht, dann sind wir vor Weihnachten mit der ganzen Suche fertig.”

“Gut.”

“Ich sagte: Wenn es nach mir geht. Das tut es leider nicht immer”, fügte ich noch hinzu.

“Immer alle Optionen offenhalten, sich nie festlegen. Das scheint ein Charaktermerkmal von Ihnen zu sein, Herr Kubinke.”

“Nein, da liegen Sie falsch.”

“So?”

Ich hob die Augenbrauen. “Ich lege mich nicht gerne zu früh fest, sondern versuche, einen Fall unvoreingenommen zu betrachten. Und das ist auch notwendig, weil man sonst schnell in eine falsche Richtung geraten kann.”

“Schon erlebt?”

“Natürlich.”

“Dann hoffe ich, dass Sie in diesem Fall endlich die richtige Richtung finden …”

“Da kann ich Sie voll und ganz beruhigen, Herr von Bleicher. Früher oder später finde ich die immer. Na ja, zumindest fast immer. Und was diesen Fall angeht, so habe ich sie vielleicht sogar schon gefunden!”



23

Wir sahen uns im Wohnbereich von Devid Dresel um. Oder im ‘Quartier’, wenn man in der Terminologie von Herrn von Bleicher bleiben wollte. Dieses ‘Quartier’ bestand aus einem Schlafwohnraum mit Kochecke, einem Bad und einem winzigen Abstellraum, der die Ausmaße eines etwas größeren Einbauschrankes hatte.

Auffällig war, dass alles sehr gepflegt wirkte. Ungewöhnlich gut gepflegt, so kam es mir gleich in den Sinn. So als hätte noch vor kurzem jemand dafür gesorgt, dass alles glänzte. Und es gab so gut wie keine persönlichen Gegenstände. Ein paar Kleidungsstücke im Schrank, das war alles, was wir fanden. Und ein Regal mit Büchern, die aber offenkundig nicht Devid Dresel gehörten. Sie trugen Stempel von Ferdinand von Bleicher und behandelten zumeist militärhistorische Themen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.

“Hier ist ja kein Krümel zu finden”, meinte Rudi. “Also ganz ehrlich, ich habe in Herrn Dresels Alter nicht so aufgeräumt.”

“Das könnte eine Frage des Charakters und nicht des Alters sein”, meinte von Bleicher.

“Um noch ehrlicher zu sein: Ich kenne kaum jemanden, der so gut auf unvorhergesehenen Besuch vorbereitet ist, dass man denken könnte, da wohnt niemand”, fügte Rudi noch hinzu.

“Ich habe keine Ahnung, was Sie damit sagen wollen”, sagte von Bleicher.

Ich roch an der Tischplatte. “Sagrotan.”

“Gut gegen Keime aller Art”, sagte von Bleicher.

“Entweder Herrn Dresel ist Hygiene wirklich so wichtig, wie ich es sonst nur von Patienten mit Zwangsstörungen kenne - oder hier hat jemand gründlich aufgeräumt.”

“Warum sollte das jemand tun?”, fragte von Bleicher.

“Tja, vielleicht können Sie mir diese Frage beantworten, Herr von Bleicher?”

“Das ist jetzt eine Unterstellung! Und zwar eine der übelsten Art! Ich verwahre mich dagegen und als Jurist …”

“Ach, Herr von Bleicher!”

“... weiß ich, wie man sich dagegen notfalls robust zur Wehr setzen kann!”

“Davon bin ich überzeugt.”

“Ich hoffe, Sie sind hier bald fertig”, sagte von Bleicher noch.

“Da Sie nicht viel übriggelassen haben, würde ich sagen, dass wir nicht mehr lange brauchen”, meinte Rudi, der gerade eine Schublade öffnete.

“Da wir gerade so nett plaudern”, wandte ich mich an von Bleicher. “Wie vereinbart sich eigentlich Ihre Identität als Reichsbürger oder Oberhaupt eines Mini-Staates, der die Autoritäten der Bundesrepublik Deutschland …”

“Die BRD ist eine Firma! Eine GmbH! Nichts anderes, aber kein Staat!”, unterbrach mich von Bleicher.

Es gab verschiedene, mehr oder minder wirre Theorien, mit denen die sogenannten Reichsbürger ihre Ablehnung staatlicher Autoritäten rechtfertigten. Bei Herrn von Bleicher hatte ich mittlerweile den Eindruck, dass diese Theorien so miteinander vermischt wurden, dass sie nicht nur von falschen Fakten ausgingen, sondern auch auf jede innere Logik weitgehend verzichteten. Das war aber wohl auch nicht der springende Punkt. Jemandem, der an Magie und Hellseherei glaubt, kann man auch nicht damit kommen, dass die Wissenschaft so etwas nicht kennt.

Nein, ich wollte an einem anderen Punkt ansetzen, der mich schon die ganze Zeit über beschäftigt hatte.

“Was ich sagen wollte, ist: Wie vereinbart sich Ihre Tätigkeit als Kämmerer dieses Ortes mit Ihren Ansichten?”

“Wieso sollte sich das nicht vereinbaren lassen?” Herr von Bleicher hob erst eine seiner leicht nach oben ausgerichteten Augenbrauen und dann die andere, was ihm unfreiwillig ein leicht dämonenhaftes, satanisches Aussehen gab, was durch den dünnen Strich seiner Lippen noch betont wurde.

“Ich will das gar nicht so auf die persönliche Ebene holen. Es ist eher eine allgemeine Frage.”

“Allgemein?”

“Na ja, ich habe gehört, dass es auch in der Bundeswehr, bei der Polizei und in der Lehrerschaft sogenannte Reichsbürger gibt, und man nun überlegt, die aus dem Staatsdienst zu entfernen.”

“Ausdruck eines intoleranten Unterdrücker-Regimes von Kanzlerin Merkel”, sagte Herr von Bleicher wie aus der Pistole geschossen. Einer Pistole, die mit Parolen und Schlagwörtern offenbar gut geladen war und auf Schnellfeuerstöße eingestellt zu sein schien.

“Wie auch immer. Aber ich frage mich, wie kann zum Beispiel ein Reichsbürger es mit seinem Gewissen vereinbaren, in der Armee eines aus seiner Sicht fremden Staates zu dienen? Oder wie können Sie …”

“Kämmerer sein?”

“Genau!”

“Nett, dass Sie unsereinem überhaupt ein Gewissen zutrauen. Viele von diesen rot-grün versifften Staatsdienern tun das ja nicht.”

“Ich bin ehrlich an einer Antwort interessiert, Herr von Bleicher. Liegt es einfach daran, dass Sie aufgrund der Tatsache, dass Ihr eigener Staat noch nicht genügend Arbeitsplätze vorhält, dazu gezwungen sind, quasi im Ausland tätig zu sein?”

“Das soll wohl ein billiger Witz sein!”

“Nein, ich würde gerne diesen Widerspruch verstehen.”

“Sind Sie nie auf den Gedanken gekommen, dass es mir um den Dienst am Gemeinwesen geht? Dass ich versuche, den Ort, in dem ich lebe, mit meiner ganzen Kraft zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass wenigstens hier die Verhältnisse in Ordnung sind?”

“Aber Sie dienen einem fremden Staat und geben dessen Steuermittel aus. Und bezeichnen viele von Ihren Leuten die Erhebung von Steuern durch die BRD nicht als illegal?”

“Das ist richtig, aber es gibt dazu sehr verschiedene Ansichten. Ich persönlich habe mich nie an Steuerboykotten beteiligt.”



24

Wir waren schließlich fertig und verließen das Gebäude wieder. Nicht ohne ein Siegel anzubringen und Herrn von Bleicher darauf hinzuweisen, dass ihm bis auf weiteres das Betreten von Devid Dresels Wohnung untersagt war.

“Und was soll das Ganze dann noch?”, ereiferte er sich. “Ich dachte, Sie sind fertig!”

“Möglicherweise schicken wir noch ein Team des Erkennungsdienstes her, um sich alles genau anzusehen”, erklärte ich ihm.

An einer der Pferdekoppeln, die zum Anwesen gehörten, fiel mir eine Frau auf. Sie trug Reitstiefel und eine Steppjacke. Außerdem eine Reiterkappe.

“Ihre Gattin?”, fragte ich.

“Meine Gattin”, bestätigte von Bleicher. “Und jetzt sagen Sie nicht, dass Sie meine Frau auch noch zu belästigen gedenken!”

“Gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt”, erklärte ich.

“Das ist nicht Ihr Ernst.”

“Und Ihr Ernst kann es nicht sein, dass ich das jetzt schon ausschließen könnte!”, sagte ich. “Man weiß nie, was noch kommt und wessen Aussage man vielleicht doch noch braucht. Aber im Moment ist das wohl nicht nötig.”

“Ich werde meine Gattin von Ihnen grüßen, Herr Kubinke.”

“Tun Sie das. Und bevor wir jetzt fahren, hätte ich noch eine letzte Frage.”

”Und die wäre?”

Von Bleicher wirkte genervt. Ich hatte seine Geduld offenbar bis auf das Äußerste strapaziert. Aber manchmal sind Aussagen gerade dann besonders aufschlussreich. Gerade bei Personen, die äußerlich so kontrolliert wirkten wie Herr von Bleicher. Ich hatte das Gefühl, dass da unter dieser kultivierten Oberfläche noch ein paar ganz andere Elemente vor sich hin brodelten.

War eine Eingebung meines Instinktes.

Aber auf den konnte ich mich im Allgemeinen ja verlassen. Und so nahm ich auch in diesem Fall nicht an, dass er mich täuschte.

“Meine letzte Frage hat nicht unbedingt etwas mit diesem Fall zu tun”, begann ich.

“Warum stellen Sie sie dann?”

“Weil es mich einfach interessiert. Und weil ich gerne verstehen würde, was hier so vor sich geht. Die berühmten lokalen Verhältnisse, wissen Sie?”

“Ich bin mir nicht sicher …”

“Der Bürgermeister hat uns kontaktiert. Es war nur ein kurzes Gespräch und er musste dann auch sehr schnell wieder aufbrechen, weil er natürlich einen übervollen Terminkalender hat, was jetzt niemanden wirklich verwundern kann. Denn Herr Keller, den Sie ja sicher gut kennen, ist ein wirklich vielbeschäftigter Mann. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.”

“Worauf wollen Sie hinaus, Herr Kubinke?”

“Herr Keller erwähnte etwas in der Art, dass die Gemeinde durch den Zuzug von Flüchtlingen an den Rand ihrer Belastbarkeit gelangt ist. Ich habe den genauen Wortlaut nicht mehr in Erinnerung. Aber etwa in der Art war es.”

“Was wundert Sie daran? Gibt es irgendeine Kommune, die über diese Belastungen nicht stöhnt? Ganz Deutschland diskutiert darüber und Sie bekommen das nicht mit, Herr Kubinke! In welcher Welt leben Sie! Was erzählen Sie mir da!”

“Der Punkt, um den es mir geht, ist der, Herr von Bleicher: Ich habe bisher in diesem Ort nicht einen einzigen Flüchtling getroffen. Und wie diese Gemeinde unter der Belastung so zu leiden hat, ist mir deswegen auch ehrlich gesagt nicht ganz schlüssig.”

“Da werden Sie dann den Bürgermeister persönlich fragen müssen. Ich bin nämlich nicht sein Sprecher. Meine Aufgabe erschöpft sich darin, einen Haushalt aufzustellen und nachzuzählen, wofür wie viel Geld ausgegeben werden kann. Das ist alles.”

“Aber dann müsste doch gerade Ihnen bekannt sein, wie viel die Gemeinde tatsächlich für Flüchtlinge ausgibt und wie stark sie dadurch belastet wird!”

“Guten Tag, Herr Kubinke. Fragen wie die, die Sie mir jetzt gestellt haben, beantworte ich vielleicht den Reportern des Kreisblattes - aber nicht Ihnen.”

“Und warum nicht?”

“Weil, wie Sie selbst schon richtig festgestellt haben, nicht der geringste Zusammenhang zu diesem Fall zu erkennen ist!”

“Nun, aber Sie sind doch schon in anderer Hinsicht so weit über Ihre anfänglichen Dialog-Grenzen gegangen, da könnten Sie mir diese Frage doch eigentlich trotzdem beantworten. Finden Sie nicht?”

Herr von Bleicher schluckte. Sein Gesicht wirkte so unbeweglich, als wäre es aus Stein gehauen. “Sie sind hartnäckig und geben nicht auf.”

“Das trifft zu. Vielleicht eine Berufskrankheit.”

“Leben Sie wohl, Herr Kubinke. Ich will weder Sie noch Ihren Kollegen hier jemals wieder sehen, wenn sich das irgendwie vermeiden lässt.”

“Was das angeht, möchte ich Ihnen lieber keinerlei Versprechungen machen, Herr von Bleicher”, gab ich zurück. “Nein, das kann ich wirklich nicht garantieren …”

Eigentlich war ich mir sogar ziemlich sicher, noch einmal hierher zurückkehren zu müssen. Und zwar völlig unabhängig davon, ob die Kollegen des Erkennungsdienstes hier irgendetwas finden konnten.



25

Wir verließen das Anwesen.

Ich saß hinter dem Steuer unseres Dienstwagens und tickte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, nachdem wir wieder auf der Hauptstraße waren.

“Lass das, Harry.”

“Was?”

“Das Geticke.”

“Aber ...”

“Das macht mich nervös, Harry.”

“Ich denke die ganze Zeit darüber nach, was ich von diesem Typen halten soll.”

“Du sprichst von Herrn von Bleicher, wie ich annehme …”

“Na ja, so nahe, dass ich ihn jetzt ‘Ferdi’ nennen würde, stehe ich ihm nun wohl wirklich nicht, Rudi.”

“Ich gebe zu, ich kann den Kerl nicht ausstehen. Und ich kann dich für deine Ruhe nur bewundern, Harry.”

“Ich glaube, dass er Devid Dresels Wohnung gereinigt hat. Oder dass er jemanden dafür beauftragte.”

“Ja, das ist ziemlich eindeutig.”

“Fragt sich nur, warum.”

“Weil er befürchtete, dass wir dort etwas finden, was Herrn Dresel belastet hätte.”

“Oder ihn”, meinte ich.

“Häh.”

“Ach, war nur so ein Gedanke.”

“Dann führ den mal etwas aus. Ich kann deinem sprunghaften Gedankengang nämlich ausnahmsweise nicht folgen.”

“Weißt du, ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wieso plötzlich diese ganze Armee von Schlägern auftauchte, als wir in dem Geisterhaus waren, in dem eigentlich Flüchtlinge hätten leben sollen!”

“Ja, das wirkte schon sehr …”

“... koordiniert! Das ist das richtige Wort, Rudi!”

“Und du denkst, dieser Herr von Bleicher könnte der Koordinator im Hintergrund gewesen sein?”

Ich zuckte mit den Schultern. “Wie gesagt, war nur so ein Gedanke. Und da ist noch ein zweiter!”

“Schieß los!”

“Nehmen wir mal an, unser Kollege Schmitten hat hier bei seiner Suche nach einem Flüchtling, der gar nicht im Ort war, irgendetwas herausgefunden, was er nicht herausfinden sollte … Na, diese Bande, der wir begegnet sind, wäre doch wie prädestiniert dafür, um dem ein Ende zu setzen”

“Vielleicht wollten die den Kollegen Schmitten einfach nur verprügeln oder einschüchtern und das ist dann ausgeartet”, meinte Rudi. “Allerdings spricht der Obduktionsbefund eigentlich eher für was anderes. Da gab es einen gezielten Schlag auf dem Kopf. Aber sein Körper hat kaum etwas abbekommen. Außerdem war der Kollege Schmitten ja auch mit einer Dienstwaffe ausgerüstet. Also, der hätte sich schon zu wehren gewusst, wie ich annehme. In seinen Akten steht übrigens, dass er mal Meister im Vollkontakt-Karate war.”

“Na ja, wenn jemand eine Schusswaffe auf dich richtet, nützt dir das auch nicht viel.”

“Und du meinst, Kollege Schmitten hätte sich dann in aller Ruhe einen auf den Kopf hauen lassen?”

“Wie denkst du denn, dass es war?”

“Ich denke, dass der Schlag sehr überraschend gekommen ist.”

“Weil Kollege Schmitten den Angreifer nicht gesehen hat?”

“Oder ihn kannte und nicht damit rechnete.”



26

Das Telefon meldete sich. Und zwar das Gerät von Rudi. Er schaltete auf laut, sodass ich mithören konnte.

Am anderen Ende der Verbindung war Kriminaldirektor Bock.

Im Wesentlichen ging es darum, dass Herr Bock dafür gesorgt hatte, dass ein paar zusätzliche BKA-Kollegen nach Dresden kamen, um bei den Verhören der Festgenommenen zu helfen. Schließlich sollte das alles ja erstens im zeitlichen Rahmen und zweitens mit der nötigen fachlichen Qualifikation ablaufen. Und da war unser Vertrauen in die sächsischen Kollegen inzwischen ja auf ein Minimum zusammengeschmolzen.

Außerdem äußerte Rudi noch den Wunsch, dass Erkennungsdienstler des BKA die Wohnung von Devid Dresel untersuchten.

“Die Kollegen werden in den späten Abendstunden eintreffen”, versprach Kriminaldirektor Bock. “Also vorausgesetzt, ich kann jemanden loseisen.”

“Dann sollten wir Ihnen die Daumen drücken”, meinte Rudi.



27

In solchen ländlichen Gegenden ist das in der Regel so: Man kommt von einer sehr schmalen Straße auf eine etwas breitere, und wenn man dann großes Glück hat, gelangt man von dieser etwas breiteren Straße auf eine noch breitere, die dann unter Umständen sogar mit Verkehrsschildern ausgestattet ist, sodass man immerhin weiß, ob man auf dem richtigen Weg ist. Ein Navigationssystem ist zwar eine feine Sache, aber nicht immer haben die Anzeigen auf dem Display auch etwas mit der Realität zu tun. Vor allem dann, wenn es um Orte geht, die ungefähr dort liegen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.

Und an einer dieser Kreuzungen, an der man von einer winzigen Straße auf eine etwas weniger winzige gelangen kann, hatte sich ein Wagen so hingestellt, dass man unmöglich vorbei konnte.

“Was soll das denn?”, fragte Rudi.

“Vielleicht wieder mal die ganz besonders herzliche Gastfreundschaft gegenüber Fremden, die hier üblich ist”, meinte ich.

“Die kann mir inzwischen gestohlen bleiben!”

“Tja, ich gäbe auch einiges dafür, einen ganz normalen Mord der Libanesen-Mafia im Wedding aufzuklären anstatt …”

“Ja?”

“... sowas hier!”

“Können wir es uns aussuchen, Harry?”

“Leider nein.”

“Eben!”

Ich betätigte die Hupe.

Zwei Mal.

Aus dem Wagen vor uns stieg eine junge Frau aus. Pferdeschwanz, ein übergroßer Männer-Parka, Jeans, Gummistiefel. So stellte man sich die moderne Landfrau vor.

Ich ließ die Seitenscheibe herunter.

“Sie stehen im Weg”, sagte ich. “Oder vielmehr: Ihr Wagen.”

“Sie sind dieser Kubinke, nicht wahr?”

“Kommissar Kubinke wäre mir auch recht - statt ‘dieser’ Kubinke.”

“Tut mir leid, Herr Kommissar. Ich würde Sie gerne sprechen.”

“Wer sind Sie denn?”

“Mein Name ist Jennifer Möhrke.”

“Das sagt mir jetzt ehrlich gesagt nichts.”

“Ich kenne Devid Dresel. Also eigentlich kennt ihn ja jeder hier. Ich meine …”

“Sie kennen ihn etwas besser?”

“Ja. Haben Sie einen Moment Zeit?”

“Eigentlich müssen wir dringend nach Dresden. Aber …” Ich sah auf die Uhr. Wenn sie uns etwas über Devid Dresel sagen konnte, was wir noch nicht wussten, half uns das mutmaßlich weiter. “Okay”, sagte ich schließlich. “Aber wir stehen hier ungünstig.”

“Das macht nichts.”

“Aber hier kann niemand durch.”

“Ich weiß, deswegen habe ich mich ja mit meinem Wagen hier hingestellt, Herr Kubinke.”

“Woher wussten Sie denn, dass wir hier kommen würden?”

“Weil ich von unserem Hof aus beobachtet habe, dass Sie zu der Angeber-Villa vom Grafen fahren. Und da gibt es nur einen Weg hin und wieder zurück.”

“Die Angeber-Villa vom Grafen …”, echote ich. “Sie meinen …”

“.... das Anwesen von Herrn von Bleicher, ja.”

“Ich wusste gar nicht, dass er ein richtiger Graf ist.”

“Ist er auch nicht. Aber wir nennen ihn hier so. Angeber-Villa passt auch. Herr Kommissar, Sie können hier wirklich stehen bleiben. Es fährt hier sonst niemand her. Wahrscheinlich die nächsten zwei Stunden auch nicht und ich für mein Teil muss sowieso früher wieder weg, weil dann unsere Kühe dran sind. Mit Melken, meine ich.”

Immerhin war Jennifer Möhrke so freundlich, mir den ungefähren zeitlichen Rahmen zu nennen, den sie offenbar für dieses Gespräch angesetzt hatte. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht die Absicht hatte, diesen zeitlichen Rahmen auch zur Gänze auszunutzen.

Ich nickte Rudi zu.

Im nächsten Moment stiegen wir beide aus.

Es war besser, sich mit Jennifer Möhrke im Freien zu unterhalten, ging es mir durch den Kopf. Besser, als wenn Sie bei uns im Wagen auf der Rückbank Platz genommen hätte. Dann wären wir sie womöglich fürs Erste gar nicht mehr losgeworden.

“So und nun mal raus mit der Sprache, was haben Sie auf dem Herzen”, fragte Rudi.

“Das ist mein Kollege, Kommissar Rudi Meier”, erläuterte ich. “Vom Bundeskriminalamt in Berlin, genauso wie ich.”

Wir zückten unsere Ausweise und hielten sie Jennifer Möhrke gut sichtbar unter die Nase. Das machte für ein paar volle Sekunden sogar einen gewissen Eindruck auf sie, wie mir schien. Aber ich kenn das schon. Solche Effekte sind außerordentlich kurzlebig.

“Ich kenne den Devid - also den Herrn Dresel - recht gut”, begann Sie.

“Haben Sie ein Verhältnis?”, fragte ich.

“Nein. Ich meine, das wäre vielleicht noch gekommen, denke ich.”

“Ich verstehe.”

“Devid ist ein netter Kerl.”

“Den Eindruck hatte ich nicht, als er uns mit seinen bewaffneten Freunden gegenüberstand”, erklärte ich unumwunden. “Verstehen Sie mich dabei nicht Falsch, aber …”

“Er ist in echten Schwierigkeiten, oder?”

“Ja, das würde ich sagen.”

“Denken Sie, dass er den Fremden umgebracht hat?”

“Mit Fremden meinen Sie jetzt unseren Kollegen Herrn Schmitten?”

“Ja.”

“Ja, das ist durchaus möglich. Er soll sich mit dieser Tat vor anderen gerühmt haben, haben wir gehört. Aber es wundert mich, dass Sie davon wissen!”

Jetzt, so hatte ich das Gefühl, wurde die Sache interessant. Diese junge Frau hatte irgendetwas auf dem Herzen. Da war irgendetwas, was sie loswerden wollte und mutmaßlich mit unserem Fall zu tun hatte. Vielleicht würde das ja doch noch ein ergiebiger Tag …

“Es wird geredet im Ort”, sagte sie. “Alles spricht sich schnell herum, wenn Sie verstehen, was ich meine.”

“Das heißt, eigentlich weiß jeder davon, dass Devid Dresel behauptet hat, den BKA-Kollegen Schmitten umgebracht zu haben.”

“Das hört sich jetzt so an, als würden wir das billigen oder …” Sie sprach nicht weiter.

“Hat sich Herr Dresel denn Ihnen gegenüber dazu auch mal geäußert?”, fragte ich. “Ich meine, Sie kennen ihn doch näher, wie Sie sagen, auch wenn Sie sich noch nicht ganz so nahegekommen sind, wie zumindest Sie sich offenbar wünschen.” Aber ich nehme an, nahe genug für eine Unterhaltung war das schon.”

“Wir kennen uns seit der Schule.”

“Ah, ja.”

“Er ist eigentlich ein guter Kerl.”

“Das Wort ‘eigentlich’ klingt in diesem Zusammenhang so, als könnte es auch anders sein. Und dass er eine schwierige Kindheit hatte, kann Entschuldigung sein, um einem BKA-Beamten den Schädel einzuschlagen - immer vorausgesetzt, die diesbezüglichen Mutmaßungen erweisen sich als wahr.”

“Was sich bald herausstellen wird, denn wir warten auf die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung”, ergänzte Rudi.

“Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet”, sagte ich, nachdem die junge Frau zunächst keine Anstalten machte, noch etwas zu sagen. Sie wirkte plötzlich sehr in sich gekehrt. Fast so, als würde sie ihren Entschluss, sich an uns zu wenden, schon wieder bereuen.

Warum auch immer.

“Hat sich Herr Dresel auch Ihnen gegenüber dazu geäußert, ob er unseren Kollegen Schmitten umgebracht hat?”, wiederholte ich die Frage eindringlich, nachdem ein paar zusätzliche Sekunden verstrichen waren, ohne dass sie etwas gesagt hatte.

“Nein”, sagte sie. “Ich habe halt nur so gehört, was angeblich gesagt worden ist …”

“Dann hatten Sie in letzter Zeit doch nicht mehr ganz so viel Kontakt. Kann das sein?”

“Ja, das kann sein”, gab sie zu. “Hören Sie, ich weiß nicht, ob Devid sich was hat zu Schulden kommen lassen oder ob er darin verwickelt ist … Ich weiß nur eins, aus eigenem Antrieb würde der so etwas nie tun! Der …”

Sie stockte.

“Der … was?”, hakte ich nach.

“Er ist einer, der leicht zu beeinflussen ist.”

“Und von wem wird Herr Dresel beeinflusst?”

Sie deutete hinüber zum Anwesen von Herrn von Bleicher. “Sie waren doch gerade dort. Hinter jedem Unsinn, den Devid im Kopf hatte, steckte dieser aufgeblasene Kerl. Und weil er Devid geholfen hat, ist Devid so dumm und macht alles für ihn. Mehr sage ich jetzt auch besser nicht …”

“Doch, jetzt wird es gerade interessant!”

“Ich habe Ihnen schon zu viel gesagt. Unsere ganze Familie kriegt am Ende Ärger deswegen.”

“Ärger? Von wem?”

“Auf Wiedersehen, Herr Kubinke.”

Sie drehte sich um und ging davon. Ihre Gummistiefel schlurften geräuschvoll über den Asphalt. Nicht elegant, nicht damenhaft, aber sehr entschlossen. Und mir war klar, dass es im Moment sinnlos war, sie aufhalten zu wollen. Dazu hatte sie offenbar einfach zu viel Angst.

Sie stieg in ihren Wagen, knallte die Tür auf eine Weise zu, die sehr anschaulich ihre Stimmung illustrierte und fuhr dann mit durchdrehenden Reifen davon.

“Wir hätten vielleicht noch mehr von ihr erfahren können”, meinte Rudi.

“Nein, hätten wir nicht”, sagte ich.

“Bist du sicher?”

“Sie ist jetzt schon bis an die Grenze gegangen, Rudi. Vielleicht auch darüber hinaus.”

“Meinst du, dieser Herr von Bleicher organisiert hier die Schlägerbanden?”

“Wäre als Kämmerer zumindest eine effektive Art der Steuereintreibung”, meinte ich.

“Du machst Witze.”

“Natürlich.”

“Wir sollten den Kerl wirklich im Fokus behalten.”

Ich nickte.

“Sollten wir, Rudi.”



28

Es war spät geworden. Die Verhöre in Dresden waren zäh und ziemlich unergiebig. Aber das änderte sich, als wir den Bericht der kriminaltechnischen Untersuchung bekamen. Der Kollege Max Vandersteen rief uns deswegen an. Und einige der Ergebnisse waren schon sehr erstaunlich.

Rudi und ich gingen zurück in den Verhörraum. Sein Anwalt hatte uns das Leben ganz schön schwer gemacht. Dr. Sven Frankenberg, der Studienfreund und Burschenschaftskamerad von Ferdinand von Bleicher, war uns ungefähr nach jedem Halbsatz ins Wort gefallen und hatte behauptet, dass wir die Rechte seines Mandanten in irgendeiner Weise verletzen würden.

Frankenberg war ein großer, kantig wirkender Mann. Sein Gesicht hatte die Form eines quadratischen Kastens, dessen Symmetrie allerdings von einem Schmiss auf der linken Seite gestört wurde.

In Kostümen aus der Zeit des neunzehnten Jahrhunderts hätte das sicher stilecht ausgesehen.

Im Outfit des einundzwanzigsten Jahrhunderts wirkte das einfach nur seltsam.

Wie aus der Zeit gefallen.

Mit fortschreitender Dauer der ganzen Angelegenheit war Dr. Frankenbergs Ehrgeiz, uns möglichst wenig zu Wort kommen zu lassen und zu verhindern, dass sein Mandant irgendeine Frage vernünftig und in ganzen Sätzen beantwortete, etwas erlahmt.

Das war auch alles in allem kein Wunder und vermutlich der zunehmenden Müdigkeit aller Beteiligten geschuldet.

Wären wir selbst noch so frisch wie am Anfang gewesen, hätte uns dieser Umstand vielleicht die Arbeit erleichtert. So kämpften wir jetzt alle mit dem Drang zu gähnen.

Dagegen half auch der starke Kaffee kaum noch, den man uns im Polizeipräsidium servierte.

“Herr Frankenberg, vielleicht unterbrechen Sie mich jetzt ausnahmsweise mal für eine Weile nicht und lassen mich die neuen Erkenntnisse vortragen, die sich durch die kriminaltechnischen Untersuchungen unserer Experten ergeben haben”, sagte ich. “Wäre das möglich?”

“Doktor Frankenberg”, gab er zurück. “So viel Zeit muss sein, Herr …”

“Ich werde jetzt nicht darauf bestehen, dass ich Kommissar genannt werde.”

“Kriminalhauptkommissar”, korrigierte mich Rudi. “Na ja, so viel Zeit muss ja eigentlich sein, Herr DOKTOR Frankenberg. Oder?” Und dabei betonte Rudi das DOKTOR genauso nachdrücklich, wie Dr. Frankenberg das zuvor getan hatte.

Ein aasiges, kaltes Lächeln spielte um Frankenbergs Lippen. Er bleckte die Zähne wie ein Raubtier.

Sein Schmiss verzog sich dabei auf eigenartige Weise.

Er wirkte in diesem Moment nicht mehr wie ein Burschenschaftler, der sich todesmutig der Mensur gestellt und dafür sein Gesicht verschandelt hatte, sondern eher wie eines der zahlreichen Opfer preiswerter osteuropäischer Schönheitschirurgen in Kombination mit übermäßigem Botox-Missbrauch.

“Schön, dass wir uns so gut verstehen, Herr Kriminalhauptkommissar Kubinke”, sagte er und sprach dabei jede Silbe so deutlich aus, als würde er mit einem Schwerhörigen oder einem Kleinkind sprechen. “Wahrscheinlich machen Sie ohnehin nur Wind und haben in Wahrheit gar nichts in petto!” Er legte Devid Dresel seine Hand auf die Schulter.

Eine Geste, die irgendwie besitzanzeigend wirkte und ganz sicher auch so gemeint war. Red nur keinen Unsinn, Kleiner!, hieß das aus der ihm eigenen Gebärdensprache in klares Deutsch übersetzt.

Nicht zum ersten Mal wünschte ich Frankenberg zum Teufel. Aber es gibt nun mal Regeln, an die wir uns alle halten müssen. Und zwar unter allen Umständen. Und dazu gehört auch das Recht eines Beschuldigten darauf, dass ein Anwalt bei seiner Befragung anwesend ist.

“Bleiben Sie ruhig, wir kriegen das schon hin”, meinte Frankenberg an Devid Dresel gerichtet. “Dieser Kommissar hat nichts. Das ist nur eine - übrigens unzulässige - Irreführung.”

“Mitnichten”, erklärte ich. “Der Bericht der kriminaltechnischen Untersuchung sagt, dass das Holz, aus dem Ihr Baseballschläger besteht, gespalten war. Es lag ein feiner Riss vor. Offenbar müssen Sie irgendwann mal ziemlich heftig zugehauen haben.”

“Ein menschlicher Schädel dürfte da wohl nicht in Frage kommen”, meinte Frankenberg. “Da hätte sich dann nicht das Holz gespalten, sondern …”

“Ich weiß”, unterbrach ich den Anwalt. “Und genau das ist ja auch geschehen. Durch diesen Spalt haben wir nämlich den Beweis, dass es der Baseballschläger von Herrn Dresel war, mit dem Herrn Schmittens Kopf zertrümmert wurde. Es ist nämlich Blut und Hirnmasse darin gefunden worden und ein Gentest hat eine Übereinstimmung mit der DNA unseres Kollegen Schmitten ergeben.”

Jetzt war sogar Frankenberg still. Ich hatte also die seltene Gelegenheit, mich direkt an Devid Dresel wenden zu können, und zwar ohne dass der Anwalt sofort mit fadenscheiniger Begründung eingriff, in Wahrheit aber nur die Befragung stören und mich aus dem Konzept bringen wollte. Es sind immer die gleichen Tricks. Aber mit der Zeit kennt man sie alle. Und so weit bin ich inzwischen.

Ich sagte: “Sie haben diese Rückstände vermutlich gar nicht bemerkt. Vielleicht haben Sie den Schläger sogar notdürftig abgewaschen, aber die DNA des Opfers war in dem Spalt gut aufgehoben.”

Devid Dresel schluckte.

Er wich meinem Blick aus.

“Es wäre jetzt Zeit für ein Geständnis”, sagte Rudi.

“Die Kollegen haben übrigens auch Fingerabdrücke auf dem Baseballschläger gefunden”, stellte ich fest. “Dass Ihre Abdrücke darauf sind, überrascht niemanden, Herr Dresel. Auch nicht, dass Abdrücke von meinem Kollegen und mir zu finden sind, versteht sich von selbst, schließlich mussten wir dieses mörderische Spielgerät anfassen. In der chaotisch-gewalttätigen Situation beim sogenannten Geisterhaus konnten wir die Regeln einer sauberen Tatort- und Beweissicherungsarbeit leider nicht bis ins letzte Detail gewährleisten und etwa vorschriftsmäßig Latex-Handschuhe überziehen, bevor wir die Schlagwaffen der Verhafteten einsammelten.”

“Devid! Keine Aussage! Hören, Sie, Devid! Kein Wort! Ich will zuerst den Bericht selbst sehen!” Dr. Frankenberg war jetzt aus irgendeinem Grund sehr unruhig geworden. Der Ausdruck überheblicher Gelassenheit, der sein vom Schmiss entstelltes Gesicht ansonsten über weite Strecken geprägt hatte, war jetzt vollkommen verschwunden.

“Vielleicht interessiert es Sie, dass es noch einen Fingerabdruck einer Person an Ihrem Schläger gibt, den wir bisher nicht zuordnen können. Die Kollegen haben keinen Treffer in unserem Datensystem gefunden und es gibt auch keine Übereinstimmung mit den Fingerabdrücken von meinem Kollegen und mir.”

“Sie haben weitere Polizeibeamte zu Hilfe gerufen”, sagte Frankenberg. “Ist es nicht möglich, dass einer von denen den Schläger angefasst hat?”

“Nein, das ist bereits ausgeschlossen worden”, sagte ich.

“Sie arbeiten ja schnell. Ich kann mich nicht erinnern, dass in anderen Fällen, die hier in der Gegend passiert sind, die Ergebnisse so schnell vorgelegen haben.”

“Die Kollegen sind eben gut”, sagte Rudi.

“Es scheint hier ein besonderer Ermittlungseifer des BKA vorzuliegen. Vielleicht auch ein Übereifer!”

Ich beachtete Frankenberg nicht weiter, sondern konzentrierte mich auf Devid Dresel. “Es ist Zeit, uns zu sagen, was passiert ist. Und sollten Sie Ihren Schläger ab und zu mal an jemanden ausleihen, dann sollten Sie uns das auch jetzt sagen.”

“Ich sage nichts”, sagte Devid Dresel.

Unsere Blicke begegneten sich. Er presste seine Lippen aufeinander. Fast so, als müsste er sich dazu zwingen, nicht zu sprechen. Eigentlich, so sagte mir meine Erfahrung, war er nahe daran, dass alles aus ihm herausplatzte. Aber er hielt es zurück. Ich fragte mich, warum. Aber ich war inzwischen überzeugt davon, dass es da noch eine andere Dimension gab, die wir bisher nicht kannten.

Warum schwieg er?

Wollte er kein Verräter sein?

Wollte er jemanden schützen?

War es die einschüchternde Anwesenheit von Dr. Frankenberg?

Der Anwalt war letztlich nichts anderes, als der Arm und das Auge von Ferdinand von Bleicher.

Genau wie Devid Dresel selbst, ging es mir durch den Kopf.

Wie man es auch drehte und wendete, alle Wege schienen zu von Bleichers Landsitz zurückzuführen.

“Mein Mandant hat sich geäußert, und zwar dahingehend, dass er sich nicht weiter äußern will”, sagte Frankenberg. “Also respektieren Sie das bitte.”

“Ja, das respektiere ich”, sagte ich. “Aber ich denke, dass Herr Dresel noch gerne über ein paar weitere Aspekte des Falles informiert wäre. Zum Beispiel, dass der Fingerabdruck auf seinem Schläger von keiner der Personen stammt, die wir zusammen mit ihm festgenommen haben.”

“Ich sag keinen Ton mehr. Sie können mir nichts beweisen.” Er senkte den Blick und sah dann in Richtung von Dr. Frankenberg. “Stimmt doch, oder?”

“Sie sollten ihm erklären, dass wir sehr wohl etwas beweisen können und Ihr Mandant jetzt in dringendem Tatverdacht steht, unseren Kollegen Rüdiger Schmitten ermordet zu haben. Die Frage ist eigentlich nur, ob er die Schuld auf sich allein nehmen will, oder ob er mit uns kooperiert und uns die Gesamtumstände schildert.”

“Was für Gesamtumstände sollten denn da eine Rolle spielen?”, platzte es aus Frankenberg heraus.

“Es könnte einen Komplizen, Mitwisser, Mittäter oder Auftraggeber geben.”

“Jetzt lehnen Sie sich aber ziemlich weit aus dem Fenster hinaus”, sagte Frankenberg.

“Möglich. Aber in diesem Fall wäre das doch zugunsten Ihres Mandanten, weil diese zusätzlichen Umstände ihn entlasten könnten. Insofern verstehe ich nicht, wieso Sie sich so dagegenstemmen, Herr Dr. Frankenberg.”

Einige Augenblicke lang herrschte dann Schweigen.

Ein Schweigen von der Art, die mich spüren ließ, dass danach nichts mehr kommen würde.

Das war’s, dachte ich.

An dieser Stelle konnte man Schluss machen.

Es machte keinen Sinn, jetzt die Befragung fortzusetzen. Devid Dresel brauchte vielleicht etwas Zeit zum Nachdenken. Und außerdem war ich überzeugt davon, dass er nicht reden würde, solange sein Anwalt dabei war, wobei ich mir keineswegs sicher war, wessen Interessen der eigentlich vertrat: Die seines Mandanten oder die Interessen desjenigen, der vermutlich seine Rechnungen beglich.

“Wir unterhalten uns sicher später noch, Herr Dresel. Und falls Sie etwas zu sagen haben, dann lassen Sie es mich bitte umgehend wissen. Ich habe immer ein offenes Ohr für Sie.”

Ich erhob mich.

“Sollten Sie meinen Mandanten das nächste Mal vernehmen, bestehe ich darauf, benachrichtigt zu werden.”

Ich sagte: “Herr Dr. Frankenberg, ich halte mich genau an die Spielregeln, die das Gesetz vorschreibt. Und glauben Sie mir, ich bin lange genug dabei, um diese Regeln inzwischen zu kennen.”

Rudi wies die Vollzugsbeamten an, Devid Dresel wieder in seine Zelle zu bringen.

Herr Dr. Frankenberg hatte ein paar Schwierigkeiten mit dem Schloss seines Diplomatenköfferchens, in dem er seine Unterlagen aufzubewahren pflegte.

“Außerdem … will … ich … alle Berichte … Umgehend, Herr Kubinke! Umgehend!”

Seine abgehakte, etwas angestrengt wirkende Sprechweise war wohl der Tatsache geschuldet, dass das Schloss seines Diplomatenkoffers sich einfach nicht schließen ließ. Es sprang immer wieder auf und machte dabei ein klackendes Geräusch.

“Viele Grüße übrigens von Frau Jennifer Möhrke”, sagte ich, als Dresel gerade hinausgeführt wurde.

Dresel drehte sich noch einmal um.

“Was?”

“Jennifer Möhrke hat sich nach Ihnen erkundigt und wollte wissen, wie es Ihnen geht.”

Dresel schluckte. Dann drehte er sich um und ließ sich abführen.

Im nächsten Moment waren Rudi und ich allein mit Dr. Frankenberg, der es schließlich endlich geschafft hatte, seinen Koffer zu schließen.

“Tja, die Technik”, sagte Rudi. “Kann schon nerven.”

“Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag”, sagte Frankenberg.

“Wie ich gehört habe, sind Sie ein Studienkollege von Ferdinand von Bleicher”, sagte ich.

Frankenberg, der schon zwei Schritte in Richtung Tür hinter sich gebracht hatte, blieb auf dem Absatz stehen. Er wirkte fast militärisch-zackig dabei. Ein eigenartiger Bewegungsablauf, der irgendwie deplatziert aussah.

“Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.”

“Sie sollen auch in derselben Burschenschaft sein.”

“Haben Sie irgendein konkretes Anliegen an mich? Wenn nicht, entschuldigen Sie mich bitte, denn ich habe keinesfalls vor, mit Ihnen Small-Talk zu halten.”

“Herr von Bleicher ist jedenfalls sehr froh darüber, dass Sie sich um die juristischen Belange von Devid Dresel kümmern. Er weiß, dass die Verteidigung bei Ihnen in guten Händen ist.”

“Sie haben mit Ferdi darüber gesprochen?”, wunderte sich Frankenberg. Anstatt zu gehen, wie er es eigentlich angekündigt hatte, blieb er jetzt doch noch und kam sogar wieder einen ganzen Schritt auf mich zu. Und Dr. Frankenbergs Schritte waren durchaus ziemlich raumgreifend …

“Ja, er bedauert es sehr, dass er die Rechtsvertretung nicht selbst übernehmen kann, da man ihm ja aus gewissen Gründen die Zulassung zum Anwalt entzogen hat.”

“Ach so …”

“Bezahlt er Ihre Rechnungen? Ich nehme an, dass er es tut, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass Devid Dresel Ihre Sätze bezahlen kann.”

“Wer sagt Ihnen, dass ich nicht einfach als Pflichtverteidiger auftrete?”

“Tun Sie das denn? Das ließe sich ja überprüfen.”

“Guten Tag, Herr Kubinke. Unsere Unterhaltung ist damit beendet. Was Ihre Fragerei soll, ist mir schleierhaft. Es geht hier um die Schuld oder Unschuld meines Mandanten am Tod des BKA-Beamten Rüdiger Schmitten. Und um sonst gar nichts.”

“Keine Antwort auf meine Frage? Wollen Sie das so wirklich stehen lassen?”

“Ja.”

“Keine Antwort ist manchmal auch eine Antwort.”



29

“Das bringt doch nichts, dieses Gehackel mit dem Anwalt!”, wies mich Rudi später zurecht. Wir gingen zu einem Schnellrestaurant in der Nähe des Polizeipräsidiums und sorgten dafür, dass wir was zwischen die Rippen bekamen. War vielleicht nicht ganz die gesündeste Art der Ernährung, aber in unserem Job geht es oft schlicht und ergreifend darum, schnell und effektiv satt zu werden.

“Der Fall sieht aus, als wäre er gelöst, aber das ist er nicht”, war ich überzeugt.

“Du denkst, dass die Tat nicht auf dem Mist von Devid Dresel gewachsen ist”, schloss Rudi.

“Zumindest nicht allein auf Devid Dresels Mist, Rudi!”

“Dieser zusätzliche Fingerabdruck …”

“Muss nichts zu bedeuten haben, ich weiß! Er kann schon vorher drauf gewesen sein, er kann auch gar nichts mit dem Mord zu tun haben.”

“Und es könnte sein, dass Devid Dresel die Tat gar nicht begangen hat, sondern jemand anderes seinen Schläger dafür genommen hat!”

“Ja, auch das ist möglich”, gab ich zu.

“Wenn man es so nimmt, dann könnte sich der Fingerabdruck dieser zusätzlichen und bisher unbekannten Person sogar noch als entlastendes Indiz herausstellen.”

“Ja, auch daran habe ich schon gedacht.”

“Herr Dr. Frankenberg wird ganz sicher daran denken”, war Rudi überzeugt.

“Ja, in dem Zusammenhang ist es allerdings seltsam, dass er darauf bisher gar nicht eingestiegen ist. Oder habe ich da was verpasst.”

“Vielleicht reine Taktik, Harry.”

“Wenn du meinst …”

“Das Gesicht dieses Anwalts mag ja etwas beschädigt sein, aber ich glaube kaum, dass das auch für sein Gehirn gilt. Das ist ein gewiefter Anwalt, der genau weiß, was er tut. Und ich glaube nicht, dass er diesen Fall als etwas ansieht, was man mit der linken Hand erledigen kann.”

Ich aß meinen Hamburger auf. Der Kaffee, den es hier gab, war für meinen Geschmack etwas dünn. Da war ich eigentlich ein Gebräu mit deutlich mehr Substanz - sprich Koffein - gewöhnt. Aber Rudi und ich waren ja schließlich nicht aufgrund einer kulinarischen Entdeckungsreise nach Sachsen gekommen. Da musste man eben nehmen, was man kriegen konnte.

“Du denkst, dass dieser von Bleicher dahintersteckt, nicht wahr, Harry?”

“Ja.”

“Wir könnten einen Fingerabdruck von ihm nehmen. Wird vielleicht etwas schwierig mit der rechtlichen Begründung, aber das sollte klappen. Aber das würde immer noch nichts über den Tathergang sagen.”

“Also trennen wir mal diesen zweiten Fingerabdruck von meinem Verdacht ab”, sagte ich. “Wenn jemand wie Devid Dresel jemanden wie unseren Kollegen Schmitten den Schädel einschlägt, dann kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, dass bei ihm ein persönliches Motiv dahintersteckt.”

“Sondern?”

“Jemand hat ihm die Weisungen. Ihn darum gebeten.”

“Und da kommt nur von Bleicher in Frage!”

“Du hast es erfasst, Rudi!”

“Und aus welchem Grund sollte von Bleicher unseren Kollegen umgebracht haben beziehungsweise dies veranlasst haben?”

“Genau das sollten wir wissen, bevor wir etwas unternehmen. Rudi, da gibt es einfach zu viel, was wir noch nicht geklärt haben.”

Eine Pause entstand.

Dann sagte Rudi: “Was heißt schon ein persönliches Motiv, Harry! Manchmal reicht da schon, dass einer schief geguckt hat und du bekommst irgendwas auf den Kopf.”

“Du denkst, dass es so einfach sein könnte?”

“Vielleicht denken wir einfach zu kompliziert, Harry. Ich meine, wir beschäftigen uns meistens mit den Fällen, die in die oberen Kategorien fallen. Kein gewöhnlicher Mord, sondern organisiertes Verbrechen, Terrorismus, Serientäter - all die Sachen, die über die Kompetenz einer örtlichen Polizei hinausgehen und auch deren Möglichkeiten übersteigen.”

“Ja, und?”

“Du weißt so gut wie ich, dass die meisten Tötungsdelikte aus ganz banalen Gründen geschehen. Zwei Betrunkene geraten in Streit, einer wird so wütend, dass er dem anderen die Flasche auf den Kopf haut. Da ist kein Plan dahinter, noch nicht einmal irgendein Grund, den man im Nachhinein noch irgendwie nachvollziehen könnte. Vielleicht ist wirklich alles einfacher, als wir denken.”

“Nein, in diesem Fall glaube ich das nicht”, beharrte ich.

“Die Möglichkeit an sich solltest du aber nicht einfach ignorieren.”

“Nein, tue ich auch nicht.”

“Na, dann bin ich ja beruhigt, Harry.”



30

Ich überlegte, ob ich mir Devid Dresel nochmal vorknöpfen sollte. Und zwar allein. Ohne Anwalt. Aber Rudi riet mir davon ab und ich glaube, er hatte wohl auch Recht.

Im Augenblick brachte das nichts.

Er war offenbar fest entschlossen, zu schweigen.

Auch dann, wenn das bedeutete, dass er am Ende vielleicht die gesamte Schuld zugeschrieben bekam.

Wir überlegten, Jennifer Möhrke vielleicht nochmal ins Spiel zu bringen. Aber ihr Einfluss auf ihn war schwer abzuschätzen. Und noch, so hatte ich es im Gefühl, wussten wir einfach zu wenig darüber, wie in dem kleinen Ort, in dem unser Kollege ermordet worden war, die tatsächlichen Machtverhältnisse waren. Wer gab hier die Befehle, wer sorgte dafür, dass Schläger in Bewegung gesetzt wurden und wer hatte vielleicht einen Grund dafür, unseren BKA-Kollegen Schmitten aus dem Weg zu räumen?

Ich hatte eine Idee, wer uns da vielleicht doch noch weiterhelfen konnte. Jemand, bei dem noch nicht Hopfen und Malz verloren war. Jemand, dessen Rechtsempfinden vielleicht noch nicht ganz so korrumpiert war, wie es bei den meisten anderen Personen der Fall zu sein schien, die in diesem Ort den Ton angaben.

Was dies betraf, hatten Rudi und ich Regina Dörfner im Auge. Die junge, scheinbar so verschüchterte Polizeibeamtin, die es bei Antritt ihrer ersten richtigen Stelle in dieses sächsische Nest verschlagen hatte.

“Es gibt drei Möglichkeiten”, sagte Rudi. “Möglichkeit eins: Sie hat mit ihrem Vorgesetzten Jürgen Dahlheim ein Verhältnis.”

“Dann haben wir Pech gehabt und sie wird uns nichts sagen. In gar keinem Fall”, schloss ich.

“Sehe ich auch so.”

“Aber es gibt ja glücklicherweise noch andere Varianten.”

“Möglichkeit zwei: Regina Dörfner hatte ein Verhältnis mit Dahlheim”, zählte Rudi auf.

“In dem Fall könnten wir erfolgreich an ihr vielleicht noch intaktes Rechtsempfinden als Polizistin appellieren.”

“Möglichkeit drei: Dahlheim oder Regina Dörfner oder alle beide hätten gerne ein Verhältnis, es ist von einer oder von beiden Seiten in der Anbahnungsphase …”

“Dann sind die Chancen für uns schwer zu kalkulieren.”

“Hängt wohl davon ab, ob das Interesse beidseitig, einseitig und wenn Letzteres der Fall ist, von wem einseitig ist”, meinte Rudi.

“Wir fragen sie einfach und werden sehen”, schlug ich vor.

Die Adresse der Kollegin hatten wir schnell herausbekommen.

Sie wohnte in einem Plattenbau. So erstaunlich es klingen mag, aber auch dieser kleine Provinzort hatte Plattenbauten. Nicht viele und sie waren auch nicht sehr hoch. Drei Stockwerke waren das Maximum. Aber es gab sie. In den meisten Wohnungen hatten Arbeiter gewohnt, die in einem nahegelegenen Kombinat ihrem Job nachgegangen waren, das nach der Wende geschlossen worden war.

Regina Dörfner bewohnte eine Wohnung im zweiten Stock. Aber wir brauchten gar nicht erst hochzugehen, um sie anzutreffen.

Als ich den Wagen parkte und mein besorgter Blick auf die Tankanzeige ging, die mir verdeutlichte, dass ich vor der nächsten Fahrt nach Dresden eine Tankstelle aufsuchen musste, hatte Rudi sie entdeckt.

“Wer hätte das gedacht. Tagsüber schüchterne Polizistin, nach Feierabend Rockerbraut!”

Ich folgte Rudis Blickrichtung.

Da war die Kollegin Dörfner. Sie trug einen ledernen Motorradanzug und stellte irgendwas an ihrer Maschine ein. Den Helm hatte sie noch nicht aufgesetzt. Sonst hätten wir sie gar nicht erkannt und sie wäre uns wohl an diesem Abend einfach davongefahren.

Wir stiegen aus.

“Guten Tag, Kollegin. Wir hätten noch ein paar Fragen an Sie”, sagte ich, als sie gerade den Helm aufsetzen wollte.

Sie wirkte fast genauso unsicher wie bei unserer ersten Begegnung.

Man konnte ihr ansehen, wie wenig begeistert sie davon war, uns zu treffen. Vielleicht wünschte sie sich jetzt sogar den Dienstellenleiter Dahlheim herbei, damit der dann dafür sorgte, dass sie sich irgendwie aus der Situation befreien konnte.

Aber Dahlheim war im Moment natürlich weit und breit nicht zu sehen.

“Ich wüsste nicht, was ich zu Ihren Ermittlungen noch beitragen sollte”, erklärte sie.

“Na ja, um ehrlich zu sein, haben Sie bislang ja auch noch kaum etwas zu unserem polizeilichen Vorgehen beigetragen”, erklärte ich. “Zumal Sie ja nun nicht irgendein Zeuge sind, sondern eine Polizistin, von der wir uns eigentlich etwas mehr Unterstützung erhoffen könnten.”

Sie setzte sich den Helm auf.

“Was soll das?”, drang es dumpf darunter hervor. “Wollen Sie mir jetzt auch noch den Feierabend vermiesen? Nicht mal eine halbe Stunde auf dem Motorrad scheinen Sie mir zu gönnen. Aber das ist mir heilig und werde mich von nichts und niemanden davon abhalten lassen.”

“Erinnern Sie sich noch, weshalb Sie mal Polizistin geworden sind?”, fragte ich.

Sie wollte die Maschine starten. Aber das klappte nicht. Sie war zu hastig.

Ich fuhr fort: “Sollte das irgendetwas mit Recht und Ordnung und dem Einsatz für Schwache und dem Kampf gegen das Verbrechen zu tun gehabt haben, dann sollten Sie sich das vielleicht mal ins Gedächtnis zurückrufen.”

Jetzt ging der Motor an und Regina Dörfner drehte demonstrativ am Gas, sodass die Maschine laut aufheulte.

“Das ist Ruhestörung!”, rief jemand aus dem dritten Stock des Plattenbaus. “Ich ruf gleich die Polizei.”

Ist sogar schon da!, ging es mir durch den Kopf.

Irgendetwas schien Regina Dörfner davon abzuhalten, einfach loszufahren.

Wer weiß, vielleicht war es so etwas wie der gute Kern in ihr.

Jedenfalls war das etwas, das mich hoffen ließ.

Der Motor heulte erneut auf.

Der Auspuff dröhnte.

“Sie können nicht einfach vor der Wahrheit davonfahren!”, rief ich. Ich rief so laut ich konnte und hatte am Ende das Gefühl, dass das Motorengeräusch und meine Stimme eine untrennbare Einheit bildeten und sich akustisch so sehr vermischten, dass es unmöglich war, sie voneinander zu unterscheiden, geschweige denn, einzelne Worte und ihre Bedeutung zu verstehen.

Aber Regina Dörfner schien trotz allem verstanden zu haben, worauf es ankam.

Sie würgte den Motor ab.

Es gab ein Stottern, die Maschine machte einen kleinen Satz nach vorn, Regina Dörfner hatte große Mühe, das Gleichgewicht zu halten und auf den Beinen zu bleiben. Rudi griff zu und stabilisierte das Motorrad.

Regina Dörfner war von ihren körperlichen Voraussetzungen her ohnehin knapp an der Grenze, um so eine schwere Maschine überhaupt beherrschen zu können.

Aber jetzt war sie wohl gleich in mehrfacher Hinsicht aus dem Gleichgewicht geraten. Und das hatte wohl nicht nur etwas mit ihrer Armmuskulatur oder ihrem Gleichgewichtssinn zu tun.

“Hier läuft einiges schief im Ort”, sagte Rudi. “Und Sie haben davor bisher die Augen verschlossen, weil Sie Schwierigkeiten aus dem Weg gehen wollten. Das kann ich bis zu einem gewissen Grad auch verstehen. Sie sind neu und Sie denken vielleicht, dass Sie sich anpassen müssen. Aber es könnte ja sein, dass Sie irgendwann mal wieder in den Spiegel schauen wollen und vor dem Gesicht, dass Sie da erblicken, Respekt haben möchten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihnen das komplett egal ist.”

“Was werfen Sie mir vor?”, fragte sie.

“Wir werfen Ihnen gar nichts vor. Wir bitten Sie nur um Ihre Hilfe”, sagte ich.

“Ist das eine interne Ermittlung.”

“Nein, ist es nicht. Bislang jedenfalls nicht. Und vor allem ist es bislang keine interne Ermittlung gegen Sie”, sagte ich.

Sie schwieg, schluckte, stellte ihr Motorrad ab, nahm den Helm ab. Dann ließ sie den Blick schweifen. Es war auch Rudi und mir inzwischen aufgefallen, dass uns mindestens ein Dutzend Augenpaare aufmerksam beobachteten. Es waren Leute aus der Siedlung.

“Vielleicht ist das hier nicht unbedingt der richtige Ort, wo wir uns unterhalten sollten”, meinte Regina Dörfner schließlich.

“Sehe ich auch so.”

“Meine Wohnung ist auch nicht unbedingt so ideal. Dann werden die Leute hier noch neugieriger.”

“Ich nehme an, dass Ihr Dienststellenleiter Herr Dahlheim so oder so von unserer Unterredung erfahren wird”, sagte ich.

“Ja, kann schon sein.”

“Und das werden Sie einfach aushalten müssen.”

“Ich weiß …”

“Also?”

“Trotzdem …”

“Richtung Dresden gibt es doch sicher irgendwo eine Kneipe, wo wir reden können”, meinte Rudi. “Oder notfalls auch eine Autobahnraststätte oder eine Burger-Filiale.”

Regina Dörfner atmete tief durch. “Ich bringe eben die Maschine weg”, kündigte sie an.

“Okay”, sagte ich.



31

Regina Dörfner stieg in unseren Dienstwagen. Wir fuhren los. Regina Dörfner hatte auf der Rückbank Platz genommen und kaute auf den Nägeln herum. Sie trug noch immer ihren Lederanzug fürs Motorradfahren. Das Nägelkauen wirkte in Kombination mit diesem coolen Outfit irgendwie besonders eigenartig.

Widersprüchlich eben.

Aber genau so ging es in ihr wahrscheinlich schon seit längerem zu.

Widersprüchlich.

Wurde Zeit, dass sich daran etwas änderte.

Heute war vielleicht der richtige Zeitpunkt dazu.

“Da wir gerade über Herrn Dahlheim sprachen …”, begann ich.

“Was ist mit ihm?”

“Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm?”

“Ich habe kein Verhältnis mit ihm, wenn Sie das meinen. Er hätte das wohl gerne, aber ich nicht.”

“Okay.”

“Ich habe einen Freund in Dresden. Ich hoffe, dass diese Fernbeziehung hält, bis ich hier weg bin.”

“Auf diesen Punkt wollte ich eigentlich gar nicht hinaus.”

“Doch, wollten Sie!”

“Ich meinte eigentlich, dass Ihr Verhältnis zueinander etwas angespannt wirkt - gelinde gesagt.”

“Schon möglich.”

“Steckt da - von unerwiderten erotischen Spannungen abgesehen - vielleicht noch etwas anderes hinter?”

“Ab und zu haben wir Meinungsverschiedenheiten. Aber es hat in diesem Ort und an dieser Dienststelle keinen Sinn, sich gegen den Mainstream zu stellen. Dann hat man nur Ärger.”

“Also haben Sie sich entschlossen, mit dem Strom zu schwimmen?”

“Allein auf sich gestellt und noch dazu als Anfängerin kann man nicht viel machen.”

“Man kann immer etwas tun”, sagte ich. “Und das Einzige, was uns dabei leiten sollte, ist das Recht.”

“Ja, das klingt gut, Herr Kubinke. Das klingt wirklich gut …”

“Sag ich doch!”

“Es hat nur nicht unbedingt etwas mit der Realität zu tun, würde ich sagen. Das klingt eher so, wie das Gelaber eines Dozenten an der Polizeischule, aber es passt nicht so ganz zu dem, was man in dieser Gegend so erleben kann.”

“Sagen Sie uns, wo wir hinfahren sollen?”, fragte jetzt Rudi.

“Ich zeige Ihnen den Weg.”

“Gut”, sagte ich.

Den Rest der Fahrt über schwieg sie.

Vielleicht war das auch besser so. Ich hatte das Gefühl, dass sie ihre Gedanken etwas sortieren musste und dieser Prozess schien ihm Moment voll im Gange zu sein. Zumindest hoffte ich das.

Mal sehen, was dabei herauskommt, dachte ich.

Immerhin - ihre ablehnende Haltung gegenüber einem Verhältnis mit dem hiesigen Polizeidienststellenleiter schien mir plausibel, die Story mit dem Freund in Dresden auch. Und insgesamt erhöhte diese Konstellation unsere Chance, sie auf unsere Seite zu ziehen.

Eine Seite, die sie nie hätte verlassen sollen.

Die Seite es Rechts nämlich.



32

Regina Dörfner lotste uns zu einer Kneipe. Auf die Frage, ob die Entfernung zum Ort des Geschehens nicht doch besser etwas größer sein sollte, antwortete sie: “Die Kneipe liegt jenseits der Gemeindegrenze.”

“Aber nicht sehr weit jenseits”, gab ich zu bedenken.

“Nein, aber das spielt keine Rolle. Die Grenze bewirkt, dass wir mit Sicherheit niemanden aus dem Ort dort treffen werden. Ganz bestimmt nicht. Ich kenne das Lokal, weil wir von der Dienststelle dort mal eine Schlägerei schlichten mussten, aber freiwillig würde niemand in die Nachbargemeinde fahren, um dort ein Bier zu trinken.”

“Sagen Sie bloß.”

“Und das liegt nicht am Bier.”

“Na, dann …”

“Das ist nämlich in Ordnung, wie ich Ihnen aus eigenem Genuss bestätigen kann. Sowas sind Sie aus Berlin nicht gewöhnt, was?”

“Nein, bin ich nicht”, gestand ich.

“Als die Lokalzeitungen zusammengelegt wurden und denselben Mantelteil bekamen, haben sich die Leute darüber beklagt, dass sie jetzt auch noch die Todesanzeigen aus den Nachbarorten lesen müssten. ‘Mit denen haben wir doch nichts zu tun’, hieß es dann.”

“Schon schlimm, wenn man Fremden nicht mal einen Platz bei den Todesanzeigen gönnt”, meinte Rudi. “Um wie viel schwieriger ist es da, Flüchtlinge zu akzeptieren.”

“Sie sagen es”, murmelte Regina Dörfner. “Aber in unserem Ort gibt es ja auch keine.”

“Wie darf ich das verstehen?”, hakte ich nach.

“Na so, wie ich es gesagt habe”, gab Regina Dörfner zurück. “Natürlich sind auch unserem Ort Flüchtlinge zugewiesen worden und offiziell sind die auch noch alle da. Aber nur offiziell.”

Was heißt das genau?”

“Wer bleibt schon gerne irgendwo, wo man von Schlägern empfangen und schikaniert wird? Dieser Herr von Bleicher und die Typen, die unter seiner Fuchtel stehen, haben dafür gesorgt, dass alle Ankömmlinge es vorgezogen haben, von hier wieder wegzugehen und sich anderswo nochmal registrieren zu lassen.” Regina Dörfner zuckte mit den Schultern. “Mit arabischen Namen ist das so eine Sache, da gibt es unterschiedliche Transkriptionen und die kann man auch schon mal für unterschiedliche Namen halten. Davon abgesehen wurden lange Zeit keine Daten abgeglichen. Gerade in der ersten chaotischen Zeit, als plötzlich so viele Flüchtlinge aus Syrien kamen. Das BAMF war völlig überfordert.”

“Ja, uns ist auch schon aufgefallen, dass da etwas nicht stimmt”, gab ich zu. “Jetzt kommt also unser Kollege Schmitten in die Gegend, sucht einen bestimmten Flüchtling und findet ihn nicht, weil der schon lange ganz woanders lebt und wie sich jetzt herausgestellt hat, zu diesem Zeitpunkt bereits in Paris erschossen worden war. Allein die Tatsache, dass Schmitten vielleicht entdeckt hat, dass es hier keine Flüchtlinge mehr gibt und dass hier rechte Schläger offenbar tun können, was sie wollen, kann doch kaum ein Motiv gewesen sein, ihn umzubringen!”

“Sie sehen das falsch”, sagte Regina Dörfner.

Ich hob die Augenbrauen.

“Was sehe ich falsch?”

“Ihr Kollege Schmitten fand nicht nur heraus, dass die Flüchtlinge, die eigentlich hier sein müssten, in Wahrheit gar nicht mehr hier sind.”

“Sondern?”

“Er fand auch heraus, dass dieselben Flüchtlinge offiziell und auf dem Papier immer noch hier sind und dass dafür auch die entsprechenden Gelder gezahlt werden.”

“Herr von Bleicher ist der Kämmerer. Ich könnte mir vorstellen, dass er das sehr gerne sieht.”

“Und der Bürgermeister ebenso!”, ergänzte Regina Dörfner. “Eigentlich hat der ganze Ort davon profitiert. Selbst unsere Dienststelle. Wir haben eine neue Kaffeemaschine bekommen.”

“Und dafür musste der Kollege Schmitten sterben? Für eine Kaffeemaschine?”

“Nicht eine Kaffeemaschine. Aber vielleicht für die Summen, die wohl einige maßgebliche Leute hier von diesem permanenten Geldstrom für sich abgezweigt haben.”

“Das wissen Sie genau?”

“Das sind genau genommen Gerüchte. Das Hörensagen eines ganzen Ortes, wenn Sie so wollen, und niemand wird sich darüber beschweren. Es gibt hier zwei Sorten von Bürgern. Die einen profitieren selbst auf die eine oder andere Weise von dem Geldstrom, zum Beispiel durch kommunale Aufträge und so weiter. Und die anderen …” Sie zögerte.

“Was ist mit den anderen?”, hakte ich nach.

“Das sind die, die sich einschüchtern lassen. Die haben einfach Angst, dass plötzlich ein paar Typen mit Baseballschlägern vorbeikommen.”

“Und die Polizei?”

“Kommt zu spät. Und ganz ehrlich: Einen besonderen Ermittlungseifer habe ich bei solchen Taten nie bei meinem Dienstellenleiter entdecken können. Mir ist schnell klar geworden, dass es sinnlos ist, etwas dagegen zu unternehmen.”

Sie winkte den Kellner herbei und bestellte sich ihr zweites Bier.

“Was wissen Sie darüber, was mit Herrn Schmitten passiert ist?”, fragte ich. “Devid Dresel soll gegenüber dritten damit geprahlt haben, ihn erschlagen zu haben.”

“Ja, das habe ich auch gehört.”

“Und? Halten Sie das der Wahrheit entsprechend?”

“Ich weiß nur Folgendes: Erstens, es gibt hier relativ viele Leute, bei denen man mit dem Mord an einem Polizisten durchaus Eindruck machen könnte. Mit dem Mord an einem fremden Polizisten, wohlgemerkt. Einem, der nicht dazugehört, sondern von außen kommt und hier nur schnüffelt. Diese sogenannten Reichsbürger nennen so jemand auch gerne Volksverräter.”

“Und was ist das Zweite, bei dem Sie sicher sind?”

“Dass Devid Dresel so etwas niemals tun würde, wenn er dazu nicht eine Weisung bekommen hätte.”

“Von Herrn Bleicher.”

“Das würde ich annehmen.” Sie beugte sich vor und sprach nun in gedämpftem Tonfall. Sehr verhalten, sehr leise. Aber sie wirkte hochkonzentriert. “Ich nehme Folgendes an: Dieser von Bleicher hat irgendwie gemerkt, was vor sich ging und dieser Schmitten zu einer Gefahr werden könnte. Von Bleicher hat immense Prozessschulden, weil er sich doch gerichtlich mit jedem angelegt hat und außerdem immer wieder behauptet hat, dass es den Mord an den Juden im Dritten Reich gar nicht gegeben hätte. Zwischenzeitlich hätte er beinahe sein Anwesen verloren - aber der warme Geldregen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hat ihn gerettet.”

“Wie schafft er es, das Geld auf seine Mühlen zu lenken?”

“Die Gemeinde fördert seine dubiosen Seminare als Bildungsprojekte.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: Hendrik Bekker
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2017
ISBN: 978-3-7438-1263-5

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