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Mörder im Nebel: Drei Kriminalromane

Kriminalromane von Alfred Bekker

 

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 700 Taschenbuchseiten.

Krimis der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre. Mal provinziell, mal urban. Und immer anders, als man zuerst denkt. 

 

 

 

Dieses Buch enthält folgende drei Romane:

Das Elbenkrieger-Profil

Der Killer wartet...

Der Sauerland-Pate

 

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de


Das Elbenkrieger-Profil

Kriminalroman

von Alfred Bekker


Der Umfang dieses Buchs entspricht 350 Taschenbuchseiten.


Ein Serienkiller geht um im Münsterland, sein letztes Opfer wird auf dem berühmten Mittelalter-Markt von Telgte gefunden. Doch während Kriminalhauptkommissar Sven Haller von der Kripo Münster und Kriminalpsychologin Anna van der Pütten im Dunkeln tappen, heftet sich ein Ermittler an die Fersen des irren Mörders, der selbst wahnsinnig zu sein scheint: Er nennt sich Branagorn der Elbenkrieger und behauptet, aus einer anderen Welt zu stammen. Doch er scheint der Einzige zu sein, der es mit dem Mörder aufnehmen kann …


Cover: Steve Mayer


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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

Das vorliegende Buch erschien in abweichender Fassung unter dem Titel DER TEUFEL VON MÜNSTER im Emons Verlag. Die vorliegende Fassung entspricht der ursprünglichen Intention des Autors.

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

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Prolog

Wer ist schon fähig, darüber zu richten, was der Traum, was der Wahn und was die wirkliche Welt ist - außer dem Herrn? Und geht es nicht vielen von uns wie dem Besessenen in der Geschichte von den Schweinen zu Gerasa, den Jesus nach dem Namen fragt und der da antwortet: „Mein Name ist Legion, denn viele sind wir.“Branagorn von Corvey (auch bekannt als Fra Branaguorno d'Elbara), in den Jahren 989-1002 Lehrer, Erzieher und Berater von Kaiser Otto III.



Sire, geben Sie Narrenfreiheit!

Mynona (alias Salomo Friedlaender; 1871-1946)



Die Tote in Telgte

Der Blick durch das Zielfernrohr zeigt den Körper einer jungen Frau. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass es eine Frau ist, denn ihr Schädel ist vollkommen kahl. Sie lehnt mit dem Rücken gegen das Wagenrad eines Anhängers. Ihr Blick ist starr und tot, die Augen weit aufgerissen, die Züge eine Maske puren Entsetzens. Das Fadenkreuz ist genau auf den Hals ausgerichtet, wo noch immer Blut austritt und dann von der Kleidung aufgesogen wird.

Ein Mann kommt herbei. Er trägt die Gewandung eines mittelalterlichen Händlers. Das Trinkhorn entfällt ihm vor Schreck. Met spritzt heraus. Er ruft laut und versucht dabei, den Sound der Mittelalter-Rockband mit der nervtötenden Leier zu übertönen. Seine Stimme klingt heiser. Es dauert nicht lange und andere kommen herbei. Ein kleiner Menschenauflauf bildet sich.

„Notarzt!“, ruft jemand.

Nein, für den ist es zu spät.

Viel zu spät.

Das Entsetzen breitet sich aus wie eine ansteckende Krankheit. Nur eine einzige Seele empfindet jetzt so etwas wie Zufriedenheit. Nein, eher Genugtuung. Und auch das nur für einen sehr kurzen, raren Moment, der rasch verfliegt. Ein paar Herzschläge – länger dauert es nicht.

Schließlich senkt sich der Blick durch das Zielfernrohr, obwohl es kaum möglich ist, sich aus dem Bann der Ereignisse zu befreien.

Eine Hand greift in die weiten Taschen des Gewandes und fühlt nach den Büscheln mit Haaren, die sich darin befinden. Dichtes, dickes Haar ist es. Erinnert schon fast mehr an die Mähne eines Pferdes als an das Haar einer Frau. Es fühlt sich auf jeden Fall gut an.

Ein Gedanke drängt sich auf.

Jetzt gehört es mir!


*


„Danke, dass Sie so freundlich waren, mich mitzunehmen“, sagte Anna van der Pütten. Sie war 31, Kriminalpsychologin, hatte dunkelbraunes, schulterlanges Haar, das sie mit ein paar Nadeln zu einer Frisur aufgesteckt hatte, die ihr im Moment reichlich ramponiert vorkam. Es hatte alles etwas schnell gehen müssen, und zu allem Überfluss war ihr Wagen gerade heute in der Werkstatt. Aber auf so etwas nahmen Mörder leider keine Rücksicht. Und Serienkiller schienen in dieser Hinsicht besonders rücksichtslos zu sein. Ein halbes Jahr Pause ohne Mord und dann zielsicher einen Tag heraussuchen, an dem es einem schlecht passte. Fast konnte man dahinter böse Absicht vermuten. Oder doch eher eine Projektion meinerseits!, überlegte Anna, die gerade damit beschäftigt war, den Inhalt ihrer Handtasche zu ordnen. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, dort für Ordnung zu sorgen. Vielmehr war das eine Art Ritual für sie, dass der Konzentration diente. Geordnete Tasche, geordneter Geist. Ein kleiner Trick, um umzuswitchen und kurzfristig alles vergessen zu können, was bis vor ein paar Minuten noch wichtig erschienen war und jetzt nichts als geistigen Ballast darstellte, den man so schnell wie möglich loswerden musste, um sich auf die nächste Anforderung zu sammeln. In Anna van der Püttens Beruf war dies ein immer wiederkehrendes Problem. Man hatte sich in einem Gespräch mit einem Patienten sehr stark auf dessen jeweilige Problematik eingelassen, war tief in die traumatisierenden Erlebnisse eines Menschen, der überfallen worden war, eingestiegen und musste sich dann blitzschnell auf einen potenziellen Selbstmörder einstellen, der mutwillig als Geisterfahrer auf der A1 unterwegs gewesen war, um dabei den Tod zu finden, und bei dem festgestellt werden sollte, inwiefern die Gefahr von Selbst- oder Fremdgefährdung noch anhielt.

Am Steuer des Volvo saß Kriminalhauptkommissar Sven Haller von der Kripo Münster. Eine gute Viertelstunde war es her, da das Telefon in seinem Büro im Polizeipräsidium am Friesenring geklingelt und er die Nachricht erhalten hatte, dass es ein neues Opfer des 'Barbiers' gab.

Ein halbes Jahr war Ruhe gewesen. Und jetzt hatte jener geheimnisvolle Serienmörder, der bereits zuvor vier Frauen ermordet hatte, wieder zugeschlagen. Barbier nannte ihn die Boulevardpresse inzwischen, weil er die Angewohnheit hatte, seinen Opfern post mortem die Haare abzurasieren, von denen sich dann an den Tatorten auch stets so gut wie nichts mehr befunden hatte.

Frauenhaar schien für den Mörder so etwas wie eine Trophäe zu sein. Ansonsten glich kein Verbrechen dem anderen und die ermittelnden Behörden tappten noch immer vollkommen im Dunkeln.

Sieben Jahre war der erste Fall schon her. Am Anfang hatte sich das LKA eingeschaltet und eine große Sonderkommission war gebildet worden, die für eine Weile fast die gesamten personellen Kapazitäten der Kripo Münster gebunden hatte. Aber das Interesse von Medien und Öffentlichkeit war flüchtig – und nachdem die Ermittlungen irgendwann mehr oder minder stecken geblieben waren, landete der Fall schließlich bei den unaufgeklärten Verbrechen. Viele davon gab es nicht. Zumindest bei den Morden, die überhaupt als solche bekannt wurden, konnte man mit einer fast vollständigen Aufklärungsrate rechnen.

Der Barbier war eben einer der wenigen Ausnahmen. Er hatte in den darauffolgenden Jahren wieder und wieder zugeschlagen. Immer waren die Opfer junge Frauen und immer sicherte er sich ihr Haar als Trophäe – oder welche abartige Begründung auch immer letztlich für sein Vorgehen herhalten mochte. Die Kollegen des LKA hatten ein sogenanntes Profiling vorgenommen und versucht, die Taten anhand einer exakten Analyse des Tatortes einem bestimmten Tätertypus zuzuschreiben, den man vielleicht näher eingrenzen konnte.

Aber irgendwie schien sich der Barbier all dieser Kategorisierungen zu entziehen. Kein Verbrechen glich dem anderen, die Methode war jedes Mal unterschiedlich und inzwischen hatte Sven Haller die von den Kollegen angefertigten Gutachten innerlich bereits in den Papierkorb geworfen. In diesem Fall passte einfach nichts zusammen. Jede Spur schien nur weiter in die Irre zu führen.

Und doch dachten weder Sven Haller noch Anna van der Pütten daran aufzugeben.

Anna van der Pütten war erst beim letzten Fall vor einem halben Jahr hinzugezogen worden. Sie hatte sich in die Materie eingearbeitet, und anfangs hatte Haller die Hoffnung gehabt, durch ihre Unterstützung die Ermittlungsfäden noch mal aufnehmen zu können.

Aber diese Hoffnung hatte sich leider nicht erfüllt. In den letzten sieben Jahren war kein Tag vergangen, an dem dieser Fall Sven Haller nicht wenigstens für kurze Momente durch den Kopf gegangen war. Der Gedanke, dass ein Mörder nicht nur nach wie vor frei herumlief, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit nach weiteren Opfern suchen und irgendwann wieder zuschlagen würde, hatte Haller nicht losgelassen.

Nun war genau das eingetreten.

„Ist es wirklich sicher, dass es der Barbier war?“, fragte Anna van der Pütten in die bedrückende Stille hinein. Haller war gerade auf die Westbeverner Straße gefahren. Von nun an musste man nur noch den Schildern mit der Aufschrift 'Telgte' folgen, um auch tatsächlich nach Telgte zu kommen. Sie kamen gerade an einem Plakat vorbei, das auf den berühmten Mittelalter-Markt hinwies, der zweimal im Jahr in der Kleinstadt vor den Toren Münsters stattfand.

Genau dieses Ereignis hatte der Täter sich offenbar für sein Comeback als Serienkiller ausgesucht.

„Nach dem, was die Kollegen durchgegeben haben, treffen alle Merkmale zu. Auch die, die nicht in der Presse waren. Es muss derselbe Verrückte sein.“

„Ich weiß, dass das kein Trost ist, Herr Haller, aber vielleicht kommen wir ihm durch diesen Mord ein Stück näher!“

„Nein, das ist tatsächlich kein Trost“, murmelte Haller düster.

„Versuchen Sie, sich nicht persönlich in die Sache zu involvieren“, sagte Anna van der Pütten. „Betrachten Sie die Tatsache, dass dieser Mörder wieder zugeschlagen hat und noch immer keine Handschellen trägt, nicht als persönliche Niederlage.“

„Tut mir leid, das tue ich aber“, erwiderte Haller etwas ungehalten. „Ich kann da nicht einfach nur meinen Job machen. Das geht einfach nicht.“

„Vielleicht wäre das aber das Beste.“

„Was?“

„Wenn Sie einfach Ihren Job machen. Und nicht mehr.“

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen unbekannten Irren analysieren würden – und nicht mich, Frau van der Pütten!“ Hallers Worte klangen etwas ärgerlich. Die größten Fehler wurden bei Ermittlungen meistens am Anfang gemacht, wusste Anna. Frühzeitige Festlegungen aufgrund von zu großer persönlicher Anteilnahme, individuellen Vorurteilen oder zu großer Empathie mit dem Opfer. Aber Anna schwieg jetzt. Sie wusste nur zu gut, dass es nicht darauf ankam, jemandem die Wahrheit zu sagen. Es kam vielmehr darauf an, diese Wahrheit im richtigen Moment zu sagen – und das war immer ein Moment, in dem sie auch angenommen werden konnte. Alles andere war schlicht sinnlos.

„Er ist wie eine Zikade“, sagte Haller plötzlich.

„Wer?“

„Na, der Mörder. Wer sonst?“

„Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung davon, wie dieser Vergleich gemeint ist. In Biologie war ich nie besonders gut.“

Haller lächelte matt. „Zikaden schlüpfen nur alle 17 Jahre. In der Zwischenzeit sind sie scheinbar verschwunden, aber nach 17 Jahre treten sie so massenhaft auf, dass ihre Fressfeinde völlig überfordert mit den großen Schwärmen sind. Verstehen Sie nicht? Für eine Weile in der Versenkung zu verschwinden, ist eine Strategie, um sich seinen Jägern zu entziehen, sie glauben zu machen, dass man gar nicht mehr existiert. Und wenn derjenige dann plötzlich doch wieder aus der Versenkung auftaucht, rechnet niemand mehr mit ihm!“

„Ein guter Vergleich. Aber ich fürchte, unser Mörder wird keine 17 Jahre brauchen, um erneut aufzutauchen. Wenn es wirklich bei allen Morden dieser Serie derselbe Täter war, dann dürfte seine Reizschwelle inzwischen erheblich vermindert worden sein. Er wird immer schneller diesen besonderen Kick brauchen, den ihm seine Taten verschaffen.“


*


Mehrere Wiesen waren während des Mittelalter-Marktes in Telgte zu Parkplätzen umfunktioniert worden. Aber Haller dachte gar nicht daran, das letzte Stück bis zur sogenannten Planwiese zu Fuß hinter sich zu bringen, die ganz im Zeichen mittelalterlicher Heerlager und eines ausgedehnten Marktes stand. Er fuhr bis zum eigentlichen Markt. Ordner, die ihn aufzuhalten versuchten, bekamen seinen Dienstausweis entgegengehalten.

Schließlich ging es allerdings auch mit Hilfe dieses Ausweises nicht mehr weiter. Haller stellte den Wagen zu ein paar anderen Dienstfahrzeugen, die bereits früher eingetroffen waren. Anna van der Pütten stieg einen Moment vor ihm aus.

Sie ließ den Blick über den Mittelalter-Markt schweifen. Sowohl viele der Aussteller als auch zahlreiche Gäste hatten sich in eine mittelalterliche Gewandung geworfen. Sie trugen Wams, Umhang, spitze Lederstiefel, die an der Spitze die Form eines nach oben gebogenen Schnabels aufwiesen. Die Frauen trugen geschnürte Kleider und an jeder Ecke gab es Schwerter, Trinkhörner und andere Dinge, die entweder tatsächlich oder vermeintlich mittelalterlich waren. Manchmal mischte sich das mit Accessoires der Gothic- und der Fantasy-Szene, und so fand sich zwischen all den aufrechten Recken, holden Burgmaiden oder bunten Gauklern, die mit ihren Kunststücken die Leute zu unterhalten wussten, hin und weder auch ein untoter Vampir oder ein mehr oder minder gut geschminkter Ork. Anna war schon einmal auf dem Mittelalter-Markt in Telgte gewesen – allerdings in der Vorweihnachtszeit, wenn dort eine ganz andere, nicht minder reizvolle Atmosphäre herrschte und die hehren Recken und holden Maiden die Kälte mit reichlich Met bekämpften. Schließlich waren die wenigstens in ihrer historischen Gewandung so naturgetreu, dass sie sich die Kleidung etwa mit Pferdehaaren ausstopften. Jetzt war Sommer und da es in den letzten Wochen nicht geregnet hatte, sank man auf der Wiese wenigstens nicht bis zum Knöchel in den Schlamm ein.

Es war auffällig, dass viele Leute zusammenstanden und redeten, während sich eine Mittelalter-Rockband auf der Bühne ziemlich vergeblich darum bemühte, ihr Publikum zu begeistern. Aber das war keineswegs die Schuld der Musiker. Genauso wenig wie es nicht an den Auslagen der Händler lag, dass sich im Moment kaum jemand für Dolche, Schwerter, Gewandung oder CDs mit originalgetreuem Minnesang in historisch korrektem Mittelhochdeutsch interessierte. Es hatte sich offenbar inzwischen herumgesprochen, dass irgendetwas Schreckliches geschehen war. Die verhältnismäßig große Anzahl von uniformierten Polizisten war ein Indiz dafür. Außerdem war ein Teil des Marktes quasi abgeriegelt worden. Eine Markierung mit Flatterband zeigte an, welcher Bereich nicht mehr betreten werden durfte.

„Da sind Sie ja endlich“, begrüßte einer der Uniformierten die beiden Ankömmlinge. Er war Mitte fünfzig, hatte einen grauen Bart und wirkte etwas behäbig. Anna hatte das Gefühl, dieses Gesicht irgendwann schon einmal gesehen zu haben, aber das konnte auch eine Täuschung sein. Sie hatte oft mit Polizisten zu tun und es gab viele in diesen Jahrgängen und mit ähnlich grauen Bärten.

Haller runzelte die Stirn.

„Wer sind Sie denn?“, fragte er.

„Kriminalobermeister Ternieden. Ich leite den Einsatz hier.“

„Ach so.“

„Dafür weiß ich aber, wer Sie sind – nämlich vom Kollegen im ausgebeulten Cord-Jackett.“

„Kommissar Raaben ist schon da?“

„Ja. Schon eine geraume Weile.“

„Und wo ist die Tote nun?“

„Hinter dem Stand da vorne. Folgen Sie mir.“ Bevor sie gingen, wandte sich Ternieden an Anna van der Pütten. „Sie sind wahrscheinlich die Gerichtsmedizinerin?“

„Nein, Kriminalpsychologin. Ich heiße Anna van der Pütten.“

„Oh tut mir leid.“

„Was?“

„Es hat mir niemand gesagt, dass jemand wie Sie kommt. Ich sag immer, wenn schon einer tot ist, ist es eigentlich zu spät für den Einsatz eines Psychologen.“ Anna war sich nicht sicher, ob das witzig gemeint gewesen war. Ternieden schien sich da selber nicht so ganz im Klaren zu sein. Er wirkte jedenfalls etwas verlegen und unsicher. „Am besten, Sie beide sehen sich einfach mal an, was los ist“, meinte er schließlich. „Also, ich bin ja schon lange dabei und habe auch schon manches mitansehen müssen. Von Unfällen auf der A1 bis zu sonst was – aber das hier wird mir sicher einige Nächte lang den Schlaf rauben!“, war er überzeugt.


*


Die Tote lehnte gegen ein Anhängerrad. Anna erschrak unwillkürlich. Es war nicht der Tatort, der sie erschreckte, und wenn Haller mit seiner Vermutung recht hatte, dann war es noch nicht einmal der erste, für den dieser spezielle Täter verantwortlich war. Und trotzdem konnte Anna nicht verhindern, dass ihr ein kalter Schauder über den Rücken lief. Es gab eben Dinge, an die konnte man sich trotz aller professioneller Distanz einfach nicht gewöhnen. Und vielleicht war das auch ganz gut so. Man durfte sich nur nicht so sehr von den grausigen Umständen einer Tat gefangen nehmen lassen, dass man seinen Job nicht mehr machen konnte. Wie so oft war die Dosis entscheidend. Etwas Einfühlung war gut, zu viel davon reines Gift, wenn es darum ging, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen.

Im Hintergrund hörte Anna wie aus weiter Ferne, wie einer der Polizisten über Funk fragte, wieso denn die Gerichtsmedizin noch nicht da sei und dass man die Tote jetzt doch bitteschön langsam abholen könne. Wahrscheinlich lag es an einem der regelmäßig auftretenden Staus, die einen mit ziemlich großer Sicherheit festsetzten, wenn man versuchte, Münster zu bestimmten Zeiten zu verlassen oder wenn man umgekehrt von außen in die City wollte. Alles eine Frage des Timings. Und wenn Anna das, was sie vom Funkverkehr mitbekam, richtig interpretierte, hatten sich die Kollegen wohl den falschen Zeitpunkt und die falsche Strecke ausgesucht.

Anna ging auf die Tote zu, der man eine furchtbare Wunde am Hals zugefügt hatte. Einen Schnitt wie mit einer Sense oder einem langen Messer gezogen. Ihre toten Augen starrten ins Nichts. Die Tote trug eine dunkle Hose, weiße Bluse und einen dunklen Blazer. Die Kleidung war voller Blut.

Der Schädel war sehr sorgfältig rasiert worden.

Genau wie bei den anderen Opfern des Barbiers!, ging es Anna durch den Kopf. Das letzte Opfer – Nummer vier der Serie des Barbiers – hatte Anna nur in der Leichenhalle gesehen. Was die Frauen anging, die der unbekannte Serienmörder zuvor umgebracht hatte, war sie auf das am jeweiligen Auffindungsort der Leiche geschossene Fotomaterial angewiesen gewesen. Aber dieses Material umfasste insgesamt mehrere tausend Fotos, die jedes Detail auf den Speicherchip bannte, das man seinerzeit für wichtig gehalten hatte. Das Problem war natürlich immer, dass man zumeist erst später sagen konnte, was tatsächlich relevant war und was nicht. Jedenfalls hatte sich Anna tagelang diese Fotos angesehen in der Hoffnung, dabei auf irgendein Detail zu stoßen, das ihr vielleicht etwas mehr über den Täter zu verraten vermochte. Jeder Mensch gab schließlich in jedem Augenblick durch sein Verhalten eine Stichprobe seiner Persönlichkeit ab. Eine Stichprobe, die bis zu einem gewissen Grad immer auch repräsentativ für das Ganze war und einem Rückschlüsse auf die Persönlichkeit erlaubte – sofern man diese Stichprobe richtig zu interpretieren wusste.

Und das Verhalten eines Täters am Tatort war – darüber waren sich alle Fachleute einig – die aussagekräftigste Verhaltensstichprobe, die sich nur denken ließ. Nichts dabei war einfach nur zufällig oder Ergebnis irgendwelcher Umstände.

„Kennen wir den Namen der Toten?“, fragte Haller an seinen Kollegen Kevin Raaben gerichtet. Raaben war vielleicht Anfang dreißig und damit gute zehn Jahre jünger als Haller. Er trug eine Lederjacke und zerschlissene Jeans. Am Hals war außerdem eine Tätowierung zu sehen. Irgendein verschnörkeltes Zeichen, das Anna, die Raaben nur flüchtig kannte, nicht zu deuten wusste. Es wirkte chinesisch. Anna vermutete, dass Raaben wohl irgendwie durch dieses Tattoo etwas gegen das biedere, uncoole Beamtenimage tun wollte, das sein Job nun mal mit sich brachte.

„Jennifer Heinze“, gab Raaben an. „Sie hatte einen Ausweis bei sich. Wohnt in Ladbergen. Außerdem hatte sie einen Autoschlüssel dabei.“

„Das heißt, wir müssen jetzt alle Autos auf dem Parkplatz überprüfen und zusehen, ob der Schlüssel passt!“, seufzte Willi Ternieden. „Aber vielleicht können wir das leichter haben.“

„Ich bin für Vorschläge immer offen“, meinte Haller.

„Ich schlage vor, einfach bei ihr zu Hause anzurufen. Sie wird ja möglicherweise Angehörige haben. Der Lerchenweg in Ladbergen – da stehen nur Einfamilienhäuser. Sie ist noch zu jung, um selbst eins zu besitzen. Sie ist schließlich erst 26. Also nehme ich an, dass das Opfer noch bei seinen Eltern wohnte.“

„Und denen wollen Sie dann am Telefon mitteilen, dass Ihrer Tochter der Hals aufgeschlitzt wurde, um dann nach der Automarke zu fragen, die ihre Tochter fährt?“, fragte Anna dazwischen. „Klingt nicht gerade nach viel Takt, Herr Ternieden.“

Der Kriminalobermeister zuckte mit den Schulten. „Irgendwann werden sie es ja doch erfahren. Und man muss ja auch mal daran denken, wie wir hier über die Runden kommen, finde ich ...“

„Ich denke, der Wagen ist jetzt nicht das Wichtigste“, meinte Haller. „Wir müssen vor allem die Personalien der Zeugen sichern. Sonst sind die weg und wir müssen sie erst über die Medien wieder mühsam zusammentrommeln, was erfahrungsgemäß nie so richtig klappt!“


*


In diesem Moment war ein Tumult zu hören. Anna sah einen Mann in einem grauen Wams aus fließendem Stoff, der mit beiden Händen ein Schwert umfasste. Er trug eng anliegende Hosen und hohe Lederstiefel. Während er mit dem Schwert voranstürmte, stieß er einen durchdringenden Kampfschrei aus. Die Kapuze, die bis dahin seinen Kopf bedeckt hatte, glitt zurück und gab den Blick auf schulterlanges, weißblondes Haar frei. Sein Gesicht wirkte feingeschnitten und war sehr blass. Die zweischneidige Klinge wirbelte mit einer mörderischen Geschwindigkeit und Präzision durch die Luft. Die dazu nötige Kraft traute man dem zwar hochgewachsenen, aber dennoch zierlich und feingliedrig wirkenden Mann kaum zu. Nur um Haaresbreite strich die Klinge über den mit einer Schnabelmaske verdeckten Kopf eines Pest-Arztes hinweg. Ein dumpfer Laut kam unter der Maske hervor. Der Pest-Arzt taumelte zurück, während der bleiche, langhaarige Krieger zu einem weiteren Schlag ausholte.

Zwei der uniformierten Polizisten kamen herbei.

„Hören Sie auf!“, rief Kriminalobermeister Willi Ternieden, der ebenfalls auf dem Weg dorthin war. Der Pest-Arzt drängte sich zwischen den Menschen hindurch, die sich rund um den Fundort der Leiche angesammelt hatten. Der Schwertstreich des Kriegers ging derweil ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht, stolperte beinahe. Dann ergriffen ihn mehrere Beamte. Einer entwand ihm das Schwert.

„Haltet ihn! Haltet den Traumhenker! Ergreift den Todesboten oder Ihr werdet es bereuen!“, schrie der hagere Krieger aus Leibeskräften. Er meinte ganz offensichtlich die Gestalt in der Schnabelmaske, die wenig später in der Menge untergetaucht war.

Der Krieger ließ sich nur mit Mühe von den Beamten halten. Er mobilisierte das Äußerste an Kraft, um sich loszureißen, und schien wie ein Wahnsinniger von dem Wunsch erfüllt zu sein, dem Boten des Schwarzen Todes zu folgen.

„Was ist das denn für ein Irrenhaus hier?“, murmelte Haller.

Raaben hingegen war wie erstarrt und Willi Ternieden rief: „Handschellen! Worauf warten Sie denn?“

Anna van der Pütten ging unterdessen mit entschlossenen Schritten auf den langhaarige Krieger zu.

„Warten Sie, bleiben Sie hier!“, verlangte Haller.

„Ich kenne den Mann!“, erklärte Anna knapp.

„Und wer ist der Verrückte?“, fragte Haller.

„Er heißt eigentlich Frank Schmitt, glaubt aber, er sei Branagorn der Elbenkrieger!“

„Na, Gott sei Dank nicht Jack the Ripper!“

„Das ist nicht witzig, Herr Haller!“

„Ist er bei Ihnen in Behandlung?“

„Ja.“

Haller folgte Anna und versuchte, sie einzuholen.

„Lassen Sie mich durch!“, rief sie dann mit einer Entschiedenheit, die man ihr auf den ersten Blick kaum zutraute, einer Polizistin entgegen, die sie davon abhalten wollte, sich weiter dem Krieger zu nähern, der sich noch immer den Griffen der Uniformierten zu entwinden versuchte und dabei wie ein Wahnsinniger schrie. Er rief jetzt unverständliche Worte in einer fremden Sprache – aber vielleicht auch nur sinnlos aneinandergereihte Silben. Da war sich niemand unter den Anwesenden völlig im Klaren.

„Branagorn, hören Sie auf damit!“, rief Anna. „Was fällt Ihnen ein, mit dem Schwert auf jemanden einzuschlagen!“

Der Angesprochene wirkte wie erstarrt, als er Anna sah. Im nächsten Moment gab er seinen Widerstand gegen die Beamten, die ihn festhielten, auf.

Einer der Beamten holte Handschellen hervor.

„Das wird nicht nötig ein!“, versicherte Anna.

„Das sah gerade aber etwas anders aus!“, meinte der Beamte.

„Ich kenne den Mann! Und Sie können mir glauben, dass ich die Situation kontrolliere. Lassen Sie ihn los. Er wird niemandem etwas tun!“ Sie wandte sich an Willi Ternieden. „Bitte! Wenn Sie wollen, dass eine Eskalation vermieden wird, dann sollten Sie auf mich hören! Herr Schmitt ist mein Patient! Warum er ausgerechnet hier und jetzt seine Impulse nicht kontrollieren konnte, weiß ich nicht, aber dafür wird es einen Grund geben. Er ist nicht gefährlich.“

Ternieden nickte schließlich. „Machen Sie keine Dummheiten“, forderte er.

Branagorn alias Frank Schmitt wurde losgelassen und schien sich tatsächlich etwas beruhigt zu haben. „Ich weiß, wer die Frau getötet hat! Ich kenne den Boten des Todes!“

„Immer der Reihe nach Herr, äh ... Schmitt“, sagte Ternieden dann etwas unbeholfen.

„Es ist der Traumhenker! Und Ihr lasst ihn unbehelligt davonlaufen.“ Der Elbenkrieger streckte die Hand mit den dürren und sehr langen Fingern in die Richtung aus, in der der Pest-Arzt mit der Schnabelmaske verschwunden war. „Die Schritte des Todesboten sind noch deutlich zu hören und Ihr folgt ihm nicht, obwohl es Eure Pflicht wäre, das Böse zu bekämpfen!“

„Beruhigen Sie sich!“, forderte Anna. „Sie kennen mich doch. Wir können über alles sprechen und werden auch sicherlich eine Lösung für Ihr Problem finden.“

Er sah sie an. „Wie könnte ich Euer Gesicht vergessen, werte Cherenwen!“, sagte der Elbenkrieger nun in einem sehr viel sanfteren Tonfall. „Aber Ihr vertut Euch, nicht ich habe ein Problem, sondern Ihr alle! Denn der Traumhenker ist unter Euch. Der Tod-in-Gestalt! Der pure Wille zum Bösen und der Verderbtheit! Und er nimmt Besitz von Euch! Er kriecht in Eure Seelen, bis er eins ist mit einem von Euch und ihn zum Werkzeug des Verderbens macht, weil das seine Natur ist! Ich kenne ihn! Ich kenne diesen Todbringer und Seelenverderber!“

„Wichtig ist, dass Sie jetzt ruhig werden, Branagorn!“, sagte Anna. Sie hatte ihn vor ein paar Monaten begutachten müssen, um festzustellen, ob eine Fremd- oder Eigengefährdung bei ihm vorlag. Nach einer zeitweiligen stationären Unterbringung in der westfälischen Landesklinik in Lengerich hatte sich sein Zustand gebessert. Gebessert in dem Sinn, dass er in der Lage schien, sein tägliches Leben als Hartz-IV-Empfänger in einem betreuten Wohnprojekt in Münster-Kinderhaus zu bewältigen. Zum ersten Mal begegnet war sie ihm, als er auf dem Dach des Signal-Iduna-Hochhauses am Servatii-Platz in der Nähe des Hauptbahnhofs gestanden hatte, um sich in die Tiefe zu stürzen. Er leide vermutlich an einer Krankheit namens Lebensüberdruss, war die Diagnose gewesen, die er selbst später während ihres gemeinsamen Gesprächs gestellt hatte. Nicht gerade ein psychologisch anerkannter Fachterminus, aber in der Sache vollkommen zutreffend. Anna van der Pütten hatte ihn auch danach weiter therapeutisch begleitet. Auch wenn nicht mehr von einer akuten Suizid-Gefahr auszugehen war, so war Schmitt noch lange nicht über den Berg, zumal Anna auch noch eine Reihe weiterer Symptome und Krankheitsbilder an ihm diagnostiziert hatte, die zum Teil nur schwer einzuordnen waren und ein äußerst komplexes Gesamtbild ergaben. Dass er sich einbildete Branagorn von Elbara, ein Elbenkrieger aus einer anderen Welt zu sein, der auf magische Weise auf die Erde verschlagen worden war, war nur eine der zum Teil bizarren Persönlichkeitsmerkmale von Frank Schmitt.

Dazu gehörte auch, dass man leichter mit ihm kommunizieren konnte, wenn man ihn nicht mit 'Herr Schmitt' anredete, sondern akzeptierte, dass er Branagorn, der Elbenkrieger, war. So wie sie es auch mitunter tolerierte, dass er sie Cherenwen nannte, was vermutlich der Name einer offenbar verwandten Seele war. Jedenfalls hatte Anna das Gefühl, dass es in vielfacher Hinsicht einfacher geworden war, einen kommunikativen Zugang zu ihm zu finden. Und das rechtfertigte diese Vorgehensweise allemal. Das psychische System des Patienten verstehen – das war immer der erste Schritt. Aber nur der erste. Da musste noch einiges mehr folgen. Branagorn lebte anscheinend in seiner eigenen Realität und schien auch wenig geneigt zu sein, diese zu verlassen. Wahrscheinlich, so war es Anna schnell klar geworden, musste man einfach etwas bescheidener sein, was die erreichbaren Ziele anging. Wenn einer psychisch stabil genug war, um dem Wunsch, der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, nicht nachzugeben und im Alltag einigermaßen über die Runden zu kommen, war das vielleicht schon mehr, als man erhoffen konnte. Da konnte er zum Beispiel seine seltsame Ausdrucksweise ruhig beibehalten.

Branagorn machte einen Schritt auf Anna zu. „Cherenwen! Ihr seid Euch anscheinend nicht darüber im Klaren, dass Euch ein schlimmer Feind gerade entkommt! Der Mörder ist auf und davon und Ihr seht zu und hindert mich daran zu tun, was notwendig wäre!“

„Hallo, Kripo Münster“, mischte sich jetzt Sven Haller ein und zeigte Branagorn seine Polizeimarke.

Der Elbenkrieger wandte sich an den Leiter der Mordkommission und verzog das Gesicht, so als litte er unter starken Schmerzen. Mit der linken Hand fasste er sich ans Ohr, dass unter seinem langen Haar verborgen war. „Ihr braucht nicht so zu schreien“, sagte Branagorn. „Ich habe ein sehr feines Gehör. Eure Worte tun mir weh!“

„Ich bitte vielmals um Verzeihung“, knirschte Haller sichtlich genervt zwischen den Zähnen hindurch. „Sie haben gerade gesagt, dass Sie etwas über den Täter wissen, der für das furchtbare Verbrechen verantwortlich ist, das hier geschehen ist!“

„In der Gestalt eines Pest-Arztes ist er entkommen!“, antwortete Branagorn.

„Der Kerl, mit dem Sie gekämpft haben?“

„Ihr solltet ihn Traumhenker nennen, denn er wird Euch in Euren Albträumen wieder erscheinen, da bin ich mir ganz sicher!“

„Also Ihre Mittelalter- und Fantasy-Spielerei in allen Ehren, aber wenn Sie irgendeine Beobachtung gemacht haben, die mit dem Verbrechen in Zusammenhang steht, dann teilen Sie mir das jetzt bitte mit, Herr ...“

„Branagorn, Herzog von Elbara.“

Haller atmete tief durch. „Wie auch immer! Haben Sie gesehen, dass ...“ Haller deutete in Richtung der Toten, aber Branagorn war offensichtlich gedanklich mit etwas völlig anderem beschäftigt.

Raaben trat hinzu und flüsterte an Haller gerichtet: „Das ist ein Spinner, auf den sollten wir nichts geben.“

„Ich glaub auch“, murmelte Haller und wandte sich wiederum an Anna van der Pütten. „Verständigen Sie den Sozialpsychologischen Dienst?“

„Wie – in die Klapse?“, fragte Willi Ternieden ziemlich laut. „Kommt der jetzt einfach so davon? Herr Schmitt hat sich strafbar gemacht! Versuchte Körperverletzung und Bedrohung! Pardon, versuchte schwere Körperverletzung, schließlich ist eine Waffe verwendet worden!“

„Wenn Sie diesen Pest-Doktor hier irgendwo finden, steht einer Anzeige nichts im Wege“, meinte Raaben grinsend. Terniedens Blick glitt über die Menschenmenge. Die Suche nach dem Pest-Doktor hätte jetzt wohl der berühmten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen geglichen. „Allerdings weiß ich nicht, ob der wirklich Anzeige erstatten würde. Es schien ihm wichtiger zu sein, schnell abzuhauen!“

„Würden Sie nicht schnell zu türmen versuchen, wenn jemand mit einem Schwert hinter Ihnen her wäre?“, fragte Ternieden.

„Ja, das ist eine mögliche Erklärung dafür“, stimmte Raaben zu.

„Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass dieser Schwarze-Tod-Karnevalist der Barbier ist!“, ereiferte sich Ternieden.

Raaben zuckte mit den Schultern. „Voreilige Festlegungen sind der größte Feind eines erfolgreichen Ermittlungsabschlusses.“

Ternieden seufzte. „Zu unserer Zeit haben wir nicht gelernt, wie man so geschwollen redet. Ich weiß gar nicht, wie wir so unsere Arbeit schaffen konnten!“

Raaben wandte sich an Anna. „Da muss man doch kein Psychologe sein, um eine gewisse unterschwellige Aggressivität herauszuhören, oder?“

Anna kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn Haller ergriff nun das Wort. Ein Machtwort. „Lassen Sie alle nach einem Kerl Ausschau halten, der als Schwarzer Tod oder Pest-Doktor herumläuft. Ich will mir nicht nachsagen lassen, dass ich irgendeinen Hinweis nicht verfolgt hätte. Und was die Anzeige gegen Herrn Schmitt angeht, so leite ich Ihren Bericht und Ihre Anzeige gerne an den Staatsanwalt weiter, falls Sie von Amts wegen Anzeige erstatten wollen.“

„Was ist mit meinem Schwert?“, fragte Branagorn. Anna beobachtete schon eine ganze Weile, wie der bleiche Mann mit gesenktem Blick dastand, so als würde er intensiv den Boden absuchen. Sein Alter war schwer zu schätzen, fand Anna. Er konnte Ende zwanzig sein, aber manches an ihm wirkte seltsam greisenhaft und die pergamentartige, durchscheinende Haut trug ebenfalls zu diesem Eindruck bei. Außerdem war er sehr hager, was auch in einem Gesicht die Knochen hervorstehen ließ. Eigenartig, wenn ich nicht wüsste, dass in seinen Unterlagen ein Geburtsdatum stand, das ihn als gerade Dreißigjährigen auswies, so hätte Anna auch eine Angabe in den Fünfzigern ohne Verwunderung akzeptiert. Er selbst behauptete allerdings, bereits Jahrtausende lang gelebt zu haben – in dieser und anderen Welten. Elbenkrieger waren schließlich nahezu unsterblich.

„Ich brauche mein Schwert“, stellte Branagorn jetzt fest, machte einen Schritt auf die Leiche zu und schien dabei einen weiteren Quadratmeter grasbewachsenes Bodenareal der Telgter Planwiese systematisch mit den Augen abzusuchen. Dieses Mal fasste er seine Worte nicht in die Form einer Frage. Es war vielmehr eine unmissverständliche Forderung, die mit solchem Nachdruck über die Lippen gebracht wurde, dass Haller und Raaben aufhorchten. Ternieden machte hingegen nur eine wegwerfende Handbewegung, griff zum Walkie-Talkie und gab an die Kollegen eine kurze Beschreibung des Pest-Doktors durch.

„Ihr Schwert bleibt erst mal konfisziert“, erklärte Haller an Branagorn gerichtet.

„Mit welchem Recht?“, fragte Branagorn, ohne dabei den Blick vom Boden aufzurichten.

„Was heißt hier, mit welchem Recht?“

„Ein Schwert zählt juristisch nicht als Waffe“, erklärte Branagorn. „Rechtlich gesehen handelt es sich um ein stehendes Messer und für deren Besitz gibt es keinerlei Einschränkungen oder Meldepflichten, im Gegensatz zu Springmessern mit verdeckter Klinge, für die ab einer Klingenlänge von zehn Zentimetern gesonderte Bestimmungen gelten.“

„Sie rasseln das ja regelrecht herunter!“

„Ich habe mich informiert.“

„Hatten Sie schon mal Ärger wegen Ihres Schwertes – oder weshalb haben Sie das alles auf Abruf parat?“

Branagorn blickte jetzt auf. Er musterte Haller auf eine so intensive Weise, dass dies dem Kriminalhauptkommissar sichtlich unangenehm war. „Wollt Ihr Euch nun an die Gesetze halten und mir mein Eigentum zurückgeben?“

„Nein.“

„Ihr wollt das Gesetz vertreten und haltet Euch selbst nicht daran! Was für eine verderbte Welt! Was für ein schändliches Verhalten! Aber anstatt, dass Ihr das Böse sucht und findet, das in die Gestalt des Schwarzen Todes gefahren ist, quält Ihr jemanden, der reinen Herzens ist und so rechtschaffen, dass sich das Eure schmutzige Fantasie vermutlich gar nicht vorzustellen vermag!“

Raaben kicherte. „Tschuldigung, aber Sie haben wirklich eine seltsame Weise, sich auszudrücken.“ Er wandte sich an Haller. „Aber in der Sache hat er Recht!“

„Das Schwert bekommt er nicht wieder“, stellte Haller fest. „Und was das Juristische angeht, Herr Schmitt ...“

„Bitte Branagorn!“, bat der bleiche Mann. „Und im Übrigen beschwöre ich Euch! Bleibt bei den Buchstaben des Rechts, Herr, und überlasst mich nicht einer unkalkulierbaren Willkür! Denn wenn ich dem Traumhenker das nächste Mal begegne, so will ich es gut gerüstet tun!“

„Wie auch immer! Bei Großveranstaltungen ist es möglich, den Waffenbegriff etwas weiter auszulegen. Vor Fußballspielen sammeln wir auch alles Mögliche ein, was man ansonsten ohne Meldepflicht oder Genehmigung besitzen darf.“

„Und dieser Winkelzug soll rechtfertigen, dass Ihr mich um mein Eigentum bringt?“, brauste Branagorn auf und sein Gesichtsausdruck bekam eine Art wilder Entschlossenheit.

„Das ist kein Winkelzug, sondern unsere Gesetzeslage!“

„Ihr wollt das Entwenden eines Schwertes damit rechtfertigen, dass hier eine Großveranstaltung durchgeführt wird, auf der wiederum jeder zweite oder dritte Anwesende eine Klinge bei sich führt? Ihr wollt mich anscheinend für dumm verkaufen und verspottet mich!“

„Ich bin überzeugt davon, dass Sie Ihr Schwert nach Abschluss eines eventuellen Verfahrens - falls es dazu überhaupt kommen sollte – zurückerhalten werden, werter Branagorn“, mischte sich nun Anna van der Pütten ein, um die sich langsam aber sicher eskalierende Situation wieder etwas zu entspannen. Sie wandte sich an Haller und nickte ihm zu. „Nicht wahr, Herr Haller?“, fragte sie um Bestätigung heischend noch einmal nach, wobei sie in ihren Tonfall eine Art von Nachdruck legte, die dem Kriminalhauptkommissar bedeuten sollte, die Sache jetzt bitteschön endlich wieder etwas herunterzukochen. Haller seufzte.

„Ja, das kann ich Ihnen in der Tat hoch und heilig versprechen, Herr Schmitt, ich meine natürlich Herr Branagorn!“

Branagorns Blick bekam etwas Stieres. Er fixierte einen bestimmten Punkt am Boden. Anna glaubte zunächst, dies sei ein äußeres Zeichen der tiefen inneren Oppositionshaltung, die er Haller und den anderen Polizisten gegenüber zweifellos empfand. Auf jeden Fall stand hier ein Mensch, der bis ins innerste Mark empört darüber war, wie er behandelt wurde, und es offenbar einfach nicht nachvollziehen konnte, dass man ihn daran gehindert hatte, auf jemand anderen mit dem Schwert loszugehen. „Ich denke, wenn Sie Ihr Schwert ein paar Tage nicht zur Hand haben, werden Sie damit leben können, Branagorn.“

„Wenn Ihr das von mir verlangt, Cherenwen, dann werde ich es auf mich nehmen, ohne zu murren.“

„Da bin ich sehr froh!“

Branagorn streckte nun eine Hand aus und deutete auf einen bestimmten Punkt am Boden. „Dort sind Haare.“

Anna runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass sie im Moment gar nicht angesprochen worden war, sondern dass Branagorn seine Worte in Wahrheit an Sven Haller gerichtet hatte.

„Ich bin zwar kein Fährtensucher und es mag sicher andere geben, die sich auf die Kunst des Spurensuchens besser verstehen als ich, aber ich glaube, Ihr solltet diese Haare sichern, um daraus Eure Erkenntnisse herauszulesen, wie es bei Euch üblich ist, Herr Haller!“

„Ich sehe nichts!“, sagte Haller.

„Dann schaut genau hin. Es sind die Haare der Toten. Derjenige, der sie ihr abgenommen hat, scheint einige von ihnen verloren zu haben ...“ Branagorn folgte mit den Augen der Spur am Boden. „Hier sind ebenfalls Haare!“

Raaben hockte sich hin. Er hatte einen Latexhandschuh über die rechte Hand gestreift und blinzelte. Dann ging er auf die Knie, und beugte sich noch tiefer. „Da ist ja tatsächlich was!“, entfuhr es ihm. Er holte eine Pinzette und ein kleines Tütchen aus den Taschen seiner Lederjacke. Wenig später hielt er irgendetwas mit der Pinzette ins Licht. Anna konnte unmöglich erkennen, was es war.

„Das könnte wirklich ein Haar sein.“

„Fassen Sie nichts an!“, sagte Haller, als Branagorn sich der Toten bis auf wenige Schritte genähert hatte.

Branagorn deutete auf eine Stelle, etwa zwei Handbreit neben dem Kopf der Toten. „Hier ist ein Abdruck!“, stellte er fest.

Raaben war bei ihm.

„Da ist tatsächlich irgendetwas!“, wunderte er sich. „Könnten sogar Fingerabdrücke sein.“

„Vergesst die Fingerabdrücke“, fuhr Branagorn dazwischen. „Wenn Ihr die nehmt, dann zerstört Ihr die tatsächliche Spur.“

„Was sollte das bitteschön sein, wenn ich mal in aller Bescheidenheit fragen darf?“, warf Raaben mit einem halb spöttischen, halb ironischen Unterton ein.

„Die tatsächliche Spur besteht aus diesen Flecken hier!“

Er zeigte mit seinen dünnen, langen und sehr mager wirkenden Fingern auf das, was er meinte.

Raaben hob die Augenbrauen. „Ach, ja?“

„Es ist der Abdruck einer Hand, die sich hier kurz abgestützt hat!“

„Und warum sehen wir da keine Fingerabdrücke, deren Lage dazu passen würde?“

„Weil die Fingerabdrücke von den Leuten stammen, denen der Wagen gehört und schon vorher dort waren. Aber die anderen Abdrücke stammen von einer Hand, da bin ich mir sicher! Allerdings einer Hand, die von einem Handschuh bedeckt wurde. Deswegen ist es sinnlos, einen Abdruck finden zu wollen. Die kleinen unverwechselbaren Linien werdet Ihr nicht finden und daher auch nicht vergleichen können, werter Hüter der Ordnung!“

Raaben war ziemlich perplex.

Haller ebenfalls.

„Herr Schmitt hat anscheinend gute Augen“, stellte Raaben fest.

„Er stört trotzdem“, stellte Haller klar und wandte sich an Anna. „Frau van der Pütten, ich möchte, dass dieser Elbenkrieger hier verschwindet und uns unsere Arbeit machen lässt.“

„Ich sehe genau, was geschehen ist“, sagte Branagorn unterdessen. „Eine Person, die nicht größer als ein Meter siebzig ist, hat mit einem sehr scharfen Messer den Hals dieser Frau aufgeschlitzt. Es war eine einzige, von Wut erfüllte Bewegung, mit viel Kraft. Und sehr viel Hass. Dem Hass, den ein zuvor selbst zutiefst erniedrigstes Wesen empfindet oder jemand, der sich in höchster Lebensgefahr glaubt.“

„Branagorn!“, schritt Haller ein.

Aber der Elbenkrieger ließ sich nicht stoppen. Dass inzwischen der Gerichtsmediziner und ein Team der Spurensicherung eingetroffen waren, schien ihn nicht zu kümmern. Sein Blick wirkte glasig, so als würde er alles um sich herum ausblenden. Alles, bis auf ganz bestimmte Details, von denen er glaubte, dass sie eine Bedeutung hatten. Er sprach weiter, und Anna, die zuerst ebenfalls den Impuls in sich verspürte, ihn in seinem Redefluss zu stoppen, sagte dann doch kein Wort. Sie spürte eine eigenartige Faszination, die schwer zu erklären war. Branagorns Wortfluss entfaltete einen Sog, dem auch sie sich nicht entziehen konnte, auch wenn sie es eigentlich gewollt hätte. Es widerstrebte ihr zutiefst, sich einfach auf diese Straße aus reiner Fantasie entführen zu lassen. Ein schlüpfriger Regenbogen, der ins Nirwana führte und von dem man erwartete, dass er einen von jeglicher Erkenntnis entfernte. Aber eigenartigerweise hatte Anna genau das gegenteilige Gefühl – und vielleicht war es das, was sie am meisten verwirrte. Branagorn sprach über die Geschehnisse, die sich seiner Meinung nach hier zugetragen hatten so, als wäre er auf eine geheimnisvolle Weise in der Lage, sie zu sehen - nicht wie jemand, der lediglich eine begründete Hypothese aufstellte. Es schien ihm alles genauso klar vor Augen zu liegen, wie die Haare, die er am Boden gesehen hat oder der Handabdruck beziehungsweise das, was er dafür hielt. Das war ja noch keineswegs erwiesen. Genauso gut konnte wirklich alles nur Gerede sein, und Anna rief sich diese Möglichkeit ganz bewusst in Erinnerung.

„Das lange Messer, die Todessichel des Traumhenkers, wurde an der Kleidung abgewischt“, fuhr Branagorn fort. „Dreimal ist die Klinge am Stoff der Beingewandung entlanggestrichen worden und einmal an der Bluse, deren fließender Stoff das Blut nicht so leicht annimmt. Aber dennoch war dies der vierte Streich, denn das Gewehr war inzwischen schon fast zur Gänze gereinigt.“

„Gewehr?“, echote Raaben.

Branagorn drehte sich kurz um. „Ihr verzeiht, Unwissender. Ich vergaß, dass das Wort Gewehr innerhalb des letzten Jahrtausends eine Verarmung seiner Bedeutung hinnehmen musste und in dieser Zeit nicht mehr für jede Art der Bewaffnung von Messer bis zum Schwert oder einem explodierenden Handrohr steht, sondern nur noch für langläufige Schusswaffen verwendet wird.“

„Was Sie nicht sagen ...“

„Der Traumhenker hat vielerlei Gestalt. Diesmal ist er in eine Person gefahren, die sich befleckt sieht und die trotz ihrer grenzenlosen Wut die Schuld fühlen kann, die sie mit dem Blut an ihrem Messer abstreifen will, als hätte sie sich Kleider mit Staub besudelt.“ Er ließ aufmerksam den Blick schweifen. Die Augen der Gaffer, die sich in ziemlich großer Zahl versammelt hatten, hingen an Branagorn. Vielleicht war sich der eine oder andere sogar nicht hundertprozentig sicher, ob dies hier nicht vielleicht sogar Teil irgendeiner Vorstellung war, die im Rahmen des Mittelalter-Spektakels auf der Planwiese gegeben wurde. Anna entnahm das zumindest einigen Bemerkungen, die vorzugsweise von Leuten kamen, für die der schrecklich zugerichtete Leichnam aufgrund des Blickwinkels nicht zu sehen war. „Nicht mit dem Messer, sondern mit der Klinge eines Baders, die nicht länger ist als drei Finger!“

„Nennt man so etwas auf Deutsch nicht zufällig Rasierklinge?“, fragte Raaben spöttisch.

Branagorn ging nicht weiter darauf ein. „Man sieht an der Haut, wie die einzelnen Bahnen gezogen wurden. Die Klinge war sehr scharf. Der Traumhenker scheint ein Meister des Baderhandwerks gewesen zu sein! Kein Haar ist geblieben und er hat auch nur wenige verloren ...“ Er blickte plötzlich an sich herab und zuckte dabei förmlich zusammen. An seinem Ärmel schien er etwas entdeckt zu haben. Wenig später hatte er es in der Hand. Es war ein Haar – so schwarz und dick, dass es zu dem feinen und sehr hellen Haar dieses sonderbaren Mannes einfach nicht passte und daher auch nicht von ihm stammen konnte.

Branagorn wandte sich an Haller und hielt ihm das Haar hin. Er hielt es dabei mit Daumen und Zeigefinger. „Bewahrt dies auf, Hüter der Ordnung. Vielleicht gelingt es Euch, daraus mit der Magie Eurer Wissenschaft Erkenntnisse zu gewinnen.“

„Darf ich Sie daran erinnern, dass das Haar an Ihrer Kleidung war, Herr Schmitt!“

„Ich würde es bevorzugen, wenn Ihr mich Branagorn ...“

„Nein, diesen Mist mache ich nicht mit! Hier liegt eine Tote und da sollte das Spiel vorbei sein.“

„Wie auch immer – nehmt dieses Haar und untersucht es mit den Methoden, die Euch zur Verfügung stehen, Hüter der Ordnung, denn den meinen werdet Ihr gewiss misstrauen, so wie Ihr mir insgesamt recht argwöhnisch gegenübersteht!“

„Das kann man wohl sagen!“

„Dass dieses Haar an meiner Kleidung war, ist nicht verwunderlich! Der Totenhenker hat es dorthin übertragen, als ich mit ihm kämpfte. Ihr wart doch ein Zeuge dieses Geschehens, in dessen Verlauf mir mein Schwert genommen wurde!“

„Tun Sie ihm doch den Gefallen“, sagte Anna.

„Wenn Ihr Patient mir auch einen Gefallen tut, Frau van der Pütten! Er soll von hier verschwinden und sich augenblicklich aus dem markierten Bereich entfernen! Sofort!“

„Wenn Ihr Euer Versprechen haltet, so will ich Euch entgegenkommen“, versprach Branagorn.

Haller machte Raaben ein Zeichen mit der Hand. Daraufhin nahm Raaben das Haar an sich und tütete es fachgerecht ein, sodass man es einer Laboruntersuchung zuführen konnte.

Branagorn verneigte sich leicht. Dann schritt er davon.

Er drehte sich nicht noch einmal um. Mit einem etwas ungelenk wirkenden Sprung überwandt er das Flatterband. Seine Haare wehten dabei etwas zur Seite.

Anna sah in diesem Moment zum ersten Mal sein Ohr. Es lief spitz zu und wirkte irgendwie entstellt. Vielleicht die Folge eines Unfalls!, ging es ihr durch den Kopf. Dafür, dass es sich um das Ergebnis einer kosmetischen Operation handelte, war das Ergebnis einfach zu schlecht. Es gab Fälle, in denen sehr fantastische Rollenspieler, nicht nur im tägliche Leben als Ork, Teufel oder Vampir verkleidet waren, sondern sich zusätzlich noch chirurgisch-plastischen Eingriffen unterzogen, sich lange Zähne oder Implantate von Teufelshörnern einsetzen ließen. Eines stand jedenfalls für Anna fest. Das Werk eines Schönheitschirurgen war Branagorns Ohr auf gar keinen Fall!

„Herr Haller, entschuldigen Sie mich ...“

„Frau van der Pütten, lassen Sie diesen Spinner jetzt einfach laufen und unterstützen Sie mich hier! Bitte! Für Herrn Schmitt können Sie frühestens dann wieder etwas tun, wenn die Staatsanwaltschaft ihn von Amtswegen anklagt und Sie dann irgendein Papier aufsetzen können, das sich Gutachten schimpft und in dem diesem Verrückten dann bescheinigt wird, dass er nichts für die Dummheiten kann, die er begeht!“

Anna zögerte. Aber im nächsten Moment war Branagorn bereits in der Menge verschwunden. Sie ließ suchend den Blick umherschweifen, aber er war plötzlich nirgendwo mehr zu sehen.

„Er ist mein Patient“, sagte Anna schließlich.

„Aber nicht jetzt, Frau van der Pütten! Nicht jetzt! Denn jetzt brauche ich Sie hier! Und so lange verbannen Sie diesen Bekloppten bitte aus Ihren Gedanken. Meine Güte, man sollte mit dem Ritterspielen aufhören, wenn man älter als zehn ist, würde ich sagen! Alles andere ist doch krank!“

„Das nennt man LARP, Herr Haller.“

„Wie bitte?“

„Live-Acting Role-Playing. Sehen Sie sich um! Das ist heute nichts Ungewöhnliches!“


*


Anna ertappte sich dabei, dass sie immer wieder nach Branagorn Ausschau hielt. Sie fragte sich, ob sie ihn jetzt einfach so sich selbst überlassen konnte. Schließlich hatte er sich mit dem Pest-Arzt ja eine handfeste Auseinandersetzung geliefert, die um ein Haar ein schlimmes Ende hätte nehmen können.

Anna sah zu, wie der Gerichtsmediziner seine erste oberflächliche Begutachtung abschloss, gegenüber Haller die naheliegende Vermutung äußerte, dass tatsächlich der Kehlenschnitt die Todesursache war und wie dann der Leichnam in einen Zinksarg gelegt und abtransportiert wurde. Inzwischen war auch die Presse da. Nicht nur die örtliche, sondern auch Vertreter einer Boulevardzeitung, deren Logo auf seiner Tasche zu sehen war. Das lokale Fernsehen würde sicher auch nicht lange auf sich warten lassen. Vom Studio Münster des WDR aus war es schließlich auch nicht viel weiter, als wenn man die Fahrt nach Telgte am Friesenring begann.

Die Beamten der Spurensicherung machten sehr akribisch ihre Arbeit und inzwischen waren zusätzliche Beamte gekommen, die von Hauptkommissar Haller instruiert worden waren, die Personalien so vieler Besucher des Mittelalter-Marktes wie möglich aufzunehmen und sie danach zu fragen, ob sie vielleicht irgendwelche sachdienlichen Hinweise geben konnten, die Aufschluss über das Tatgeschehen geben konnten.

Wahrscheinlich würde es Wochen dauern, all diese Hinweise abzuarbeiten und dabei die Spreu vom Weizen zu trennen. Das war auch der Grund dafür, dass Sonderkommissionen, die direkt im Anschluss an ein Verbrechen eingerichtet wurden, zuerst unter Umständen mit über hundert Beamten besetzt waren und dann im Laufe der Zeit auf eine kleine Zahl von Ermittlern zusammenschmolzen.

Die Personalien aller Passanten auf dem Mittelalter-Markt aufzunehmen, war vermutlich nicht machbar. Schon jetzt strömten viele von ihnen zu den Parkplätzen, weswegen Willi Ternieden vorschlug, einige Beamte damit zu beauftragen, die Nummernschilder der dort parkenden Fahrzeuge zu notieren. Es konnte ja schließlich sein, dass man später auf einen möglichen Täter aufmerksam wurde und später Indizien dafür brauchte, dass er sich überhaupt am Tatort aufgehalten hatte.

Außerdem gab es eine Megafon-Durchsage, die alle aufrief, sich zu melden, die möglicherweise den Tathergang beobachtet hatten oder das Opfer kannten. „Wer von Ihnen kennt Jennifer Heinze aus Ladbergen? Falls sie nicht allein auf dem Mittelalter-Markt war, so sollten ihre Begleiter sich umgehend mit der Polizei in Verbindung setzen, denn jede Information kann der Aufklärung des Verbrechens dienen.“

Haller wandte sich an Anna van der Pütten.

„Tun Sie mir in Zukunft einen Gefallen, Frau van der Pütten!“

„Wenn es sich machen lässt!“

„Halten Sie mir diesen Irren in Zukunft vom Leib!“

„Wie kommen Sie darauf, dass er Sie noch mal ansprechen wird?“, fragte Anna.

Haller sah sie etwas verwundert an. „Hören Sie, dazu braucht man nicht Psychologie studiert zu haben, um das zu prognostizieren.“

„Ach, nein?“

„Der schien doch regelrecht besessen von diesem Geschehen hier zu sein und hat es anscheinend in seine Wahnvorstellungen integriert! Das ist nichts Besonderes. Bei viele Querulanten ist das der Fall. Die quälen einen dann oft sehr ausdauernd mit ihren angeblichen Hinweisen und wollen einem erklären, wie man zu arbeiten hat, wen man am besten verhaften sollte und so weiter!“

„Na, wenigstens glauben Sie nicht, dass er etwas mit dem Verbrechen zu tun hat.“

„Wir werden uns natürlich sein Schwert genau anschauen, aber wie es scheint, hat es nicht die richtige Form und ist auch viel zu stumpf, um die Tatwaffe gewesen zu sein. Ich will natürlich nicht den Laboruntersuchungen vorgreifen, aber ...“

„Sie haben ernsthaft vor, die Waffe einzuschicken?“

„Natürlich!“

Anna war ziemlich perplex. „Dann müssten Sie theoretisch alle Dolche und Messer und was es sonst noch an mittelalterlichen Hieb- und Stichwaffen zur Zeit auf der Planwiese so gibt, einsammeln und untersuchen! Da hätten Sie dann aber eine Waffenkammer zusammen, über die sich Barbarossa und Co. sicherlich gefreut hätten!“

„Verlassen Sie sich darauf, dass unsere Kollegen bei ihren Befragungen den Aspekt 'verdächtige Bewaffnung' durchaus im Auge haben“, stellte Haller klar.

„Na, da bin ich ja beruhigt.“

„Aber zurück zu dem, was hier geschehen ist! Es muss sehr schnell gegangen sein. Ein einziger Hieb und das Opfer sank zu Boden. Ich habe gerade mit den Spurensicherern gesprochen. Vermutlich wurde das Opfer in seine jetzige Position geschleift – ein oder zwei Meter weit.“

„Wir haben auf jeden Fall wieder eine neue Tötungsmethode“, stellte Anna fest. Die bisherigen Opfer dieser Serie waren entweder mit einem Jagdgewehr erschossen, mit einer Drahtschlinge erwürgt oder - wie vor einem halben Jahr das vorletzte Opfer – mit einem stumpfen, bisher nicht identifizierten Gegenstand erschlagen worden.

„Schließen Sie irgendetwas daraus?“, fragte Haller.

„Wenn es kein anderer Täter ist, der sich den Barbier zum Vorbild genommen hat, dann scheint er blutiger, brutaler, wütender zu werden. Mit einer Schusswaffe haben Sie eine große Distanz zwischen Täter und Opfer. Bei einer Drahtschlinge oder einer Keule sehen sie kein Blut. Der Tod kommt fast klinisch rein daher. Aber wenn Sie jemandem mit einem Messer die Kehle aufschlitzen, dann ist das schon eine sehr direkte Form der Konfrontation. Der Täter hat Jennifer Heinze direkt in die Augen geschaut, gesehen, wie der Schrecken in ihrem Gesicht stand, die Todesangst, das Entsetzen über den unmittelbar bevorstehenden Tod ...“

„Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen. Glauben Sie, er wollte das? Hat er es genau auf diese Eindrücke abgesehen?“

„Ja, das könnte sein. Er hat es diesmal auch in Kauf genommen, sich im wahrsten Sinn des Wortes mit Blut zu besudeln, denn bei dieser Mordmethode kann eigentlich niemand damit rechnen, ohne Blutspritzer davonzukommen.“

Haller nickte. „Das gilt selbst für Elitesoldaten und Schächter, die eigentlich gelernt haben, wie man mit einem Messer tötet.“

Schächter und Elitesoldaten – ein eigenartiger Zusammenhang, den Haller da ganz beiläufig und nur unter dem rein handwerklichen Aspekt betrachtet herstellte, fand Anna. Aber genau dieser in anderer Hinsicht gewiss etwas irritierende Vergleich setzte bei Anna einen Gedankenfluss in Gang. „Vielleicht war Branagorns Gedanke gar nicht so weit von dem entfernt, was ...“

„Kommen Sie mir nicht wieder mit dem Spinner! Ein paar Haare auf dem Boden zu finden ist keine Kunst! Was glauben Sie, wie viele Leute hier herumlaufen und andauernd Haare verlieren. Und abgesehen davon ...“

„Nein, das meine ich nicht“, widersprach Anna.

Haller hob die Augenbrauen. „Sondern? Was dann?“

„Ich war gedanklich immer noch bei dem vorhergehenden Aspekt. Das mit dem sich mit Blut besudeln. Wenn es wirklich derselbe Täter war, scheint er immer weniger Scheu gehabt zu haben.“

„Korrekt. Erst das Gewehr, dann die Drahtschlinge, zuletzt die Keule oder was es auch immer gewesen sein mag und nun eine richtige Sauerei!“

„Also jemand, der sich eigentlich nicht gerne die Hände oder irgendetwas anderes schmutzig macht. Warum hat er es jetzt aber in Kauf genommen? Vielleicht deswegen, weil er sich in irgendeiner Form davor geschützt hat!“

„Ich komme nicht ganz mit Ihrer Argumentation mit, Frau van der Pütten!“

„Verstehen Sie wirklich nicht? Der Pest-Arzt, mit dem Branagorn aneinandergeriet! Die Pest-Ärzte des Mittelalters haben diese Schnabelmasken getragen, um sich vor den Ausdünstungen der Kranken zu schützen – auch davor, dass sie mit hochinfektiösem und in der Regel mit Blut vermengten Speichel angespuckt wurden und sich dabei selbst infizierten.“

„Das ist doch an den Haaren herbeigezogen!“, glaubte Haller. „Verzeihen Sie diese Ausdrucksweise angesichts der besonderen Umstände dieses Verbrechens, bitte! Aber Sie können doch nicht im Ernst daraus schließen, dass der Täter hinter dieser Pest-Maske steckte und der edle Elbenritter namens Schmitt das natürlich mit seinen Argusaugen sofort erkannt hat und nichts anderes im Sinn hatte, als den Täter zu stellen – beziehungsweise einen Unhold mit dem Schwert zu enthaupten, wie dieser komische Vogel sich wahrscheinlich ausgedrückt hätte!“

„Es würde aber passen!“, beharrte Anna. „Das mit dem Pest-Doktor, meine ich! Es würde psychologisch und vom vermutlichen Tatgeschehen her zusammenpassen, das war alles, was ich dazu sagen wollte! Und keine Sorge, ich werde jetzt nicht versuchen, mit Hilfe irgendwelcher magischen Sprüche, unsere bisher reichlich dürftigen Erkenntnisse zur Täterpersönlichkeit noch etwas zu vermehren!“

„Das beruhigt mich, Frau van der Pütten!“, seufzte Haller.





Der Irre aus Münster

„Ey, guckst du komisch!“, rief einer der Jugendlichen, die vor dem Siebziger-Jahre-Wohnblock herumlungerten. Sie trugen tief hängende Hosen und ihre Kapuzen-Shirts hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit Branagorns Wams.

Brüningheide oder Kinderhaus-West hieß dieser Stadtteil von Münster, der seinem Image als sozialer Brennpunkt trotz aller amtlichen Anstrengungen nie wirklich entkommen war. In einem dieser Hochhäuser, die wie eine Zeitkapsel den Eindruck einer Satellitenstadt aus den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts bewahrten, wohnte Frank Schmitt alias Branagorn, Elbenkrieger aus dem Gefolge des Königs von Elbiana und Herzog von Elbara, den man auch Branagorn, den Suchenden nannte. Ein kleines Apartment, das abgesehen von Küche und Bad nur aus einem einzigen Raum bestand, hatte man ihm zugewiesen. Aber er fand, dass er schon schlechter gewohnt hatte. Immerhin war die Wohnung – anders, als eine, die er zuvor belegt hatte – frei von Schimmel. In dieser Hinsicht war er empfindlich. Er konnte Schimmel sofort in der Nase spüren und hasste alle intensiven Gerüche. Die Wohnung hatte Doppelglasscheiben, was bei Bauten dieser Jahrgänge nicht selbstverständlich war. Die waren immerhin ganz gut gegen Lärm, auch wenn sie eigentlich aus Energiesparerwägungen allgemeiner Standard geworden waren. Aber Branagorn war lärmempfindlich. Starke Gerüche und Lärm – diese Kombination war für ihn nur sehr schwer erträglich und deswegen ging er eigentlich auch jeglichen Menschenansammlungen aus dem Weg.

Umso mehr Überwindung hatte ihn der Besuch des Mittelalter-Marktes gekostet. Aber es hatte schließlich einen guten Grund gegeben, dort hinzugehen.

Der Traumhenker, sein alter Feind war dort gewesen. Er hatte es gespürt. Und nur deswegen hatte er sich unter all die Menschen gemischt, unter ihre schwer erträglichen Gerüche und ihr manchmal dröhnendes, manchmal schrilles Gerede, das von stampfender Musik untermalt wurde. Seine Sinne waren empfindlich. Er liebte die Stille, wie er sie manchmal in dem idyllisch gelegenen Gelände der westfälische Landesklinik für Psychiatrie im etwa vierzig Kilometer entfernten Lengerich genießen konnte.

Wenn er unter Leuten war, dann musste er sich willentlich gegen all die von außen auf ihn einströmenden Sinnesreize abschirmen. Und manchmal, so hatte er das Gefühl, überrollte ihn einfach diese Welle aus Geschrei und Gestank und er brach darunter vollkommen erschöpft zusammen.

„Ey, hörst du auch schwer?“, sprach der Typ im Kapuzen-Shirt ihn noch einmal an, obwohl Branagorn ihn zu ignorieren versucht hatte. „Redest nicht mit jedem, oder was? Guckst du echt eingebildet!“

Einige der jungen Männer lachten dröhnend. Die Mädchen kicherten. Es war nicht das erste Mal, dass Branagorn zum Ziel ihres Spottes wurde, was er für gewöhnlich mit Gleichmut ertrug.

„Ey, der ist so blass wie ein Vampir! Der sollte echt mal in die Sonne gehen!“, tönte der Kerl herum.

Branagorns Handy klingelte.

Er holte das Gerät unter seinem Wams hervor und nahm das Gespräch entgegen.

„Wer begehrt mit Hilfe des sprechenden Artefakts mit mir zu reden?“, fragte er.

„Die Zeichen auf Ihrem Display sollten es Ihnen eigentlich verraten haben, Branagorn“, sagte eine Frauenstimme. „Ich bin es, Anna van der Pütten – falls Sie meine Stimme noch immer nicht erkannt haben sollten!“

„Natürlich habe ich Eure Stimme erkannt, werte Cherenwen! Wie könnte ich sie je vergessen!“

„Ich wollte eigentlich nur wissen, ob Sie gut nach Hause gekommen sind.“

„Ich danke Euch für Eure Sorge, holde Cherenwen.“

„Sie waren ja recht aufgebracht auf dem Mittelalter-Markt in Telgte.“

„Die Gründe dafür sind Euch bekannt, obgleich ich den Eindruck habe, dass eine besondere Form der Einfalt Eure Seele zu schützen scheint.“

„Das ist wirklich eine sehr charmante Art und Weise, mir zu sagen, dass Sie mich für eine Idiotin halten, Branagorn.“

„Der Traumhenker ist unterwegs. Er ist aus der Starre seiner Untätigkeit erwacht und er wird wieder zuschlagen. Vielleicht in anderer Gestalt, vielleicht mit der Hilfe einer anderen, ihm verwandten und ebenso hasserfüllten und zynischen Seele. Es ist nicht die Frage, ob es geschieht, werte Cherenwen. Es ist nur die Frage, wann das sein wird.“ Er machte eine Pause, erreichte gerade die Tür des Wohnblocks und trat im nächsten Augenblick ins Innere. Manche der Postfächer quollen von Reklamesendungen über, so als hätten die Austeiler sich alle Mühe gegeben, hier so viel wie möglich von ihren Sonderangebotsprospekten loszuwerden. Die Wände waren mit Graffiti verschmiert. I SHIT ON YOU stand da in großen, kunstvoll verschnörkelten Buchstaben. Der Geruch von Urin und Erbrochenem hing in der Luft. Manchmal kam es vor, dass ein Betrunkener es nicht bis zu seiner Wohnung schaffte. Vor allem dann nicht, wenn der Aufzug defekt war, was sehr häufig vorkam.

Branagorn ging den Flur entlang, während er das Gespräch mit Anna van der Pütten fortsetzte.

„Ihr seid keine Idiotin“, widersprach er ihren letzten Worten. „Vielmehr seid Ihr eine reine Seele, die zu arglos ist, um zu erkennen, welche Gefahr droht! Und im Übrigen unterhalte ich mich gerne mit Euch, denn unsere Seelen sind verwandt.“

„Dann schlage ich vor, dass wir unsere Unterhaltung bei unserer nächsten Sitzung fortsetzen.“

„Die ist erst in drei Tagen!“

„Wie gesagt, ich wollte nur sichergehen, dass es Ihnen gut geht, Branagorn. Wir sehen uns am Dienstag.“

„Ihr braucht meine Hilfe schon vorher, Cherenwen. Der Traumhenker wird erneut Blut fließen lassen. Vielleicht schon sehr bald ...“

„Bis Dienstag, Branagorn“, beharrte Anna van der Pütten.

Das Gespräch war zu Ende. „Oh sprechendes Artefakt, wie jämmerlich, dass ein Zauber nur die Worte, aber nicht die Gedanken zu übertragen vermag. Ihr habt es nicht begriffen, wovor ich Euch warnen wollte“, murmelte Branagorn, während er noch auf das Display blickte, wo ihm angezeigt wurde, dass die Verbindung nicht mehr bestand.

Er hörte Schritte hinter sich.

„Ey, du hast schönes Handy!“, hörte er die Stimme des Kerls, der ihn schon draußen angesprochen hatte.

Branagorn blickte auf. Auf dem Kapuzen-Shirt seines Gegenübers stand das Wort DELIGHT - „Freude“ - in verschnörkelten Großbuchstaben. Es wirkte in diesem Moment wie ein ironischer Kommentar auf das Erscheinen dieses Kerls.

Er war einen halben Kopf größer als Branagorn und im Gegensatz zu dessen eher hageren Gestalt wirkte er sehr kräftig. An der Rechten trug er einen Schlagring. Branagorn war das sofort aufgefallen.

Der Kerl mit dem Delight-T-Shirt streckte die geöffnete Linke aus und sagte: „Gib es mir!“

Branagorn hatte einiges aus den Gesprächen mitbekommen. Zum Beispiel, dass die anderen ihn Taliban nannten, weil er im letzten Jahr versucht hatte, sich einen Bart wachsen zu lassen, was allerdings über ein relativ bescheidenes Endergebnis nicht hinausgekommen war. Der Spitzname war allerdings geblieben. Abgesehen davon war Taliban offenbar dafür bekannt, dass er von anderen die Herausgabe von Geld, Handys, Mp3-Playern oder anderen, als wertvoll angesehenen Dingen erpresste. In der Auswahl seiner Opfer war er nicht besonders wählerisch. Meistens waren es Altersgenossen, aber er beklaute auch Rentner, wenn er zu wenig Kleingeld in der Tasche hatte, um sich seinen Haschkonsum finanzieren zu können.

Jeder redete im Haus davon. Jeder wusste Bescheid, aber bislang hatte es noch niemand gewagt, etwas gegen Taliban zu unternehmen. Es hieß, dass er ein paar ihm treu ergebene Gefolgsleute hatte, die einem auch dann noch einen ungebetenen Besuch abstatten konnten, wenn er selbst verhindert war, weil er mal wieder eine der kleineren Strafen absitzen musste, zu denen er mehr oder weniger regelmäßig verurteilt wurde, wenn ihn die Polizei mal wieder nach einer Marihuana-Einkaufstour nach Holland mit frischer Ware erwischte.

Taliban hatte Branagorn bisher – sah man mal von seinen abfälligen Bemerkungen ab – in Ruhe gelassen. Offenbar war diese Schonzeit nun zu Ende. Vielleicht hatte er auch einfach bisher noch nicht gesehen, dass der Elbenkrieger ein Handy besaß.

„Ich sehe keinen Anlass, Euch mein Eigentum zu überlassen, werter Herr!“, erklärte Branagorn ruhig und machte keinerlei Anstalten, seinem Gegenüber das Mobiltelefon auszuhändigen.

„Ey, du laberst! Kannst du nicht Deutsch oder was?“

„Ich spreche viele Sprachen und Ihr scheint Euch in der Euren ein wenig vergriffen zu haben“, erwiderte Branagorn.

Taliban kniff die Augen zusammen, sodass sie zu schmalen Schlitzen wurden. Branagorn nahm einen Geruch wahr, der eine für sein olfaktorisches Feinempfinden äußerst anstrengende Mischung aus Schweiß, Marihuana und noch ein paar anderen Komponenten war. Was Letzteres betraf, so wollte der Elbenkrieger gar nicht so genau wissen, welche Anteile da im Einzelnen noch vorhanden waren. Er spürte so schon einen kaum zu unterdrückenden Brechreiz.

Taliban hob die geöffnete Hand und deutete auf die leere und mit Elbenrunen verzierte Lederscheide, die Branagorn an dem breiten Gürtel trug, der sein Wams zusammenhielt. „Hattest du nicht immer ein Schwert bei dir?“

„Heute nicht.“

„Wer hat es dir abgezogen?“

„Die Hüter der Ordnung.“

„Bullen? Arme Sau!“

„Verzeiht mir, werter Taliban, wenn ich das Gespräch mit Euch nicht fortzusetzen gedenke.“

Branagorn wollte einfach an Taliban vorbei in Richtung des Aufzugs gehen, aber der Kerl mit dem Delight-T-Shirt stellt sich ihm erneut entgegen. „Los, Handy her!“

„Ich werde Euch mein sprechendes Artefakt nicht geben!“

Taliban drängte Branagorn mit seiner schieren Körpermasse gegen die Wand. „Komm mir nicht dumm, du bleicher Arsch!“

Branagorn befreite sich mit einem kräftigen Stoß gegen die Schulter seines Gegenübers. Taliban ließ die Faust mit dem Schlagring nach vorne schnellen – genau auf Branagorns Kopf zu. Aber dieser wich mit einer Geschwindigkeit zur Seite, die man dem zerbrechlich wirkenden, blassen Mann kaum zutraute. Die Faust mit dem Schlagring krachte in die Wand. Der Schlagring hinterließ dort einen sehr charakteristischen Abdruck. Während Branagorn sich mit einem schnellen Schritt endgültig aus der Reichweite seines Gegners brachte, schrie Taliban laut auf und hielt sich die Hand.

„Verdammte Scheiße!“, rief er.

In diesem Moment passierten einige seiner Freunde, vor denen Taliban vor Kurzem noch seine große Show abgezogen hatte, die Außentür des Wohnblocks und betraten wenig später den Flur, der zu den Aufzügen führte.

Sie blieben stehen und wirkten einen Moment lang wie erstarrt.

„Ey, was ist passiert?“, fragte einer von ihnen.

Taliban wollte etwas sagen, konnte aber kein verständliches Wort herausbringen, weil ihm der Schmerz in der Hand wohl daran hinderte.

„Hat der dünne Mann dich geschlagen, oder was?“

„Scheiße!“

„Hätte nie gedacht, dass der Irre dich schafft, Alter!“

Talibans Gesicht lief dunkelrot an.

„Ich darf Euch versichern, dass es keinen Kampf gegeben hat“, erklärte nun Branagorn.

„Bin ausgerutscht! Mit Schlagring an der Hand!“, knurrte Taliban. „Ist scheiß glatt hier! Ey, ich sach dir, verklagen sollte man die Scheiß-Putzfrau! Und das Handy von dem Typ da ist auch echt arm! Voll Scheiße und billig! Wer will so'n Teil tragen ohne schämen?“

Für einen Moment trafen sich die Blicke von Branagorn und Taliban. Dann ging der Elbenkrieger den Flur entlang bis zu den Aufzügen. Es gab insgesamt drei davon – und nur an einem davon stand ein Schild mit der Aufschrift DEFEKT. Ein ach so seltenes Zeichen der Hoffnung in einer bösen Welt!, dachte der Elbenkrieger.


*


Branagorn fuhr hinauf in den zehnten Stock und erreichte schließlich eine Wohnungstür. F'ank S'hmit' stand da an der Tür. Drei Buchstaben waren nicht mehr zu lesen. Aber das bedeutete ihm nichts und er dachte auch nicht im Traum daran, dies in Ordnung zu bringen. Frank Schmitt wirkte auf ihn manchmal wie der Name eines Fremden, mit dem ihn nichts verband, außer der Tatsache, dass er ihn auf die Formulare schreiben musste, die ihn dazu berechtigten, alle möglichen staatlichen Hilfen in Anspruch zu nehmen. Aber ansonsten hatte dieser Name nicht das Geringste mit ihm tun. Nicht mit seiner Seele und dem, was im Innersten seine Persönlichkeit ausmachte.

Er trat in die außerordentlich spärlich eingerichtete Wohnung. Eine Matratze lag auf dem Boden, ein paar Kleidungsstücke sorgfältig aufgeschichtet in einer Ecke. Außerdem gab es ein Gestell aus Gusseisen, das eigentlich wohl mal als Ständer für ein Kaminbesteck gedient hatte.

In Branagorns Wohnung allerdings diente es als Waffenständer. Mehrere Schwerter und Rapiers unterschiedlicher Größe waren dort zu finden. Und es gab ein Regal mit Büchern. Es waren fast hundert.

Branagorn schnallte den Gürtel mit der leeren Schwertscheide ab und warf beides auf die Matratze. Dann schritt er zur Balkontür und trat ins Freie. Er schnüffelte zunächst vorsichtig und mit deutlich ablesbarem Misstrauen in den Gesichtszügen, so als wollte er keinen zu kräftigen Atemzug nehmen, ehe er nicht überprüft hatte, ob die Geruchsqualität der Luft einigermaßen erträglich war. Erträglich – nicht etwa gut oder hervorragend.

Je nachdem, wie der Wind stand und welche Industrieanlage in Münster gerade welche Gerüche seinem Balkon entgegenwehte, konnte die Qualitätsbeurteilung ganz unterschiedlich ausfallen.

Branagorn wagte nun einen etwas kräftigeren Atemzug und ließ den Blick über das von Hochhausbauten geprägte Kinderhaus schweifen. Von hier aus konnte man sogar das Signal-Iduna-Hochhaus mitten in der Stadt und die Lambertikirche sehen.

Hier irgendwo, in diesen Straßen, zwischen diesen Häusern und in diesem Land bist du also, Traumhenker!, ging es ihm durch den Kopf. Du hast es darauf angelegt, dich mit mir zu messen! Nun gut, du sollst dein Duell haben! Ich, Herzog von Elbara und treuester unter den Gefolgsmännern des Königs von Elbiana, bin dazu bereit! Du wirst mir nicht entkommen, Bringer des Übels und Verderber der Seelen!

Und während Branagorns dürre Hände um die Balkonbrüstung fassten, schloss er die Augen und lauschte. Irgendwo da draußen schlug jetzt das Herz einer Mörderseele etwas schneller, weil sie genau wusste, was er getan hatte und dass es dafür keine Vergebung geben konnte.

„Du wirst mir nicht entkommen, Traumhenker“, murmelte Branagorn und es klang wie ein sehr feierliches Versprechen.




Letzte Ausfahrt Ladbergen

Haller fuhr für Annas Geschmack ziemlich schnell. Hansalinie hatte man die A1 früher genannt, und sie durchschnitt das Münsterland wie ein gebogener Dorn und hatte außer einigen tausend Unfalltoten auch ein paar kleinere Baggerseen hinterlassen, wie zum Beispiel die Buddenkuhle in Ladbergen.

Haller nahm die Ausfahrt.

„Sie haben gar nicht Ihr Navi eingeschaltet“, stellte Anna fest.

„Brauche ich nicht. Ich komme von hier.“

„Aus Ladbergen?“, fragte sie und betonte dabei das Wort auf der vorletzten Silbe.

„Nein, aus Ladbergen“, widersprach Haller und betonte die erste Silbe. „Allein an der Aussprache hört man schon, dass Sie nicht aus Ladbergen kommen.“

„Das sind eben die kleinen Unterschiede!“

„Na ja, streng genommen bin ich auch ein Zugezogener. Meine Eltern haben hier in den Siebzigern gebaut, weil das Land so billig war. Und ganz ehrlich: Zuerst haben wir auch Ladbergen gesagt!“

„Na, da bin ich ja beruhigt!“

„Im Übrigen sind die Auswärtigen schon seit langem in der Mehrheit.“

„Na ja, Ladbergen war für mich bisher immer nur eine Ausfahrt an der Autobahn, wenn ich zwischendurch mal in den westfälischen Landeskliniken in Lengerich zu tun hatte“, meinte Anna. „Ist ja vielleicht auch nicht gerade eine Weltstadt!“

„Sagen Sie so etwas nicht! Nicht über die Heimat von Neil Armstrong!“

„Wie bitte?“

„Ja, wussten Sie das nicht? Die Vorfahren von Neil Armstrong, dem ersten Menschen auf dem Mond, stammen aus Ladbergen. Ich habe in der Schule neben jemandem gesessen, der mit Armstrong verwandt war. Etwas weitläufig natürlich.“

„Dann dürft hier ja einiges los gewesen sein, als Armstrong vom kleinen Schritt für einen Menschen und vom großen für die Menschheit gesprochen hat und einen Fußabdruck hinterließ!“

„Und Sie denken, dass ich alt genug sein müsste, um das noch erlebt zu haben?“

„Haben Sie nicht?“

Haller erreichte die Kreuzung und bog von der Saerbecker Straße in die Lengericher Straße, vorbei an einer Tankstelle auf der rechten Seite.

„Ich war vier!“, sagte Haller. „Und wir sind erst ein Jahr später hierhergezogen.“

„Dann haben Sie das verpasst!“

„Nein. Mein Freund in der Schule sagte, dass gar nichts los gewesen sei, als Neil Armstrong den Mond betrat.“

„Ach!“

„Es war Schützenfest! Und das war wichtiger! Überall haben sich die Leute die Mondlandung im Fernsehen angesehen. Mein Vater hatte extra einen Bunt-Fernseher gekauft. Eine Riesenkiste! Nur in Ladbergen-Wester hat niemand hingesehen, denn was ist schon eine Mondlandung, wenn man zum Schützenfest gehen kann!“

Anna lachte. Und Haller, der sonst eher verkniffen dreinsah, lächelte zumindest kurz.

Vielleicht reden wir nur so viel, weil wir uns von der äußerst unangenehmen Aufgabe ablenken wollen, die vor uns liegt!, dachte Anna. Es war niemals Routine, den Angehörigen eines Mordopfers zu begegnen. Für keinen Polizisten und auch auch nicht für jemanden, der Psychologie studiert hatte. Es gab eben einfach Situationen, da hatte jegliches Bemühen um professionelle Distanz ihre Grenzen.

Haller bog noch mal ein und anschließend ein weiteres Mal. Anna hatte längst die Orientierung verloren. Sie befanden sich in einer Siedlung mit schmucken Einfamilienhäusern. Alle rot verklinkert mit grauweißen Fugen. Für architektonische Firlefanz boten die strengen Bauvorschriften keinen Platz.

Schließlich bemerkte Anna das Schild mit der Aufschrift 'Lerchenweg'. Vor einem der rot verklinkerten Bungalows stellte Haller den Wagen ab. „Hier ist es“, sagte er knapp.

„Tja ...“

„Zum Glück war schon ein Kollege hier und hat den Eltern von Jennifer Heinze die traurige Nachricht überbracht.“

„Das heißt keineswegs, dass für uns die Aufgabe jetzt angenehmer wird“, wandte Anna ein.

„Stimmt“, musste Haller zugeben. „Für einen Sonntag Vormittag kann ich mir wirklich Angenehmeres vorstellen, als mit den Eltern eines Mordopfers unangenehme Fragen zu erörtern.“

„Es wundert mich, dass sich bisher niemand gemeldet hat, der mit ihr zusammen auf dem Mittelalter-Markt in Telgte war“, sagte Anna. „Wir haben doch auch keinen Wagen gefunden, der zu dem Schlüssel passt, den sie bei sich trug!“

„Das mit dem Wagen wundert mich auch“, sagte Haller. „Aber wieso sollte sie nicht alleine zu dem Markt gefahren sein?“

„Weil die meisten, die ich da gesehen haben, eindeutig in Gruppen gekommen waren. Man verkleidet sich, geht zusammen über den Markt, kauft sich ein paar Sachen, die man unbedingt glaubt haben zu müssen und die das eigene Mittelalter-Feeling etwas auf Vordermann bringen ...“

„Jennifer Heinze war nicht verkleidet“, stellte Haller klar. „Sie trug ganz normale Straßensachen. Nicht wie Ihr spezieller Elbenfreund zum Beispiel!“

Sie stiegen aus.

Wenig später standen sie vor der Haustür. Haller klingelte. Ein Mann mit Halbglatze machte auf. „Haller, Kripo Münster. Dies ist unsere Psychologin, Frau ...“

„Meine Frau und ich trauern, aber wir sind nicht bekloppt und es gibt bei uns in Ladbergen nicht mal einen Kirchturm, der wirklich hoch genug, um sich mit gutem Gewissen zu Tode stürzen zu können. Also machen Sie sich keine Sorgen!“

„... ich wollte sagen, dies ist Frau van der Pütten und wir würden Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen. Sie sind Herr Heinze, nehme ich an.“

„Nehmen Sie richtig an.“

„Dürfen wir hereinkommen?“, fragte Anna.

Herr Heinze atmete tief durch. Es hörte sich an, als würde er unter einer Zentnerlast ächzen. Und wahrscheinlich war ihm auch genauso zumute.

„Kommen Sie“, murmelte er. „Aber dass meine Frau in der Verfassung wäre, mit Ihnen zu reden, kann ich Ihnen nicht versprechen!“


*


Herr Heinze führte sie in ein weitläufiges Wohnzimmer mit dicken, lederbezogenen Sesseln und Perserteppichen auf Parkett.

„Setzen Sie sich“, sagte er. „Ich komme gleich wieder. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“

„Nein, danke“, sagte Haller.

„Mir auch nichts“, ergänzte Anna.

„Ich habe nur Kaffee da. Oder einen Korn. Den habe ich erst mal gebraucht, als Ihre Kollegen hier waren und uns gesagt haben, was mit ...“ Herr Heinze sprach nicht weiter. Er schluckte und sein Gesicht wurde dunkelrot.

„Es ist schon gut, Herr Heinze. Machen Sie sich um unser Wohl keine Gedanken“, sagte Anna. „Sie stehen jetzt im Mittelpunkt. Und Sie haben alles Recht dazu, zu trauern und eine Weile in erster Linie an sich selbst zu denken.“

Er warf Anna einen kurzen Blick zu und nickte stumm.

Herr Heinze ging hinaus, verschwand durch eine Tür in einem anderen Raum und kehrte nach ein paar Augenblicken zurück. „Entschuldigen Sie, wenn meine Frau heute nicht mit Ihnen reden möchte. Sie schafft das einfach nicht und ist völlig am Ende.“

„Vielleicht kann ich ihr helfen“, sagte Anna.

Herr Heinze schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte er mit einem Tonfall, der an den Klang von klirrendem Eis erinnerte. „Das können Sie nicht!“ Er setzte sich. Sein Blick wirkte sehr nachdenklich. Er sah zwar in Hallers Richtung, schien aber durch ihn hindurchzusehen, so als wäre der Kriminalhauptkommissar gar nicht da.

„Herr Heinze, wir haben bei Ihrer Tochter einen Wagenschlüssel gefunden. Aber keines der Fahrzeuge, die wir auf dem Parkplatz an der Planwiese in Telgte gefunden haben, passte zum Schlüssel.“

„Sie hat einen Smart. Den haben wir ihr geschenkt. Ich glaube, das war nach ihrer bestandenen Prüfung, die sie zur Bankkauffrau gemacht hat. Sie war immer eher fleißig und hat alles mit Bestnoten hinter sich gebracht.“

„Farbe und Kennzeichen?“

„Gelb“, sagte Herr Heinze. „Und was das Kennzeichen angeht, schaue ich mal in meinen Unterlagen nach. Auswendig weiß ich das nicht. Wissen Sie, der Smart ist nämlich als Zweitwagen auf mich zugelassen. Wegen der Versicherung. Wenn man jung ist und ein Auto haben will, bezahlt man sich ja dumm und dämlich ...“ Er seufzte. „Sechsundzwanzig Jahre! Ist eigentlich kein Alter zum Sterben, oder?“

„Nein“, sagte Haller.

„Glauben Sie, dass Sie den Verrückten kriegen, der ihr ... so was ... angetan hat?“

„Wir tun unser Bestes, Herr Heinze. Darauf können Sie sich verlassen.“

„Ihr Kollege, der hier war, um uns die Nachricht zu überbringen, hat gesagt, dass man ihr die Haare abgeschnitten hat. Stimmt das?“

„Ja.“

„Dann ist es vielleicht der Irre, der schon ein paar mal hier in der Gegend zugeschlagen hat, oder? Die Zeitungen waren doch voll davon. Der Frisör oder so ähnlich.“

„Barbier. Aber das ist nur ein anderes Wort.“

„Wie lange ist es her, dass dieser Verrückte die erste Frau umgebracht hat?“

„Sieben Jahre.“

„Und Sie haben, wenn Sie mal ehrlich sind, immer noch keine richtige Spur, hab ich recht?“

Haller schwieg. Natürlich hatte er recht. Auch wenn es schwerfiel, das einzugestehen, aber genau so war es. Haller wusste das – und Anna wusste, dass Haller sie niemals hinzugezogen hätte, wenn er in der Lage gewesen wäre, in dem Fall mit herkömmlichen polizeilichen Methoden voranzukommen. Aber bisher gab es nur Fragen. Und keine Antworten.„Herr Heinze, ich weiß, dass das fast zu viel verlangt ist, aber wir brauchen Ihre Hilfe“, mischte sich Anna nun ein. „Je mehr wir über Ihre Tochter wissen, desto eher finden wir vielleicht irgendeinen Ansatzpunkt für unsere Ermittlungen.“

„Fragen Sie“, sagte Heinze. „Ich halte das schon aus. Es hat ja keinen Sinn. Irgendwie muss es ja weitergehen, auch wenn ich mir im Moment nicht so richtig vorstellen kann, wie. Wissen Sie, in dem Alter, in dem meine Tochter war, habe ich längst nicht mehr zu Hause gewohnt, und ich habe mich schon gefragt, ob irgendwas mit ihr nicht in Ordnung wäre. Sechsundzwanzig und noch zu Hause! Aber das scheint heute ganz normal zu sein. Ist ja auch am bequemsten. Ich habe immer mal wieder versucht, Jennifer dazu zu bringen, sich langsam ein eigenes Nest zu bauen. Schließlich hat sie einen guten Job und auch wenn ich von ihrem Freund nicht gerade besonders viel halte ... Na ja, wie auch immer. Jetzt würde ich mir wünschen, sie würde noch jahrelang bei uns wohnen!“

„Sie erwähnten einen Freund ...“, hakte Anna ein.

„Ja. Timothy.“

„Und wie weiter?“

„Timothy Winkelströter. Läuft immer herum wie so eine finstere Nachtgestalt oder so. Bleich geschminkt und an den Fingern trägt er so Ringe mit Totenschädeln und so ein Zeug.“

„Trägt er zufälligerweise auch ein Schwert?“, fragte Haller.

Herr Heinze hob die Augenbrauen.

„Manchmal. Kennen Sie ihn etwa?“

„Nein.“

„Hätte mich nicht gewundert, wenn der einschlägig wegen irgendwas vorbestraft wäre!“

„Am besten Sie geben uns einfach die Adresse“, sagte Haller.

„Ich weiß nur, dass er in Kattenvenne wohnt. Ehrlich gesagt habe ich immer gehofft, dass es mit dem Typen möglichst schnell aus ist und vor einer Woche schien es tatsächlich so zu sein. Die beiden hatte anscheinend Schluss gemacht. Nur schien unsere Jennifer darüber alles andere als glücklich zu sein.“

„Wir werden dieser Spur mal nachgehen“, versprach Haller. „Wir müssen von Ihnen jetzt noch ein paar Einzelheiten wissen. Wann genau ist Jennifer am Samstag nach Telgte gefahren? Und mit wem?“

„Das war gegen elf am Morgen. Sie ist in den Smart gestiegen und losgefahren. Sonst war da nichts. Tschüss Papa - und das war's.“

„Sie war also allein?“

„Ja.“

„Kann es sein, dass sie sich mit Freunden getroffen hat, dort den Wagen abstellte und sie dann gemeinsam weitergefahren sind?“

„Wäre möglich. Aber dazu kann ich ehrlich gesagt nichts sagen.“

„Wir würden uns gerne das Zimmer ihrer Tochter ansehen.“

„Zimmer?“ Herr Heinze hob die Augenbrauen. „Es sind insgesamt drei Zimmer, die sie bewohnt hat. Natürlich können Sie sich dort umsehen, wenn Sie meinen, dass Ihnen das irgendwie weiterhilft.“


*


Herr Heinze brachte brachte Sven Haller und Anna van der Pütten ins Dachgeschoss, das wohl komplett von Jennifer Heinze bewohnt worden war. Die Dachneigung ließ einen Ausbau gerade noch zu. Licht fiel durch große Dachfenster. Man konnte dem Zug der Wolken zusehen.

Herr Heinze stand erst etwas verlegen herum und meinte dann, er wollte mal nach seiner Frau sehen.

„Tun Sie das ruhig, wir kommen schon zurecht“, ermutigte ihn Anna.

„Gut“, sagte er so knapp und hölzern, wie es wohl ohnehin seiner Art entsprach. Aber diese etwas knorrige Fassade half ihm vielleicht im wahrsten Sinn des Wortes das Gesicht zu wahren.

Anna sah sich um. Zu den ersten Dingen, die ihr auffielen, gehörte ein Plakat. Es warb für ein Konzert der Mittelalter-Rockband Schandmaul, das vor sieben Jahren in der Jovel Music Hall in Münster stattgefunden hatte.

„Sie war dort“, murmelte Anna.

„Was?“, fragte Haller und sah zu ihr herüber, während er in Jennifer Heinzes Kleiderschrank sah, in dem es einige Gewänder gab, die gut auf den Markt in Telgte gepasst hätten.

„Jennifer Heinze war auf dem Schandmaul-Konzert vor sieben Jahren. Wurde nicht in der Damentoilette der alten Jovel Music Hall an der Grevener Straße damals das zweite Opfer des Barbiers gefunden – oder habe ich das falsch in Erinnerung?“

„Nein, das stimmt. Opfer Nummer eins ist ein halbes Jahr vorher durch ein Jagdgewehr umgekommen. Die Tote im Jovel war Nummer zwei, dann hat sich der Täter erst mal eine Pause von zwei Jahren gegönnt, ehe er wieder zuschlug ...“

Haller runzelte die Stirn und sah sich das Plakat interessiert an. Das Plakat war sogar von den Musikern mit Autogrammen versehen worden. „Stimmt, sie ist zur Tatzeit am Tatort Nummer zwei gewesen, das verbindet sie mit Franka Schröerlücke, dem zweiten Opfer. Es sei denn, Jennifer hat dieses Plakat auf einem Flohmarkt gekauft.“

„Glaube ich nicht.“

„Ich auch nicht, Frau van der Pütten. Seltsam ist auch Folgendes: Jennifer hatte den Schrank voller 'Gewandungen für die Maid', wie man sie in diversen und einschlägigen Internet-Shops kaufen kann, wenn man das Bedürfnis hat, als Erwachsene noch Burgfräulein zu spielen ...“

„Ah, ich merke, Sie haben inzwischen zum Thema recherchiert!“

„Ein paar Klicks im Netz nenne ich noch keine Recherche.“

„Besser als nichts!“

„Was ich sagen wollte, ist: Wieso hat Sie von dem Plunder nichts angezogen, als sie nach Telgte fuhr? Ich meine, wenn es einen passenden Ort gegeben hätte, um die Sachen zu tragen, dann doch wohl dort, oder irre ich mich?“

Anna zuckte mit den Schultern. „Das Plakat ist sieben Jahre alt. Sie war offenbar schon damals mit der Mittelalter-Szene verbunden. Aber manchmal ändert sich der Geschmack oder das Leben oder beides.“

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Na ja, inzwischen wurde Jennifer Bankkauffrau, lief wahrscheinlich in gediegener Businesskleidung herum und trug Faltenrock und Bluse anstatt 'Gewandung'. Manchmal versucht man, sich von der Allgemeinheit erst abzuheben und findet das dann später mehr und mehr überflüssig, kann sich aber von den Accessoires der Protestphase trotzdem nicht trennen.“

„So wie die alten Opas in ihren Easy-Rider-Lederjacken, die man manchmal sieht“

„Genau. Das ist natürlich alles nur Spekulation. Wir können Jennifer Heinze ja leider nicht mehr fragen.“

Haller wühlte etwas in dem Kleiderschrank herum, räumte mit einer weit ausholenden Bewegung einen Großteil der langen, bis zum Boden reichenden Kleider und Mäntel zur Seite und was dann zum Vorschein kam, ließ sie beide staunen.

Haller bückte sich und hob eine Maske nach Art eines mittelalterlichen Pest-Arztes hoch.

„Der Schwarze Tod scheint uns wirklich zu verfolgen“, stellte Haller mit galligem Unterton fest.




Der Freak aus Kattenvenne

Als Anna van der Pütten und Sven Haller bei den Heinzes in Ladbergen fertig waren, fuhren sie nach Kattenvenne, um mit Timothy Winkelströter zu sprechen. Die Adresse herauszufinden, war nicht allzu schwierig. Haller brauchte dazu noch nicht einmal im Polizeipräsidium in Münster anzurufen, um seine Kollegen zu bitten, das zu ermitteln. Er hatte sein Laptop dabei, ging damit über einen Stick ins Internet und hatte die Adresse wenig später ermittelt.

Timothy Winkelströter wohnte in einer Einliegerwohnung, die in einem zweistöckigen Haus mit Walmdach lag. Das Haus schätzte Haller auf gut hundert Jahre, auch wenn es gut in Schuss war. Es hatte einige kleine Erker und die Wände waren von wildem Wein überwuchert. Im Zeitalter der roten Verklinkerung hätte der Bauherr wohl niemals die Genehmigung für den Bau dieses Hauses bekommen, insofern verdankte es seine Errichtung der Gnade des frühen Baubeginns.

Winkelströter war allerdings offenbar nicht zu Hause. Auf das Klingeln an seinem Schild reagierte auch nach dem fünfzehnten Mal niemand.

Stattdessen öffnete der im Haus wohnende Vermieter die Tür.

„Der ist nicht da“, sagte er.

„Kripo Münster. Wir wollen zu Herrn Winkelströter.“

„Hab ich kapiert!“, sagte der Mann. Er war von mittlerem Alter und trug ein kariertes Hemd, das ihm vielleicht vor zwanzig Jahren mal gepasst hatte, dessen Knöpfe jetzt aber zum zerreißen gespannt waren. „Iss abba nich da!“

„Ist das Ihr Haus?“

„Jooo.“

„Wann kommt Herr Winkelströter denn zurück?“

„Weiß nich.“

„Heute noch?“

„Kann sein. Kann auch nich sein. Immer unterwegs. Hatten Geländewagen – fallse ihn verfolgen wollen.“

„So dringend ist es auch nicht. Aber vielleicht rufen Sie uns an, sobald er auftaucht – oder noch besser: Sie sagen ihm, dass er sich dringend bei uns melden soll!“

Haller gab ihm seine Karte.

Der sah mit einem Stirnrunzeln darauf.

„Kannnixsehen“, sagte er, so als würde der ganze Satz nur aus einem einzigen Wort bestehen. „Keine Brille.“

„Schon gut“ murmelte Haller resignierend. Er warf Anna einen Blick zu, der zu sagen schien: Ja, so steht es wirklich mit der berühmt-berüchtigten Mithilfe der Bevölkerung.

„Sachihmabbabescheid“, versprach der Hauseigentümer, dessen Name dem Schild an der Tür zufolge Möller war.

„Danke, sehr nett von Ihnen“, meinte Haller.

Als sie zum Wagen zurückgingen verdrehte er die Augen.


*


Anna van der Pütten gähnte. Es war Sonntagabend. Sie befand sich in einem der Konferenzräume des Münsteraner Polizeipräsidiums, der zum Lagezentrum umfunktioniert worden war.

„Will jemand noch Kaffee. Sonst nehme ich den Rest!“, meldete sich Raaben zu Wort. Haller antwortet nicht. Er schien in seine Gedanken vertieft zu sein. Schon seit einer ganzen Weile starrte er auf die zahllosen Fotos, die am Tatort gemacht worden waren. Auf dem Großbildschirm waren sie in aller Deutlichkeit und mit vielen Details zu sehen, die man ohne die vorliegende immense Vergrößerung gar nicht bemerkt hätte.

Das Telefon klingelte. Eine Kollegin, deren Namen Anna bisher nicht kannte, ging dran. „Wenden Sie sich doch bitte an die Pressestelle“, sagte sie freundlich aber bestimmt. „Nein, ich kann Ihnen leider keine Auskünfte geben.“ Es folgte noch eine Bekräftigung in Form eines „Wirklich nicht!“ und ein ziemlich gereiztes „Bitte!“. Sie wandte sich an Haller.

„Ich frage mich, woher die diese Nummer haben!“

„Ich habe es aufgegeben, mich noch über irgendetwas zu wundern“, meinte Haller. „Auf der Leitung, die frei bleiben soll, ruft die Presse an und die Nummern, auf denen Hinweise eingehen sollten, kommt jede Menge Müll, aber nichts Brauchbares!“

Die Tür ging auf. Markus Friedrichs von der Spurensicherung trat ein. Anna kannte ihn. Er war an dem Tatort auf der Planwiese gewesen und hatte sich auch bereits an den Ermittlungen bei den vorangegangenen Morden des sogenannten Barbiers beteiligt. Dunkles Haar, glattes Gesicht und eine Brille, die irgendwie nie wirklich dort zu sitzen schien, wo sie hingehörte. Vielleicht lag das daran, dass die wenig markante Nase dafür einfach nicht den rechten Halt bot. Man konnte Friedrichs für Mitte zwanzig halten, wenn man übersah, dass sich an den Schläfen und im Nacken bereits erste graue Strähnen zeigten. Jemand, der mit vierzig immer noch so aussah, als hätte Mutti ihm die Sachen zum Anziehen rausgelegt und für den es kein höheres Ziel gab, als mit größtmöglicher Akribie seine Arbeit zu machen.

Während sich unter den Polizisten alle anderen duzten, war Friedrichs der Einzige, der alle siezte und auch von allen gesiezt wurde. In diesem Sinn gehörte er nicht wirklich dazu, dachte Anna – und das hatte Friedrichs mit ihr gemeinsam. Aber der Unterschied war, dass sie wirklich nicht dazugehörte – Friedrichs aber eigentlich längst hätte dazugehören müssen, es aber offenbar nicht wollte.

„Ich muss Ihnen was zeigen“, sagte Friedrichs und legte den vergrößerten Computerausdruck eines Tatortfotos auf Hallers Tisch.

Anna erkannte sofort, worum es ging. Es zeigte die Flecken am Anhänger-Aufbau, die nach Branagorns Ansicht zusammengenommen einen Handabdruck ergaben.

„Was soll das?“, fragte Haller.

„Sehen Sie sich das hier an!“ Friedrich legte einen weiteren Ausdruck vor Haller auf den Tisch. „Es handelt sich um einen ähnlichen Abdruck. Der Fotoausschnitt ist sieben Jahre alt und stammt aus der Damentoilette der alten Jovel Music Hall an der Grevener Straße vom Tag des Schandmaul-Konzerts!“

„Dort wurde Franka Schröerlücke, das zweite Opfer des Barbiers, gefunden!“, entfuhr es Haller.

„Es ist ein Ausschnitt eines Tatortfotos, allerdings hat man diese Spur damals nicht zuordnen können und auch nicht richtig gesichert. Die Ausdrucke entsprechen übrigens dem Maßstab eins zu eins. Ich habe jetzt genaue Messungen durchgeführt und mit einer neuen Vergleichssoftware für isometrische Daten gearbeitet.“

„Und mit welche Ergebnis?“, fragte Haller.

„Also, wenn es eine Hand ist, dann vermutlich dieselbe. Und es dürfte auch derselbe Handschuh gewesen sein. Sehen Sie die Linien hier? Ich kann Ihnen das noch auf einer anderen Vergrößerung zeigen.“

„Nicht nötig!“

„Das dürften sehr charakteristische Nähte sein. Ich habe den Abdruck außerdem fachgerecht gesichert. Es sind Strukturen erkennbar, die auf stark strukturiertes Leder schließen lassen.“

„Eigenartig“, meinte Haller stirnrunzelnd. „Dieser Spinner scheint das sogar erkannt zu haben.“

„Sie meinen Branagorn?“, echote Anna.

„Ich meine Frank Schmitt. Dass Sie diesen Firlefanz mit dem Fantasy-Namen mitmachen, ist meiner Meinung nach selbst für eine Therapeutin etwas zu viel der Einfühlung. Oder ist es kein Therapieziel mehr, sich der Realität zu stellen?“

Anna ging darauf nicht weiter ein. Stattdessen wandte sie sich an Friedrichs. „Das heißt, unser Täter trägt bei seinen Taten immer dieselben Lederhandschuhe!“

„Ja“, bestätigte Friedrichs. „Und vermutlich gibt es irgendein orthopädisches Problem bei ihm.“

„Wieso das?“, fragte Haller.

Friedrichs atmete tief durch, so als wäre er genervt davon, seinen vergleichsweise unwissenden Mitmenschen etwas erklären zu müssen und als verstünde er nicht wirklich, weshalb die anderen nicht selbst darauf kamen. „Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie diese Abdrücke zustande gekommen sind. Es lastete jeden Fall sehr viel Gewicht auf der Hand. Da ist nicht einfach nur mal so an die Wand gepatscht worden! In dem Fall auf der Planwiese ist außerdem vorher auf die feuchte, grasbewachsene Erde gefasst worden. Das ist sicher! Ich denke Folgendes: Der Täter hat sowohl in der alten Jovel Music Hall vor sieben Jahren als auch auf der Telgter Planwiese das Opfer zuerst getötet und dann in eine sitzende Haltung gebracht. Anschließend rasierte er es und dabei musste er in die Knie gehen oder hocken. Anschließend kam er aber offenbar nicht hoch, ohne sich abzustützen.“

„Also irgendein Problem mit dem Bewegungsapparat – im weitesten Sinne!“, zog Anna ein Resümee.

Friedrichs nickte. „Ja, ich bin gerade mit einem Orthopäden in Kontakt, der mir da vielleicht ein paar Hinweise geben kann. Also wenn wir ganz konservativ argumentieren, könnte man so sagen: Der Barbier hat die Angewohnheit, sich beim Aufstehen abzustützen und irgendwo Halt zu suchen.“

„Und die Spuren können nicht während eines Kampfes entstanden sein?“, fragte Haller.

„Die beiden Toten selbst geben keine Hinweise, die in diese Richtung deuten, Herr Haller. Ich halte das für unwahrscheinlich.“

Haller seufzte. „Also müssen wir jetzt alle humpelnden Handschuhträger im Münsterland überprüfen – oder wie sehe ich das?“

„Lässt sich was zur Größe der Täterhand sagen?“, fragte Raaben dazwischen.

Friedrichs nickte. „Größe 7 mit einem geschätzten Handumfang von 19,6 Zentimetern würde ich sagen. Das entspricht der Größe S bei Männern, der Größe M bei Frauen und der Größe XL bei Kindern.“

„Mit anderen Worten: Der Handschuh passt jedem!“, resümierte Haller.

„Ich möchte die Bilder gerne jemandem zeigen“, kündigte Anna an. „Auch das aus dem alten Jovel.“

„Aber nicht Ihrem Elbenkrieger!“, verlangte Haller.

„Doch - - genau dem.“

„Aber ...“

„Herr Haller, er wusste es! Er hat auf einen Blick im Grunde dasselbe gesehen, was Ihr Kollege mit Hilfe seiner aufwändigen Methodik schließlich auch herausbekommen hat! Bitte!“

Haller seufzte. „Ende der Diskussion! Das kommt nicht in Frage! Und verlangen Sie nicht von mir, dass ich in Zukunft an Magie glaube!“

„Ganz sicher nicht! Aber das Branagorn das Haar auf dem Boden gesehen hat, dass er diesen Abdruck und die Struktur erkannt hat ... Das ist alles nicht so verwunderlich, wie Sie vielleicht denken!“

„Es reicht mir völlig, wenn die Psychologie mir erklärt, warum jemand Vater oder Mutter hasst oder jemanden umbringt. Ich brauche nicht auch noch wissenschaftliche Erklärungen für Dinge, die es nicht gibt!“, erwiderte Haller jetzt schroff.

Friedrich ergriff jetzt noch einmal das Wort, nachdem er sich schon zum Gehen gewandt hatte. „Ach ja, Herr Haller – da sitzt draußen noch jemand, der Sie gerne sprechen würde“, meinte Friedrichs beiläufig. „Er sagt, er würde das letzte Opfer kennen!“

Haller hob die Augenbrauen.

„Und das sagen Sie mir erst jetzt?“

Friedrichs zuckte mit den Schultern. „Es hat mich ja niemand gefragt!“

„Der Zeuge soll schon mal ins Zimmer 2 gehen!“„Ich werde es ihm sagen“, versprach Friedrichs.


*


Zimmer 2 war ein spartanisch eingerichteter Besprechungsraum mit unbequemen Mobiliar. Dieses Mobiliar entsprach nicht einer besonderen Verhörtaktik, die die Folter durch unbequemes Sitzen und schmerzende Druckstellen im Gesäß sowie Rückenschmerzen bei längerer Dauer des Gesprächs schleichend wieder einführen wollte. Es war schlicht eine Frage fehlender finanzieller Mittel. Anna war das schon unangenehm aufgefallen, als sie zum allerersten Mal ein längeres Gespräch mit einem Verdächtigen in diesen Räumlichkeiten hatte führen müssen und sich hinterher gefragt hatte, ob dessen Aggressivität nun wirklich Ausfluss einer soziopathischen Persönlichkeit oder vielleicht doch nur das unweigerliche Resultat schlechten Sitzmobiliars war.

Der Zeuge hatte schon Platz genommen.

„Ich bin Timothy Winkelströter“, sagte er. „Herr Möller hat mir gesagt, dass ich mich bei Ihnen melden soll.“

„Das ist richtig“, bestätigte Haller und setzte sich. Er stellte seine Kaffeetasse ab und plemperte dabei. „Wollen Sie auch einen Kaffee?“

„Nein. Es geht um Jennifer, nehme ich an.“

„Ja. Sie waren Ihr Freund?“

„Also, wie soll ich sagen ...?“

„Ja oder nein. Das ist doch nicht allzu schwierig!“

Timothy Winkelströter beugte sich vor. Anna musterte ihn dabei. Er trug einen langen Ledermantel, der fast bis zu den Knöcheln reichte. Seine Finger waren von Ringen besetzt. Um den Hals hing ein Amulett mit verschnörkelten Schriftzeichen, die Anna entfernt an die magischen Runen erinnerten, die auf Branagorns Schwertscheide zu sehen waren. Seine Haare reichten bis weit über die Schultern und waren ziemlich strähnig.

„Die Sache ist die: Wir hatten eigentlich Schluss gemacht. Oder noch genauer gesagt: Ich hatte mit ihr Schluss gemacht, weil sie genervt hat.“

„Hm“, meinte Haller. „Wann war das?“

„Das war am Freitag vor acht Tagen. Wir haben uns dann einige Zeit nicht gesehen und als ich dann am Samstag zum Mittelalter-Markt nach Telgte gefahren bin ...“

„Sie waren also dort?“, unterbrach ihn Haller.

„Ja sicher!“

„Fahren Sie bitte einfach fort“, ermutigte ihn Anna, denn sie hatte das Gefühl, dass sich Haller nicht gerade einen günstigen Augenblick ausgesucht hatte, um den Gesprächsfluss seines Gegenübers zu stören.

Timothy Winkelströter schluckte. „Einen leckeren Met haben Sie nicht zufällig, oder?“

„Tut mir leid“, meinte Haller. „Kaffee oder Wasser, mehr gibt's hier nicht.“

„Dann lassen Sie es besser. Ich will mich ja nicht vergiften.“

„Wie kam es, dass Sie doch mit Jennifer Heinze zum Markt gefahren sind?“, ging Anna nun dazwischen und wunderte sich selbst über ihre Ungeduld, die eigentlich jeglichen Konventionen ihres Berufsstandes widersprach.

„Das habe ich doch noch gar nicht gesagt!“, wunderte sich Timothy.

„Nein, aber ich habe es angenommen, weil alles andere keinen Sinn machen würde!“

Timothy seufzte. „Wie gesagt, ich war auf dem Weg nach Telgte, sie hat mich auf dem Handy angerufen und gesagt, sie sei auch auf dem Weg dorthin. Und ob wir nicht noch mal über alles reden könnten und so. Na ja, ich bin ja kein Unmensch. Wir hatten ja auch schöne Zeiten. Also haben wir einen Treffpunkt an einem Parkplatz vereinbart, sie ist in meinen Wagen eingestiegen und wir sind dann zum Markt gefahren.“

„Wie ging es dann weiter?“, fragte Anna. Ihr fiel eine Tätowierung am Unterarm auf, als der Ärmel seines Mantels etwas hochrutschte. Es war ein Stierkopf auf einem Kreuz. Irgendwo hatte sie dieses Zeichen schon einmal gesehen, konnte es aber im Moment nicht recht einordnen. Aber kultische Geheimlehren waren ebenso wenig ihr Spezialgebiet wie die alchemistischen Geheimzeichen des Mittelalters oder was auch immer Timothy Winkelströter sonst als Vorlage für diesen leider ziemlich dauerhaften Körperschmuck gewählt hatte.

„Tja, ich will nicht drumrum reden“, sagte Timothy.

Drumrum – dieses eine Wort wies ihn als jemanden aus, der in dieser Gegend geboren und aufgewachsen war. Anna war das erst während ihres Studiums in Köln aufgefallen, dass man daran münsterländische Landsleute in der Fremde erkennen konnte. Drumrum und drumzu – zwei akustische Erkennungszeichen, die jeden Münsterländer so eindeutig identifizierten, wie das 'Woll' den Sauerländer. Anna hatte sich bis dahin immer eingebildet, reines Hochdeutsch zu sprechen, und es war ihr erst in dem Moment klar geworden, als sie einen Kommilitonen, der wie sich herausstellte, aus Emsdetten kam, diese beiden Worte benutzen hörte, die sie bis dahin ebenfalls bedenkenlos gebraucht und sich danach mühsam abgewöhnt hatte.

Nach seiner verheißungsvollen Ankündigung 'nicht drumrum' zu reden, schwieg Timothy Winkelströter allerdings erst einmal eine Weile. Er wirkte plötzlich in sich gekehrt und seine Hand umfasste das Amulett mit den Runen, so als würde er sich davon irgendeine Art von Schutz oder Stärkung erhoffen. Der Stierkopf auf dem Kreuz an seinem Arm wurde dadurch sehr gut sichtbar, sodass Anna jede Einzelheit daran erkennen konnte.

„Wann haben Sie Jennifer denn zuletzt gesehen?“, fragte Anna jetzt behutsam. Ihre Stimme hatte einen samtweichen Klang. Sie hatte sich diesen Tonfall für schwierige Therapiesituationen angewöhnt. Er half besser als jeder Trick, den man in einem Seminar für Gesprächsführung erlernen konnte.

„Das war an einem der Stände. Ich wollte ein Trinkhorn aussuchen und Jennifer hat mich so vollgequatscht, da sind wir dann etwas aneinandergeraten. Mir war dann klar, dass es keine gute Idee gewesen ist, sich noch mal zu treffen, obwohl wir früher immer gerne zusammen auf den Markt auf der Planwiese gegangen sind. Sie werden das vielleicht kennen. Da gibt dann ein Wort das andere und schließlich ist sie ziemlich wutentbrannt abgedampft. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen. Und von ihrem Tod habe ich erst später erfahren, als da dieser große Tumult entstand und Ihre Kollegen mit Megafonen ihre Durchsage machten. Aber da waren so viele Menschen, ich konnte nichts sehen.“

„Wann war Ihnen klar, was geschehen ist?“

„Lutz Brackenhorst hat es mir gesagt. Der hat den Stand ganz in der Nähe, wo Jennifer gefunden wurde. Ich kenne Lutz gut, weil ich ihn über meinen Internet-Shop mit Amuletten beliefere.“ Timothy schüttelte den Kopf. „Furchtbar, was dieser Irre ihr angetan hat.“

„Aber Sie fanden es nicht nötig, sich bei unseren Beamten zu melden“, stellte Haller fest. „Wieso nicht?“

„Ich hätte doch gar nichts dazu sagen können“, verteidigte sich Timothy Winkelströter. „War ich vielleicht dabei, als Jennifer starb? Nein!“

„Jede Information, die wir bekommen, kann uns weiterhelfen, den Täter zu fassen“, widersprach Haller. „Oder wollten Sie nur nicht selbst verdächtig erscheinen?“

„Ich?“

Er ist wirklich überrascht!, erkannte Anna. Allerdings erschien es ihr letztlich doch ziemlich verwunderlich, wie unbeteiligt er den Tod seiner Ex-Freundin hinnahm. Ob das nur eine coole Maske war oder ob da noch etwas anderes dahintersteckte, hatte Anna für sich selbst noch nicht entschieden. Jedenfalls stimmte da irgendetwas nicht. Er verschwieg etwas.

„Sie haben sich mit Ihrer Freundin oder Ex-Freundin, oder was immer sie in dem Moment auch gerade für Sie gewesen ist, heftig gestritten, wie Sie selbst erklärt haben“, stellte Haller fest. „Und wenig später ist sie tot! Haben Sie für die Zeit nach Ihrem Streit ein Alibi?“

„Sehe ich etwa aus, als wäre ich irre und würde Frauen erst umbringen und dann einer Radikalrasur unterziehen? Sehe ich wirklich so aus.“

„Wenn wir Tätern ihre Schuld ansehen könnten, dann wäre unser Job etwas leichter, Herr Winkelströter. Leider ist das nicht der Fall und so sind wir auf solche Sachen wie Alibis und dergleichen angewiesen, um den Täterkreis einzugrenzen oder jemanden auszuschließen.“

„Ich habe ein paar Kumpels getroffen und bin mit denen über den Markt gezogen. Und abgesehen davon hatte ich noch eine Auseinandersetzung mit einem der Händler.“

„Weswegen?“

„Deswegen!“

Timothy Winkelströter erhob sich urplötzlich, und riss seinen Mantel auseinander, als würde er einen Exhibitionisten parodieren wollen.

„Sehe nichts“, sagte Haller.

„Die Elbenrunen an der Gürtelschnalle. Die habe ich designt! Solche Schnallen biete ich auch über meinen Shop an und dieser Sack hat einfach das Design geklaut! Das ist ein Verstoß gegen das Urheberrecht, falls Ihnen das was sagt!“

„Namen und Adressen der Personen, die Ihre Geschichte bestätigen können, bitte“, verlangte Haller. „Dann dürfte sich das doch rasch klären lassen, oder?“

Timothy Winkelströter zögerte aus irgendeinem Grund. Warum?, fragte sich Anna unwillkürlich und das Gefühl, dass da etwas faul war, verstärkte sich. War es die Tatsache, dass sein Lächeln maskenhaft war und ohne Beteiligung der Schläfenmuskulatur zustande kam? War es die sehr eindringliche Sprechweise, dieser Tonfall, der besonders überzeugend wirken sollte und es genau deswegen nicht war?

„Okay“, sagte Timothy Winkelströter schließlich und lehnte sich zurück. Er wich Annas Blick aus. Haller schrieb sich eine Reihe von Namen auf, die der Zeuge ihm sagte. Bei manchen Adressen wusste Timothy die Straßennummer nicht, aber dafür die Handynummer, was die ganze Angelegenheit wohl erheblich vereinfachen würde. Außerdem wollte Haller noch genau wissen, wo Jennifer Heinzes Wagen abgestellt worden war.

„War es das?“, fragte er.

„Ja, das war's“, nickte Haller. „Zumindest fürs Erste. Haben Sie ein Handy? Für den sehr wahrscheinlichen Fall, das wir an Sie noch Rückfragen haben.“

„Oder Sie mich orten wollen!“, grinste Timothy.

„Na, da wir doch beide davon ausgehen, dass die von Ihnen benannten Zeugen Ihr Alibi bestätigen können und Sie uns auch sonst die Wahrheit gesagt haben, wird das ja wohl kaum nötig sein!“

Timothy nannte Haller seine Handy-Nummer.

„Einen Moment. Der Kuli funktioniert nicht mehr“, stellte Haller nach dem ersten Strich fest. „Tja, das Zeitalter der Schriftlichkeit scheint unwiderruflich zu Ende zu gehen.“ Haller nahm sein Handy hervor. „Ich tippe die Zahlen direkt ins Menü ein, wenn Sie sie mir sagen.“

„Falls Sie sich vertan haben sollten, können Sie ja die Audio-Aufzeichnung abhören, die Sie von meine Aussage gemacht haben.“


*


Bevor Timothy Winkelströter wenig später die Tür erreichte, fragte Anna ihn noch: „Herr Winkelströter, zwei Fragen noch ...“

Timothy grinste. „Die psychologische Masche, was? Harmlos tun und hintenrum kommen! Bitte, ich habe nichts zu verbergen und auch wenn Jennifer und ich uns nicht im Guten getrennt haben, will ich genauso wie Sie, dass der Verrückte Killer-Frisör endlich das Handwerk gelegt bekommt!“

„Frage Nummer eins: Waren Sie eigentlich auf dem Schandmaul-Konzert vor sieben Jahren?“

Er sah Anna irritiert an. „Häh?“

„Jovel Music Hall, Grevener Straße!“

„Ja, richtig, die ist doch abgerissen worden und die sind dann in so ein Pleite gegangenes ehemaliges Autohaus umgezogen.“

„Waren Sie dort?“

Er zeigte ihr seine Ringe, strich dann mit den Händen an seinem Ledermantel herab. „Jeder im Umkreis von hundert Kilometern, der so aussieht wie ich oder sich auch nur ansatzweise für Mittelalter-Rock interessiert, war an dem Tag dort! Eigentlich jedenfalls.“

„Was heißt das?“

„Ja, ich leider nicht! Ein Kumpel von mir wollte Karten besorgen und ich habe mich auf ihn verlassen. Tja, der hat es leider verpennt und deswegen musste ich dann draußen bleiben. Leider.“ Er runzelte die Stirn. „Was ist das für eine Frage? Ah, ich verstehe schon die Frage ... Damals ist auch was passiert, nicht wahr? Ist doch richtig!“

„Frage Nummer zwei: Welche Handschuhgröße haben Sie eigentlich?“

Er blieb stehen und runzelte die Stirn. Dann sah er auf seine Hände. Zierliche Hände mit den schlanken Fingern eines Pianisten. Die Ringe mit den Geisterfratzen, Totenköpfen und magischen Runen ließen sie noch zarter erscheinen. Eine Mischung aus Grufti-Design und der beringten Schrumpelfinger-Tarnung eines Karl Lagerfeld, wie Anna fand. „Bin ich ein Mädchen und friere?“, fragte Timothy. „Ich trage nie Handschuhe. Da passen auch meine Ringe nicht drunter.“

„Mag ja sein“, sagte Anna. „Aber ...“

„Ist Ihnen außerdem aufgefallen, dass Sommer ist?“

„Hätten Sie was dagegen, wenn wir Ihre Hände einfach vermessen?“, ließ sich Anna nicht beirren.

Er zuckte mit den Schultern. „Kein Problem!“


*


„Handumfang 16,6 Zentimeter – das passt doch in Größe 7 hinein“, meinte Anna – später. Da saßen Anna und Haller in einem Restaurant in der Nähe des Friesenrings. Anna knurrte gewaltig der Magen. Genau wie Haller war sie den ganzen Tag nicht zum Essen gekommen, sondern hatte sich mehr oder weniger nur von einem Schokoriegel und einigen Tassen des dünnen Kaffees ernährt, den es im Polizeipräsidium gab. Auch eine Art von

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2017
ISBN: 978-3-7396-9681-2

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