Cover

Und wieder! Krimis für den Urlaub

Neun Romane in einem Buch - 1300 Seiten Thriller Spannung

von Alfred Bekker

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 1308 Taschenbuchseiten.

 

Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Neun spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.

Mal provinziell, mal urban. Mal lokal-deutsch, mal amerikanisch. Und immer anders, als man zuerst denkt.

 

ALFRED BEKKER ist ein Schriftsteller, der vor allem durch seine Fantasy-Romane und Jugendbücher einem großen Publikum bekannt wurde. Daneben schrieb er Krimis und historische Romane und war Mitautor zahlreicher Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair und Kommissar X.

 

Dieses Buch enthält folgende neun Romane:

Das Elbenkrieger-Profil

Ein Killer läuft Amok

Mord am East River

Stadt der Schweinehunde

Im Zeichen der Fliege

Der Hacker

Kahlgeschoren

Mörder-Chip

Erwürgt!

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de



Das Elbenkrieger-Profil

von Alfred Bekker


Ein Serienkiller geht um im Münsterland, sein letztes Opfer wird auf dem berühmten Mittelalter-Markt von Telgte gefunden. Doch während Kriminalhauptkommissar Sven Haller von der Kripo Münster und Kriminalpsychologin Anna van der Pütten im Dunkeln tappen, heftet sich ein Ermittler an die Fersen des irren Mörders, der selbst wahnsinnig zu sein scheint: Er nennt sich Branagorn der Elbenkrieger und behauptet, aus einer anderen Welt zu stammen. Doch er scheint der Einzige zu sein, der es mit dem Mörder aufnehmen kann …


Prolog

Wer ist schon fähig, darüber zu richten, was der Traum, was der Wahn und was die wirkliche Welt ist - außer dem Herrn? Und geht es nicht vielen von uns wie dem Besessenen in der Geschichte von den Schweinen zu Gerasa, den Jesus nach dem Namen fragt und der da antwortet: „Mein Name ist Legion, denn viele sind wir.“


Branagorn von Corvey (auch bekannt als Fra Branaguorno d'Elbara), in den Jahren 989-1002 Lehrer, Erzieher und Berater von Kaiser Otto III.



Sire, geben Sie Narrenfreiheit!

Mynona (alias Salomo Friedlaender; 1871-1946)




Die Tote in Telgte

Der Blick durch das Zielfernrohr zeigt den Körper einer jungen Frau. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass es eine Frau ist, denn ihr Schädel ist vollkommen kahl. Sie lehnt mit dem Rücken gegen das Wagenrad eines Anhängers. Ihr Blick ist starr und tot, die Augen weit aufgerissen, die Züge eine Maske puren Entsetzens. Das Fadenkreuz ist genau auf den Hals ausgerichtet, wo noch immer Blut austritt und dann von der Kleidung aufgesogen wird.

Ein Mann kommt herbei. Er trägt die Gewandung eines mittelalterlichen Händlers. Das Trinkhorn entfällt ihm vor Schreck. Met spritzt heraus. Er ruft laut und versucht dabei, den Sound der Mittelalter-Rockband mit der nervtötenden Leier zu übertönen. Seine Stimme klingt heiser. Es dauert nicht lange und andere kommen herbei. Ein kleiner Menschenauflauf bildet sich.

„Notarzt!“, ruft jemand.

Nein, für den ist es zu spät.

Viel zu spät.

Das Entsetzen breitet sich aus wie eine ansteckende Krankheit. Nur eine einzige Seele empfindet jetzt so etwas wie Zufriedenheit. Nein, eher Genugtuung. Und auch das nur für einen sehr kurzen, raren Moment, der rasch verfliegt. Ein paar Herzschläge – länger dauert es nicht.

Schließlich senkt sich der Blick durch das Zielfernrohr, obwohl es kaum möglich ist, sich aus dem Bann der Ereignisse zu befreien.

Eine Hand greift in die weiten Taschen des Gewandes und fühlt nach den Büscheln mit Haaren, die sich darin befinden. Dichtes, dickes Haar ist es. Erinnert schon fast mehr an die Mähne eines Pferdes als an das Haar einer Frau. Es fühlt sich auf jeden Fall gut an.

Ein Gedanke drängt sich auf.

Jetzt gehört es mir!


*


„Danke, dass Sie so freundlich waren, mich mitzunehmen“, sagte Anna van der Pütten. Sie war 31, Kriminalpsychologin, hatte dunkelbraunes, schulterlanges Haar, das sie mit ein paar Nadeln zu einer Frisur aufgesteckt hatte, die ihr im Moment reichlich ramponiert vorkam. Es hatte alles etwas schnell gehen müssen, und zu allem Überfluss war ihr Wagen gerade heute in der Werkstatt. Aber auf so etwas nahmen Mörder leider keine Rücksicht. Und Serienkiller schienen in dieser Hinsicht besonders rücksichtslos zu sein. Ein halbes Jahr Pause ohne Mord und dann zielsicher einen Tag heraussuchen, an dem es einem schlecht passte. Fast konnte man dahinter böse Absicht vermuten. Oder doch eher eine Projektion meinerseits!, überlegte Anna, die gerade damit beschäftigt war, den Inhalt ihrer Handtasche zu ordnen. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, dort für Ordnung zu sorgen. Vielmehr war das eine Art Ritual für sie, dass der Konzentration diente. Geordnete Tasche, geordneter Geist. Ein kleiner Trick, um umzuswitchen und kurzfristig alles vergessen zu können, was bis vor ein paar Minuten noch wichtig erschienen war und jetzt nichts als geistigen Ballast darstellte, den man so schnell wie möglich loswerden musste, um sich auf die nächste Anforderung zu sammeln. In Anna van der Püttens Beruf war dies ein immer wiederkehrendes Problem. Man hatte sich in einem Gespräch mit einem Patienten sehr stark auf dessen jeweilige Problematik eingelassen, war tief in die traumatisierenden Erlebnisse eines Menschen, der überfallen worden war, eingestiegen und musste sich dann blitzschnell auf einen potenziellen Selbstmörder einstellen, der mutwillig als Geisterfahrer auf der A1 unterwegs gewesen war, um dabei den Tod zu finden, und bei dem festgestellt werden sollte, inwiefern die Gefahr von Selbst- oder Fremdgefährdung noch anhielt.

Am Steuer des Volvo saß Kriminalhauptkommissar Sven Haller von der Kripo Münster. Eine gute Viertelstunde war es her, da das Telefon in seinem Büro im Polizeipräsidium am Friesenring geklingelt und er die Nachricht erhalten hatte, dass es ein neues Opfer des 'Barbiers' gab.

Ein halbes Jahr war Ruhe gewesen. Und jetzt hatte jener geheimnisvolle Serienmörder, der bereits zuvor vier Frauen ermordet hatte, wieder zugeschlagen. Barbier nannte ihn die Boulevardpresse inzwischen, weil er die Angewohnheit hatte, seinen Opfern post mortem die Haare abzurasieren, von denen sich dann an den Tatorten auch stets so gut wie nichts mehr befunden hatte.

Frauenhaar schien für den Mörder so etwas wie eine Trophäe zu sein. Ansonsten glich kein Verbrechen dem anderen und die ermittelnden Behörden tappten noch immer vollkommen im Dunkeln.

Sieben Jahre war der erste Fall schon her. Am Anfang hatte sich das LKA eingeschaltet und eine große Sonderkommission war gebildet worden, die für eine Weile fast die gesamten personellen Kapazitäten der Kripo Münster gebunden hatte. Aber das Interesse von Medien und Öffentlichkeit war flüchtig – und nachdem die Ermittlungen irgendwann mehr oder minder stecken geblieben waren, landete der Fall schließlich bei den unaufgeklärten Verbrechen. Viele davon gab es nicht. Zumindest bei den Morden, die überhaupt als solche bekannt wurden, konnte man mit einer fast vollständigen Aufklärungsrate rechnen.

Der Barbier war eben einer der wenigen Ausnahmen. Er hatte in den darauffolgenden Jahren wieder und wieder zugeschlagen. Immer waren die Opfer junge Frauen und immer sicherte er sich ihr Haar als Trophäe – oder welche abartige Begründung auch immer letztlich für sein Vorgehen herhalten mochte. Die Kollegen des LKA hatten ein sogenanntes Profiling vorgenommen und versucht, die Taten anhand einer exakten Analyse des Tatortes einem bestimmten Tätertypus zuzuschreiben, den man vielleicht näher eingrenzen konnte.

Aber irgendwie schien sich der Barbier all dieser Kategorisierungen zu entziehen. Kein Verbrechen glich dem anderen, die Methode war jedes Mal unterschiedlich und inzwischen hatte Sven Haller die von den Kollegen angefertigten Gutachten innerlich bereits in den Papierkorb geworfen. In diesem Fall passte einfach nichts zusammen. Jede Spur schien nur weiter in die Irre zu führen.

Und doch dachten weder Sven Haller noch Anna van der Pütten daran aufzugeben.

Anna van der Pütten war erst beim letzten Fall vor einem halben Jahr hinzugezogen worden. Sie hatte sich in die Materie eingearbeitet, und anfangs hatte Haller die Hoffnung gehabt, durch ihre Unterstützung die Ermittlungsfäden noch mal aufnehmen zu können.

Aber diese Hoffnung hatte sich leider nicht erfüllt. In den letzten sieben Jahren war kein Tag vergangen, an dem dieser Fall Sven Haller nicht wenigstens für kurze Momente durch den Kopf gegangen war. Der Gedanke, dass ein Mörder nicht nur nach wie vor frei herumlief, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit nach weiteren Opfern suchen und irgendwann wieder zuschlagen würde, hatte Haller nicht losgelassen.

Nun war genau das eingetreten.

„Ist es wirklich sicher, dass es der Barbier war?“, fragte Anna van der Pütten in die bedrückende Stille hinein. Haller war gerade auf die Westbeverner Straße gefahren. Von nun an musste man nur noch den Schildern mit der Aufschrift 'Telgte' folgen, um auch tatsächlich nach Telgte zu kommen. Sie kamen gerade an einem Plakat vorbei, das auf den berühmten Mittelalter-Markt hinwies, der zweimal im Jahr in der Kleinstadt vor den Toren Münsters stattfand.

Genau dieses Ereignis hatte der Täter sich offenbar für sein Comeback als Serienkiller ausgesucht.

„Nach dem, was die Kollegen durchgegeben haben, treffen alle Merkmale zu. Auch die, die nicht in der Presse waren. Es muss derselbe Verrückte sein.“

„Ich weiß, dass das kein Trost ist, Herr Haller, aber vielleicht kommen wir ihm durch diesen Mord ein Stück näher!“

„Nein, das ist tatsächlich kein Trost“, murmelte Haller düster.

„Versuchen Sie, sich nicht persönlich in die Sache zu involvieren“, sagte Anna van der Pütten. „Betrachten Sie die Tatsache, dass dieser Mörder wieder zugeschlagen hat und noch immer keine Handschellen trägt, nicht als persönliche Niederlage.“

„Tut mir leid, das tue ich aber“, erwiderte Haller etwas ungehalten. „Ich kann da nicht einfach nur meinen Job machen. Das geht einfach nicht.“

„Vielleicht wäre das aber das Beste.“

„Was?“

„Wenn Sie einfach Ihren Job machen. Und nicht mehr.“

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen unbekannten Irren analysieren würden – und nicht mich, Frau van der Pütten!“ Hallers Worte klangen etwas ärgerlich. Die größten Fehler wurden bei Ermittlungen meistens am Anfang gemacht, wusste Anna. Frühzeitige Festlegungen aufgrund von zu großer persönlicher Anteilnahme, individuellen Vorurteilen oder zu großer Empathie mit dem Opfer. Aber Anna schwieg jetzt. Sie wusste nur zu gut, dass es nicht darauf ankam, jemandem die Wahrheit zu sagen. Es kam vielmehr darauf an, diese Wahrheit im richtigen Moment zu sagen – und das war immer ein Moment, in dem sie auch angenommen werden konnte. Alles andere war schlicht sinnlos.

„Er ist wie eine Zikade“, sagte Haller plötzlich.

„Wer?“

„Na, der Mörder. Wer sonst?“

„Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung davon, wie dieser Vergleich gemeint ist. In Biologie war ich nie besonders gut.“

Haller lächelte matt. „Zikaden schlüpfen nur alle 17 Jahre. In der Zwischenzeit sind sie scheinbar verschwunden, aber nach 17 Jahre treten sie so massenhaft auf, dass ihre Fressfeinde völlig überfordert mit den großen Schwärmen sind. Verstehen Sie nicht? Für eine Weile in der Versenkung zu verschwinden, ist eine Strategie, um sich seinen Jägern zu entziehen, sie glauben zu machen, dass man gar nicht mehr existiert. Und wenn derjenige dann plötzlich doch wieder aus der Versenkung auftaucht, rechnet niemand mehr mit ihm!“

„Ein guter Vergleich. Aber ich fürchte, unser Mörder wird keine 17 Jahre brauchen, um erneut aufzutauchen. Wenn es wirklich bei allen Morden dieser Serie derselbe Täter war, dann dürfte seine Reizschwelle inzwischen erheblich vermindert worden sein. Er wird immer schneller diesen besonderen Kick brauchen, den ihm seine Taten verschaffen.“


*


Mehrere Wiesen waren während des Mittelalter-Marktes in Telgte zu Parkplätzen umfunktioniert worden. Aber Haller dachte gar nicht daran, das letzte Stück bis zur sogenannten Planwiese zu Fuß hinter sich zu bringen, die ganz im Zeichen mittelalterlicher Heerlager und eines ausgedehnten Marktes stand. Er fuhr bis zum eigentlichen Markt. Ordner, die ihn aufzuhalten versuchten, bekamen seinen Dienstausweis entgegengehalten.

Schließlich ging es allerdings auch mit Hilfe dieses Ausweises nicht mehr weiter. Haller stellte den Wagen zu ein paar anderen Dienstfahrzeugen, die bereits früher eingetroffen waren. Anna van der Pütten stieg einen Moment vor ihm aus.

Sie ließ den Blick über den Mittelalter-Markt schweifen. Sowohl viele der Aussteller als auch zahlreiche Gäste hatten sich in eine mittelalterliche Gewandung geworfen. Sie trugen Wams, Umhang, spitze Lederstiefel, die an der Spitze die Form eines nach oben gebogenen Schnabels aufwiesen. Die Frauen trugen geschnürte Kleider und an jeder Ecke gab es Schwerter, Trinkhörner und andere Dinge, die entweder tatsächlich oder vermeintlich mittelalterlich waren. Manchmal mischte sich das mit Accessoires der Gothic- und der Fantasy-Szene, und so fand sich zwischen all den aufrechten Recken, holden Burgmaiden oder bunten Gauklern, die mit ihren Kunststücken die Leute zu unterhalten wussten, hin und weder auch ein untoter Vampir oder ein mehr oder minder gut geschminkter Ork. Anna war schon einmal auf dem Mittelalter-Markt in Telgte gewesen – allerdings in der Vorweihnachtszeit, wenn dort eine ganz andere, nicht minder reizvolle Atmosphäre herrschte und die hehren Recken und holden Maiden die Kälte mit reichlich Met bekämpften. Schließlich waren die wenigstens in ihrer historischen Gewandung so naturgetreu, dass sie sich die Kleidung etwa mit Pferdehaaren ausstopften. Jetzt war Sommer und da es in den letzten Wochen nicht geregnet hatte, sank man auf der Wiese wenigstens nicht bis zum Knöchel in den Schlamm ein.

Es war auffällig, dass viele Leute zusammenstanden und redeten, während sich eine Mittelalter-Rockband auf der Bühne ziemlich vergeblich darum bemühte, ihr Publikum zu begeistern. Aber das war keineswegs die Schuld der Musiker. Genauso wenig wie es nicht an den Auslagen der Händler lag, dass sich im Moment kaum jemand für Dolche, Schwerter, Gewandung oder CDs mit originalgetreuem Minnesang in historisch korrektem Mittelhochdeutsch interessierte. Es hatte sich offenbar inzwischen herumgesprochen, dass irgendetwas Schreckliches geschehen war. Die verhältnismäßig große Anzahl von uniformierten Polizisten war ein Indiz dafür. Außerdem war ein Teil des Marktes quasi abgeriegelt worden. Eine Markierung mit Flatterband zeigte an, welcher Bereich nicht mehr betreten werden durfte.

„Da sind Sie ja endlich“, begrüßte einer der Uniformierten die beiden Ankömmlinge. Er war Mitte fünfzig, hatte einen grauen Bart und wirkte etwas behäbig. Anna hatte das Gefühl, dieses Gesicht irgendwann schon einmal gesehen zu haben, aber das konnte auch eine Täuschung sein. Sie hatte oft mit Polizisten zu tun und es gab viele in diesen Jahrgängen und mit ähnlich grauen Bärten.

Haller runzelte die Stirn.

„Wer sind Sie denn?“, fragte er.

„Kriminalobermeister Ternieden. Ich leite den Einsatz hier.“

„Ach so.“

„Dafür weiß ich aber, wer Sie sind – nämlich vom Kollegen im ausgebeulten Cord-Jackett.“

„Kommissar Raaben ist schon da?“

„Ja. Schon eine geraume Weile.“

„Und wo ist die Tote nun?“

„Hinter dem Stand da vorne. Folgen Sie mir.“ Bevor sie gingen, wandte sich Ternieden an Anna van der Pütten. „Sie sind wahrscheinlich die Gerichtsmedizinerin?“

„Nein, Kriminalpsychologin. Ich heiße Anna van der Pütten.“

„Oh tut mir leid.“

„Was?“

„Es hat mir niemand gesagt, dass jemand wie Sie kommt. Ich sag immer, wenn schon einer tot ist, ist es eigentlich zu spät für den Einsatz eines Psychologen.“ Anna war sich nicht sicher, ob das witzig gemeint gewesen war. Ternieden schien sich da selber nicht so ganz im Klaren zu sein. Er wirkte jedenfalls etwas verlegen und unsicher. „Am besten, Sie beide sehen sich einfach mal an, was los ist“, meinte er schließlich. „Also, ich bin ja schon lange dabei und habe auch schon manches mitansehen müssen. Von Unfällen auf der A1 bis zu sonst was – aber das hier wird mir sicher einige Nächte lang den Schlaf rauben!“, war er überzeugt.


*


Die Tote lehnte gegen ein Anhängerrad. Anna erschrak unwillkürlich. Es war nicht der Tatort, der sie erschreckte, und wenn Haller mit seiner Vermutung recht hatte, dann war es noch nicht einmal der erste, für den dieser spezielle Täter verantwortlich war. Und trotzdem konnte Anna nicht verhindern, dass ihr ein kalter Schauder über den Rücken lief. Es gab eben Dinge, an die konnte man sich trotz aller professioneller Distanz einfach nicht gewöhnen. Und vielleicht war das auch ganz gut so. Man durfte sich nur nicht so sehr von den grausigen Umständen einer Tat gefangen nehmen lassen, dass man seinen Job nicht mehr machen konnte. Wie so oft war die Dosis entscheidend. Etwas Einfühlung war gut, zu viel davon reines Gift, wenn es darum ging, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen.

Im Hintergrund hörte Anna wie aus weiter Ferne, wie einer der Polizisten über Funk fragte, wieso denn die Gerichtsmedizin noch nicht da sei und dass man die Tote jetzt doch bitteschön langsam abholen könne. Wahrscheinlich lag es an einem der regelmäßig auftretenden Staus, die einen mit ziemlich großer Sicherheit festsetzten, wenn man versuchte, Münster zu bestimmten Zeiten zu verlassen oder wenn man umgekehrt von außen in die City wollte. Alles eine Frage des Timings. Und wenn Anna das, was sie vom Funkverkehr mitbekam, richtig interpretierte, hatten sich die Kollegen wohl den falschen Zeitpunkt und die falsche Strecke ausgesucht.

Anna ging auf die Tote zu, der man eine furchtbare Wunde am Hals zugefügt hatte. Einen Schnitt wie mit einer Sense oder einem langen Messer gezogen. Ihre toten Augen starrten ins Nichts. Die Tote trug eine dunkle Hose, weiße Bluse und einen dunklen Blazer. Die Kleidung war voller Blut.

Der Schädel war sehr sorgfältig rasiert worden.

Genau wie bei den anderen Opfern des Barbiers!, ging es Anna durch den Kopf. Das letzte Opfer – Nummer vier der Serie des Barbiers – hatte Anna nur in der Leichenhalle gesehen. Was die Frauen anging, die der unbekannte Serienmörder zuvor umgebracht hatte, war sie auf das am jeweiligen Auffindungsort der Leiche geschossene Fotomaterial angewiesen gewesen. Aber dieses Material umfasste insgesamt mehrere tausend Fotos, die jedes Detail auf den Speicherchip bannte, das man seinerzeit für wichtig gehalten hatte. Das Problem war natürlich immer, dass man zumeist erst später sagen konnte, was tatsächlich relevant war und was nicht. Jedenfalls hatte sich Anna tagelang diese Fotos angesehen in der Hoffnung, dabei auf irgendein Detail zu stoßen, das ihr vielleicht etwas mehr über den Täter zu verraten vermochte. Jeder Mensch gab schließlich in jedem Augenblick durch sein Verhalten eine Stichprobe seiner Persönlichkeit ab. Eine Stichprobe, die bis zu einem gewissen Grad immer auch repräsentativ für das Ganze war und einem Rückschlüsse auf die Persönlichkeit erlaubte – sofern man diese Stichprobe richtig zu interpretieren wusste.

Und das Verhalten eines Täters am Tatort war – darüber waren sich alle Fachleute einig – die aussagekräftigste Verhaltensstichprobe, die sich nur denken ließ. Nichts dabei war einfach nur zufällig oder Ergebnis irgendwelcher Umstände.

„Kennen wir den Namen der Toten?“, fragte Haller an seinen Kollegen Kevin Raaben gerichtet. Raaben war vielleicht Anfang dreißig und damit gute zehn Jahre jünger als Haller. Er trug eine Lederjacke und zerschlissene Jeans. Am Hals war außerdem eine Tätowierung zu sehen. Irgendein verschnörkeltes Zeichen, das Anna, die Raaben nur flüchtig kannte, nicht zu deuten wusste. Es wirkte chinesisch. Anna vermutete, dass Raaben wohl irgendwie durch dieses Tattoo etwas gegen das biedere, uncoole Beamtenimage tun wollte, das sein Job nun mal mit sich brachte.

„Jennifer Heinze“, gab Raaben an. „Sie hatte einen Ausweis bei sich. Wohnt in Ladbergen. Außerdem hatte sie einen Autoschlüssel dabei.“

„Das heißt, wir müssen jetzt alle Autos auf dem Parkplatz überprüfen und zusehen, ob der Schlüssel passt!“, seufzte Willi Ternieden. „Aber vielleicht können wir das leichter haben.“

„Ich bin für Vorschläge immer offen“, meinte Haller.

„Ich schlage vor, einfach bei ihr zu Hause anzurufen. Sie wird ja möglicherweise Angehörige haben. Der Lerchenweg in Ladbergen – da stehen nur Einfamilienhäuser. Sie ist noch zu jung, um selbst eins zu besitzen. Sie ist schließlich erst 26. Also nehme ich an, dass das Opfer noch bei seinen Eltern wohnte.“

„Und denen wollen Sie dann am Telefon mitteilen, dass Ihrer Tochter der Hals aufgeschlitzt wurde, um dann nach der Automarke zu fragen, die ihre Tochter fährt?“, fragte Anna dazwischen. „Klingt nicht gerade nach viel Takt, Herr Ternieden.“

Der Kriminalobermeister zuckte mit den Schulten. „Irgendwann werden sie es ja doch erfahren. Und man muss ja auch mal daran denken, wie wir hier über die Runden kommen, finde ich ...“

„Ich denke, der Wagen ist jetzt nicht das Wichtigste“, meinte Haller. „Wir müssen vor allem die Personalien der Zeugen sichern. Sonst sind die weg und wir müssen sie erst über die Medien wieder mühsam zusammentrommeln, was erfahrungsgemäß nie so richtig klappt!“


*


In diesem Moment war ein Tumult zu hören. Anna sah einen Mann in einem grauen Wams aus fließendem Stoff, der mit beiden Händen ein Schwert umfasste. Er trug eng anliegende Hosen und hohe Lederstiefel. Während er mit dem Schwert voranstürmte, stieß er einen durchdringenden Kampfschrei aus. Die Kapuze, die bis dahin seinen Kopf bedeckt hatte, glitt zurück und gab den Blick auf schulterlanges, weißblondes Haar frei. Sein Gesicht wirkte feingeschnitten und war sehr blass. Die zweischneidige Klinge wirbelte mit einer mörderischen Geschwindigkeit und Präzision durch die Luft. Die dazu nötige Kraft traute man dem zwar hochgewachsenen, aber dennoch zierlich und feingliedrig wirkenden Mann kaum zu. Nur um Haaresbreite strich die Klinge über den mit einer Schnabelmaske verdeckten Kopf eines Pest-Arztes hinweg. Ein dumpfer Laut kam unter der Maske hervor. Der Pest-Arzt taumelte zurück, während der bleiche, langhaarige Krieger zu einem weiteren Schlag ausholte.

Zwei der uniformierten Polizisten kamen herbei.

„Hören Sie auf!“, rief Kriminalobermeister Willi Ternieden, der ebenfalls auf dem Weg dorthin war. Der Pest-Arzt drängte sich zwischen den Menschen hindurch, die sich rund um den Fundort der Leiche angesammelt hatten. Der Schwertstreich des Kriegers ging derweil ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht, stolperte beinahe. Dann ergriffen ihn mehrere Beamte. Einer entwand ihm das Schwert.

„Haltet ihn! Haltet den Traumhenker! Ergreift den Todesboten oder Ihr werdet es bereuen!“, schrie der hagere Krieger aus Leibeskräften. Er meinte ganz offensichtlich die Gestalt in der Schnabelmaske, die wenig später in der Menge untergetaucht war.

Der Krieger ließ sich nur mit Mühe von den Beamten halten. Er mobilisierte das Äußerste an Kraft, um sich loszureißen, und schien wie ein Wahnsinniger von dem Wunsch erfüllt zu sein, dem Boten des Schwarzen Todes zu folgen.

„Was ist das denn für ein Irrenhaus hier?“, murmelte Haller.

Raaben hingegen war wie erstarrt und Willi Ternieden rief: „Handschellen! Worauf warten Sie denn?“

Anna van der Pütten ging unterdessen mit entschlossenen Schritten auf den langhaarige Krieger zu.

„Warten Sie, bleiben Sie hier!“, verlangte Haller.

„Ich kenne den Mann!“, erklärte Anna knapp.

„Und wer ist der Verrückte?“, fragte Haller.

„Er heißt eigentlich Frank Schmitt, glaubt aber, er sei Branagorn der Elbenkrieger!“

„Na, Gott sei Dank nicht Jack the Ripper!“

„Das ist nicht witzig, Herr Haller!“

„Ist er bei Ihnen in Behandlung?“

„Ja.“

Haller folgte Anna und versuchte, sie einzuholen.

„Lassen Sie mich durch!“, rief sie dann mit einer Entschiedenheit, die man ihr auf den ersten Blick kaum zutraute, einer Polizistin entgegen, die sie davon abhalten wollte, sich weiter dem Krieger zu nähern, der sich noch immer den Griffen der Uniformierten zu entwinden versuchte und dabei wie ein Wahnsinniger schrie. Er rief jetzt unverständliche Worte in einer fremden Sprache – aber vielleicht auch nur sinnlos aneinandergereihte Silben. Da war sich niemand unter den Anwesenden völlig im Klaren.

„Branagorn, hören Sie auf damit!“, rief Anna. „Was fällt Ihnen ein, mit dem Schwert auf jemanden einzuschlagen!“

Der Angesprochene wirkte wie erstarrt, als er Anna sah. Im nächsten Moment gab er seinen Widerstand gegen die Beamten, die ihn festhielten, auf.

Einer der Beamten holte Handschellen hervor.

„Das wird nicht nötig ein!“, versicherte Anna.

„Das sah gerade aber etwas anders aus!“, meinte der Beamte.

„Ich kenne den Mann! Und Sie können mir glauben, dass ich die Situation kontrolliere. Lassen Sie ihn los. Er wird niemandem etwas tun!“ Sie wandte sich an Willi Ternieden. „Bitte! Wenn Sie wollen, dass eine Eskalation vermieden wird, dann sollten Sie auf mich hören! Herr Schmitt ist mein Patient! Warum er ausgerechnet hier und jetzt seine Impulse nicht kontrollieren konnte, weiß ich nicht, aber dafür wird es einen Grund geben. Er ist nicht gefährlich.“

Ternieden nickte schließlich. „Machen Sie keine Dummheiten“, forderte er.

Branagorn alias Frank Schmitt wurde losgelassen und schien sich tatsächlich etwas beruhigt zu haben. „Ich weiß, wer die Frau getötet hat! Ich kenne den Boten des Todes!“

„Immer der Reihe nach Herr, äh ... Schmitt“, sagte Ternieden dann etwas unbeholfen.

„Es ist der Traumhenker! Und Ihr lasst ihn unbehelligt davonlaufen.“ Der Elbenkrieger streckte die Hand mit den dürren und sehr langen Fingern in die Richtung aus, in der der Pest-Arzt mit der Schnabelmaske verschwunden war. „Die Schritte des Todesboten sind noch deutlich zu hören und Ihr folgt ihm nicht, obwohl es Eure Pflicht wäre, das Böse zu bekämpfen!“

„Beruhigen Sie sich!“, forderte Anna. „Sie kennen mich doch. Wir können über alles sprechen und werden auch sicherlich eine Lösung für Ihr Problem finden.“

Er sah sie an. „Wie könnte ich Euer Gesicht vergessen, werte Cherenwen!“, sagte der Elbenkrieger nun in einem sehr viel sanfteren Tonfall. „Aber Ihr vertut Euch, nicht ich habe ein Problem, sondern Ihr alle! Denn der Traumhenker ist unter Euch. Der Tod-in-Gestalt! Der pure Wille zum Bösen und der Verderbtheit! Und er nimmt Besitz von Euch! Er kriecht in Eure Seelen, bis er eins ist mit einem von Euch und ihn zum Werkzeug des Verderbens macht, weil das seine Natur ist! Ich kenne ihn! Ich kenne diesen Todbringer und Seelenverderber!“

„Wichtig ist, dass Sie jetzt ruhig werden, Branagorn!“, sagte Anna. Sie hatte ihn vor ein paar Monaten begutachten müssen, um festzustellen, ob eine Fremd- oder Eigengefährdung bei ihm vorlag. Nach einer zeitweiligen stationären Unterbringung in der westfälischen Landesklinik in Lengerich hatte sich sein Zustand gebessert. Gebessert in dem Sinn, dass er in der Lage schien, sein tägliches Leben als Hartz-IV-Empfänger in einem betreuten Wohnprojekt in Münster-Kinderhaus zu bewältigen. Zum ersten Mal begegnet war sie ihm, als er auf dem Dach des Signal-Iduna-Hochhauses am Servatii-Platz in der Nähe des Hauptbahnhofs gestanden hatte, um sich in die Tiefe zu stürzen. Er leide vermutlich an einer Krankheit namens Lebensüberdruss, war die Diagnose gewesen, die er selbst später während ihres gemeinsamen Gesprächs gestellt hatte. Nicht gerade ein psychologisch anerkannter Fachterminus, aber in der Sache vollkommen zutreffend. Anna van der Pütten hatte ihn auch danach weiter therapeutisch begleitet. Auch wenn nicht mehr von einer akuten Suizid-Gefahr auszugehen war, so war Schmitt noch lange nicht über den Berg, zumal Anna auch noch eine Reihe weiterer Symptome und Krankheitsbilder an ihm diagnostiziert hatte, die zum Teil nur schwer einzuordnen waren und ein äußerst komplexes Gesamtbild ergaben. Dass er sich einbildete Branagorn von Elbara, ein Elbenkrieger aus einer anderen Welt zu sein, der auf magische Weise auf die Erde verschlagen worden war, war nur eine der zum Teil bizarren Persönlichkeitsmerkmale von Frank Schmitt.

Dazu gehörte auch, dass man leichter mit ihm kommunizieren konnte, wenn man ihn nicht mit 'Herr Schmitt' anredete, sondern akzeptierte, dass er Branagorn, der Elbenkrieger, war. So wie sie es auch mitunter tolerierte, dass er sie Cherenwen nannte, was vermutlich der Name einer offenbar verwandten Seele war. Jedenfalls hatte Anna das Gefühl, dass es in vielfacher Hinsicht einfacher geworden war, einen kommunikativen Zugang zu ihm zu finden. Und das rechtfertigte diese Vorgehensweise allemal. Das psychische System des Patienten verstehen – das war immer der erste Schritt. Aber nur der erste. Da musste noch einiges mehr folgen. Branagorn lebte anscheinend in seiner eigenen Realität und schien auch wenig geneigt zu sein, diese zu verlassen. Wahrscheinlich, so war es Anna schnell klar geworden, musste man einfach etwas bescheidener sein, was die erreichbaren Ziele anging. Wenn einer psychisch stabil genug war, um dem Wunsch, der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, nicht nachzugeben und im Alltag einigermaßen über die Runden zu kommen, war das vielleicht schon mehr, als man erhoffen konnte. Da konnte er zum Beispiel seine seltsame Ausdrucksweise ruhig beibehalten.

Branagorn machte einen Schritt auf Anna zu. „Cherenwen! Ihr seid Euch anscheinend nicht darüber im Klaren, dass Euch ein schlimmer Feind gerade entkommt! Der Mörder ist auf und davon und Ihr seht zu und hindert mich daran zu tun, was notwendig wäre!“

„Hallo, Kripo Münster“, mischte sich jetzt Sven Haller ein und zeigte Branagorn seine Polizeimarke.

Der Elbenkrieger wandte sich an den Leiter der Mordkommission und verzog das Gesicht, so als litte er unter starken Schmerzen. Mit der linken Hand fasste er sich ans Ohr, dass unter seinem langen Haar verborgen war. „Ihr braucht nicht so zu schreien“, sagte Branagorn. „Ich habe ein sehr feines Gehör. Eure Worte tun mir weh!“

„Ich bitte vielmals um Verzeihung“, knirschte Haller sichtlich genervt zwischen den Zähnen hindurch. „Sie haben gerade gesagt, dass Sie etwas über den Täter wissen, der für das furchtbare Verbrechen verantwortlich ist, das hier geschehen ist!“

„In der Gestalt eines Pest-Arztes ist er entkommen!“, antwortete Branagorn.

„Der Kerl, mit dem Sie gekämpft haben?“

„Ihr solltet ihn Traumhenker nennen, denn er wird Euch in Euren Albträumen wieder erscheinen, da bin ich mir ganz sicher!“

„Also Ihre Mittelalter- und Fantasy-Spielerei in allen Ehren, aber wenn Sie irgendeine Beobachtung gemacht haben, die mit dem Verbrechen in Zusammenhang steht, dann teilen Sie mir das jetzt bitte mit, Herr ...“

„Branagorn, Herzog von Elbara.“

Haller atmete tief durch. „Wie auch immer! Haben Sie gesehen, dass ...“ Haller deutete in Richtung der Toten, aber Branagorn war offensichtlich gedanklich mit etwas völlig anderem beschäftigt.

Raaben trat hinzu und flüsterte an Haller gerichtet: „Das ist ein Spinner, auf den sollten wir nichts geben.“

„Ich glaub auch“, murmelte Haller und wandte sich wiederum an Anna van der Pütten. „Verständigen Sie den Sozialpsychologischen Dienst?“

„Wie – in die Klapse?“, fragte Willi Ternieden ziemlich laut. „Kommt der jetzt einfach so davon? Herr Schmitt hat sich strafbar gemacht! Versuchte Körperverletzung und Bedrohung! Pardon, versuchte schwere Körperverletzung, schließlich ist eine Waffe verwendet worden!“

„Wenn Sie diesen Pest-Doktor hier irgendwo finden, steht einer Anzeige nichts im Wege“, meinte Raaben grinsend. Terniedens Blick glitt über die Menschenmenge. Die Suche nach dem Pest-Doktor hätte jetzt wohl der berühmten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen geglichen. „Allerdings weiß ich nicht, ob der wirklich Anzeige erstatten würde. Es schien ihm wichtiger zu sein, schnell abzuhauen!“

„Würden Sie nicht schnell zu türmen versuchen, wenn jemand mit einem Schwert hinter Ihnen her wäre?“, fragte Ternieden.

„Ja, das ist eine mögliche Erklärung dafür“, stimmte Raaben zu.

„Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass dieser Schwarze-Tod-Karnevalist der Barbier ist!“, ereiferte sich Ternieden.

Raaben zuckte mit den Schultern. „Voreilige Festlegungen sind der größte Feind eines erfolgreichen Ermittlungsabschlusses.“

Ternieden seufzte. „Zu unserer Zeit haben wir nicht gelernt, wie man so geschwollen redet. Ich weiß gar nicht, wie wir so unsere Arbeit schaffen konnten!“

Raaben wandte sich an Anna. „Da muss man doch kein Psychologe sein, um eine gewisse unterschwellige Aggressivität herauszuhören, oder?“

Anna kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn Haller ergriff nun das Wort. Ein Machtwort. „Lassen Sie alle nach einem Kerl Ausschau halten, der als Schwarzer Tod oder Pest-Doktor herumläuft. Ich will mir nicht nachsagen lassen, dass ich irgendeinen Hinweis nicht verfolgt hätte. Und was die Anzeige gegen Herrn Schmitt angeht, so leite ich Ihren Bericht und Ihre Anzeige gerne an den Staatsanwalt weiter, falls Sie von Amts wegen Anzeige erstatten wollen.“

„Was ist mit meinem Schwert?“, fragte Branagorn. Anna beobachtete schon eine ganze Weile, wie der bleiche Mann mit gesenktem Blick dastand, so als würde er intensiv den Boden absuchen. Sein Alter war schwer zu schätzen, fand Anna. Er konnte Ende zwanzig sein, aber manches an ihm wirkte seltsam greisenhaft und die pergamentartige, durchscheinende Haut trug ebenfalls zu diesem Eindruck bei. Außerdem war er sehr hager, was auch in einem Gesicht die Knochen hervorstehen ließ. Eigenartig, wenn ich nicht wüsste, dass in seinen Unterlagen ein Geburtsdatum stand, das ihn als gerade Dreißigjährigen auswies, so hätte Anna auch eine Angabe in den Fünfzigern ohne Verwunderung akzeptiert. Er selbst behauptete allerdings, bereits Jahrtausende lang gelebt zu haben – in dieser und anderen Welten. Elbenkrieger waren schließlich nahezu unsterblich.

„Ich brauche mein Schwert“, stellte Branagorn jetzt fest, machte einen Schritt auf die Leiche zu und schien dabei einen weiteren Quadratmeter grasbewachsenes Bodenareal der Telgter Planwiese systematisch mit den Augen abzusuchen. Dieses Mal fasste er seine Worte nicht in die Form einer Frage. Es war vielmehr eine unmissverständliche Forderung, die mit solchem Nachdruck über die Lippen gebracht wurde, dass Haller und Raaben aufhorchten. Ternieden machte hingegen nur eine wegwerfende Handbewegung, griff zum Walkie-Talkie und gab an die Kollegen eine kurze Beschreibung des Pest-Doktors durch.

„Ihr Schwert bleibt erst mal konfisziert“, erklärte Haller an Branagorn gerichtet.

„Mit welchem Recht?“, fragte Branagorn, ohne dabei den Blick vom Boden aufzurichten.

„Was heißt hier, mit welchem Recht?“

„Ein Schwert zählt juristisch nicht als Waffe“, erklärte Branagorn. „Rechtlich gesehen handelt es sich um ein stehendes Messer und für deren Besitz gibt es keinerlei Einschränkungen oder Meldepflichten, im Gegensatz zu Springmessern mit verdeckter Klinge, für die ab einer Klingenlänge von zehn Zentimetern gesonderte Bestimmungen gelten.“

„Sie rasseln das ja regelrecht herunter!“

„Ich habe mich informiert.“

„Hatten Sie schon mal Ärger wegen Ihres Schwertes – oder weshalb haben Sie das alles auf Abruf parat?“

Branagorn blickte jetzt auf. Er musterte Haller auf eine so intensive Weise, dass dies dem Kriminalhauptkommissar sichtlich unangenehm war. „Wollt Ihr Euch nun an die Gesetze halten und mir mein Eigentum zurückgeben?“

„Nein.“

„Ihr wollt das Gesetz vertreten und haltet Euch selbst nicht daran! Was für eine verderbte Welt! Was für ein schändliches Verhalten! Aber anstatt, dass Ihr das Böse sucht und findet, das in die Gestalt des Schwarzen Todes gefahren ist, quält Ihr jemanden, der reinen Herzens ist und so rechtschaffen, dass sich das Eure schmutzige Fantasie vermutlich gar nicht vorzustellen vermag!“

Raaben kicherte. „Tschuldigung, aber Sie haben wirklich eine seltsame Weise, sich auszudrücken.“ Er wandte sich an Haller. „Aber in der Sache hat er Recht!“

„Das Schwert bekommt er nicht wieder“, stellte Haller fest. „Und was das Juristische angeht, Herr Schmitt ...“

„Bitte Branagorn!“, bat der bleiche Mann. „Und im Übrigen beschwöre ich Euch! Bleibt bei den Buchstaben des Rechts, Herr, und überlasst mich nicht einer unkalkulierbaren Willkür! Denn wenn ich dem Traumhenker das nächste Mal begegne, so will ich es gut gerüstet tun!“

„Wie auch immer! Bei Großveranstaltungen ist es möglich, den Waffenbegriff etwas weiter auszulegen. Vor Fußballspielen sammeln wir auch alles Mögliche ein, was man ansonsten ohne Meldepflicht oder Genehmigung besitzen darf.“

„Und dieser Winkelzug soll rechtfertigen, dass Ihr mich um mein Eigentum bringt?“, brauste Branagorn auf und sein Gesichtsausdruck bekam eine Art wilder Entschlossenheit.

„Das ist kein Winkelzug, sondern unsere Gesetzeslage!“

„Ihr wollt das Entwenden eines Schwertes damit rechtfertigen, dass hier eine Großveranstaltung durchgeführt wird, auf der wiederum jeder zweite oder dritte Anwesende eine Klinge bei sich führt? Ihr wollt mich anscheinend für dumm verkaufen und verspottet mich!“

„Ich bin überzeugt davon, dass Sie Ihr Schwert nach Abschluss eines eventuellen Verfahrens - falls es dazu überhaupt kommen sollte – zurückerhalten werden, werter Branagorn“, mischte sich nun Anna van der Pütten ein, um die sich langsam aber sicher eskalierende Situation wieder etwas zu entspannen. Sie wandte sich an Haller und nickte ihm zu. „Nicht wahr, Herr Haller?“, fragte sie um Bestätigung heischend noch einmal nach, wobei sie in ihren Tonfall eine Art von Nachdruck legte, die dem Kriminalhauptkommissar bedeuten sollte, die Sache jetzt bitteschön endlich wieder etwas herunterzukochen. Haller seufzte.

„Ja, das kann ich Ihnen in der Tat hoch und heilig versprechen, Herr Schmitt, ich meine natürlich Herr Branagorn!“

Branagorns Blick bekam etwas Stieres. Er fixierte einen bestimmten Punkt am Boden. Anna glaubte zunächst, dies sei ein äußeres Zeichen der tiefen inneren Oppositionshaltung, die er Haller und den anderen Polizisten gegenüber zweifellos empfand. Auf jeden Fall stand hier ein Mensch, der bis ins innerste Mark empört darüber war, wie er behandelt wurde, und es offenbar einfach nicht nachvollziehen konnte, dass man ihn daran gehindert hatte, auf jemand anderen mit dem Schwert loszugehen. „Ich denke, wenn Sie Ihr Schwert ein paar Tage nicht zur Hand haben, werden Sie damit leben können, Branagorn.“

„Wenn Ihr das von mir verlangt, Cherenwen, dann werde ich es auf mich nehmen, ohne zu murren.“

„Da bin ich sehr froh!“

Branagorn streckte nun eine Hand aus und deutete auf einen bestimmten Punkt am Boden. „Dort sind Haare.“

Anna runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass sie im Moment gar nicht angesprochen worden war, sondern dass Branagorn seine Worte in Wahrheit an Sven Haller gerichtet hatte.

„Ich bin zwar kein Fährtensucher und es mag sicher andere geben, die sich auf die Kunst des Spurensuchens besser verstehen als ich, aber ich glaube, Ihr solltet diese Haare sichern, um daraus Eure Erkenntnisse herauszulesen, wie es bei Euch üblich ist, Herr Haller!“

„Ich sehe nichts!“, sagte Haller.

„Dann schaut genau hin. Es sind die Haare der Toten. Derjenige, der sie ihr abgenommen hat, scheint einige von ihnen verloren zu haben ...“ Branagorn folgte mit den Augen der Spur am Boden. „Hier sind ebenfalls Haare!“

Raaben hockte sich hin. Er hatte einen Latexhandschuh über die rechte Hand gestreift und blinzelte. Dann ging er auf die Knie, und beugte sich noch tiefer. „Da ist ja tatsächlich was!“, entfuhr es ihm. Er holte eine Pinzette und ein kleines Tütchen aus den Taschen seiner Lederjacke. Wenig später hielt er irgendetwas mit der Pinzette ins Licht. Anna konnte unmöglich erkennen, was es war.

„Das könnte wirklich ein Haar sein.“

„Fassen Sie nichts an!“, sagte Haller, als Branagorn sich der Toten bis auf wenige Schritte genähert hatte.

Branagorn deutete auf eine Stelle, etwa zwei Handbreit neben dem Kopf der Toten. „Hier ist ein Abdruck!“, stellte er fest.

Raaben war bei ihm.

„Da ist tatsächlich irgendetwas!“, wunderte er sich. „Könnten sogar Fingerabdrücke sein.“

„Vergesst die Fingerabdrücke“, fuhr Branagorn dazwischen. „Wenn Ihr die nehmt, dann zerstört Ihr die tatsächliche Spur.“

„Was sollte das bitteschön sein, wenn ich mal in aller Bescheidenheit fragen darf?“, warf Raaben mit einem halb spöttischen, halb ironischen Unterton ein.

„Die tatsächliche Spur besteht aus diesen Flecken hier!“

Er zeigte mit seinen dünnen, langen und sehr mager wirkenden Fingern auf das, was er meinte.

Raaben hob die Augenbrauen. „Ach, ja?“

„Es ist der Abdruck einer Hand, die sich hier kurz abgestützt hat!“

„Und warum sehen wir da keine Fingerabdrücke, deren Lage dazu passen würde?“

„Weil die Fingerabdrücke von den Leuten stammen, denen der Wagen gehört und schon vorher dort waren. Aber die anderen Abdrücke stammen von einer Hand, da bin ich mir sicher! Allerdings einer Hand, die von einem Handschuh bedeckt wurde. Deswegen ist es sinnlos, einen Abdruck finden zu wollen. Die kleinen unverwechselbaren Linien werdet Ihr nicht finden und daher auch nicht vergleichen können, werter Hüter der Ordnung!“

Raaben war ziemlich perplex.

Haller ebenfalls.

„Herr Schmitt hat anscheinend gute Augen“, stellte Raaben fest.

„Er stört trotzdem“, stellte Haller klar und wandte sich an Anna. „Frau van der Pütten, ich möchte, dass dieser Elbenkrieger hier verschwindet und uns unsere Arbeit machen lässt.“

„Ich sehe genau, was geschehen ist“, sagte Branagorn unterdessen. „Eine Person, die nicht größer als ein Meter siebzig ist, hat mit einem sehr scharfen Messer den Hals dieser Frau aufgeschlitzt. Es war eine einzige, von Wut erfüllte Bewegung, mit viel Kraft. Und sehr viel Hass. Dem Hass, den ein zuvor selbst zutiefst erniedrigstes Wesen empfindet oder jemand, der sich in höchster Lebensgefahr glaubt.“

„Branagorn!“, schritt Haller ein.

Aber der Elbenkrieger ließ sich nicht stoppen. Dass inzwischen der Gerichtsmediziner und ein Team der Spurensicherung eingetroffen waren, schien ihn nicht zu kümmern. Sein Blick wirkte glasig, so als würde er alles um sich herum ausblenden. Alles, bis auf ganz bestimmte Details, von denen er glaubte, dass sie eine Bedeutung hatten. Er sprach weiter, und Anna, die zuerst ebenfalls den Impuls in sich verspürte, ihn in seinem Redefluss zu stoppen, sagte dann doch kein Wort. Sie spürte eine eigenartige Faszination, die schwer zu erklären war. Branagorns Wortfluss entfaltete einen Sog, dem auch sie sich nicht entziehen konnte, auch wenn sie es eigentlich gewollt hätte. Es widerstrebte ihr zutiefst, sich einfach auf diese Straße aus reiner Fantasie entführen zu lassen. Ein schlüpfriger Regenbogen, der ins Nirwana führte und von dem man erwartete, dass er einen von jeglicher Erkenntnis entfernte. Aber eigenartigerweise hatte Anna genau das gegenteilige Gefühl – und vielleicht war es das, was sie am meisten verwirrte. Branagorn sprach über die Geschehnisse, die sich seiner Meinung nach hier zugetragen hatten so, als wäre er auf eine geheimnisvolle Weise in der Lage, sie zu sehen - nicht wie jemand, der lediglich eine begründete Hypothese aufstellte. Es schien ihm alles genauso klar vor Augen zu liegen, wie die Haare, die er am Boden gesehen hat oder der Handabdruck beziehungsweise das, was er dafür hielt. Das war ja noch keineswegs erwiesen. Genauso gut konnte wirklich alles nur Gerede sein, und Anna rief sich diese Möglichkeit ganz bewusst in Erinnerung.

„Das lange Messer, die Todessichel des Traumhenkers, wurde an der Kleidung abgewischt“, fuhr Branagorn fort. „Dreimal ist die Klinge am Stoff der Beingewandung entlanggestrichen worden und einmal an der Bluse, deren fließender Stoff das Blut nicht so leicht annimmt. Aber dennoch war dies der vierte Streich, denn das Gewehr war inzwischen schon fast zur Gänze gereinigt.“

„Gewehr?“, echote Raaben.

Branagorn drehte sich kurz um. „Ihr verzeiht, Unwissender. Ich vergaß, dass das Wort Gewehr innerhalb des letzten Jahrtausends eine Verarmung seiner Bedeutung hinnehmen musste und in dieser Zeit nicht mehr für jede Art der Bewaffnung von Messer bis zum Schwert oder einem explodierenden Handrohr steht, sondern nur noch für langläufige Schusswaffen verwendet wird.“

„Was Sie nicht sagen ...“

„Der Traumhenker hat vielerlei Gestalt. Diesmal ist er in eine Person gefahren, die sich befleckt sieht und die trotz ihrer grenzenlosen Wut die Schuld fühlen kann, die sie mit dem Blut an ihrem Messer abstreifen will, als hätte sie sich Kleider mit Staub besudelt.“ Er ließ aufmerksam den Blick schweifen. Die Augen der Gaffer, die sich in ziemlich großer Zahl versammelt hatten, hingen an Branagorn. Vielleicht war sich der eine oder andere sogar nicht hundertprozentig sicher, ob dies hier nicht vielleicht sogar Teil irgendeiner Vorstellung war, die im Rahmen des Mittelalter-Spektakels auf der Planwiese gegeben wurde. Anna entnahm das zumindest einigen Bemerkungen, die vorzugsweise von Leuten kamen, für die der schrecklich zugerichtete Leichnam aufgrund des Blickwinkels nicht zu sehen war. „Nicht mit dem Messer, sondern mit der Klinge eines Baders, die nicht länger ist als drei Finger!“

„Nennt man so etwas auf Deutsch nicht zufällig Rasierklinge?“, fragte Raaben spöttisch.

Branagorn ging nicht weiter darauf ein. „Man sieht an der Haut, wie die einzelnen Bahnen gezogen wurden. Die Klinge war sehr scharf. Der Traumhenker scheint ein Meister des Baderhandwerks gewesen zu sein! Kein Haar ist geblieben und er hat auch nur wenige verloren ...“ Er blickte plötzlich an sich herab und zuckte dabei förmlich zusammen. An seinem Ärmel schien er etwas entdeckt zu haben. Wenig später hatte er es in der Hand. Es war ein Haar – so schwarz und dick, dass es zu dem feinen und sehr hellen Haar dieses sonderbaren Mannes einfach nicht passte und daher auch nicht von ihm stammen konnte.

Branagorn wandte sich an Haller und hielt ihm das Haar hin. Er hielt es dabei mit Daumen und Zeigefinger. „Bewahrt dies auf, Hüter der Ordnung. Vielleicht gelingt es Euch, daraus mit der Magie Eurer Wissenschaft Erkenntnisse zu gewinnen.“

„Darf ich Sie daran erinnern, dass das Haar an Ihrer Kleidung war, Herr Schmitt!“

„Ich würde es bevorzugen, wenn Ihr mich Branagorn ...“

„Nein, diesen Mist mache ich nicht mit! Hier liegt eine Tote und da sollte das Spiel vorbei sein.“

„Wie auch immer – nehmt dieses Haar und untersucht es mit den Methoden, die Euch zur Verfügung stehen, Hüter der Ordnung, denn den meinen werdet Ihr gewiss misstrauen, so wie Ihr mir insgesamt recht argwöhnisch gegenübersteht!“

„Das kann man wohl sagen!“

„Dass dieses Haar an meiner Kleidung war, ist nicht verwunderlich! Der Totenhenker hat es dorthin übertragen, als ich mit ihm kämpfte. Ihr wart doch ein Zeuge dieses Geschehens, in dessen Verlauf mir mein Schwert genommen wurde!“

„Tun Sie ihm doch den Gefallen“, sagte Anna.

„Wenn Ihr Patient mir auch einen Gefallen tut, Frau van der Pütten! Er soll von hier verschwinden und sich augenblicklich aus dem markierten Bereich entfernen! Sofort!“

„Wenn Ihr Euer Versprechen haltet, so will ich Euch entgegenkommen“, versprach Branagorn.

Haller machte Raaben ein Zeichen mit der Hand. Daraufhin nahm Raaben das Haar an sich und tütete es fachgerecht ein, sodass man es einer Laboruntersuchung zuführen konnte.

Branagorn verneigte sich leicht. Dann schritt er davon.

Er drehte sich nicht noch einmal um. Mit einem etwas ungelenk wirkenden Sprung überwandt er das Flatterband. Seine Haare wehten dabei etwas zur Seite.

Anna sah in diesem Moment zum ersten Mal sein Ohr. Es lief spitz zu und wirkte irgendwie entstellt. Vielleicht die Folge eines Unfalls!, ging es ihr durch den Kopf. Dafür, dass es sich um das Ergebnis einer kosmetischen Operation handelte, war das Ergebnis einfach zu schlecht. Es gab Fälle, in denen sehr fantastische Rollenspieler, nicht nur im tägliche Leben als Ork, Teufel oder Vampir verkleidet waren, sondern sich zusätzlich noch chirurgisch-plastischen Eingriffen unterzogen, sich lange Zähne oder Implantate von Teufelshörnern einsetzen ließen. Eines stand jedenfalls für Anna fest. Das Werk eines Schönheitschirurgen war Branagorns Ohr auf gar keinen Fall!

„Herr Haller, entschuldigen Sie mich ...“

„Frau van der Pütten, lassen Sie diesen Spinner jetzt einfach laufen und unterstützen Sie mich hier! Bitte! Für Herrn Schmitt können Sie frühestens dann wieder etwas tun, wenn die Staatsanwaltschaft ihn von Amtswegen anklagt und Sie dann irgendein Papier aufsetzen können, das sich Gutachten schimpft und in dem diesem Verrückten dann bescheinigt wird, dass er nichts für die Dummheiten kann, die er begeht!“

Anna zögerte. Aber im nächsten Moment war Branagorn bereits in der Menge verschwunden. Sie ließ suchend den Blick umherschweifen, aber er war plötzlich nirgendwo mehr zu sehen.

„Er ist mein Patient“, sagte Anna schließlich.

„Aber nicht jetzt, Frau van der Pütten! Nicht jetzt! Denn jetzt brauche ich Sie hier! Und so lange verbannen Sie diesen Bekloppten bitte aus Ihren Gedanken. Meine Güte, man sollte mit dem Ritterspielen aufhören, wenn man älter als zehn ist, würde ich sagen! Alles andere ist doch krank!“

„Das nennt man LARP, Herr Haller.“

„Wie bitte?“

„Live-Acting Role-Playing. Sehen Sie sich um! Das ist heute nichts Ungewöhnliches!“


*


Anna ertappte sich dabei, dass sie immer wieder nach Branagorn Ausschau hielt. Sie fragte sich, ob sie ihn jetzt einfach so sich selbst überlassen konnte. Schließlich hatte er sich mit dem Pest-Arzt ja eine handfeste Auseinandersetzung geliefert, die um ein Haar ein schlimmes Ende hätte nehmen können.

Anna sah zu, wie der Gerichtsmediziner seine erste oberflächliche Begutachtung abschloss, gegenüber Haller die naheliegende Vermutung äußerte, dass tatsächlich der Kehlenschnitt die Todesursache war und wie dann der Leichnam in einen Zinksarg gelegt und abtransportiert wurde. Inzwischen war auch die Presse da. Nicht nur die örtliche, sondern auch Vertreter einer Boulevardzeitung, deren Logo auf seiner Tasche zu sehen war. Das lokale Fernsehen würde sicher auch nicht lange auf sich warten lassen. Vom Studio Münster des WDR aus war es schließlich auch nicht viel weiter, als wenn man die Fahrt nach Telgte am Friesenring begann.

Die Beamten der Spurensicherung machten sehr akribisch ihre Arbeit und inzwischen waren zusätzliche Beamte gekommen, die von Hauptkommissar Haller instruiert worden waren, die Personalien so vieler Besucher des Mittelalter-Marktes wie möglich aufzunehmen und sie danach zu fragen, ob sie vielleicht irgendwelche sachdienlichen Hinweise geben konnten, die Aufschluss über das Tatgeschehen geben konnten.

Wahrscheinlich würde es Wochen dauern, all diese Hinweise abzuarbeiten und dabei die Spreu vom Weizen zu trennen. Das war auch der Grund dafür, dass Sonderkommissionen, die direkt im Anschluss an ein Verbrechen eingerichtet wurden, zuerst unter Umständen mit über hundert Beamten besetzt waren und dann im Laufe der Zeit auf eine kleine Zahl von Ermittlern zusammenschmolzen.

Die Personalien aller Passanten auf dem Mittelalter-Markt aufzunehmen, war vermutlich nicht machbar. Schon jetzt strömten viele von ihnen zu den Parkplätzen, weswegen Willi Ternieden vorschlug, einige Beamte damit zu beauftragen, die Nummernschilder der dort parkenden Fahrzeuge zu notieren. Es konnte ja schließlich sein, dass man später auf einen möglichen Täter aufmerksam wurde und später Indizien dafür brauchte, dass er sich überhaupt am Tatort aufgehalten hatte.

Außerdem gab es eine Megafon-Durchsage, die alle aufrief, sich zu melden, die möglicherweise den Tathergang beobachtet hatten oder das Opfer kannten. „Wer von Ihnen kennt Jennifer Heinze aus Ladbergen? Falls sie nicht allein auf dem Mittelalter-Markt war, so sollten ihre Begleiter sich umgehend mit der Polizei in Verbindung setzen, denn jede Information kann der Aufklärung des Verbrechens dienen.“

Haller wandte sich an Anna van der Pütten.

„Tun Sie mir in Zukunft einen Gefallen, Frau van der Pütten!“

„Wenn es sich machen lässt!“

„Halten Sie mir diesen Irren in Zukunft vom Leib!“

„Wie kommen Sie darauf, dass er Sie noch mal ansprechen wird?“, fragte Anna.

Haller sah sie etwas verwundert an. „Hören Sie, dazu braucht man nicht Psychologie studiert zu haben, um das zu prognostizieren.“

„Ach, nein?“

„Der schien doch regelrecht besessen von diesem Geschehen hier zu sein und hat es anscheinend in seine Wahnvorstellungen integriert! Das ist nichts Besonderes. Bei viele Querulanten ist das der Fall. Die quälen einen dann oft sehr ausdauernd mit ihren angeblichen Hinweisen und wollen einem erklären, wie man zu arbeiten hat, wen man am besten verhaften sollte und so weiter!“

„Na, wenigstens glauben Sie nicht, dass er etwas mit dem Verbrechen zu tun hat.“

„Wir werden uns natürlich sein Schwert genau anschauen, aber wie es scheint, hat es nicht die richtige Form und ist auch viel zu stumpf, um die Tatwaffe gewesen zu sein. Ich will natürlich nicht den Laboruntersuchungen vorgreifen, aber ...“

„Sie haben ernsthaft vor, die Waffe einzuschicken?“

„Natürlich!“

Anna war ziemlich perplex. „Dann müssten Sie theoretisch alle Dolche und Messer und was es sonst noch an mittelalterlichen Hieb- und Stichwaffen zur Zeit auf der Planwiese so gibt, einsammeln und untersuchen! Da hätten Sie dann aber eine Waffenkammer zusammen, über die sich Barbarossa und Co. sicherlich gefreut hätten!“

„Verlassen Sie sich darauf, dass unsere Kollegen bei ihren Befragungen den Aspekt 'verdächtige Bewaffnung' durchaus im Auge haben“, stellte Haller klar.

„Na, da bin ich ja beruhigt.“

„Aber zurück zu dem, was hier geschehen ist! Es muss sehr schnell gegangen sein. Ein einziger Hieb und das Opfer sank zu Boden. Ich habe gerade mit den Spurensicherern gesprochen. Vermutlich wurde das Opfer in seine jetzige Position geschleift – ein oder zwei Meter weit.“

„Wir haben auf jeden Fall wieder eine neue Tötungsmethode“, stellte Anna fest. Die bisherigen Opfer dieser Serie waren entweder mit einem Jagdgewehr erschossen, mit einer Drahtschlinge erwürgt oder - wie vor einem halben Jahr das vorletzte Opfer – mit einem stumpfen, bisher nicht identifizierten Gegenstand erschlagen worden.

„Schließen Sie irgendetwas daraus?“, fragte Haller.

„Wenn es kein anderer Täter ist, der sich den Barbier zum Vorbild genommen hat, dann scheint er blutiger, brutaler, wütender zu werden. Mit einer Schusswaffe haben Sie eine große Distanz zwischen Täter und Opfer. Bei einer Drahtschlinge oder einer Keule sehen sie kein Blut. Der Tod kommt fast klinisch rein daher. Aber wenn Sie jemandem mit einem Messer die Kehle aufschlitzen, dann ist das schon eine sehr direkte Form der Konfrontation. Der Täter hat Jennifer Heinze direkt in die Augen geschaut, gesehen, wie der Schrecken in ihrem Gesicht stand, die Todesangst, das Entsetzen über den unmittelbar bevorstehenden Tod ...“

„Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen. Glauben Sie, er wollte das? Hat er es genau auf diese Eindrücke abgesehen?“

„Ja, das könnte sein. Er hat es diesmal auch in Kauf genommen, sich im wahrsten Sinn des Wortes mit Blut zu besudeln, denn bei dieser Mordmethode kann eigentlich niemand damit rechnen, ohne Blutspritzer davonzukommen.“

Haller nickte. „Das gilt selbst für Elitesoldaten und Schächter, die eigentlich gelernt haben, wie man mit einem Messer tötet.“

Schächter und Elitesoldaten – ein eigenartiger Zusammenhang, den Haller da ganz beiläufig und nur unter dem rein handwerklichen Aspekt betrachtet herstellte, fand Anna. Aber genau dieser in anderer Hinsicht gewiss etwas irritierende Vergleich setzte bei Anna einen Gedankenfluss in Gang. „Vielleicht war Branagorns Gedanke gar nicht so weit von dem entfernt, was ...“

„Kommen Sie mir nicht wieder mit dem Spinner! Ein paar Haare auf dem Boden zu finden ist keine Kunst! Was glauben Sie, wie viele Leute hier herumlaufen und andauernd Haare verlieren. Und abgesehen davon ...“

„Nein, das meine ich nicht“, widersprach Anna.

Haller hob die Augenbrauen. „Sondern? Was dann?“

„Ich war gedanklich immer noch bei dem vorhergehenden Aspekt. Das mit dem sich mit Blut besudeln. Wenn es wirklich derselbe Täter war, scheint er immer weniger Scheu gehabt zu haben.“

„Korrekt. Erst das Gewehr, dann die Drahtschlinge, zuletzt die Keule oder was es auch immer gewesen sein mag und nun eine richtige Sauerei!“

„Also jemand, der sich eigentlich nicht gerne die Hände oder irgendetwas anderes schmutzig macht. Warum hat er es jetzt aber in Kauf genommen? Vielleicht deswegen, weil er sich in irgendeiner Form davor geschützt hat!“

„Ich komme nicht ganz mit Ihrer Argumentation mit, Frau van der Pütten!“

„Verstehen Sie wirklich nicht? Der Pest-Arzt, mit dem Branagorn aneinandergeriet! Die Pest-Ärzte des Mittelalters haben diese Schnabelmasken getragen, um sich vor den Ausdünstungen der Kranken zu schützen – auch davor, dass sie mit hochinfektiösem und in der Regel mit Blut vermengten Speichel angespuckt wurden und sich dabei selbst infizierten.“

„Das ist doch an den Haaren herbeigezogen!“, glaubte Haller. „Verzeihen Sie diese Ausdrucksweise angesichts der besonderen Umstände dieses Verbrechens, bitte! Aber Sie können doch nicht im Ernst daraus schließen, dass der Täter hinter dieser Pest-Maske steckte und der edle Elbenritter namens Schmitt das natürlich mit seinen Argusaugen sofort erkannt hat und nichts anderes im Sinn hatte, als den Täter zu stellen – beziehungsweise einen Unhold mit dem Schwert zu enthaupten, wie dieser komische Vogel sich wahrscheinlich ausgedrückt hätte!“

„Es würde aber passen!“, beharrte Anna. „Das mit dem Pest-Doktor, meine ich! Es würde psychologisch und vom vermutlichen Tatgeschehen her zusammenpassen, das war alles, was ich dazu sagen wollte! Und keine Sorge, ich werde jetzt nicht versuchen, mit Hilfe irgendwelcher magischen Sprüche, unsere bisher reichlich dürftigen Erkenntnisse zur Täterpersönlichkeit noch etwas zu vermehren!“

„Das beruhigt mich, Frau van der Pütten!“, seufzte Haller.




Der Irre aus Münster

„Ey, guckst du komisch!“, rief einer der Jugendlichen, die vor dem Siebziger-Jahre-Wohnblock herumlungerten. Sie trugen tief hängende Hosen und ihre Kapuzen-Shirts hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit Branagorns Wams.

Brüningheide oder Kinderhaus-West hieß dieser Stadtteil von Münster, der seinem Image als sozialer Brennpunkt trotz aller amtlichen Anstrengungen nie wirklich entkommen war. In einem dieser Hochhäuser, die wie eine Zeitkapsel den Eindruck einer Satellitenstadt aus den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts bewahrten, wohnte Frank Schmitt alias Branagorn, Elbenkrieger aus dem Gefolge des Königs von Elbiana und Herzog von Elbara, den man auch Branagorn, den Suchenden nannte. Ein kleines Apartment, das abgesehen von Küche und Bad nur aus einem einzigen Raum bestand, hatte man ihm zugewiesen. Aber er fand, dass er schon schlechter gewohnt hatte. Immerhin war die Wohnung – anders, als eine, die er zuvor belegt hatte – frei von Schimmel. In dieser Hinsicht war er empfindlich. Er konnte Schimmel sofort in der Nase spüren und hasste alle intensiven Gerüche. Die Wohnung hatte Doppelglasscheiben, was bei Bauten dieser Jahrgänge nicht selbstverständlich war. Die waren immerhin ganz gut gegen Lärm, auch wenn sie eigentlich aus Energiesparerwägungen allgemeiner Standard geworden waren. Aber Branagorn war lärmempfindlich. Starke Gerüche und Lärm – diese Kombination war für ihn nur sehr schwer erträglich und deswegen ging er eigentlich auch jeglichen Menschenansammlungen aus dem Weg.

Umso mehr Überwindung hatte ihn der Besuch des Mittelalter-Marktes gekostet. Aber es hatte schließlich einen guten Grund gegeben, dort hinzugehen.

Der Traumhenker, sein alter Feind war dort gewesen. Er hatte es gespürt. Und nur deswegen hatte er sich unter all die Menschen gemischt, unter ihre schwer erträglichen Gerüche und ihr manchmal dröhnendes, manchmal schrilles Gerede, das von stampfender Musik untermalt wurde. Seine Sinne waren empfindlich. Er liebte die Stille, wie er sie manchmal in dem idyllisch gelegenen Gelände der westfälische Landesklinik für Psychiatrie im etwa vierzig Kilometer entfernten Lengerich genießen konnte.

Wenn er unter Leuten war, dann musste er sich willentlich gegen all die von außen auf ihn einströmenden Sinnesreize abschirmen. Und manchmal, so hatte er das Gefühl, überrollte ihn einfach diese Welle aus Geschrei und Gestank und er brach darunter vollkommen erschöpft zusammen.

„Ey, hörst du auch schwer?“, sprach der Typ im Kapuzen-Shirt ihn noch einmal an, obwohl Branagorn ihn zu ignorieren versucht hatte. „Redest nicht mit jedem, oder was? Guckst du echt eingebildet!“

Einige der jungen Männer lachten dröhnend. Die Mädchen kicherten. Es war nicht das erste Mal, dass Branagorn zum Ziel ihres Spottes wurde, was er für gewöhnlich mit Gleichmut ertrug.

„Ey, der ist so blass wie ein Vampir! Der sollte echt mal in die Sonne gehen!“, tönte der Kerl herum.

Branagorns Handy klingelte.

Er holte das Gerät unter seinem Wams hervor und nahm das Gespräch entgegen.

„Wer begehrt mit Hilfe des sprechenden Artefakts mit mir zu reden?“, fragte er.

„Die Zeichen auf Ihrem Display sollten es Ihnen eigentlich verraten haben, Branagorn“, sagte eine Frauenstimme. „Ich bin es, Anna van der Pütten – falls Sie meine Stimme noch immer nicht erkannt haben sollten!“

„Natürlich habe ich Eure Stimme erkannt, werte Cherenwen! Wie könnte ich sie je vergessen!“

„Ich wollte eigentlich nur wissen, ob Sie gut nach Hause gekommen sind.“

„Ich danke Euch für Eure Sorge, holde Cherenwen.“

„Sie waren ja recht aufgebracht auf dem Mittelalter-Markt in Telgte.“

„Die Gründe dafür sind Euch bekannt, obgleich ich den Eindruck habe, dass eine besondere Form der Einfalt Eure Seele zu schützen scheint.“

„Das ist wirklich eine sehr charmante Art und Weise, mir zu sagen, dass Sie mich für eine Idiotin halten, Branagorn.“

„Der Traumhenker ist unterwegs. Er ist aus der Starre seiner Untätigkeit erwacht und er wird wieder zuschlagen. Vielleicht in anderer Gestalt, vielleicht mit der Hilfe einer anderen, ihm verwandten und ebenso hasserfüllten und zynischen Seele. Es ist nicht die Frage, ob es geschieht, werte Cherenwen. Es ist nur die Frage, wann das sein wird.“ Er machte eine Pause, erreichte gerade die Tür des Wohnblocks und trat im nächsten Augenblick ins Innere. Manche der Postfächer quollen von Reklamesendungen über, so als hätten die Austeiler sich alle Mühe gegeben, hier so viel wie möglich von ihren Sonderangebotsprospekten loszuwerden. Die Wände waren mit Graffiti verschmiert. I SHIT ON YOU stand da in großen, kunstvoll verschnörkelten Buchstaben. Der Geruch von Urin und Erbrochenem hing in der Luft. Manchmal kam es vor, dass ein Betrunkener es nicht bis zu seiner Wohnung schaffte. Vor allem dann nicht, wenn der Aufzug defekt war, was sehr häufig vorkam.

Branagorn ging den Flur entlang, während er das Gespräch mit Anna van der Pütten fortsetzte.

„Ihr seid keine Idiotin“, widersprach er ihren letzten Worten. „Vielmehr seid Ihr eine reine Seele, die zu arglos ist, um zu erkennen, welche Gefahr droht! Und im Übrigen unterhalte ich mich gerne mit Euch, denn unsere Seelen sind verwandt.“

„Dann schlage ich vor, dass wir unsere Unterhaltung bei unserer nächsten Sitzung fortsetzen.“

„Die ist erst in drei Tagen!“

„Wie gesagt, ich wollte nur sichergehen, dass es Ihnen gut geht, Branagorn. Wir sehen uns am Dienstag.“

„Ihr braucht meine Hilfe schon vorher, Cherenwen. Der Traumhenker wird erneut Blut fließen lassen. Vielleicht schon sehr bald ...“

„Bis Dienstag, Branagorn“, beharrte Anna van der Pütten.

Das Gespräch war zu Ende. „Oh sprechendes Artefakt, wie jämmerlich, dass ein Zauber nur die Worte, aber nicht die Gedanken zu übertragen vermag. Ihr habt es nicht begriffen, wovor ich Euch warnen wollte“, murmelte Branagorn, während er noch auf das Display blickte, wo ihm angezeigt wurde, dass die Verbindung nicht mehr bestand.

Er hörte Schritte hinter sich.

„Ey, du hast schönes Handy!“, hörte er die Stimme des Kerls, der ihn schon draußen angesprochen hatte.

Branagorn blickte auf. Auf dem Kapuzen-Shirt seines Gegenübers stand das Wort DELIGHT - „Freude“ - in verschnörkelten Großbuchstaben. Es wirkte in diesem Moment wie ein ironischer Kommentar auf das Erscheinen dieses Kerls.

Er war einen halben Kopf größer als Branagorn und im Gegensatz zu dessen eher hageren Gestalt wirkte er sehr kräftig. An der Rechten trug er einen Schlagring. Branagorn war das sofort aufgefallen.

Der Kerl mit dem Delight-T-Shirt streckte die geöffnete Linke aus und sagte: „Gib es mir!“

Branagorn hatte einiges aus den Gesprächen mitbekommen. Zum Beispiel, dass die anderen ihn Taliban nannten, weil er im letzten Jahr versucht hatte, sich einen Bart wachsen zu lassen, was allerdings über ein relativ bescheidenes Endergebnis nicht hinausgekommen war. Der Spitzname war allerdings geblieben. Abgesehen davon war Taliban offenbar dafür bekannt, dass er von anderen die Herausgabe von Geld, Handys, Mp3-Playern oder anderen, als wertvoll angesehenen Dingen erpresste. In der Auswahl seiner Opfer war er nicht besonders wählerisch. Meistens waren es Altersgenossen, aber er beklaute auch Rentner, wenn er zu wenig Kleingeld in der Tasche hatte, um sich seinen Haschkonsum finanzieren zu können.

Jeder redete im Haus davon. Jeder wusste Bescheid, aber bislang hatte es noch niemand gewagt, etwas gegen Taliban zu unternehmen. Es hieß, dass er ein paar ihm treu ergebene Gefolgsleute hatte, die einem auch dann noch einen ungebetenen Besuch abstatten konnten, wenn er selbst verhindert war, weil er mal wieder eine der kleineren Strafen absitzen musste, zu denen er mehr oder weniger regelmäßig verurteilt wurde, wenn ihn die Polizei mal wieder nach einer Marihuana-Einkaufstour nach Holland mit frischer Ware erwischte.

Taliban hatte Branagorn bisher – sah man mal von seinen abfälligen Bemerkungen ab – in Ruhe gelassen. Offenbar war diese Schonzeit nun zu Ende. Vielleicht hatte er auch einfach bisher noch nicht gesehen, dass der Elbenkrieger ein Handy besaß.

„Ich sehe keinen Anlass, Euch mein Eigentum zu überlassen, werter Herr!“, erklärte Branagorn ruhig und machte keinerlei Anstalten, seinem Gegenüber das Mobiltelefon auszuhändigen.

„Ey, du laberst! Kannst du nicht Deutsch oder was?“

„Ich spreche viele Sprachen und Ihr scheint Euch in der Euren ein wenig vergriffen zu haben“, erwiderte Branagorn.

Taliban kniff die Augen zusammen, sodass sie zu schmalen Schlitzen wurden. Branagorn nahm einen Geruch wahr, der eine für sein olfaktorisches Feinempfinden äußerst anstrengende Mischung aus Schweiß, Marihuana und noch ein paar anderen Komponenten war. Was Letzteres betraf, so wollte der Elbenkrieger gar nicht so genau wissen, welche Anteile da im Einzelnen noch vorhanden waren. Er spürte so schon einen kaum zu unterdrückenden Brechreiz.

Taliban hob die geöffnete Hand und deutete auf die leere und mit Elbenrunen verzierte Lederscheide, die Branagorn an dem breiten Gürtel trug, der sein Wams zusammenhielt. „Hattest du nicht immer ein Schwert bei dir?“

„Heute nicht.“

„Wer hat es dir abgezogen?“

„Die Hüter der Ordnung.“

„Bullen? Arme Sau!“

„Verzeiht mir, werter Taliban, wenn ich das Gespräch mit Euch nicht fortzusetzen gedenke.“

Branagorn wollte einfach an Taliban vorbei in Richtung des Aufzugs gehen, aber der Kerl mit dem Delight-T-Shirt stellt sich ihm erneut entgegen. „Los, Handy her!“

„Ich werde Euch mein sprechendes Artefakt nicht geben!“

Taliban drängte Branagorn mit seiner schieren Körpermasse gegen die Wand. „Komm mir nicht dumm, du bleicher Arsch!“

Branagorn befreite sich mit einem kräftigen Stoß gegen die Schulter seines Gegenübers. Taliban ließ die Faust mit dem Schlagring nach vorne schnellen – genau auf Branagorns Kopf zu. Aber dieser wich mit einer Geschwindigkeit zur Seite, die man dem zerbrechlich wirkenden, blassen Mann kaum zutraute. Die Faust mit dem Schlagring krachte in die Wand. Der Schlagring hinterließ dort einen sehr charakteristischen Abdruck. Während Branagorn sich mit einem schnellen Schritt endgültig aus der Reichweite seines Gegners brachte, schrie Taliban laut auf und hielt sich die Hand.

„Verdammte Scheiße!“, rief er.

In diesem Moment passierten einige seiner Freunde, vor denen Taliban vor Kurzem noch seine große Show abgezogen hatte, die Außentür des Wohnblocks und betraten wenig später den Flur, der zu den Aufzügen führte.

Sie blieben stehen und wirkten einen Moment lang wie erstarrt.

„Ey, was ist passiert?“, fragte einer von ihnen.

Taliban wollte etwas sagen, konnte aber kein verständliches Wort herausbringen, weil ihm der Schmerz in der Hand wohl daran hinderte.

„Hat der dünne Mann dich geschlagen, oder was?“

„Scheiße!“

„Hätte nie gedacht, dass der Irre dich schafft, Alter!“

Talibans Gesicht lief dunkelrot an.

„Ich darf Euch versichern, dass es keinen Kampf gegeben hat“, erklärte nun Branagorn.

„Bin ausgerutscht! Mit Schlagring an der Hand!“, knurrte Taliban. „Ist scheiß glatt hier! Ey, ich sach dir, verklagen sollte man die Scheiß-Putzfrau! Und das Handy von dem Typ da ist auch echt arm! Voll Scheiße und billig! Wer will so'n Teil tragen ohne schämen?“

Für einen Moment trafen sich die Blicke von Branagorn und Taliban. Dann ging der Elbenkrieger den Flur entlang bis zu den Aufzügen. Es gab insgesamt drei davon – und nur an einem davon stand ein Schild mit der Aufschrift DEFEKT. Ein ach so seltenes Zeichen der Hoffnung in einer bösen Welt!, dachte der Elbenkrieger.


*


Branagorn fuhr hinauf in den zehnten Stock und erreichte schließlich eine Wohnungstür. F'ank S'hmit' stand da an der Tür. Drei Buchstaben waren nicht mehr zu lesen. Aber das bedeutete ihm nichts und er dachte auch nicht im Traum daran, dies in Ordnung zu bringen. Frank Schmitt wirkte auf ihn manchmal wie der Name eines Fremden, mit dem ihn nichts verband, außer der Tatsache, dass er ihn auf die Formulare schreiben musste, die ihn dazu berechtigten, alle möglichen staatlichen Hilfen in Anspruch zu nehmen. Aber ansonsten hatte dieser Name nicht das Geringste mit ihm tun. Nicht mit seiner Seele und dem, was im Innersten seine Persönlichkeit ausmachte.

Er trat in die außerordentlich spärlich eingerichtete Wohnung. Eine Matratze lag auf dem Boden, ein paar Kleidungsstücke sorgfältig aufgeschichtet in einer Ecke. Außerdem gab es ein Gestell aus Gusseisen, das eigentlich wohl mal als Ständer für ein Kaminbesteck gedient hatte.

In Branagorns Wohnung allerdings diente es als Waffenständer. Mehrere Schwerter und Rapiers unterschiedlicher Größe waren dort zu finden. Und es gab ein Regal mit Büchern. Es waren fast hundert.

Branagorn schnallte den Gürtel mit der leeren Schwertscheide ab und warf beides auf die Matratze. Dann schritt er zur Balkontür und trat ins Freie. Er schnüffelte zunächst vorsichtig und mit deutlich ablesbarem Misstrauen in den Gesichtszügen, so als wollte er keinen zu kräftigen Atemzug nehmen, ehe er nicht überprüft hatte, ob die Geruchsqualität der Luft einigermaßen erträglich war. Erträglich – nicht etwa gut oder hervorragend.

Je nachdem, wie der Wind stand und welche Industrieanlage in Münster gerade welche Gerüche seinem Balkon entgegenwehte, konnte die Qualitätsbeurteilung ganz unterschiedlich ausfallen.

Branagorn wagte nun einen etwas kräftigeren Atemzug und ließ den Blick über das von Hochhausbauten geprägte Kinderhaus schweifen. Von hier aus konnte man sogar das Signal-Iduna-Hochhaus mitten in der Stadt und die Lambertikirche sehen.

Hier irgendwo, in diesen Straßen, zwischen diesen Häusern und in diesem Land bist du also, Traumhenker!, ging es ihm durch den Kopf. Du hast es darauf angelegt, dich mit mir zu messen! Nun gut, du sollst dein Duell haben! Ich, Herzog von Elbara und treuester unter den Gefolgsmännern des Königs von Elbiana, bin dazu bereit! Du wirst mir nicht entkommen, Bringer des Übels und Verderber der Seelen!

Und während Branagorns dürre Hände um die Balkonbrüstung fassten, schloss er die Augen und lauschte. Irgendwo da draußen schlug jetzt das Herz einer Mörderseele etwas schneller, weil sie genau wusste, was er getan hatte und dass es dafür keine Vergebung geben konnte.

„Du wirst mir nicht entkommen, Traumhenker“, murmelte Branagorn und es klang wie ein sehr feierliches Versprechen.




Letzte Ausfahrt Ladbergen

Haller fuhr für Annas Geschmack ziemlich schnell. Hansalinie hatte man die A1 früher genannt, und sie durchschnitt das Münsterland wie ein gebogener Dorn und hatte außer einigen tausend Unfalltoten auch ein paar kleinere Baggerseen hinterlassen, wie zum Beispiel die Buddenkuhle in Ladbergen.

Haller nahm die Ausfahrt.

„Sie haben gar nicht Ihr Navi eingeschaltet“, stellte Anna fest.

„Brauche ich nicht. Ich komme von hier.“

„Aus Ladbergen?“, fragte sie und betonte dabei das Wort auf der vorletzten Silbe.

„Nein, aus Ladbergen“, widersprach Haller und betonte die erste Silbe. „Allein an der Aussprache hört man schon, dass Sie nicht aus Ladbergen kommen.“

„Das sind eben die kleinen Unterschiede!“

„Na ja, streng genommen bin ich auch ein Zugezogener. Meine Eltern haben hier in den Siebzigern gebaut, weil das Land so billig war. Und ganz ehrlich: Zuerst haben wir auch Ladbergen gesagt!“

„Na, da bin ich ja beruhigt!“

„Im Übrigen sind die Auswärtigen schon seit langem in der Mehrheit.“

„Na ja, Ladbergen war für mich bisher immer nur eine Ausfahrt an der Autobahn, wenn ich zwischendurch mal in den westfälischen Landeskliniken in Lengerich zu tun hatte“, meinte Anna. „Ist ja vielleicht auch nicht gerade eine Weltstadt!“

„Sagen Sie so etwas nicht! Nicht über die Heimat von Neil Armstrong!“

„Wie bitte?“

„Ja, wussten Sie das nicht? Die Vorfahren von Neil Armstrong, dem ersten Menschen auf dem Mond, stammen aus Ladbergen. Ich habe in der Schule neben jemandem gesessen, der mit Armstrong verwandt war. Etwas weitläufig natürlich.“

„Dann dürft hier ja einiges los gewesen sein, als Armstrong vom kleinen Schritt für einen Menschen und vom großen für die Menschheit gesprochen hat und einen Fußabdruck hinterließ!“

„Und Sie denken, dass ich alt genug sein müsste, um das noch erlebt zu haben?“

„Haben Sie nicht?“

Haller erreichte die Kreuzung und bog von der Saerbecker Straße in die Lengericher Straße, vorbei an einer Tankstelle auf der rechten Seite.

„Ich war vier!“, sagte Haller. „Und wir sind erst ein Jahr später hierhergezogen.“

„Dann haben Sie das verpasst!“

„Nein. Mein Freund in der Schule sagte, dass gar nichts los gewesen sei, als Neil Armstrong den Mond betrat.“

„Ach!“

„Es war Schützenfest! Und das war wichtiger! Überall haben sich die Leute die Mondlandung im Fernsehen angesehen. Mein Vater hatte extra einen Bunt-Fernseher gekauft. Eine Riesenkiste! Nur in Ladbergen-Wester hat niemand hingesehen, denn was ist schon eine Mondlandung, wenn man zum Schützenfest gehen kann!“

Anna lachte. Und Haller, der sonst eher verkniffen dreinsah, lächelte zumindest kurz.

Vielleicht reden wir nur so viel, weil wir uns von der äußerst unangenehmen Aufgabe ablenken wollen, die vor uns liegt!, dachte Anna. Es war niemals Routine, den Angehörigen eines Mordopfers zu begegnen. Für keinen Polizisten und auch auch nicht für jemanden, der Psychologie studiert hatte. Es gab eben einfach Situationen, da hatte jegliches Bemühen um professionelle Distanz ihre Grenzen.

Haller bog noch mal ein und anschließend ein weiteres Mal. Anna hatte längst die Orientierung verloren. Sie befanden sich in einer Siedlung mit schmucken Einfamilienhäusern. Alle rot verklinkert mit grauweißen Fugen. Für architektonische Firlefanz boten die strengen Bauvorschriften keinen Platz.

Schließlich bemerkte Anna das Schild mit der Aufschrift 'Lerchenweg'. Vor einem der rot verklinkerten Bungalows stellte Haller den Wagen ab. „Hier ist es“, sagte er knapp.

„Tja ...“

„Zum Glück war schon ein Kollege hier und hat den Eltern von Jennifer Heinze die traurige Nachricht überbracht.“

„Das heißt keineswegs, dass für uns die Aufgabe jetzt angenehmer wird“, wandte Anna ein.

„Stimmt“, musste Haller zugeben. „Für einen Sonntag Vormittag kann ich mir wirklich Angenehmeres vorstellen, als mit den Eltern eines Mordopfers unangenehme Fragen zu erörtern.“

„Es wundert mich, dass sich bisher niemand gemeldet hat, der mit ihr zusammen auf dem Mittelalter-Markt in Telgte war“, sagte Anna. „Wir haben doch auch keinen Wagen gefunden, der zu dem Schlüssel passt, den sie bei sich trug!“

„Das mit dem Wagen wundert mich auch“, sagte Haller. „Aber wieso sollte sie nicht alleine zu dem Markt gefahren sein?“

„Weil die meisten, die ich da gesehen haben, eindeutig in Gruppen gekommen waren. Man verkleidet sich, geht zusammen über den Markt, kauft sich ein paar Sachen, die man unbedingt glaubt haben zu müssen und die das eigene Mittelalter-Feeling etwas auf Vordermann bringen ...“

„Jennifer Heinze war nicht verkleidet“, stellte Haller klar. „Sie trug ganz normale Straßensachen. Nicht wie Ihr spezieller Elbenfreund zum Beispiel!“

Sie stiegen aus.

Wenig später standen sie vor der Haustür. Haller klingelte. Ein Mann mit Halbglatze machte auf. „Haller, Kripo Münster. Dies ist unsere Psychologin, Frau ...“

„Meine Frau und ich trauern, aber wir sind nicht bekloppt und es gibt bei uns in Ladbergen nicht mal einen Kirchturm, der wirklich hoch genug, um sich mit gutem Gewissen zu Tode stürzen zu können. Also machen Sie sich keine Sorgen!“

„... ich wollte sagen, dies ist Frau van der Pütten und wir würden Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen. Sie sind Herr Heinze, nehme ich an.“

„Nehmen Sie richtig an.“

„Dürfen wir hereinkommen?“, fragte Anna.

Herr Heinze atmete tief durch. Es hörte sich an, als würde er unter einer Zentnerlast ächzen. Und wahrscheinlich war ihm auch genauso zumute.

„Kommen Sie“, murmelte er. „Aber dass meine Frau in der Verfassung wäre, mit Ihnen zu reden, kann ich Ihnen nicht versprechen!“


*


Herr Heinze führte sie in ein weitläufiges Wohnzimmer mit dicken, lederbezogenen Sesseln und Perserteppichen auf Parkett.

„Setzen Sie sich“, sagte er. „Ich komme gleich wieder. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“

„Nein, danke“, sagte Haller.

„Mir auch nichts“, ergänzte Anna.

„Ich habe nur Kaffee da. Oder einen Korn. Den habe ich erst mal gebraucht, als Ihre Kollegen hier waren und uns gesagt haben, was mit ...“ Herr Heinze sprach nicht weiter. Er schluckte und sein Gesicht wurde dunkelrot.

„Es ist schon gut, Herr Heinze. Machen Sie sich um unser Wohl keine Gedanken“, sagte Anna. „Sie stehen jetzt im Mittelpunkt. Und Sie haben alles Recht dazu, zu trauern und eine Weile in erster Linie an sich selbst zu denken.“

Er warf Anna einen kurzen Blick zu und nickte stumm.

Herr Heinze ging hinaus, verschwand durch eine Tür in einem anderen Raum und kehrte nach ein paar Augenblicken zurück. „Entschuldigen Sie, wenn meine Frau heute nicht mit Ihnen reden möchte. Sie schafft das einfach nicht und ist völlig am Ende.“

„Vielleicht kann ich ihr helfen“, sagte Anna.

Herr Heinze schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte er mit einem Tonfall, der an den Klang von klirrendem Eis erinnerte. „Das können Sie nicht!“ Er setzte sich. Sein Blick wirkte sehr nachdenklich. Er sah zwar in Hallers Richtung, schien aber durch ihn hindurchzusehen, so als wäre der Kriminalhauptkommissar gar nicht da.

„Herr Heinze, wir haben bei Ihrer Tochter einen Wagenschlüssel gefunden. Aber keines der Fahrzeuge, die wir auf dem Parkplatz an der Planwiese in Telgte gefunden haben, passte zum Schlüssel.“

„Sie hat einen Smart. Den haben wir ihr geschenkt. Ich glaube, das war nach ihrer bestandenen Prüfung, die sie zur Bankkauffrau gemacht hat. Sie war immer eher fleißig und hat alles mit Bestnoten hinter sich gebracht.“

„Farbe und Kennzeichen?“

„Gelb“, sagte Herr Heinze. „Und was das Kennzeichen angeht, schaue ich mal in meinen Unterlagen nach. Auswendig weiß ich das nicht. Wissen Sie, der Smart ist nämlich als Zweitwagen auf mich zugelassen. Wegen der Versicherung. Wenn man jung ist und ein Auto haben will, bezahlt man sich ja dumm und dämlich ...“ Er seufzte. „Sechsundzwanzig Jahre! Ist eigentlich kein Alter zum Sterben, oder?“

„Nein“, sagte Haller.

„Glauben Sie, dass Sie den Verrückten kriegen, der ihr ... so was ... angetan hat?“

„Wir tun unser Bestes, Herr Heinze. Darauf können Sie sich verlassen.“

„Ihr Kollege, der hier war, um uns die Nachricht zu überbringen, hat gesagt, dass man ihr die Haare abgeschnitten hat. Stimmt das?“

„Ja.“

„Dann ist es vielleicht der Irre, der schon ein paar mal hier in der Gegend zugeschlagen hat, oder? Die Zeitungen waren doch voll davon. Der Frisör oder so ähnlich.“

„Barbier. Aber das ist nur ein anderes Wort.“

„Wie lange ist es her, dass dieser Verrückte die erste Frau umgebracht hat?“

„Sieben Jahre.“

„Und Sie haben, wenn Sie mal ehrlich sind, immer noch keine richtige Spur, hab ich recht?“

Haller schwieg. Natürlich hatte er recht. Auch wenn es schwerfiel, das einzugestehen, aber genau so war es. Haller wusste das – und Anna wusste, dass Haller sie niemals hinzugezogen hätte, wenn er in der Lage gewesen wäre, in dem Fall mit herkömmlichen polizeilichen Methoden voranzukommen. Aber bisher gab es nur Fragen. Und keine Antworten.

„Herr Heinze, ich weiß, dass das fast zu viel verlangt ist, aber wir brauchen Ihre Hilfe“, mischte sich Anna nun ein. „Je mehr wir über Ihre Tochter wissen, desto eher finden wir vielleicht irgendeinen Ansatzpunkt für unsere Ermittlungen.“

„Fragen Sie“, sagte Heinze. „Ich halte das schon aus. Es hat ja keinen Sinn. Irgendwie muss es ja weitergehen, auch wenn ich mir im Moment nicht so richtig vorstellen kann, wie. Wissen Sie, in dem Alter, in dem meine Tochter war, habe ich längst nicht mehr zu Hause gewohnt, und ich habe mich schon gefragt, ob irgendwas mit ihr nicht in Ordnung wäre. Sechsundzwanzig und noch zu Hause! Aber das scheint heute ganz normal zu sein. Ist ja auch am bequemsten. Ich habe immer mal wieder versucht, Jennifer dazu zu bringen, sich langsam ein eigenes Nest zu bauen. Schließlich hat sie einen guten Job und auch wenn ich von ihrem Freund nicht gerade besonders viel halte ... Na ja, wie auch immer. Jetzt würde ich mir wünschen, sie würde noch jahrelang bei uns wohnen!“

„Sie erwähnten einen Freund ...“, hakte Anna ein.

„Ja. Timothy.“

„Und wie weiter?“

„Timothy Winkelströter. Läuft immer herum wie so eine finstere Nachtgestalt oder so. Bleich geschminkt und an den Fingern trägt er so Ringe mit Totenschädeln und so ein Zeug.“

„Trägt er zufälligerweise auch ein Schwert?“, fragte Haller.

Herr Heinze hob die Augenbrauen.

„Manchmal. Kennen Sie ihn etwa?“

„Nein.“

„Hätte mich nicht gewundert, wenn der einschlägig wegen irgendwas vorbestraft wäre!“

„Am besten Sie geben uns einfach die Adresse“, sagte Haller.

„Ich weiß nur, dass er in Kattenvenne wohnt. Ehrlich gesagt habe ich immer gehofft, dass es mit dem Typen möglichst schnell aus ist und vor einer Woche schien es tatsächlich so zu sein. Die beiden hatte anscheinend Schluss gemacht. Nur schien unsere Jennifer darüber alles andere als glücklich zu sein.“

„Wir werden dieser Spur mal nachgehen“, versprach Haller. „Wir müssen von Ihnen jetzt noch ein paar Einzelheiten wissen. Wann genau ist Jennifer am Samstag nach Telgte gefahren? Und mit wem?“

„Das war gegen elf am Morgen. Sie ist in den Smart gestiegen und losgefahren. Sonst war da nichts. Tschüss Papa - und das war's.“

„Sie war also allein?“

„Ja.“

„Kann es sein, dass sie sich mit Freunden getroffen hat, dort den Wagen abstellte und sie dann gemeinsam weitergefahren sind?“

„Wäre möglich. Aber dazu kann ich ehrlich gesagt nichts sagen.“

„Wir würden uns gerne das Zimmer ihrer Tochter ansehen.“

„Zimmer?“ Herr Heinze hob die Augenbrauen. „Es sind insgesamt drei Zimmer, die sie bewohnt hat. Natürlich können Sie sich dort umsehen, wenn Sie meinen, dass Ihnen das irgendwie weiterhilft.“


*


Herr Heinze brachte brachte Sven Haller und Anna van der Pütten ins Dachgeschoss, das wohl komplett von Jennifer Heinze bewohnt worden war. Die Dachneigung ließ einen Ausbau gerade noch zu. Licht fiel durch große Dachfenster. Man konnte dem Zug der Wolken zusehen.

Herr Heinze stand erst etwas verlegen herum und meinte dann, er wollte mal nach seiner Frau sehen.

„Tun Sie das ruhig, wir kommen schon zurecht“, ermutigte ihn Anna.

„Gut“, sagte er so knapp und hölzern, wie es wohl ohnehin seiner Art entsprach. Aber diese etwas knorrige Fassade half ihm vielleicht im wahrsten Sinn des Wortes das Gesicht zu wahren.

Anna sah sich um. Zu den ersten Dingen, die ihr auffielen, gehörte ein Plakat. Es warb für ein Konzert der Mittelalter-Rockband Schandmaul, das vor sieben Jahren in der Jovel Music Hall in Münster stattgefunden hatte.

„Sie war dort“, murmelte Anna.

„Was?“, fragte Haller und sah zu ihr herüber, während er in Jennifer Heinzes Kleiderschrank sah, in dem es einige Gewänder gab, die gut auf den Markt in Telgte gepasst hätten.

„Jennifer Heinze war auf dem Schandmaul-Konzert vor sieben Jahren. Wurde nicht in der Damentoilette der alten Jovel Music Hall an der Grevener Straße damals das zweite Opfer des Barbiers gefunden – oder habe ich das falsch in Erinnerung?“

„Nein, das stimmt. Opfer Nummer eins ist ein halbes Jahr vorher durch ein Jagdgewehr umgekommen. Die Tote im Jovel war Nummer zwei, dann hat sich der Täter erst mal eine Pause von zwei Jahren gegönnt, ehe er wieder zuschlug ...“

Haller runzelte die Stirn und sah sich das Plakat interessiert an. Das Plakat war sogar von den Musikern mit Autogrammen versehen worden. „Stimmt, sie ist zur Tatzeit am Tatort Nummer zwei gewesen, das verbindet sie mit Franka Schröerlücke, dem zweiten Opfer. Es sei denn, Jennifer hat dieses Plakat auf einem Flohmarkt gekauft.“

„Glaube ich nicht.“

„Ich auch nicht, Frau van der Pütten. Seltsam ist auch Folgendes: Jennifer hatte den Schrank voller 'Gewandungen für die Maid', wie man sie in diversen und einschlägigen Internet-Shops kaufen kann, wenn man das Bedürfnis hat, als Erwachsene noch Burgfräulein zu spielen ...“

„Ah, ich merke, Sie haben inzwischen zum Thema recherchiert!“

„Ein paar Klicks im Netz nenne ich noch keine Recherche.“

„Besser als nichts!“

„Was ich sagen wollte, ist: Wieso hat Sie von dem Plunder nichts angezogen, als sie nach Telgte fuhr? Ich meine, wenn es einen passenden Ort gegeben hätte, um die Sachen zu tragen, dann doch wohl dort, oder irre ich mich?“

Anna zuckte mit den Schultern. „Das Plakat ist sieben Jahre alt. Sie war offenbar schon damals mit der Mittelalter-Szene verbunden. Aber manchmal ändert sich der Geschmack oder das Leben oder beides.“

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Na ja, inzwischen wurde Jennifer Bankkauffrau, lief wahrscheinlich in gediegener Businesskleidung herum und trug Faltenrock und Bluse anstatt 'Gewandung'. Manchmal versucht man, sich von der Allgemeinheit erst abzuheben und findet das dann später mehr und mehr überflüssig, kann sich aber von den Accessoires der Protestphase trotzdem nicht trennen.“

„So wie die alten Opas in ihren Easy-Rider-Lederjacken, die man manchmal sieht“

„Genau. Das ist natürlich alles nur Spekulation. Wir können Jennifer Heinze ja leider nicht mehr fragen.“

Haller wühlte etwas in dem Kleiderschrank herum, räumte mit einer weit ausholenden Bewegung einen Großteil der langen, bis zum Boden reichenden Kleider und Mäntel zur Seite und was dann zum Vorschein kam, ließ sie beide staunen.

Haller bückte sich und hob eine Maske nach Art eines mittelalterlichen Pest-Arztes hoch.

„Der Schwarze Tod scheint uns wirklich zu verfolgen“, stellte Haller mit galligem Unterton fest.




Der Freak aus Kattenvenne

Als Anna van der Pütten und Sven Haller bei den Heinzes in Ladbergen fertig waren, fuhren sie nach Kattenvenne, um mit Timothy Winkelströter zu sprechen. Die Adresse herauszufinden, war nicht allzu schwierig. Haller brauchte dazu noch nicht einmal im Polizeipräsidium in Münster anzurufen, um seine Kollegen zu bitten, das zu ermitteln. Er hatte sein Laptop dabei, ging damit über einen Stick ins Internet und hatte die Adresse wenig später ermittelt.

Timothy Winkelströter wohnte in einer Einliegerwohnung, die in einem zweistöckigen Haus mit Walmdach lag. Das Haus schätzte Haller auf gut hundert Jahre, auch wenn es gut in Schuss war. Es hatte einige kleine Erker und die Wände waren von wildem Wein überwuchert. Im Zeitalter der roten Verklinkerung hätte der Bauherr wohl niemals die Genehmigung für den Bau dieses Hauses bekommen, insofern verdankte es seine Errichtung der Gnade des frühen Baubeginns.

Winkelströter war allerdings offenbar nicht zu Hause. Auf das Klingeln an seinem Schild reagierte auch nach dem fünfzehnten Mal niemand.

Stattdessen öffnete der im Haus wohnende Vermieter die Tür.

„Der ist nicht da“, sagte er.

„Kripo Münster. Wir wollen zu Herrn Winkelströter.“

„Hab ich kapiert!“, sagte der Mann. Er war von mittlerem Alter und trug ein kariertes Hemd, das ihm vielleicht vor zwanzig Jahren mal gepasst hatte, dessen Knöpfe jetzt aber zum zerreißen gespannt waren. „Iss abba nich da!“

„Ist das Ihr Haus?“

„Jooo.“

„Wann kommt Herr Winkelströter denn zurück?“

„Weiß nich.“

„Heute noch?“

„Kann sein. Kann auch nich sein. Immer unterwegs. Hatten Geländewagen – fallse ihn verfolgen wollen.“

„So dringend ist es auch nicht. Aber vielleicht rufen Sie uns an, sobald er auftaucht – oder noch besser: Sie sagen ihm, dass er sich dringend bei uns melden soll!“

Haller gab ihm seine Karte.

Der sah mit einem Stirnrunzeln darauf.

„Kannnixsehen“, sagte er, so als würde der ganze Satz nur aus einem einzigen Wort bestehen. „Keine Brille.“

„Schon gut“ murmelte Haller resignierend. Er warf Anna einen Blick zu, der zu sagen schien: Ja, so steht es wirklich mit der berühmt-berüchtigten Mithilfe der Bevölkerung.

„Sachihmabbabescheid“, versprach der Hauseigentümer, dessen Name dem Schild an der Tür zufolge Möller war.

„Danke, sehr nett von Ihnen“, meinte Haller.

Als sie zum Wagen zurückgingen verdrehte er die Augen.


*


Anna van der Pütten gähnte. Es war Sonntagabend. Sie befand sich in einem der Konferenzräume des Münsteraner Polizeipräsidiums, der zum Lagezentrum umfunktioniert worden war.

„Will jemand noch Kaffee. Sonst nehme ich den Rest!“, meldete sich Raaben zu Wort. Haller antwortet nicht. Er schien in seine Gedanken vertieft zu sein. Schon seit einer ganzen Weile starrte er auf die zahllosen Fotos, die am Tatort gemacht worden waren. Auf dem Großbildschirm waren sie in aller Deutlichkeit und mit vielen Details zu sehen, die man ohne die vorliegende immense Vergrößerung gar nicht bemerkt hätte.

Das Telefon klingelte. Eine Kollegin, deren Namen Anna bisher nicht kannte, ging dran. „Wenden Sie sich doch bitte an die Pressestelle“, sagte sie freundlich aber bestimmt. „Nein, ich kann Ihnen leider keine Auskünfte geben.“ Es folgte noch eine Bekräftigung in Form eines „Wirklich nicht!“ und ein ziemlich gereiztes „Bitte!“. Sie wandte sich an Haller.

„Ich frage mich, woher die diese Nummer haben!“

„Ich habe es aufgegeben, mich noch über irgendetwas zu wundern“, meinte Haller. „Auf der Leitung, die frei bleiben soll, ruft die Presse an und die Nummern, auf denen Hinweise eingehen sollten, kommt jede Menge Müll, aber nichts Brauchbares!“

Die Tür ging auf. Markus Friedrichs von der Spurensicherung trat ein. Anna kannte ihn. Er war an dem Tatort auf der Planwiese gewesen und hatte sich auch bereits an den Ermittlungen bei den vorangegangenen Morden des sogenannten Barbiers beteiligt. Dunkles Haar, glattes Gesicht und eine Brille, die irgendwie nie wirklich dort zu sitzen schien, wo sie hingehörte. Vielleicht lag das daran, dass die wenig markante Nase dafür einfach nicht den rechten Halt bot. Man konnte Friedrichs für Mitte zwanzig halten, wenn man übersah, dass sich an den Schläfen und im Nacken bereits erste graue Strähnen zeigten. Jemand, der mit vierzig immer noch so aussah, als hätte Mutti ihm die Sachen zum Anziehen rausgelegt und für den es kein höheres Ziel gab, als mit größtmöglicher Akribie seine Arbeit zu machen.

Während sich unter den Polizisten alle anderen duzten, war Friedrichs der Einzige, der alle siezte und auch von allen gesiezt wurde. In diesem Sinn gehörte er nicht wirklich dazu, dachte Anna – und das hatte Friedrichs mit ihr gemeinsam. Aber der Unterschied war, dass sie wirklich nicht dazugehörte – Friedrichs aber eigentlich längst hätte dazugehören müssen, es aber offenbar nicht wollte.

„Ich muss Ihnen was zeigen“, sagte Friedrichs und legte den vergrößerten Computerausdruck eines Tatortfotos auf Hallers Tisch.

Anna erkannte sofort, worum es ging. Es zeigte die Flecken am Anhänger-Aufbau, die nach Branagorns Ansicht zusammengenommen einen Handabdruck ergaben.

„Was soll das?“, fragte Haller.

„Sehen Sie sich das hier an!“ Friedrich legte einen weiteren Ausdruck vor Haller auf den Tisch. „Es handelt sich um einen ähnlichen Abdruck. Der Fotoausschnitt ist sieben Jahre alt und stammt aus der Damentoilette der alten Jovel Music Hall an der Grevener Straße vom Tag des Schandmaul-Konzerts!“

„Dort wurde Franka Schröerlücke, das zweite Opfer des Barbiers, gefunden!“, entfuhr es Haller.

„Es ist ein Ausschnitt eines Tatortfotos, allerdings hat man diese Spur damals nicht zuordnen können und auch nicht richtig gesichert. Die Ausdrucke entsprechen übrigens dem Maßstab eins zu eins. Ich habe jetzt genaue Messungen durchgeführt und mit einer neuen Vergleichssoftware für isometrische Daten gearbeitet.“

„Und mit welche Ergebnis?“, fragte Haller.

„Also, wenn es eine Hand ist, dann vermutlich dieselbe. Und es dürfte auch derselbe Handschuh gewesen sein. Sehen Sie die Linien hier? Ich kann Ihnen das noch auf einer anderen Vergrößerung zeigen.“

„Nicht nötig!“

„Das dürften sehr charakteristische Nähte sein. Ich habe den Abdruck außerdem fachgerecht gesichert. Es sind Strukturen erkennbar, die auf stark strukturiertes Leder schließen lassen.“

„Eigenartig“, meinte Haller stirnrunzelnd. „Dieser Spinner scheint das sogar erkannt zu haben.“

„Sie meinen Branagorn?“, echote Anna.

„Ich meine Frank Schmitt. Dass Sie diesen Firlefanz mit dem Fantasy-Namen mitmachen, ist meiner Meinung nach selbst für eine Therapeutin etwas zu viel der Einfühlung. Oder ist es kein Therapieziel mehr, sich der Realität zu stellen?“

Anna ging darauf nicht weiter ein. Stattdessen wandte sie sich an Friedrichs. „Das heißt, unser Täter trägt bei seinen Taten immer dieselben Lederhandschuhe!“

„Ja“, bestätigte Friedrichs. „Und vermutlich gibt es irgendein orthopädisches Problem bei ihm.“

„Wieso das?“, fragte Haller.

Friedrichs atmete tief durch, so als wäre er genervt davon, seinen vergleichsweise unwissenden Mitmenschen etwas erklären zu müssen und als verstünde er nicht wirklich, weshalb die anderen nicht selbst darauf kamen. „Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie diese Abdrücke zustande gekommen sind. Es lastete jeden Fall sehr viel Gewicht auf der Hand. Da ist nicht einfach nur mal so an die Wand gepatscht worden! In dem Fall auf der Planwiese ist außerdem vorher auf die feuchte, grasbewachsene Erde gefasst worden. Das ist sicher! Ich denke Folgendes: Der Täter hat sowohl in der alten Jovel Music Hall vor sieben Jahren als auch auf der Telgter Planwiese das Opfer zuerst getötet und dann in eine sitzende Haltung gebracht. Anschließend rasierte er es und dabei musste er in die Knie gehen oder hocken. Anschließend kam er aber offenbar nicht hoch, ohne sich abzustützen.“

„Also irgendein Problem mit dem Bewegungsapparat – im weitesten Sinne!“, zog Anna ein Resümee.

Friedrichs nickte. „Ja, ich bin gerade mit einem Orthopäden in Kontakt, der mir da vielleicht ein paar Hinweise geben kann. Also wenn wir ganz konservativ argumentieren, könnte man so sagen: Der Barbier hat die Angewohnheit, sich beim Aufstehen abzustützen und irgendwo Halt zu suchen.“

„Und die Spuren können nicht während eines Kampfes entstanden sein?“, fragte Haller.

„Die beiden Toten selbst geben keine Hinweise, die in diese Richtung deuten, Herr Haller. Ich halte das für unwahrscheinlich.“

Haller seufzte. „Also müssen wir jetzt alle humpelnden Handschuhträger im Münsterland überprüfen – oder wie sehe ich das?“

„Lässt sich was zur Größe der Täterhand sagen?“, fragte Raaben dazwischen.

Friedrichs nickte. „Größe 7 mit einem geschätzten Handumfang von 19,6 Zentimetern würde ich sagen. Das entspricht der Größe S bei Männern, der Größe M bei Frauen und der Größe XL bei Kindern.“

„Mit anderen Worten: Der Handschuh passt jedem!“, resümierte Haller.

„Ich möchte die Bilder gerne jemandem zeigen“, kündigte Anna an. „Auch das aus dem alten Jovel.“

„Aber nicht Ihrem Elbenkrieger!“, verlangte Haller.

„Doch - - genau dem.“

„Aber ...“

„Herr Haller, er wusste es! Er hat auf einen Blick im Grunde dasselbe gesehen, was Ihr Kollege mit Hilfe seiner aufwändigen Methodik schließlich auch herausbekommen hat! Bitte!“

Haller seufzte. „Ende der Diskussion! Das kommt nicht in Frage! Und verlangen Sie nicht von mir, dass ich in Zukunft an Magie glaube!“

„Ganz sicher nicht! Aber das Branagorn das Haar auf dem Boden gesehen hat, dass er diesen Abdruck und die Struktur erkannt hat ... Das ist alles nicht so verwunderlich, wie Sie vielleicht denken!“

„Es reicht mir völlig, wenn die Psychologie mir erklärt, warum jemand Vater oder Mutter hasst oder jemanden umbringt. Ich brauche nicht auch noch wissenschaftliche Erklärungen für Dinge, die es nicht gibt!“, erwiderte Haller jetzt schroff.

Friedrich ergriff jetzt noch einmal das Wort, nachdem er sich schon zum Gehen gewandt hatte. „Ach ja, Herr Haller – da sitzt draußen noch jemand, der Sie gerne sprechen würde“, meinte Friedrichs beiläufig. „Er sagt, er würde das letzte Opfer kennen!“

Haller hob die Augenbrauen.

„Und das sagen Sie mir erst jetzt?“

Friedrichs zuckte mit den Schultern. „Es hat mich ja niemand gefragt!“

„Der Zeuge soll schon mal ins Zimmer 2 gehen!“

„Ich werde es ihm sagen“, versprach Friedrichs.


*


Zimmer 2 war ein spartanisch eingerichteter Besprechungsraum mit unbequemen Mobiliar. Dieses Mobiliar entsprach nicht einer besonderen Verhörtaktik, die die Folter durch unbequemes Sitzen und schmerzende Druckstellen im Gesäß sowie Rückenschmerzen bei längerer Dauer des Gesprächs schleichend wieder einführen wollte. Es war schlicht eine Frage fehlender finanzieller Mittel. Anna war das schon unangenehm aufgefallen, als sie zum allerersten Mal ein längeres Gespräch mit einem Verdächtigen in diesen Räumlichkeiten hatte führen müssen und sich hinterher gefragt hatte, ob dessen Aggressivität nun wirklich Ausfluss einer soziopathischen Persönlichkeit oder vielleicht doch nur das unweigerliche Resultat schlechten Sitzmobiliars war.

Der Zeuge hatte schon Platz genommen.

„Ich bin Timothy Winkelströter“, sagte er. „Herr Möller hat mir gesagt, dass ich mich bei Ihnen melden soll.“

„Das ist richtig“, bestätigte Haller und setzte sich. Er stellte seine Kaffeetasse ab und plemperte dabei. „Wollen Sie auch einen Kaffee?“

„Nein. Es geht um Jennifer, nehme ich an.“

„Ja. Sie waren Ihr Freund?“

„Also, wie soll ich sagen ...?“

„Ja oder nein. Das ist doch nicht allzu schwierig!“

Timothy Winkelströter beugte sich vor. Anna musterte ihn dabei. Er trug einen langen Ledermantel, der fast bis zu den Knöcheln reichte. Seine Finger waren von Ringen besetzt. Um den Hals hing ein Amulett mit verschnörkelten Schriftzeichen, die Anna entfernt an die magischen Runen erinnerten, die auf Branagorns Schwertscheide zu sehen waren. Seine Haare reichten bis weit über die Schultern und waren ziemlich strähnig.

„Die Sache ist die: Wir hatten eigentlich Schluss gemacht. Oder noch genauer gesagt: Ich hatte mit ihr Schluss gemacht, weil sie genervt hat.“

„Hm“, meinte Haller. „Wann war das?“

„Das war am Freitag vor acht Tagen. Wir haben uns dann einige Zeit nicht gesehen und als ich dann am Samstag zum Mittelalter-Markt nach Telgte gefahren bin ...“

„Sie waren also dort?“, unterbrach ihn Haller.

„Ja sicher!“

„Fahren Sie bitte einfach fort“, ermutigte ihn Anna, denn sie hatte das Gefühl, dass sich Haller nicht gerade einen günstigen Augenblick ausgesucht hatte, um den Gesprächsfluss seines Gegenübers zu stören.

Timothy Winkelströter schluckte. „Einen leckeren Met haben Sie nicht zufällig, oder?“

„Tut mir leid“, meinte Haller. „Kaffee oder Wasser, mehr gibt's hier nicht.“

„Dann lassen Sie es besser. Ich will mich ja nicht vergiften.“

„Wie kam es, dass Sie doch mit Jennifer Heinze zum Markt gefahren sind?“, ging Anna nun dazwischen und wunderte sich selbst über ihre Ungeduld, die eigentlich jeglichen Konventionen ihres Berufsstandes widersprach.

„Das habe ich doch noch gar nicht gesagt!“, wunderte sich Timothy.

„Nein, aber ich habe es angenommen, weil alles andere keinen Sinn machen würde!“

Timothy seufzte. „Wie gesagt, ich war auf dem Weg nach Telgte, sie hat mich auf dem Handy angerufen und gesagt, sie sei auch auf dem Weg dorthin. Und ob wir nicht noch mal über alles reden könnten und so. Na ja, ich bin ja kein Unmensch. Wir hatten ja auch schöne Zeiten. Also haben wir einen Treffpunkt an einem Parkplatz vereinbart, sie ist in meinen Wagen eingestiegen und wir sind dann zum Markt gefahren.“

„Wie ging es dann weiter?“, fragte Anna. Ihr fiel eine Tätowierung am Unterarm auf, als der Ärmel seines Mantels etwas hochrutschte. Es war ein Stierkopf auf einem Kreuz. Irgendwo hatte sie dieses Zeichen schon einmal gesehen, konnte es aber im Moment nicht recht einordnen. Aber kultische Geheimlehren waren ebenso wenig ihr Spezialgebiet wie die alchemistischen Geheimzeichen des Mittelalters oder was auch immer Timothy Winkelströter sonst als Vorlage für diesen leider ziemlich dauerhaften Körperschmuck gewählt hatte.

„Tja, ich will nicht drumrum reden“, sagte Timothy.

Drumrum – dieses eine Wort wies ihn als jemanden aus, der in dieser Gegend geboren und aufgewachsen war. Anna war das erst während ihres Studiums in Köln aufgefallen, dass man daran münsterländische Landsleute in der Fremde erkennen konnte. Drumrum und drumzu – zwei akustische Erkennungszeichen, die jeden Münsterländer so eindeutig identifizierten, wie das 'Woll' den Sauerländer. Anna hatte sich bis dahin immer eingebildet, reines Hochdeutsch zu sprechen, und es war ihr erst in dem Moment klar geworden, als sie einen Kommilitonen, der wie sich herausstellte, aus Emsdetten kam, diese beiden Worte benutzen hörte, die sie bis dahin ebenfalls bedenkenlos gebraucht und sich danach mühsam abgewöhnt hatte.

Nach seiner verheißungsvollen Ankündigung 'nicht drumrum' zu reden, schwieg Timothy Winkelströter allerdings erst einmal eine Weile. Er wirkte plötzlich in sich gekehrt und seine Hand umfasste das Amulett mit den Runen, so als würde er sich davon irgendeine Art von Schutz oder Stärkung erhoffen. Der Stierkopf auf dem Kreuz an seinem Arm wurde dadurch sehr gut sichtbar, sodass Anna jede Einzelheit daran erkennen konnte.

„Wann haben Sie Jennifer denn zuletzt gesehen?“, fragte Anna jetzt behutsam. Ihre Stimme hatte einen samtweichen Klang. Sie hatte sich diesen Tonfall für schwierige Therapiesituationen angewöhnt. Er half besser als jeder Trick, den man in einem Seminar für Gesprächsführung erlernen konnte.

„Das war an einem der Stände. Ich wollte ein Trinkhorn aussuchen und Jennifer hat mich so vollgequatscht, da sind wir dann etwas aneinandergeraten. Mir war dann klar, dass es keine gute Idee gewesen ist, sich noch mal zu treffen, obwohl wir früher immer gerne zusammen auf den Markt auf der Planwiese gegangen sind. Sie werden das vielleicht kennen. Da gibt dann ein Wort das andere und schließlich ist sie ziemlich wutentbrannt abgedampft. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen. Und von ihrem Tod habe ich erst später erfahren, als da dieser große Tumult entstand und Ihre Kollegen mit Megafonen ihre Durchsage machten. Aber da waren so viele Menschen, ich konnte nichts sehen.“

„Wann war Ihnen klar, was geschehen ist?“

„Lutz Brackenhorst hat es mir gesagt. Der hat den Stand ganz in der Nähe, wo Jennifer gefunden wurde. Ich kenne Lutz gut, weil ich ihn über meinen Internet-Shop mit Amuletten beliefere.“ Timothy schüttelte den Kopf. „Furchtbar, was dieser Irre ihr angetan hat.“

„Aber Sie fanden es nicht nötig, sich bei unseren Beamten zu melden“, stellte Haller fest. „Wieso nicht?“

„Ich hätte doch gar nichts dazu sagen können“, verteidigte sich Timothy Winkelströter. „War ich vielleicht dabei, als Jennifer starb? Nein!“

„Jede Information, die wir bekommen, kann uns weiterhelfen, den Täter zu fassen“, widersprach Haller. „Oder wollten Sie nur nicht selbst verdächtig erscheinen?“

„Ich?“

Er ist wirklich überrascht!, erkannte Anna. Allerdings erschien es ihr letztlich doch ziemlich verwunderlich, wie unbeteiligt er den Tod seiner Ex-Freundin hinnahm. Ob das nur eine coole Maske war oder ob da noch etwas anderes dahintersteckte, hatte Anna für sich selbst noch nicht entschieden. Jedenfalls stimmte da irgendetwas nicht. Er verschwieg etwas.

„Sie haben sich mit Ihrer Freundin oder Ex-Freundin, oder was immer sie in dem Moment auch gerade für Sie gewesen ist, heftig gestritten, wie Sie selbst erklärt haben“, stellte Haller fest. „Und wenig später ist sie tot! Haben Sie für die Zeit nach Ihrem Streit ein Alibi?“

„Sehe ich etwa aus, als wäre ich irre und würde Frauen erst umbringen und dann einer Radikalrasur unterziehen? Sehe ich wirklich so aus.“

„Wenn wir Tätern ihre Schuld ansehen könnten, dann wäre unser Job etwas leichter, Herr Winkelströter. Leider ist das nicht der Fall und so sind wir auf solche Sachen wie Alibis und dergleichen angewiesen, um den Täterkreis einzugrenzen oder jemanden auszuschließen.“

„Ich habe ein paar Kumpels getroffen und bin mit denen über den Markt gezogen. Und abgesehen davon hatte ich noch eine Auseinandersetzung mit einem der Händler.“

„Weswegen?“

„Deswegen!“

Timothy Winkelströter erhob sich urplötzlich, und riss seinen Mantel auseinander, als würde er einen Exhibitionisten parodieren wollen.

„Sehe nichts“, sagte Haller.

„Die Elbenrunen an der Gürtelschnalle. Die habe ich designt! Solche Schnallen biete ich auch über meinen Shop an und dieser Sack hat einfach das Design geklaut! Das ist ein Verstoß gegen das Urheberrecht, falls Ihnen das was sagt!“

„Namen und Adressen der Personen, die Ihre Geschichte bestätigen können, bitte“, verlangte Haller. „Dann dürfte sich das doch rasch klären lassen, oder?“

Timothy Winkelströter zögerte aus irgendeinem Grund. Warum?, fragte sich Anna unwillkürlich und das Gefühl, dass da etwas faul war, verstärkte sich. War es die Tatsache, dass sein Lächeln maskenhaft war und ohne Beteiligung der Schläfenmuskulatur zustande kam? War es die sehr eindringliche Sprechweise, dieser Tonfall, der besonders überzeugend wirken sollte und es genau deswegen nicht war?

„Okay“, sagte Timothy Winkelströter schließlich und lehnte sich zurück. Er wich Annas Blick aus. Haller schrieb sich eine Reihe von Namen auf, die der Zeuge ihm sagte. Bei manchen Adressen wusste Timothy die Straßennummer nicht, aber dafür die Handynummer, was die ganze Angelegenheit wohl erheblich vereinfachen würde. Außerdem wollte Haller noch genau wissen, wo Jennifer Heinzes Wagen abgestellt worden war.

„War es das?“, fragte er.

„Ja, das war's“, nickte Haller. „Zumindest fürs Erste. Haben Sie ein Handy? Für den sehr wahrscheinlichen Fall, das wir an Sie noch Rückfragen haben.“

„Oder Sie mich orten wollen!“, grinste Timothy.

„Na, da wir doch beide davon ausgehen, dass die von Ihnen benannten Zeugen Ihr Alibi bestätigen können und Sie uns auch sonst die Wahrheit gesagt haben, wird das ja wohl kaum nötig sein!“

Timothy nannte Haller seine Handy-Nummer.

„Einen Moment. Der Kuli funktioniert nicht mehr“, stellte Haller nach dem ersten Strich fest. „Tja, das Zeitalter der Schriftlichkeit scheint unwiderruflich zu Ende zu gehen.“ Haller nahm sein Handy hervor. „Ich tippe die Zahlen direkt ins Menü ein, wenn Sie sie mir sagen.“

„Falls Sie sich vertan haben sollten, können Sie ja die Audio-Aufzeichnung abhören, die Sie von meine Aussage gemacht haben.“


*


Bevor Timothy Winkelströter wenig später die Tür erreichte, fragte Anna ihn noch: „Herr Winkelströter, zwei Fragen noch ...“

Timothy grinste. „Die psychologische Masche, was? Harmlos tun und hintenrum kommen! Bitte, ich habe nichts zu verbergen und auch wenn Jennifer und ich uns nicht im Guten getrennt haben, will ich genauso wie Sie, dass der Verrückte Killer-Frisör endlich das Handwerk gelegt bekommt!“

„Frage Nummer eins: Waren Sie eigentlich auf dem Schandmaul-Konzert vor sieben Jahren?“

Er sah Anna irritiert an. „Häh?“

„Jovel Music Hall, Grevener Straße!“

„Ja, richtig, die ist doch abgerissen worden und die sind dann in so ein Pleite gegangenes ehemaliges Autohaus umgezogen.“

„Waren Sie dort?“

Er zeigte ihr seine Ringe, strich dann mit den Händen an seinem Ledermantel herab. „Jeder im Umkreis von hundert Kilometern, der so aussieht wie ich oder sich auch nur ansatzweise für Mittelalter-Rock interessiert, war an dem Tag dort! Eigentlich jedenfalls.“

„Was heißt das?“

„Ja, ich leider nicht! Ein Kumpel von mir wollte Karten besorgen und ich habe mich auf ihn verlassen. Tja, der hat es leider verpennt und deswegen musste ich dann draußen bleiben. Leider.“ Er runzelte die Stirn. „Was ist das für eine Frage? Ah, ich verstehe schon die Frage ... Damals ist auch was passiert, nicht wahr? Ist doch richtig!“

„Frage Nummer zwei: Welche Handschuhgröße haben Sie eigentlich?“

Er blieb stehen und runzelte die Stirn. Dann sah er auf seine Hände. Zierliche Hände mit den schlanken Fingern eines Pianisten. Die Ringe mit den Geisterfratzen, Totenköpfen und magischen Runen ließen sie noch zarter erscheinen. Eine Mischung aus Grufti-Design und der beringten Schrumpelfinger-Tarnung eines Karl Lagerfeld, wie Anna fand. „Bin ich ein Mädchen und friere?“, fragte Timothy. „Ich trage nie Handschuhe. Da passen auch meine Ringe nicht drunter.“

„Mag ja sein“, sagte Anna. „Aber ...“

„Ist Ihnen außerdem aufgefallen, dass Sommer ist?“

„Hätten Sie was dagegen, wenn wir Ihre Hände einfach vermessen?“, ließ sich Anna nicht beirren.

Er zuckte mit den Schultern. „Kein Problem!“


*


„Handumfang 16,6 Zentimeter – das passt doch in Größe 7 hinein“, meinte Anna – später. Da saßen Anna und Haller in einem Restaurant in der Nähe des Friesenrings. Anna knurrte gewaltig der Magen. Genau wie Haller war sie den ganzen Tag nicht zum Essen gekommen, sondern hatte sich mehr oder weniger nur von einem Schokoriegel und einigen Tassen des dünnen Kaffees ernährt, den es im Polizeipräsidium gab. Auch eine Art von Diät, dachte sie. Aber auf die Dauer wohl nicht sehr empfehlenswert.

„Herr Friedrichs hat die Hände von Timothy Winkelströter gescannt, aber er sagt, dass man daraus überhaupt keine Aussage schließen könne! Der Täter hat Handschuhe getragen und wahrscheinlich sind nicht mal die erkennbaren Teile der Lederstruktur beweiskräftig genug, um am Ende die Handschuhe eindeutig zu identifizieren – vorausgesetzt, sie fallen in unsere Hände.“

„Er könnte es gewesen sein“, stellte Anna klar. „Wir können ihn nicht einfach ausschließen, was möglich wäre, wenn er jetzt riesengroße Ork-Pranken hätte.“

Haller kaute auf seinem Bissen herum und verzog das Gesicht. „Entweder, Sie waren zu oft im 'Herr der Ringe' oder Sie sind zu häufig mit diesem Spinner befasst – Frank Schmitt alias Branagorn.“

„Vielleicht trifft ja beides zu“, meinte Anna.

„Dann sollten Sie auf die notwendige professionelle Distanz achten.“

„Dazu gibt es für unsereins sogenannte Supervisionen. Da kann man dann mit einer ausgebildeten Fachkraft über die eigene persönliche Verstrickung in einen Fall oder das Bearbeitungsthema eines Patienten sprechen, um zu vermeiden, dass man blinde Flecken hat, wenn man seinen Job zu machen versucht.“

„Und?“

„Was und?“

„Gehen die blinden Flecken davon weg?“

„Nein, das nicht ...“

„Warum spart man sich diesen Mist dann nicht? Das ernährt doch nur eine aufgeblähte Therapeutenkaste.“

„Die blinden Flecken gehen nicht weg, aber man sieht sie besser und ist sich ihrer bewusst. Man weiß dann, wie sehr sie das eigene Urteilsvermögen trüben.“

„Na ja, jedenfalls gab es bei weitem keinen Grund, Timothy Winkelströter festzuhalten, Anna.“

Nur beiläufig registrierte Anna, dass Haller sie beim Vornamen genannt hatte. Es fiel ihr erst ein paar Augenblicke später auf, nachdem sie zuvor für einige Momente nur das unbestimmte Gefühl gespürt hatte, dass sich irgendetwas verändert hatte.

„Mag sein.“

„Und seine Motivlage spricht auch gegen ihn als Täter. Schließlich hat er mit Jennifer Heinze Schluss gemacht und nicht umgekehrt.“

„Vorausgesetzt, er sagt die Wahrheit.“

„Eins zu null für Sie, Anna, äh, Frau ...“ Er sah sie an. „Es wäre praktisch, wenn wir uns langsam duzen könnten.“

„Praktisch?“, echote Anna.

„Tun wir alle in der Abteilung.“

„Alle, außer Herrn Friedrichs.“

„Das ist ein eigenes Kapitel. Den duzt niemand, er selbst umgekehrt auch niemanden. Ich glaube, es ist für alle Beteiligten auch das Beste, wenn das so bleibt. Aber bei Ihnen ... Sie sind im Moment so oft bei uns, dass Sie quasi dazugehören.“

„Wenn Sie das so sehen ...“

„Also in Ordnung? Ich heiße Sven, wie Sie inzwischen ja mitgekriegt haben.“

„In Ordnung.“

Hallers Telefon klingelte. Er nahm es aus der Innentasche seines Jacketts. „Ja, bitte? Hier Haller.“ Er sagte eine ganze Weile gar nichts und schließlich brachte er dreimal hintereinander ein langgezogenes „Hmmm ...“ heraus, bevor er das Gespräch schließlich mit einem „Na, das ist ja wenigstens etwas!“, beendete.

„Gibt's was Neues, was mit unserem Fall zu tun hat?“

„Ja. Das war mein Kollege Raaben. Er hat den Wagen von Jennifer Heinze gefunden.“

„Und?“

„Ihr Handy war noch dort. Ich hatte mich schon gewundert, eine junge Frau unter neunzig im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert ohne Handy. Friedrichs glaubte schon, dass es eventuell vom Täter mitgenommen wurde, weil vielleicht Daten – Telefonnummern oder SMS – darauf waren, die den Täter betrafen. Aber das war wohl ein Irrtum.“

Anna runzelte die Stirn. „Jennifer hat sich mit diesem Timothy auf einem Parkplatz getroffen und ihr Handy im Wagen gelassen? Das ist aber auch sehr eigenartig!“

„Nein, nicht unbedingt“, widersprach Haller. „Das Handy steckte noch in der Freisprechanlage. Es war sogar noch eingeschaltet und Raaben hat festgestellt, dass sie tatsächlich vorher mit Timothy Winkelströter telefoniert hat. Das spricht dafür, dass dessen Aussage der Wahrheit entspricht. Ich nehme an, dass sie das Handy einfach in der Freisprechanlage vergessen hat. Das ist mir auch schon passiert, weshalb ich in der Regel auch die Freisprechanlage nicht benutze.“

„Obwohl es Vorschrift ist?“

„Welcher Schaden ist größer? Wenn mich ein wichtiger Anruf nicht erreicht, oder wenn ich nur mit einer Hand lenken kann, was ich sowieso überwiegend tue!“

„Eigenartige Einstellung, Herr ... Sven!“

„Wieso?“

„Sind Gesetze nicht für alle da? Auch für die Polizei?“

„Jetzt wollen wir mal nicht päpstlicher als der Papst oder meinetwegen pedantischer als Herr Friedrichs sein“, wehrte Haller ab. „Jedenfalls sagt mein Kollege, dass das Menü des Handy voller Nummern von Bekannten ist. Das hilft uns auf jeden Fall weiter.“ Haller blickte in sein Glas mit Mineralwasser und Anna hatte auf einmal den Eindruck, dass er ziemlich niedergeschlagen war.

„Ich habe in den nächsten Tagen einige Termine, aber ich werde versuchen, dir zur Verfügung zu stehen, wenn du meine Hilfe brauchst“, sagte Anna.

„Wir haben nichts“, stellte Haller fest. „Keine einzigen brauchbaren Zeugen, keine Spuren, die etwas taugen, kein Motiv, das sich aufdrängt und weswegen wohl der Schluss naheliegt, dass wir es tatsächlich mit einem Verrückten zu tun haben. Die Opfer haben, außer dass sie jung und weiblich waren, wenig gemeinsam. Es scheinen einfach noch wesentliche Informationen in diesem Puzzle zu fehlen – und wenn der Mörder sich diesmal wieder so lange Zeit lässt, bis die ganze Fahndungsmaschinerie, die ihn jagt, wieder eingeschlafen ist, dann hat er auch dieses Mal leider sehr gute Chancen, vollkommen unerkannt davonzukommen. Es ergibt sich nicht einmal ein vages Bild!“

„Das trifft leider zu. Aber ich bin trotzdem zuversichtlich.“

„Schön. Wenigstens eine.“

Haller bezahlte und ließ sich eine Quittung für die Spesenabrechnung ausstellen.




Ein Elbenkrieger in der Achtermannstraße

Anna van der Pütten hatte ihre Praxis im zweiten Stock eines insgesamt dreistöckigen Hauses in der Achtermannstraße, nahe dem Münsteraner Hauptbahnhof, in direkter Nachbarschaft zu Amnesty International und einer Kulturinitiative, untergebracht. Ihre Privatwohnung lag ein Stückwerk höher und war deutlich kleiner. Aber momentan reichte sie, denn angesichts der vielen Arbeit, die sie zu bewältigen hatte, war nicht im Traum daran zu denken, dass sich an ihrem Single-Status etwas änderte. Aber vielleicht war die Arbeit auch nur ein Vorwand, und der eigentliche Grund lag darin, dass sie das Chaos fürchtete, das eine Beziehung in ihr Leben hätte bringen können. Aber diesen Gedanken hatte sie nie wirklich bis in alle seine verästelte Konsequenzen hinein verfolgt.

Branagorn kam überpünktlich zu seinem Termin.

Anna bat ihn in ihr Besprechungszimmer. „Setzen Sie sich doch!“

„Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Cherenwen“, erwiderte er. Diesmal trug er ein anderes Schwert an der Seite. Zwar benutzte er dieselbe Lederscheide und die Klingen hatten offenbar ähnliche Ausmaße, aber der Griff war sehr viel höher und darüber hinaus oben mit einem elfenbeinfarbenen Totenkopf ausgestattet. Vermutlich ist es kein Elfenbein, sondern nur irgendein Kunststoff, dachte Anna.

Die Tatsache, dass Branagorn offenbar über mehrere Klingen verfügte und es für unbedingt erforderlich hielt, eine davon auch zu tragen, erweckte ein deutliches Unbehagen bei ihr. Das wird ein Punkt sein, den wir gewiss noch zusammen aufarbeiten müssen!, nahm sie sich vor. Waffen und das Gefühl von Sicherheit und Macht, das sie vermitteln konnten – offenbar schien das für Branagorn eine ganz besondere Bedeutung zu haben.

„Ist Euch der Traumhenker heute Nacht begegnet, werte Cherenwen?“, fragte er.

„Nein – aber, was genau meinen Sie damit?“

„Wen es nicht der Fall war, dann wird es zweifellos noch geschehen. Sie werden ihn im Traum vor sich sehen. Eine Gestalt in dunkler Kutte mit einer monströsen Henkersaxt in der Hand, auf deren Griff er sich zu stützen pflegt. Zumindest ist das die häufigste Gestalt, die er verwendet und in der er sich in Eure Träume zu stehlen beginnt. Es wird geschehen, glaubt es mir, Cherenwen. Und dann müsst Ihr stark ein, um nicht zu seinem willfährigen Werkzeug des Bösen zu werden!“

„Sie sind heute hier, damit wir über Sie sprechen, Branagorn – nicht über mich“, stellte Anna klar.

„So darf ich Euren Worten entnehmen, dass es Euch gut geht und Ihr noch nicht vom Traumhenker bedrängt werdet?“

„Wenn Sie so wollen ...“

„Das beruhigt mich, werte Cherenwen, auch wenn ich weiß, dass dies nur bedeuten kann, dass die Gefahr Euch noch bevorsteht. Aber ich verspreche Euch, dann zugegen zu sein und Euch im Kampf gegen den Traumhenker zur Seite zu stehen.“

Anna war etwas verunsichert, was weniger an Branagorns Worten, als vielmehr an seinem Blick lag. Der Blick, mit dem er sie bedachte, war von einer ganz eigenartigen Intensität. Dem Wahnsinn nahe, so hätte vielleicht früher ihr Urteil gelautet. Aber inzwischen hatte sie durch Studium und Ausbildung gelernt, das erste Urteil etwas zurückzuhalten und sich etwas länger den offenen Blick für das Ungewöhnliche zu bewahren, ohne gleich deswegen ein Urteil abgeben zu müssen. Zuerst kam das Verstehen, dann erst die Beurteilung. An diese eherne Regel versuchte sie sich nach Möglichkeit zu halten. Mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg.

„Fangen wir vielleicht mit Folgendem an. Warum nennen Sie mich andauernd Cherenwen?“

„Habe ich Euch das nicht erklärt?“

„Sie haben mir erklärt, dass sie mich deshalb so nennen, weil sie in mir eine verwandte Seele zu erkennen glauben.“

„Nun, das ist die Begründung!“

„Aber das Wort haben sie mir nicht erklärt. Seine Bedeutung. Sie verwenden es fast wie einen Eigennamen. Davon abgesehen empfinde ich es als etwas eigenartig, dass Sie von mir erwarten, ich solle Sie Branagorn von Elbara nennen, während in Ihrem Pass und in den Unterlagen, die ich über Sie habe, Frank Schmitt steht. Umgekehrt finden Sie aber nichts dabei, mir eigenmächtig gewissermaßen auch einen anderen Namen zu geben, obwohl ich ehrlich gesagt viel lieber mit meinen wirklichen Namen angesprochen werde.“

„Das ist der springende Punkt“, sagte Branagorn. „Cherenwen ist Euer wirklicher Name!“


*


Anna hatte spätestens jetzt das dumpfe Gefühl, diese Sitzung könnte ihr völlig aus den Händen gleiten.

Ein Fall von Übertragung, dachte sie. Eindeutig wie im Lehrbuch. Aber das war alles eingebettet in dieses Geflecht aus Wahnvorstellungen und einer Fantasiewelt, in die sich Frank Schmitt vollkommen zurückgezogen zu haben schien. Ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, wo ich ihn einfach mal mit den Fakten konfrontieren sollte – so wie sie in meinen Unterlagen stehen, wie sie dokumentiert sind und wie ich sie inzwischen selbst nachgeforscht habe?

„Ich muss Euch einiges erklären“, sagte Branagorn. „Euren holden Zügen ist die Verwirrung unschwer anzusehen. Und im Übrigen haben wir Elben die Fähigkeit, uns mit verwandten Seelen zu verbinden, sodass wir empfinden können, was sie empfinden, gleichgültig, wie weit man auch voneinander entfernt sein mag. Selbst wenn es der Abgrund zwischen den Welten ist, der einen von dieser Seele trennt.“

„Also ich schlage vor, Sie erklären mir einfach, was Sie erklären möchten. Wir nennen das auch eine freie Assoziation und auf diese Weise erhalten wir in der Regel Material, mit dem wir arbeiten können.“

„Eine seltsame Zeit, in der man Gedanken, die doch aus dem Element des Geistes und nicht der Materie kommen, als Material bezeichnet ... Aber nicht untypisch, auch wenn es mich zugegebenermaßen ein wenig amüsiert.“

„Bleiben wir bei Cherenwen. Erklären Sie mir dieses Wort und was es für Sie bedeutet.“

„Es bedeutet alles für mich. Sehen Sie, ich habe Euch gegenüber ja mein Schicksal ausführlich geschildert. Einst lebte ich in einer anderen Welt, wo ich meinem König als Herzog von Elbara diente. Wir Elben sind sehr langlebig – fast unsterblich, gemessen an den Zeitbegriffen des Menschenvolkes. Dieser Umstand brachte es mit sich, dass eine Seuche grassierte, die man den Lebensüberdruss nannte und der auch meine Geliebte erlag. Ihr Name war Cherenwen ...“

„Sie nahm sich das Leben?“

„Ja. Und nachdem mein König mich aus seinen Diensten entließ, wollte ich ihrer Seele ins Land der Geister folgen, wo die Eldran existieren – die Seelen der verklärten Toten.“

Ich werde mich auf seine Gedankenwelt einlassen müssen, wenn ich überhaupt etwas erreichen will, ging es Anna durch den Kopf. Bisher war er immer der Frage ausgewichen, weshalb er auf dem Signal-Iduna-Hochhaus gestanden hatte, um sich in die Tiefe zu stürzen. Im Grunde hatte er sich noch immer kaum geöffnet, aber vielleicht war es so, dass er sich der Realität nur in jener Verkleidung stellen konnte, die seiner Fantasiewelt entstammte. Und Anna entschied, dass sie diesen Weg vielleicht einfach fürs Erste akzeptieren musste. Reden wir also in Metaphern aus der Elbenwelt und nähern uns so der Wahrheit, dachte Anna. Auch das konnte einen therapeutischen Effekt haben – ähnlich wie Träume, die die Realität ja auch in verfremdeter Form widerspiegelten.

„Interessiert Euch meine Erzählung überhaupt – oder haltet Ihr sie vielmehr für eine Ausgeburt einer im besten Fall ausufernden und im schlimmsten Fall krankhaften Fantasie?“, unterbrach Branagorn den Gedankengang der Psychologin.

„Fahren Sie einfach fort“, forderte Anna ihn auf. „Es interessiert mich sehr, was Sie zu sagen haben. Glauben Sie mir!“

„Wie gesagt, ich folgte nach vielen Zeitaltern meiner geliebten Cherenwen ins Land der Geister.“

„Haben Sie Ihre ... Cherenwen ... gefunden?“

„Ja, das habe ich. Und zuerst war ich glücklich dort. Doch mit der Zeit wurde mir quälend bewusst, dass jene Cherenwen, die mir dort begegnete, nicht mehr als ein Gespenst der Vergangenheit war. Eine geisterhafte Erscheinung, nicht viel realer als ein Trugbild. Mir wurde klar, dass sich meine Hoffnungen, dieser geliebten Seele nahe zu sein, sich so nicht erfüllen konnten. Ich weiß, dass für meine Zeitgenossen in dieser Welt eigenartig klingen muss, was ich Euch nun erzähle. Und ich weiß auch, dass unter Euresgleichen die Zweifel an der Wirksamkeit der Magie weit verbreitet und das Wissen um sie fast vollständig verschüttet sind.“

„Ich höre Ihnen einfach zu, Branagorn. Und ich verspreche Ihnen, dass ich versuchen werde, Sie zu verstehen, so gut mir das trotz unserer zugegebenermaßen in manchen Punkten etwas unterschiedlichen Sichtweise möglich ist.“

Ein mattes Lächeln glitt über Branagorns Gesicht. Er nickte leicht und strich sich das Haar etwas zurück. Für einen Moment blitzte dabei sein deformiertes Ohr hindurch. Er hatte angegeben, dass es ein spitzes Elbenohr und typisch für sein Volk sei. Anna nahm eher an, dass es das Ergebnis eines chirurgischen Eingriffs oder einer tätlichen Auseinandersetzung war. Vielleicht sogar ein Akt der Selbstverstümmlung. In ihren Unterlagen konnte sie dazu jedoch nichts finden und es war ihr bisher auch nicht gelungen, in diesem Punkt Klarheit zu erlangen.

„Ich versuchte mit Hilfe von Magie in die Sphäre der Eldran zu gelangen, sodass ich mit meiner geliebten Cherenwen in ein und derselben Existenzebene hätte sein können“, fuhr Branagorn fort. „Aber dies misslang und ich geriet stattdessen in eine furchtbare Welt voller Drachen, die ich hernach gesehen nur als eine Hölle betrachten kann. Von dort gelangte ich dann – ebenfalls durch Magie – auf diese Welt. Das ist viele Zeitalter her. Ich lebte als Unsterblicher unter den kurzlebigen Bewohnern dieser Erde, trug viele Namen und wurde Zeuge Eurer Geschichte. Als Branagorn von Corvey, auch bekannt als Fra Branaguorno d'Elbara, war ich der Berater von Kaiser Otto III. Und später war ich der Gesandte des Königs von Aragon in Konstantinopel, kurz bevor es an die Türken fiel. Als Branagorn Alvarsson lebte ich eine Weile auf Island in der letztlich vergeblichen Hoffnung, dort ein Tor in meine Herkunftswelt zu finden. Ich nannte mich Branagh Orn, verdingte mich als ein walisischer Bogenschütze unter dem Namen Bran ab-Gorn oder trat unter dem Namen Branagornus als Heiler auf. In letzterer Funktion kann ich durchaus sagen, dass ich es zu einiger Berühmtheit habe bringen können, denn die Heilkunst der Elben ist der Euren hier üblichen noch heute weit überlegen.“ Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. „Wenn ich zu Euch in dieses Haus komme, muss ich oft daran denken, denn die Straße, an der dieses Gebäude liegt, wurde von einer anderen Straße gekreuzt, die sich Herwarthstraße nennt und nach einem gewissen Herwarth von Bittenfeld benannt wurde, geboren am 4. September 1794. Ich weiß dieses Datum so genau, weil es bei der Anwendung des Heilzaubers von immenser Bedeutung war, unter welchen kosmischen Zeichen seine Geburt stattgefunden hatte und es zunächst Unsicherheiten darüber gab, ob er nun wirklich am 4. September oder vielleicht einen Tag früher geboren worden war. Jedenfalls bat mich Feldmarschall von Bittenfeld darum, angesichts einer sehr ernsten Erkrankung einen elbischen Heilzauber durchzuführen. Um ehrlich zu sein, war das wohl so etwas wie ein verzweifelter Griff nach dem letzten Strohhalm, wenn Ihr versteht, was ich meine! Aber Herwarth von Bittenfeld starb erst 1884 und wurde damit für seine Zeit und die Verhältnisse Eures Volkes sehr alt. Also war ich erfolgreich! Bei den Verhandlungen, die ich allerdings seinerzeit zwischen den Wiedertäufern und dem Bischof von Münster zu vermitteln versuchte, als dieser mit seinen Truppen die Stadt belagerte, habe ich allerdings kläglich versagt, wie die Schädelkäfige an der Lamberti-Kirche mir jedes Mal vor Augen führen, wenn ich dort vorbeikomme. Um ehrlich zu sein, meide ich die Gegend deswegen auch immer noch.“

Wie traurig musste es um das Selbstwertgefühl eines Menschen bestellt sein, der sich großartige Taten in dieser und in anderen Welten als Elbenkrieger, Heiler, Diplomat und Vertrauter von großen historischen Persönlichkeiten ausdenken musste, um seiner Psyche Stabilität zu geben!, ging es Anna durch den Kopf. Nichts anderes als die Kompensation einer zweifellos bedrückenden Realität war das.

„Eigentlich wollten Sie mir von Cherenwen erzählen“, sagte Anna.

„Verzeiht mir, wenn ich abschweife. Aber ich vergesse immer wieder, dass mir ganze Zeitalter zur Verfügung stehen, während meine kurzlebige Umgebung zur Eile verdammt ist. Ja, ich wollte über meine geliebte Cherenwen sprechen. Denn von dem Augenblick an, da mich meine eigene Magie aus meiner Welt herauskatapultierte, tat ich nichts anderes, als meine Suche nach ihr fortzusetzen. Denn manchmal geschieht es, dass Seelen, die in einer Welt des Polyversums nichts weiter als ein Gespenst sind, in einer anderen real erscheinen. Denn die Grenzen zwischen den Welten sind durchlässig, und nicht immer braucht es magischer Tore oder großartige Zauberkunst, um den Abgrund zwischen ihnen zu überbrücken. So kommt es vor, dass jemand träumt, er sei in einer anderen Welt, aber in Wahrheit dieser Traum wirklicher ist und größere Auswirkungen auf andere hat als das, was er für das wirkliche Leben hält. Manchmal reicht ein intensiver Gedanke, um von einer in die andere Welt zu wechseln und in jedem Augenblick unserer Existenz spalten sich neue Welten und Existenzebenen vom Hauptstrom der Zeit ab und bilden eigene Kosmen. Was ich damit nur sagen will ist: Auch wenn es Euch unerklärlich erscheint und selbst ich, der ich mich einst in solchen Fragen für bewandert hielt, die Ursachen nicht völlig verstehe, so bin ich doch überzeugt davon, in Euch jene Seele wiedergefunden zu haben, die mir einst durch jene heimtückische Krankheit namens Lebensüberdruss genommen wurde.“

„Branagorn, ich würde sagen ...“

„Ihr seid Cherenwen! Ihr tragt ihre Seele in Euch.“

Anna schluckte. Die Intensität, mit der er gesprochen hatte, berührte sie, erweckte aber auch ein deutliches Unbehagen. War das vielleicht schon zu viel an Übertragung, dass er ihr entgegenbrachte? Vielleicht war das der Punkt, an dem man eine weitere Behandlung am besten durch jemanden fortsetzen ließ, dem Frank Schmitt mit mehr Neutralität gegenüberstand. Andererseits ergab sich durch diese besondere Form der Bindung, die er zu empfinden schien, vielleicht auch die Möglichkeit, ihn an jenen Punkt zu führen, an dem er sich der Realität stellen musste. Der Realität eines den Unterlagen zu Folge hochbegabten Menschen, der über ein paar sehr seltene und höchst erstaunliche Talente verfügte und doch nicht in der Lage war, sein eigenes Leben wirklich in den Griff zu bekommen.

„Müsste ich mich nicht an das Leben von Cherenwen erinnern, wenn ich wirklich ihre Seele in mir tragen würde?“, fragte Anna.

„Oh, Ihr tragt diese Erinnerungen zweifellos in Euch“, erklärte Branagorn. „Und es wäre nichts Ungewöhnliches, wenn Ihr Euch diesem Wissen verweigern würdet, denn manchmal ist die Wahrheit so beängstigend, dass man sich ihr nicht zu stellen vermag.“

Wie wahr!, dachte Anna.

„Ich habe lange gezögert, Euch damit zu konfrontieren, Cherenwen“, fuhr Branagorn fort. „Ich kann fühlen, wie sehr ich Euch damit ängstige, und ganz gewiss läge mir nichts ferner, als die Verkörperung jener Seele zu ängstigen, die ich so sehr geliebt habe. Aber es hat sich eine neue Situation ergeben und dadurch ist alles verändert worden. Und vor allem ist mir klar geworden, dass ich die Schuld an der Bedrohung trage, die auch Euch gefährlich werden könnte.“

„Es tut mir leid, aber im Moment sprechen Sie in Rätseln, Branagorn.“

Er sah Anna auf eine Weise an, die bei ihr einen eigenartigen Cocktail an Emotionen hervorrief. Da war Verwirrung, die sich mit einem tiefen Mitempfinden für jene tiefe Melancholie verband, die dieser Mann empfinden musste. Aber da war auch noch etwas anderes. Etwas viel Stärkeres. Etwas, das im Untergrund brodelte und noch keineswegs seine volle Macht entfaltet hatte und von dem Anna trotz ihres in seelischen Dingen berufsbedingt recht weit aufgefächerten Vokabulars nicht wirklich wusste, wie sie es bezeichnen sollte. Auf jeden Fall spürte sie bei ihrem Gegenüber eine Art unbedingter Entschlossenheit. Einen Willen, der keinen Widerspruch zu akzeptieren schien und nicht einmal die ihn umgebende Wirklichkeit selbst als Maßstab anerkannte. Ich hoffe nur, dass ich es früh genug erkenne, wenn er Dummheiten begehen will!, überlegte sie und für eine Moment stand ihr wieder die Szene vor Augen, als man sie gerufen hatte, um einen lebensmüden Mann in der Verkleidung eines Elbenkriegers daran zu hindern, sich vom Dach des Signal-Iduna-Hochhauses zu stürzen. Ich werde es ihm nicht ersparen können, dass wir über diesen Punkt noch einmal reden!, erkannte sie. Lebensüberdruss ... was für ein passendes Wort für das, was man sonst unter so klinisch-steril klingenden Begriffen wie 'klinische Depression' oder 'Suizidneigung' zusammenfasste.

Branagorn sprach nicht weiter.

Er saß da und schien ins Nichts zu blicken.

Lichtjahreweit schienen eine Gedanken sich vom Hier und Jetzt entfernt zu haben.

Anna entschied sich dafür, diese Stille einfach eine Weile auszuhalten. Das konnte manchmal sehr wichtig für den Patienten sein. Vielleicht werde ich gerade Zeuge, wie sich die Selbstheilungskräfte einer kranken Seele wieder zu regen beginnen!, dachte Anna. Es war zumindest zu hoffen.

„Ich will mich der Wahrheit stellen und darum hat es keinen Sinn, etwas verschweigen zu wollen“, sagte Branagorn schließlich.

Anna war überrascht. Welche Wahrheit meinte Branagorn? Doch nicht etwa die eines vom Amt zugewiesenen Ein-Zimmer-Apartments in Münster-Kinderhaus, in der ein zweiwöchiger Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung der Westfälischen Kliniken in Lengerich zu den Highlights des Jahres gehörten so wie für andere Leute ein Urlaub auf Mallorca?

Als Branagorn dann nach einer quälend langen Pause wieder das Wort ergriff, wurde Anna klar, dass ihr Gegenüber mit dem Ausdruck 'sich der Wahrheit stellen' offenbar etwas völlig anderes meinte, als sie selbst diesbezüglich im Sinn hatte.

„In Wahrheit bin daran schuld, dass der Traumhenker in diese Welt kam. Dieses Wesen, das die Morde beging. Das ist die Wahrheit, der ich mich stellen muss, Cherenwen.“

„Schuld ist ein interessantes Stichwort“, sagte Anna hölzern und kam sich dabei selbst wie die Parodie ihres Berufsstandes vor, der doch mit Vorliebe von Schuldgefühlen und Verdrängung und solchen Dingen sprach. „Wieso glauben Sie, dass Sie dafür verantwortlich sind?“

„Weil der Traumhenker aus jener Höllenwelt der Drachen, von er ich Euch soeben berichtete, mit mir in diese Welt gewechselt sein muss! Eine andere Erklärung erscheint mir undenkbar. Wenn ich es also auf mich genommen hätte, dort, in jener Drachenhölle, zu bleiben, anstatt auf gut Glück und in Wahrheit ohne große Erfolgsaussichten abermals den Abgrund zwischen den Welten zu überspringen, dann wäre der Traumhenker niemals hierhergelangt! Aber seit jener Zeit wandelt er über die Erde und vollbringt sein furchtbares Werk. Er fährt in den einen oder anderen und macht sie zu Werkzeugen des Bösen, weil er sich am Leiden und am Hass erfreut ... Und jetzt ist er hier ... So nahe wie selten!“ Branagorn erhob sich. „Ihr seid in Gefahr, Cherenwen. Achtet auf Eure Träume. Es sind die Träume, durch die er Einfluss auf Eure Gedanken gewinnt. Und auch wenn Ihr mich nicht als der zu erkennen vermögt, der ich in einem anderen Leben und in einer anderen Welt für Euch gewesen bin, so seid Euch gewiss, dass ich versuchen werde, Euch zu schützen.“

„Branagorn, Sie sprachen vor ein paar Minuten davon, dass man sich der Wahrheit stellen müsse und ihr nicht ausweichen dürfe.“

„Ja, da sprecht Ihr wohl, werte Cherenwen!“

„Und die erste Wahrheit, der Sie sich stellen sollten, ist, dass ich nicht Cherenwen bin - sondern Anna van der Pütten, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin.“

„Wie ich schon sagte, es ist ...“

„Es mag noch angehen, dass ich Sie Branagorn anstatt Frank Schmitt nenne, aber ich möchte Sie bitten, mich nicht mehr Cherenwen zu nennen – es sei denn, ich erlaube es Ihnen ausdrücklich im Rahmen einer entsprechenden Gesprächsübung, bei der es vielleicht um die Übertragung von Gefühlen geht. Aber normalerweise bin ich für Sie Frau van der Pütten.“

Branagorn nickte. „Ich bin gerne bereit, mich Euren Wünschen zu beugen, werte Frau van der Pütten“, erklärte er dann. „Aber Ihr müsst mir auch etwas versprechen! Lasst es zu, dass ich bei der Entlarvung dieses Mördergeistes helfe!“

„Branagorn, wie stellen Sie sich das vor!“

„Ihr kennt meine Fähigkeiten! Ihr wisst, dass ich ganz nach Art der Elben Dinge zu sehen vermag, die sonst niemand sieht! Meine Sinne sind stärker als die jedes Menschen, und ich kann es kaum ertragen, wenn ich die sogenannten Hüter der Ordnung bei ihrer Arbeit sehe, die sie so langsam und mit so wenig Erkenntnisgewinn verrichten! Das Offensichtliche sehen sie nicht! Sei dies nun das Böse in Gestalt eines Pest-Arztes oder die Spur einer Hand oder ein Haar. Wurden diese Spuren inzwischen untersucht? Ich wette, diese Narren haben sich kaum darum gekümmert und inzwischen noch nicht einmal herausgefunden, dass die Tote anderthalb Schritt weit über den Boden gezogen wurde, bevor man sie aufsetzte und gegen den Anhänger lehnte ...“

Woher weiß er das?, ging es Anna durch den Kopf. Sie hatte in den Unterlagen, die sie über ihn hatte, von der Diagnose eines Savant-Syndroms gelesen, auch Inselbegabung genannt. Branagorn war offenbar bereits mehrfach psychiatrisch und in jeder anderen Hinsicht untersucht worden – mit zum Teil sehr erstaunlichen Ergebnissen. Aber sie selbst hatte noch keine Gelegenheit dazu gehabt, dies im Einzelnen zu überprüfen. Davon abgesehen hatte es natürlich auch während ihrer Sitzungen immer wieder Momente gegeben, in denen seine außergewöhnlichen Fähigkeiten aufblitzten. Es gab Savants, die Dutzende von Sprachen innerhalb kürzester Zeit erlernten, die in der Lage waren mit jedem Auge unabhängig eine Buchseite zu erfassen und anschließend jedes Wort zu wiederholen oder virtuos Klavier zu spielen vermochten, ohne jemals Unterricht gehabt zu haben. Niemand kannte die Ursache dafür, aber sehr viele der Betroffenen waren trotz ihrer überragenden Fähigkeiten im täglichen Leben auf Hilfe angewiesen.

In den Unterlagen, die Anna über Frank Schmitt vorliegen hatte, war unter anderem auch von einer Kopfverletzung die Rede, deren Ursache vermutlich eine Gewalteinwirkung gewesen und die aus unerfindlichen Gründen unbehandelt geblieben war. Zumindest gab es nirgends einen Beleg für einen Klinikaufenthalt oder dergleichen.

Auch das passte ins Bild, denn manche Forscher brachten das Savant-Syndrom mit Verletzungen bestimmter Hirnregionen in Verbindung.

Letztlich war es nicht auszuschließen, dass Frank Schmitts Behauptung, Branagorn der Elbenkrieger zu sein, nicht nur psychische Ursachen hatte, sondern vielleicht eine organisch basierte Wahnvorstellung. Diese Möglichkeit durfte man zumindest nicht vorzeitig ausschließen.

Aber ganz gleich, welche Art der Wahn dieses Mannes auch sein mochte – er hatte offensichtlich häufig recht.

Und das wiederum war auch eine Realität, der man sich stellen musste, wie Anna van der Pütten fand.

„Wie stellen Sie sich das vor, Branagorn?“, fragte Anna. „Die Hüter der Ordnung, wie Sie Kommissar Haller und seine Leute nennen, werden Ihre Hilfe nicht annehmen wollen.“

„Dann überzeugt diese Narren! Ich beschwöre Euch, Cherenwen – Verzeihung: Frau van der Pütten! Die Hüter der Ordnung werden es ohne mich nicht schaffen, den Traumhenker zu finden! Sie brauchen mich!“

„Sollten wir sie nicht einfach ihren Job machen lassen?“, schlug Anna vor.

„Fünf Opfer hat es gegeben. Fünf Opfer in siebeneinhalb Jahren. Und Ihr sprecht davon, dass nichts weiter zu geschehen habe und man den unfähigen Helfern der Gerichtsbarkeit weiter bei ihrem Narrenspiel zusehen soll? Ich kenne den Traumhenker zur Genüge. Ich war ihm im Laufe der Jahrhunderte immer wieder auf den Fersen und verlor wieder seine Spur. Er ist ein Spieler des Bösen, versteht Ihr? Und er wird dieses Spiel so lange fortsetzen, wie man es ihm gestattet!“

Eine dicke Ader an Branagorns Hals pulsierte. Er drehte ruckartig den Kopf und machte ein paar Schritte zum Fenster. Dieser Ausbruch an Emotionen war neu bei ihm. In den bisherigen Sitzungen hatte Anna so etwas nicht bei ihm erlebt. Nicht einmal ansatzweise.

Ganz im Gegenteil. Er hatte immer einen sehr beherrschten Eindruck gemacht. Aber Anna war sich stets sicher gewesen, dass es noch etwas anderes, Abgründigeres in ihm sein musste. Schließlich hatte er auf einem Hochhaus gestanden, um sich in die Tiefe zu stürzen. So etwas geschah schließlich nicht aus heiterem Himmel. Da musste sich schon einiges aufgestaut haben.

Branagorn ballte die Hände zu Fäusten.

„Diese erbärmlichen Hüter der Ordnung hätten doch nur zu tun brauchen, was ich ihnen sagte und den Schwarzen Tod in Gewahrsam nehmen.“

„Sie meinen den Kerl in der Pest-Arzt-Verkleidung?“ vergewisserte sich Anna.

Eine Antwort darauf blieb Branagorn ihr schuldig. Zu sehr war er offenbar in seinem Ärger gefangen. „Hören Sie zu, Branagorn, ich kann Sven – also Herrn Haller – unmöglich vorschlagen, dass er Sie in den Fall einbinden soll. Das wird er nicht tun. Und ich werde mich auch nicht dafür einsetzen.“

„Warum nicht?“

„Weil es jeglichen Regeln meines und seines Berufes widersprechen würde!“

„Regeln! Sinnlose Regeln sind das, die nur dem Traumhenker nützen und seine Mörderseele schützen!“, ereiferte sich Branagorn.

„Das mögen Sie so sehen. Aber ich habe keine andere Wahl. Und Sie sollten das nicht als einen Angriff meinerseits auf Sie sehen oder als ein Zeichen von Geringschätzung oder Missachtung, sondern ...“

Sie machte eine Pause, stockte.

Branagorn drehte sich zu ihr um. Seine Augen hatten sich verengt. Er sah sie mit einem sehr durchdringenden Blick an. In seinen Zügen spiegelte sich eine Qual wider, wie Anna sie selten zuvor je in irgendeinem Gesicht gesehen hatte.

„... ein Zeichen von Narrentum?“, fragte Branagorn in einem Tonfall, der an klirrendes Eis erinnerte. Er murmelte ein paar Worte in einer Sprache, die fremdartiger war als alles, was Anna je gehört hatte. Vielleicht waren es aber auch nur willkürlich aneinandergereihte Silben. In diesem Punkt war sie sich nicht sicher. Dr. Arndt Vogels, ein Psychiater, der Frank Schmitt vor wenigen Jahren einer Begutachtung zugeführt hatte, verzeichnete nicht weniger als 23 Sprachen, die dieser Mann erwiesenermaßen beherrschen sollte. Darunter sehr exotische Idiome wie mittelalterliches Persisch und Althochdeutsch.

„Setzen Sie sich doch wieder, Branagorn“, forderte Anna ihn auf. „Und dann beruhigen Sie sich etwas. Ich kann verstehen, dass Sie durch die Ereignisse auf der Planwiese in Telgte sehr aufgewühlt wurden. Das ging mir genauso.“

„Es hat keinen Sinn, dass wir heute unsere Unterhaltung fortsetzen“, erklärte Branagorn. „Es ist bedauerlich, dass Ihr mir nicht beizustehen gedenkt. Ich hatte sehr gehofft, Ihr würdet die Dringlichkeit unserer Aufgabe erkennen. Aber vielleicht habe ich da zu viel von Euch erwartet. Meine Warnung allerdings, was Eure Träume angeht, erhalte ich aufrecht!“

Wortlos ging er mit ausholenden Schritten zur Tür.

„Warten Sie!“

Er blieb stehen, nachdem er die Tür des Besprechungszimmers halb geöffnet hatte und drehte sich herum. „Ihr habt es Euch doch noch überlegt?“

„Nein, in dem Punkt habe ich keine andere Wahl.“

„Mir ergeht es ähnlich. Ich habe auch keine andere Wahl.“

„Was haben Sie denn jetzt vor?“

„Ich werde tun, was die Hüter der Ordnung nicht zu vollbringen vermögen.“

„Branagorn, mischen Sie sich da nicht ein. Sie handeln sich jede Menge Ärger ein!“

„Mir dünkt, dass ich Ärger nicht zu scheuen brauche! Und im Kampf gegen das Böse sollte man nicht angstvoll zurückstehen, werte Cherenwen – und diesmal nenne ich Euch bewusst und gegen Euren erklärten Willen so, auch wenn Ihr dies vordergründig als einen Akt der Unhöflichkeit empfinden mögt! Aber vielleicht erinnert Ihr Euch des verborgenen Wissens über Eure wahre Herkunft, das in den Tiefen Eurer Seele verborgen liegt.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ sie stehen.

Anna stand ziemlich konsterniert da und war für einige Augenblicke völlig unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.

„Was für ein Spinner!“, sagte sie dann laut, so als müsste sie sich dessen erst dadurch vergewissern.

Aber ihre eigenen Worte hatten für sie in diesem Augenblick einen sehr fremden Klang.

Dafür ging ihr ein einziges Wort einfach nicht aus den Gedanken.

Ein Name.

Ihr Name, wie Branagorn behauptet hatte.

Cherenwen!




Traumhenker und Schwarzer Tod

Am Abend telefonierte Anna van der Pütten noch kurz mit Sven Haller, um sich über den Fortgang der Ermittlungen zu erkundigen. Allerdings gab es derzeit nichts Neues.

„Es wäre schön, wenn du morgen früh hier am Friesenring sein könntest“, meinte Haller.

„Ja, selbstverständlich“, sagte Anna. „Das lässt sich machen.“

„Bis dahin liegt der endgültige Obduktionsbericht vor und Herr Friedrichs hat außerdem einiges an vergleichendem Datenmaterial über die bisherigen Morde des Barbiers zusammengetragen. Wir werden dann sehen, ob uns das ein Stück weiterbringt. Bis dahin sind auch die Kollegen schon ein Stück weiter mit der Auswertung der zahlreichen Zeugenaussagen von der Planwiese in Telgte.“

„Wollen es hoffen“, erwiderte Anna. Aber das klang nicht sehr zuversichtlich. Branagorns Worte über den Traumhenker klangen ihr noch in den Ohren. Sie versuchte das auszublenden. Schließlich war das nicht mehr als die neurotische Wahnvorstellung eines Patienten. Ausgeburt der Fantasie und nicht die Wirklichkeit. Dennoch musste sie zugeben, dass dieses Bild eines düsteren Axtschwingers in dunkler Kutte großen Eindruck auf sie hinterlassen hatte.

„Hast du heute noch was vor?“, fragte Haller.

„Was meinst du damit?“

„Essen zum Beispiel.“

„Nein. Ich habe schon gegessen.“

„Schade.“

„Wieso?“

„Ich hätte dich sonst in eine Pommes-Bude eingeladen, Anna.“

„Na, da bin ich ja dem Krebstod durch angebranntes Fett noch mal knapp entkommen.“

„Bis morgen.

„Bis morgen, Herr ... Sven.“

Dass Anna schon gegessen hatte, war gelogen. Sie wollte einfach nichts mehr essen und schon gar nicht etwas, was so kalorienreich und ungesund war. Anna hatte gerne die Kontrolle und sie fühlte sich immer dann unwohl, wenn das aus irgendwelchen Gründen nicht möglich war. Also kontrollierte sie auch ihr Gewicht. Und da hatte sie im Moment einfach zwei Kilo zu viel auf den Rippen. Zu viel war vielleicht, wie sie selbst einräumen musste, nicht ganz der passende Eindruck, denn das lag durchaus noch innerhalb der Spanne, die für ihr Alter und ihre Größe angemessen war. Ihr Bodymaßindex lag bei 23. Da konnte man nicht wirklich von einem Diätbedarf sprechen. Aber sie wollte die Dinge einfach nicht schleifen lassen.

Das bedeutete, für heute gestattete ihr der selbsterstellte Ernährungsplan nur noch einen Apfel. Mehr nicht.

Während sie den aß, setzte sie sich noch an ihren Computer, um die Abrechnungen für die Krankenkasse und den Landschaftsverband fertig zu machen. Die Bürokratie hatte in ihrem Beruf immer mehr zugenommen. Da waren Psychologen innerhalb der Branche, die man zusammenfassend als Helfer bezeichnen konnte, keine Ausnahme. Jemanden, der das für sie erledigte, konnte sie sich nicht leisten. Ihre Praxis ging ganz gut, aber in erster Linie verdiente sie ihr Geld ohnehin mit Gerichtsgutachten und die Arbeit für Polizei und Justiz. Die zogen sie immer wieder zurate. Forensik war ihr Spezialgebiet. Reguläre Patienten hatte sie nur wenige und das war auch gut so.

Zwischenzeitlich unterdrückte Anna ein Gähnen. Schließlich sah sie ein, dass sie wohl einfach inzwischen zu müde war, um jetzt noch eine Arbeit zu machen, bei der es auf höchste Sorgfalt ankam. Einer plötzlichen Eingebung folgend gab sie dann den Namen Timothy Winkelströter ein und suchte nach ihm im Internet.

Der Internet-Shop, von dem der Grufti aus Kattenvenne gesprochen hatte, war schnell zu finden. Mittelalter-Kleidung wurde dort ebenso angeboten wie Schwerter und Dolche. Branagorn hätte seine Freude an dem Sortiment!, dachte Anna. Das Schwergewicht des Angebots lag jedoch auf okkulten Amuletten, die zum Teil auch in Auftragsarbeit erstellt wurden. Zauberrunen nach Wunsch des Kunden, bemalte Glückssteine an allergiefreien Halsketten und außerdem ein großes Sortiment an Ringen mit zum Teil recht martialischen Motiven. Totenschädel und Geisterfratzen in dunklem Metall oder in Silber dominierten.

Aus irgendeiner instinktiven Regung heraus ging sie im Seitenmenü noch einmal zurück zur Kleidung. In einem der Untermenü fand sie dann etwas, das sie förmlich erstarren ließ. Schnabelmasken für Pest-Ärzte nebst Zubehör.

Anna wählte Sven Hallers Nummer. Aber der ging nicht an sein Handy und sie wurde an die Mailbox verwiesen.

„Bitte sprechen Sie nach dem Signal“, säuselte ihr eine Maschinenstimme mit dem Charme eines preiswerten Navigationsgerätes ins Ohr.

„Hallo Sven. Du solltest dir unbedingt die Homepage von Timothy Winkelströters Online-Shop ansehen! Da gibt es Schnabelmasken, die genauso aussehen wie die, die wir in Jennifer Heinzes Schrank gefunden haben – und wie sie auch der Typ auf dem Mittelalter-Markt trug, mit dem unser Elbenkrieger sich duelliert hat! Ich weiß nicht, ob das irgendeine Bedeutung hat, aber auffällig ist es schon. Ansonsten – bis morgen.“

 

*

 

Es war sehr spät, als Anna endlich ihre Praxis verließ und in ihre Wohnung ein Stockwerk höher ging. Genau genommen schlief sie hier eigentlich nur. Selbst das Frühstück nahm sie schon unten in der Praxis ein. Die Küche, die zur Wohnung gehörte, war so gut wie nie benutzt worden und sie musste immer darauf achten, dass sich dort keine Staubschicht bildete.

Es war drei Uhr nachts, als Anna van der Pütten die Schuhe und ihre Kleidung sehr sorgfältig in den Kleiderschrank hängte und wenig später völlig erschöpft ins Bett sank. In diesem Zustand sollte es eigentlich keine Träume mehr geben. Man schlief einfach ein und der Körper nahm sich sein Recht auf Erholung. So stellte sich Anna das vor. Früher hatte sie oft unter Albträumen zu leiden gehabt. Im Grunde war sie die gesamte Schul- und Ausbildungszeit davon gepeinigt worden und hatte zeitweilig sogar Schlafmittel genommen, um dem ein Ende zu setzen. Es waren Träume gewesen, in denen sie verfolgt und gehetzt wurde oder in denen sie an einem Wettbewerb im Marathonlauf teilnehmen sollte, ihr aber plötzlich die Beine versagten, weil sie von einem zum anderen Moment vollkommen ihrer Kräfte beraubt und wie gelähmt gewesen waren.

Das waren die Träume einer sehr ehrgeizigen, perfektionistischen Person, die von massiven Versagensängsten heimgesucht wurde. Es hatte Jahre gedauert, bis sie das verstanden hatte und sich selbst gegenüber etwas großzügiger geworden war. Vielleicht war das sogar die Triebfeder für sie gewesen, Psychologie zu studieren. Das Chaos im Selbst verstehen, das Unbeherrschbare beherrschbar machen und unangenehme Überraschungen dadurch vermeiden, dass man die möglichen oder wahrscheinlichen Verhaltensweisen seines Gegenübers gedanklich vorwegnahm. Antizipation als Selbstschutz. Ordnung im Inneren wie im Äußeren als ein Schutz vor unliebsamen Überraschungen. Manchmal kam es dann trotzdem vor, dass sie überrumpelt wurde. Zum Beispiel in dem Moment, als Sven Haller ihr das Du angeboten hatte. Sie hatte ja gesagt und es eigentlich schon im selben Moment bereut. Aber das Problem mit einem Du war, dass es sich nicht zurücknehmen ließ, ohne einen irreparablen Schaden auf der Beziehungsebene in Kauf nehmen zu müssen. Jetzt würde sie damit leben müssen und sich stets Mühe geben, Sven anstatt Herr Haller zu sagen, obwohl sie eigentlich nicht fand, dass das dem Stand der Beziehung entsprach.

All diese Gedanken vermischten sich, als Anna sich ins Bett legte. Sie vermischten sich zu einem großen Strudel, der direkt in die Dunkelheit eines traumlosen Schlafs führte.

 

*

 

Schweißgebadet und von einer inneren Unruhe erfüllt erwachte sie. Kerzengerade saß sie im Bett und sah etwas Dunkles auf der Decke. Sie schrie laut auf, als sie erkannte, was es war.

Mein Haar!

Sie fasste sich an den kahl rasierten Kopf und verstummte dann, als sie die Gestalt in dunkler Kutte vor sich sah – gestützt auf eine monströs große Axt. Der Traumhenker! Er sah genau so aus, wie Branagorn ihn ihr beschrieben hatte. Die Axt war eigentlich viel zu schwer, als dass man sich hätte vorstellen können, dass ein gewöhnlicher Mensch sie hätte führen können.

Die Kapuze der Kutte war tief ins Gesicht gezogen, aber eigenartigerweise herrschte darunter keine Dunkelheit. Stattdessen leuchtete es gespenstisch. Der Kopf hob sich, sodass sie eigentlich einen freien Blick auf das Gesicht hätte haben müssen. Doch dort war kein Gesicht, sondern eine fahle, sandfarben leuchtende Fläche mit zwei dunklen Punkten - einer größer, der andere etwas kleiner, die wie Augen in einem geisterhaften Gesicht wirkten. Deine Seele gehört mir! Und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst!, flüsterte eine leise Gedankenstimme. Du kannst die Bleistifte auf deinem Schreibtisch noch so oft anspitzen und geordnet nebeneinanderlegen, du kannst die Büroklammern täglich durchzählen, um sicher zu gehen, dass du nicht plötzlich auch nur eine einzige zu wenig davon hast, du kannst deine Kalorien zählen und dich noch so sehr an die Methodik deiner Therapieschule halten ... Das mag den Chaosdämon in dir selbst notdürftig bändigen, aber es wird dich nicht dagegen schützen, dass ich die Herrschaft über deinen Geist erringe ...

Ein dröhnendes Gelächter folgte und ließ Anna van der Pütten ein zweites Mal schweißgebadet emporschnellen. Sie saß erneut – und diesmal wirklich und nicht nur in ihrer Traumfantasie - aufrecht im Bett und fühlte, wie ihr der Puls bis zum Hals schlug.

Der erste Albtraum seit langer Zeit!, ging es ihr durch den Kopf, während ihr Herz noch immer raste.

 

*

 

Es war früher Morgen, als Timothy Winkelströter nach Hause kam. Er stellte den Wagen ab, gähnte und stieg aus. Dann sah er auf die Uhr an seinem Handgelenk. Gerade mal fünf Uhr. Morgendämmerung in Kattenvenne – das hatte doch was. Er sah kurz auf den Rücksitz. Da lagen ein Zierdolch und eine Schnabelmaske, wie sie die Pest-Ärzte des Mittelalters getragen hatten, dazu ein Umhang mit Kapuze. Gehörte beides zum Angebot seines Shops. Man konnte auch noch ein Lederwams, Handschuhe und Stiefel dazu bekommen, wenn man wollte. Nur den Karren, auf den die Toten aufgeladen wurden, den hatte Timothy Winkelströter nicht im Angebot. Einen Augenblick überlegte er, ob er die Schnabelmaske nicht mit ins Haus nehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Nur einen Teil der Ware, die er über das Internet verkaufte, lagerte er in seiner Einliegerwohnung. Und dabei handelte es sich vor allem um die Dinge, die wenig Platz einnahmen. Amulette zum Beispiel. Für den Rest – vor allem für die Kleidung hatte Timothy Winkelströter einen Lagerraum angemietet. So viel warf sein Geschäft inzwischen ab.

„Müssen Sie die Türen so schlagen?“, fragte eine schnarrende Frauenstimme, die Timothy herumfahren ließ.

Frau Möller, die hochbetagte Mutter seines Vermieters. Wer sonst? Aus verschiedenen Gründen wäre niemand anderes für eine solche Begegnung im Morgengrauen in Frage gekommen. Sie war eine Frühaufsteherin und leider hatten mit den Jahren nicht ihr Sehvermögen oder das Gehör, sondern nur ihre Toleranz deutlich nachgelassen. „Ich hab Ihnen doch schon hundertmal gesagt, dass Sie die Türen nicht schlagen sollen, wenn Sie spät nach Hause kommen. Wegen meinem Friedhelm. Der schläft dann doch!“

Friedhelm Möller, Timothy Winkelströters Vermieter, hatte die Angewohnheit lange zu schlafen, und seitdem er als Rentner nicht mehr aus dem Haus musste, außer zum Schützenfest oder zum Kegeln, machte er von dieser Möglichkeit auch ausgiebig Gebrauch. Seine Mutter hingegen, inzwischen wohl schon um die neunzig, schien so etwas wie Schlaf gar nicht mehr zu kennen. Wenn Timothy spät nach Hause kam, brannte im Zimmer von Margarethe Möller immer noch Licht. Oder sie geisterte in dem ausgedehnten Garten herum, um ihren Anpflanzungen beim wachsen zuzusehen. Ihr Friedhelm hatte nie geheiratet, was niemanden wundern konnte. „Wozu braucht mein Friedhelm eine Frau? Ich mach ihm doch alles“, hatte Timothy einen markanten Satz der alten Dame noch im Ohr.

Margarethe Möller kam ein paar Schritte auf Timothy zu. Sie hatte den Mann in den dunklen Ledersachen von Anfang an mit Misstrauen betrachtet. Das lag wohl vor allem an den zahllosen heidnischen Symbolen, die Timothy zur Schau trug, angefangen von den Totenköpfen und Geisterfratzen an den Metallringen bis hin zu den undefinierbaren magischen Zeichen auf den Amuletten oder der Tätowierung am Unterarm, die ein Kreuz in Kombination mit einem Stierkopf zeigte. Das Kreuz zu verunstalten und in einem ihrer Meinung nach etwas anrüchigen Zusammenhang zu bringen, war vermutlich die schlimmste Sünde. Margarethe Möller war nämlich eifrige Kirchgängerin. Da sie selbst nie das Autofahren gelernt hatte, musste ihr Friedhelm zumindest einmal die Woche früh aus den Federn und seine Mutter zum Gottesdienst bringen. Und so sehr sie im Moment auch den Schlaf ihres Kleinen, wie sie ihren Friedhelm gelegentlich auch nannte, schützte – am heiligen Sonntagmorgen war ihr der Schlaf anderer Leute (zum Beispiel hart arbeitender Internet-Händler wie Timothy Winkelströter), einschließlich der Nachtruhe von ihrem Friedhelm, plötzlich nicht mehr so wichtig. Oft genug war Timothy dadurch geweckt worden, dass Margarethe Möller ihren Sohn dann lautstark zur Eile antrieb. „Nee, nee, nee, Junge, der Pastor wartet nich auf uns!“, pflegte sie dann mit ihrer durchdringenden, schnarrenden Stimme zu sagen und wenn sie dann in den Wagen einstieg, fand sie auch nichts dabei, die Tür heftig zu schlagen. Manchmal auch zwei oder dreimal, denn Margarethe Möller hatte die Angewohnheit, die Wagentür dann noch einmal zu öffnen, weil sie sich nicht sicher war, ob sie sie auch richtig geschlossen hatte.

Aber dieses Recht galt natürlich nicht für Mieter.

Und warum hätte sie auch mit jemandem gnädig sein sollen, der schon durch ein zur Schau gestelltes Heidentum auf die Gnade Gottes verzichtet hatte?

„Wo waren Sie denn heute die ganze Nacht?“, fragte Margarethe Möller jetzt mit vor der Brust verschränkten Armen und Augen, die so schmal geworden waren, dass man kaum noch das Weiße darin sehen konnte.

„Frau Möller, das spielt doch wohl keine Rolle, oder?“

„Sie wissen ja, dass ich jemanden wie Sie nie hier hätte einziehen lassen ...“

„Danke, das war deutlich.“

„Aber ich habe hier ja nichts zu sagen. Und mein Friedhelm meint, dass wir auf Ihre Miete angewiesen wären, deswegen will ich auch gar nichts gesagt haben.“

„Frau Möller, ich will ja nicht unhöflich sein, aber ...“

„... aber bis jetzt ist noch nie die Polizei hier gewesen! Das habe ich meinem Friedhelm auch gesagt: Junge, wir hatten nie die Polizei hier! Bis gestern! Wir waren gerade von der Kirche zurückgekommen, als sie hier waren ... Oben von meinem Zimmer aus konnte ich alles mitbekommen.“

„Frau Möller, Ihr Friedhelm hat mir gestern schon gesagt, dass die Polizei hier war! War's das?“

„Haben Sie sich im Präsidium gemeldet, so wie die Beamten es wollten?“

„Ja. Zufrieden?“

„Und haben Sie denen auch gesagt, dass Sie die junge Frau kannten, die in Telgte umgebracht hat?“

„Noch einen schönen Tag, Frau Möller.“ Timothy Winkelströter ließ sie einfach stehen. Er hatte nach dem Verhör am Vorabend durch die Polizei keine Lust, sich auch noch von dieser Frau ausfragen zu lassen. In diesem Punkt war ihr Friedhelm wirklich sehr viel angenehmer zu ertragen. Friedhelm Möller redete nämlich nur das Allernötigste und das auch oft nur in verkürzten Ein- oder Zweiwortsätzen. Effektive Kommunikation anstatt ausuferndem Gelaber voller Fallstricke.

Timothy war nur fünf Schritte gegangen.

Sein Handy klingelte. Timothy sah auf das Display.

Nadine Schmalsti ruft an, stand da. Eigentlich hätte es Nadine Schmalstieg heißen müssen, aber mehr Buchstaben wurden nicht angezeigt – und nur den Vornamen ins Menü einzugeben, wäre angesichts der Häufigkeit von Nadine etwas zu riskant gewesen. Allein privat kannte er schon drei Nadines und eine Kim-Nadine.

Timothy nahm das Gespräch entgegen.

„Ja?“

„Ich muss gleich zum Job. Wollte dir nur sagen, dass du deine Brieftasche hier vergessen hast.“

Timothy griff sich ans Gesäß.

„Scheiße.“

„Macht doch nichts. Komm nachher einfach vorbei. Das wolltest du doch sowieso.“

„Ja, klar“, bestätigte Timothy.

„Und wegen der anderen Sache – vielleicht sollte ich deswegen doch besser zur Polizei gehen.“

„Ich dachte, das hätten wir besprochen, Nadine.“

„Aber ...“

„Lass es! Das bringt nichts als Ärger. Hör zu, tu nichts Unüberlegtes. Wenn ich nachher bei dir bin, können wir noch mal darüber sprechen, wenn du willst!“

Ein einziger seufzender Atem, dann einen Moment Stille.

„Nadine, bist du noch dran?“

„Bis nachher, Timothy.“

Als das Gespräch beendet war, spürte Timothy Winkelströter förmlich den auf ihn gerichteten Blick von Margarethe Möller. Er drehte sich um. „Ist noch was?“

 

 

 

Mit den Augen eines Elben

Anna van der Pütten fühlte sich wie gerädert, als sie im Polizeipräsidium am Friesenring eintraf. Der Albtraum der vergangenen Nacht ging ihr ebenso wenig aus dem Kopf wie das Gespräch mit Branagorn.

Als sie das Lagezentrum betrat, fielen ihr als Erstes die Stellwände mit den Flipcharts auf. Listen von Namen und Adressen, Fotos von Personen und Tatorten waren dort zu sehen und Pfeildiagramme verbanden einiges davon zu einer komplizierten Mischung aus Notiz und Grafik.

Kevin Raaben heftete noch ein paar weitere Zettel an.

„Tja, wir haben versucht, den ganze Fragenkomplex zu dem Fall mal ein bisschen zu systematisieren“, meinte er, als er Anna bemerkte.

„Ich sehe es“, murmelte Anna, die kaum in der Lage war zu verbergen, wie sehr sie das Chaos schockierte.

Sven Haller kam durch eine Tür herein, die zu einem Nebenraum führte. Er trug ein anderes Jackett, wirkte ausgeruht und schien guter Laune zu sein. „Schön, dass du da bist, Anna!“, sagte er und wandte sich an Raaben. „Sie hat nichts dagegen, wenn du sie duzt, wie wir das alle hier machen. Stimmt doch, oder?“

„Also ...“

„Das ist der Kevin. Und schau mal hier, Anna, wir haben alle Fakten zusammengetragen, die bis jetzt in dieser Mordserie eine Rolle gespielt haben und uns relevant erschienen.“

„Und das ist wahrscheinlich einer der Knackpunkte“, sagte Anna.

Haller runzelte die Stirn. „Was?“

„... und uns relevant erschienen“, zitierte Anna den Kriminalhauptkommissar. Dass der ihr eigenmächtig und selbstherrlich einfach die Duzfreundschaft mit Kevin Raaben aufgezwungen hatte, war von ihr noch gar nicht richtig verdaut worden. Sie fühlte Ärger in sich aufkeimen, aber ihr war auch klar, dass sie wohl fürs Erste keine Gelegenheit bekommen würde, dem Luft zu machen. Schließlich gab es im Moment wirklich Wichtigeres als solche Kleinigkeiten. Was war schon die Suche nach einem Mörder gegen ihre Empfindlichkeiten? Das lag so sehr auf der Hand, dass selbst ihr kein Argument dagegen einfiel. Nur ihrem Magen. Und der meldete sich auch prompt mit einem drückenden Gefühl des Unwohlseins. Anna fühlte sich wie ein Dampfkessel, in dem der Druck langsam stieg. Vergiss es!, dachte sie. Es geht jetzt um die Sache und darum, dass eine böse Seele, wie Branagorn es wohl ausgedrückt hätte, nicht noch mehr Opfer forderte.

„Nicht doof“, lautete Kevin Raabens Kommentar. „Wer sagt uns, dass wir aus der Masse der Fakten wirklich die relevanten herausgesucht haben?“

„Eben“, meinte Anna. „Außerdem sieht das Ganze für mich etwas chaotisch aus. Was sind das zum Beispiel da alles für Namen?“

„Das sind die Bekannten, Telefonkontakte, befragten Zeugen und so weiter“, erklärte Haller. „Hier sind zum Beispiel alle Telefonkontakte, die wir in dem Handy-Menü von Jennifer Heinze gefunden haben. Tja, und es gibt eine Übereinstimmung.“

„Und die wäre?“

„Timothy Winkelströter. Er war mit dem Opfer Nummer eins bekannt – Jana Buddemeier aus Borghorst. Seine Adresse fand sich im Telefonregister des Opfers. Aber er wurde nie vernommen, weil es keinen Zusammenhang mit dem Fall zu geben schien. Opfer Nummer zwei kannte er auch.“

„Gibt es da etwa auch ein Adressverzeichnis?“

„Im Handy der Toten. Er wurde auch damals nicht vernommen, weil er den Aussagen anderer Zeugen zufolge keine Karte mehr für das Schandmaul-Konzert bekommen hatte und man deshalb annahm, dass er nicht am Tatort war.“

„Das entspricht doch genau seiner Aussage, die er auch uns gegenüber gemacht hat“, meinte Anna.

„Das heißt aber nicht, dass sie stimmen muss. Er könnte sich doch noch eine Karte besorgt haben oder vielleicht kannte er einen der Türsteher, die ihn so reingelassen haben“, ergänzte Raaben. „Das überprüfen wir gerade.“

„Was die anderen Opfer angeht, kannte Timothy Winkelströter sie offenbar ebenfalls“, ergänzte Haller. „Wir haben zwar keine Nachweise von Handykontakten, aber dafür das hier!“ Haller deutete auf eines der Fotos. Es war die Vergrößerung eines Computerausdrucks. Zu sehen war eine Gruppe von jungen Leuten, alle in mittelalterlicher bis fantastischer Gewandung. Timothy Winkelströters düstere Phase hatte zu dieser Zeit offenbar noch nicht begonnen, denn anstatt als Finsterling im Ledermantel mit Totenkopfringen stand er als edler Recke da, mit Schwert und Kettenhemd. Das Foto war eindeutig schon ein paar Jahre älter und Timothys Haarpracht damit deutlich kürzer. Lange Pfeile verbanden die Namen und Adressen von Opfern und Zeugen mit den Personen auf dem Bild. „Jana Buddemeier, Franka Schröerlücke, Elvira Mahnecke, Chantal Schmedt zur Heide und Jennifer Heinze – alle fünf Opfer des Barbiers sind auf dem Foto. Dazu Timothy Winkelströter, eine junge Frau, die Sarah heißt, ein junger Mann, der als Vampir herumläuft und den wir bisher nicht identifizieren konnten, zwei weitere Männer, von denen wir nur wissen, dass sie Björni und Olli genannt werden und diese beiden Gestalten dort, deren Gesichter wohl kaum identifizierbar sein dürften.“ Haller deutete auf die finstere Gestalt eines Pest-Arztes mit Schnabelmaske und einen Ritter mit Eisenharnisch und heruntergelassenem Helm-Visier.

„Woher haben Sie das?“, fragte Anna.

„Von der Facebook-Seite einer gewissen Nadine Schmalstieg.“

„Und die ist da nicht drauf?“

„Sie wird das Foto gemacht haben, wie soll sie dann mit drauf sein? Das Bild muss vor siebeneinhalb Jahren aufgenommen worden sein. Facebook gibt es in seiner deutschen Version erst seit 2008. Dieses Bild wurde letztes Jahr hochgeladen, und von Björni und Olli wissen wir nur durch die Kommentare, die drunterstehen.“

„Haben Sie schon mit dieser Nadine Schmalstieg Kontakt aufgenommen?“, fragte Anna.

„Versucht. Wir haben die Kontaktfunktion auf Facebook genutzt. Eine Adresse oder Telefonnummer steht da natürlich nicht. Aber als Wohnort ist Steinfurt-Borghorst angegeben und dort gibt es insgesamt drei Nadine Schmalstiegs. Eine konnten wir telefonisch erreichen. Sie gab an, keinen Facebook-Account zu haben. Nummer zwei ist nach Rückfrage beim Einwohnermeldeamt inzwischen unbekannt verzogen – was aber nichts heißen muss, denn schließlich ist das Bild schon vor einiger Zeit hochgeladen worden und die letzte Aktualisierung im Profil ist fast ein Jahr alt. Und Nummer drei hat keinen Festnetzanschluss. Wir überprüfen derzeit, ob sie mit einer gewissen Naddi in den Telefoneinträgen in Jennifer Heinzes Handymenü identisch ist. Da ist eine Handynummer angegeben, über die wir derzeit aber nur auf eine Mailbox geleitet werden.“

„Siebeneinhalb Jahre ist diese Aufnahme alt ...“ murmelte Anna.

„Ja, schließlich lebt das erste Opfer des Barbiers da ja noch!“

„Dann waren alle, die da zu sehen sind Anfang zwanzig – jetzt sind sie Ende zwanzig bis Anfang dreißig, oder?“

„So ungefähr. Ist schon seltsam, was? Ich meine, wir haben uns doch alle früher mal als Cowboy, Indianer, Ritter oder Superheld verkleidet und in einer Spielwelt gelebt. Aber in meiner Generation war man da vielleicht zehn – und nicht siebenundzwanzig!“

Anna ging auf Hallers Bemerkung nicht weiter ein. Sie atmete tief durch. „Wieder der Schwarze Tod“, murmelte sie und deutete auf den Pest-Arzt. Sie murmelte diese Worte mehr zu sich selbst als zu Haller.

„Ist irgendetwas?“ fragte Haller.

„Nein, nur wenig geschlafen. Apropos Mailbox. Haben Sie meine Nachricht eigentlich bekommen?“

„Welche Nachricht denn?“ Haller runzelte die Stirn.

„Na, die ich Ihnen – also dir - auf die Mailbox gesprochen habe! Gestern habe ich nämlich noch versucht, dich anzurufen, aber da war leider niemand zu erreichen.“

„Dann hatte ich das Handy wohl abgeschaltet“, meinte Haller. „Oder ich war unter der Dusche oder auf dem Klo. Mehr Privatleben habe ich ja nicht, aber das bisschen verteidige ich mit Klauen und Zähnen.“ Er grinste, sah aber gleich, dass Anna das nicht so lustig fand. „Tut mir leid, worum ging's denn? Ich höre meine Mailbox normalerweise nie ab. Wenn's wichtig ist, dann meldet derjenige sich noch mal oder schreibt eine SMS.“

„Timothy Winkelströter verkauft diese Schnabelmasken in seinem Shop!“ Anna deutete auf den Pest-Arzt auf dem Bild. „Genau solche! Und der Typ, mit dem ...“

„Fangen Sie nicht mit diesem Elbenspinner an, der eine Fantasywelt mit der Wirklichkeit verwechselt!“


*


In diesem Augenblick ging die Tür auf und Branagorn trat ein. Er trug diesmal sein Schwert über dem Rücken gegürtet und einen dunklen Umhang über dem Wams. Die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Am Gürtel hingen verschiedene kleine Taschen und Lederbeutel. Und diesmal zierte ihn ein großes, gusseisernes Amulett in Form einer Elbenrune, das Anna zuvor noch nicht bei ihm gesehen hatte.

Eine Beamtin in Uniform folgte ihm auf den Fuß. „So geht das nicht!“, rief sie.

„Wie kommt dieser Kerl hier herein!“, ereiferte sich Haller.

„Tut mir leid, der ist so ... durchgerutscht ...“, stotterte die Beamtin in Ermangelung eines besseren Ausdrucks.

„Was soll das denn heißen? Hier kann doch nicht jeder hereinplatzen, wie er lustig ist!“

So emotional hatte Anna den Kriminalhauptkommissar noch nicht erlebt. Aber dass höhere Säugetiere aller Art – und dazu gehörte letztlich wohl auch der Mensch, auch wenn er das gerne verdrängte – aggressiv reagierten, wenn jemand in ihr Revier eindrang, war eigentlich eine bekannte Tatsache. Und so ähnlich musste man wohl auch Hallers Reaktion verstehen. Ein Irrer drang in die Einsatzzentrale der deduktiven Logik vor und behauptete wahrscheinlich im nächsten Moment auch noch, alles zu wissen, alles zu kennen und am schlimmsten: alles vorhersagen zu können, was sich noch in der Zukunft ereignen würde. Welch gravierendere Gegensätze konnte man sich vorstellen?

„Sorry, ich war auf'm Klo!“, gab die Beamtin zu.

Branagorn achtete nicht weiter auf sie. Er ging zu den Plakatwänden. Sein Blick wanderte sie systematisch entlang. Er tastet sie ab wie ein Scanner!, dachte Anna. Diese Assoziation drängte sich ihr zumindest unwillkürlich auf.

„Dieser Kerl soll hier verschwinden! Er hat hier nichts zu suchen!“, rief Haller.

„Lass nur, ich werde mit ihm reden“, schlug Anna vor. Sie wandte sich an die Polizistin in Uniform. „Ich glaube, wir kommen ohne Sie klar.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Dann sollte er vielleicht seine Bewaffnung ablegen“, schlug die Beamtin vor.

„Dafür gibt es keine Rechtsgrundlage“, erklärte Branagorn. „Ein Schwert ist keine Waffe und ich bedrohe niemanden.“ Er wandte den Kopf und hob seine dürren, feingliedrigen Hände, deren Fingerspitzen er auf die Beamtin richtete. Dann murmelte er einige Worte in einer Sprache, bei der Anna sicher war, dass sie noch nie ein Wort davon gehört hatte. Vielleicht waren es auch einfach nur aneinandergereihte Silben ohne jeden Sinn. Sie klangen wie eine magische Formel. Branagorns Stimme hatte jetzt einen sehr dunklen, sonoren Klang. Die Beamtin sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und es war schwer zu sagen, was in diesem Moment in ihrem Kopf vor sich ging. Jedenfalls öffnete sie den Mund, so als wollte sie etwas sagen und vergaß, ihn dann für eine ganze Weile wieder zu schließen. Sie hatte schätzungsweise etwa zehn Dienstjahre hinter sich – aber mit so etwas war sie ganz sicher bisher noch nie konfrontiert worden. „Euer Geist hat mich verstanden, edle Wächterin und Ihr könnt getrost Eures Weges gehen, denn an meiner Friedensliebe und Sanftmut werdet Ihr nun nicht mehr zweifeln.“

„Tja, ich weiß nicht ...“, murmelte die Beamtin. Sie wandte sich dann an Haller. „Wenn Sie meinen, dass Sie hier alles unter Kontrolle haben!“

Branagorn ballte die Hände zu Fäusten und hielt die Handgelenke dabei dicht aneinander. „An Eurem Gürtel sehe ich Fesseln! So legt mich also in Ketten, wenn es hier jemanden geben sollte, der mich fürchtet! Ich fürchte die Ketten nicht, denn die Kraft meines Geistes ist stärker!“

„Ist schon gut“, knurrte Haller und nickte dabei der Beamtin zu, die daraufhin mit einem ziemlich ratlosen Gesicht den Raum verließ.

„Der Glaube an Magie ist in dieser Welt fast verschwunden – paradoxerweise aber ist die Furcht vor dieser Macht geblieben“, stellte der Elbenkrieger fest. „Das ist eine der eigenartigen Dinge, die ich an dieser Welt bemerkte, seit die Maschinen hier die Herrschaft zu erringen begannen. Schon die Grausamkeit, mit der man einst vermeintliche Hexen verfolgte, lässt sich wohl nur angesichts dieser Erkenntnis wirklich verstehen, obgleich ich zugeben muss, dass selbst so große Geister wie Leonardo da Vinci oder Martin Luther für diesen Gedanken wenig Verständnis hegten, als ich mit diesen großen Geistern darüber sprach.“

„Sie sprechen öfter mit Personen aus der Geschichte?“, fragte Haller und konnte dabei einen gewissen Spott im Tonfall nicht unterdrücken. Er wandte sich an Anna. „Tut mir leid, dass war jetzt sicher unsensibel und wenig einfühlsam. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du deinem Patienten klar machen könntest, dass er hier unerwünscht ist!“

Branagorn sah sich auch die restlichen Stellwände kurz an. Dann wandte er sich an Haller. „Die edle Frau van der Pütten hat nichts mit meinem Erscheinen hier in der Burg der Ordnungshüter zu tun“, erklärte er. „Ich bin aus freiem Willen hier und habe nicht viel Zeit.“

„Das trifft sich gut“, erwiderte Haller. „Ich nämlich auch nicht.“

„Ich bin hier, um Euch zwei Anliegen vorzutragen, werter Hüter der Ordnung.“

„Dann schlage ich vor, wir bringen das hinter uns und Sie verschwinden dann!“

„Was ist mit meinem Schwert Nachtmahrtöter, das mir wider alles Recht genommen und dessen baldige Rückgabe mir in Aussicht gestellt wurde?“, fragte Branagorn.

„Sie geben Ihren Schwertern Namen?“, fragte Haller und wandte sich kurz an Anna. „Das sollten Sie aber dringend mit ihm aufarbeiten.“

„Keine Sorge!“, gab Anna zurück.

„Das wäre ja ähnlich, als würde ich meine Dienstpistole in Zukunft Heinz nennen!“

„Seelen sind in allen Dingen – im Guten, wie im Schlechten“, erklärte Branagorn. „Und den Dingen ihren Namen zu geben, heißt, ihr innerstes Wesen zu erkennen und Macht über sie zu gewinnen. Und ich glaube kaum, dass es Euch schlecht anstünde, das Wesen Eurer Waffe zu erkennen und die Macht über sie zu behalten, auf dass Ihr sie nicht leichtfertig einsetzt.“

Haller runzelte die Stirn. „Amen“, sagte er.

„Ihr seid meiner Frage bisher ausgewichen. Wo ist der Nachtmahrtöter? Wie lange gedenkt Ihr, den Nachtmahrtöter noch von mir zu trennen?“

„Bis die Untersuchungen abgeschlossen sind. Und wie ich sehe, sind Sie doch ganz gut mit Ersatz ausgestattet, Herr Branagorn oder meinetwegen auch hochwohlgeborene Durchlaucht.“

„Der Nachtmahrtöter ist unersetzbar und einzigartig – so wie jedes andere Stück Materie im Polyversum.“

„Bitte jetzt nicht dieses Waldorfschulen-Gequatsche“, meinte Haller relativ barsch. „Was war Ihr zweites Anliegen?“

„Ich habe Euch etwas zum Fall mitzuteilen. Mir war es so selbstverständlich, dass ich nicht daran gedacht habe, dass es vielleicht für Euch wichtig sein kann. Zudem ist meine Magie geschwächt, da mir mein gewohntes Schwert Nachtmahrtöter nicht zur Verfügung steht und ich mit einem nicht ganz gleichwertigen Ersatz vorliebnehmen muss. Eigentlich wäre das nicht weiter schlimm, denn die Macht des Geistes ist der Trägheit der Materie immer weit überlegen, sodass ein Artefakt niemals die Entscheidung bringt, sondern immer nur die innere Kraft ...“

„Na, wenn das so ist, verstehe ich Ihre Aufregung nicht!“

„Aber in dieser Welt ist die Magie sehr schwach. Und es bedarf des jeweils mächtigsten Artefakts, um den Geist ausreichend zu konzentrieren. Und das wird schon sehr bald nötig sein ...“

„Was reden Sie da eigentlich?“

„... wenn ich dem Traumhenker gegenüberstehe, um mich ihm zu stellen.“

„Wer soll das sein?“

„Der Traumhenker, der mit mir zusammen aus einer anderen Welt hierhergelangte, ist in jene Mörderseele gefahren, die Ihr sucht, Hüter der Ordnung. Und das, was ich Euch mitzuteilen habe, ist Folgendes: Mir begegnete diese Mörderseele bereits in den Westfälischen Kliniken von Lengerich.“

„Was?“

Hallers Kinn fiel herab.

Das ging ihm nun wohl endgültig zu weit. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, griff Anna ein. Krisenintervention – so hieß dafür wohl der therapeutische Oberbegriff. „Fahren Sie fort, Branagorn. Sagen Sie mir genau, wo und wann Sie der Mörderseele begegneten!“

Ein Lächeln flog über sein Gesicht. „Ich wusste, Ihr würdet mich verstehen, Cherenwen. Und verzeiht mir, dass ich mich abermals erdreistet habe, Euch so zu nennen, aber die seelische Verwandtschaft zwischen uns könnt auch Ihr in diesem Augenblick wohl kaum leugnen.“

Anna begegnete einem Blick.

Ein Gedanke schoss ihr den Kopf. Eine Frage. Soll ich mich diesmal auf das Spiel so weit einlassen, dass ich es ihm erlaube, mich Cherenwen zu nennen oder ist das der Moment, an dem ich die Distanz unter allen Umständen aufrechterhalten muss? Er ist sensibel genug, um genau die Schwachstellen seines Gegenübers zu erfassen, überlegte Anna. Und auch wenn er so tut, als würde er nur in einer Welt der Fantasie leben, und das, was man gemeinhin Realität nennt, nur ganz am Rande und in sehr verzerrter Weise zur Kenntnis nehmen, so heißt das nicht, dass er nicht in der Lage wäre, sein Gegenüber zu manipulieren.

Branagorn wäre nicht der erste Patient gewesen, der genau dies versuchte.

Aber hier ging es um mehr!, entschied Anna schließlich. Es ging darum, einen Mörder zu fassen, der offenbar einem sehr dunklen Trieb folgte und nicht damit aufhören würde zu töten. Es sei denn, es gelang ihnen, ihn in absehbarer Zeit zu entlarven. Was war dagegen schon das Risiko einer letztlich doch recht harmlosen Grenzüberschreitung im Patient-Therapeuten-Verhältnis. Schließlich hatte sie ja nicht vor, mit Branagorn von Elbara alias Frank Schmitt eine sexuelle Beziehung einzugehen, sondern sie begab sich lediglich mit ihm zusammen auf die Ebene eines Fantasie-Spiels.

Fast so, als würden wir uns online zum Word-of-Warcraft-Spielen treffen oder zu einem dieser Mittelalter- und Fantasy-Festivals gehen, auf denen die Kämpfe zwischen Elben und Orks oder historische Schlachten des Mittelalters nachgespielt wurden. Wahlweise natürlich auch solche aus der Römerzeit oder aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Die Spiellaune der Erwachsenen schien da keine Grenzen zu kennen. In diesem einen Punkt konnte Anna im Übrigen Hallers Verwunderung darüber gut nachvollziehen. Allerdings hatte sie selbst sich auch als Zehnjährige nicht verkleidet, um in eine Spielrolle zu schlüpfen. Auch nicht als Fünfjährige – und dass über Zwanzigjährige sich damit die Freizeit vertrieben, erschien ihr ohnehin vollkommen absurd. Sie konnte das nur als psychosoziales Phänomen zur Kenntnis nehmen und versuchen, mithilfe einer wissenschaftliche Methodik zu verstehen. Aber nachempfinden konnte sie das nicht. Sie selbst hingegen hatte manchmal das Gefühl, schon kontrolliert, vernünftig und erwachsen auf die Welt gekommen zu sein. Jedenfalls konnte sie sich an nichts anderes erinnern. Und da es schon schwierig genug war, die Ordnung in der realen Welt aufrechtzuerhalten, hatte sie kein Bedürfnis verspürt, diese Ordnung dadurch ins Wanken zu bringen, dass sie in die Gefilde ihrer Fantasie abdriftete. Das Ergebnis mochte dann am Ende ein Wahn sein, wie er Branagorn befallen hatte. Es war nur ein einziger, verhängnisvoller Schritt und man spielte nicht mehr den Elbenkrieger, sondern man war einer. Aber das war etwas, was Anna niemals passieren konnte. Glaubte sie. Hoffte sie. Aber um eine solche Bedrohung ihres innersten Selbst rechtzeitig erkennen zu können, hatte sie ja eigentlich lange genug studiert, wie sie fand.

„Nennen Sie mich Cherenwen – wenn es tatsächlich so sein sollte, dass Sie Cherenwen leichter das anvertrauen können, was Sie offensichtlich entdeckt haben.“

„Es war ein Blick in die Augen. Kennt Ihr das, werte Cherenwen? In einem einzigen Augenblick – und damit meine ich den figürlichen Sinn dieses Wortes! - kann einem alles klar werden!“

„Von welchem Augenblick sprechen Sie?“

„Es war auf der Planwiese in Telgte, als ich der Mörderseele hinter der Schnabelmaske gegenüberstand. Da habe ich diese Seele an ihren Augen erkannt! Denn die waren in den dafür ausgeschnittenen Löchern gut zu sehen. Dieselben Augen sind mir begegnet, als ich vor ein paar Jahren einen längeren Aufenthalt in der Psychiatrie in Lengerich hatte.“

„Sie meinen, Sie können allein anhand der Augen jemanden wiedererkennen?“

„Was ist so ungewöhnlich daran? Kein Auge gleicht dem anderen und an den Mustern der Iris sehen die Heilkundigen, an welchen Krankheiten jemand leidet ...“ Branagorn wandte sich an Haller. „Ich kann Euch leider nicht mit einem Namen dienen, Hüter der Ordnung. Und auch zu dem Gesicht kann ich Euch keine nähere Beschreibung geben. Denn das Augenpaar, das mich damals anstarrte, blickte durch das gläserne kleine Fenster einer Tür, die die Eigenschaft hatte, den Klang von Schreien zu dämpfen. Das Gesicht sah ich bis hier!“, und dabei hielt er die Hand in die Höhe der Nasenwurzel. „Es kann keine große Person gewesen ein, sonst wäre das Gesicht zur Gänze sichtbar gewesen.“

„Ja, das hilft uns sehr weiter, Herr Branagorn“, sagte Haller.

„Eines solltet Ihr noch wissen: Der Schädel war kahl. Es war kein einziges Haar darauf zu sehen.“

„Wie bei den Opfern“, stellte Anna fest.

„Ich sagte Euch doch: Der Traumhenker ist in diese Mörderseele gefahren und lässt sie an anderen Dinge tun, die ihr vielleicht selbst widerfahren sind. Und nun entschuldigt mich – denn ich bin in Eile, auch wenn dies für einen Unsterblichen wie mich ein eher seltener Zustand ist und ich ansonsten nichts dagegen einzuwenden hätte, die Unterhaltung noch ein halbes Leben lang fortzusetzen.“

Er wandte sich zur Tür und schien von einem plötzlichen Impuls getrieben zu sein. Nicht einmal auf sein Schwert, den Nachtmahrtöter, kam er jetzt noch einmal zurück, obwohl ihm das eben noch so unendlich wichtig gewesen war. Anna spürte, dass sich in Branagorns Psyche irgendetwas verändert hatte. So als ob ein Schalter umgelegt worden war. Aber ihr fiel kein vernünftiger Grund ein, ihn davon abzuhalten, jetzt das Präsidium zu verlassen.

„Branagorn, warten Sie!“, rief sie.

Er drehte sich um.

„Werte Cherenwen. Gebt auf Euch Acht, denn der Traumhenker kennt keine Gnade!“

In Annas Hirn arbeitete etwas fieberhaft. Dutzende von Gedanken schienen dort gleichzeitig herumzurasen. Sie hasste Chaos. Sie hasste Situationen wie diese, in denen nicht von vornherein feststand, wie sie ausgingen, was bei einer therapeutischen Situation normalerweise immer der Fall war. Da hielten sich die Überraschungen in engen Grenzen. Aber dies war ein Spiel, in dem sie nicht die Regeln bestimmte und dass ihr deswegen vielleicht auch so viel Unbehagen bereitete. Sie ging zur Stellwand und deutete auf das Facebook-Gruppenfoto. Auf einem daneben angehefteten Ausdruck waren die Kommentare dazu abgedruckt.

Annas Zeigefinger berührte das Foto genau dort, wo sich der Pest-Arzt befand. „Ist es dieser hier?“, fragte sie.

„Das weiß ich nicht“, bekannte Branagorn. „Ich habe dieses Bild angesehen, aber die Augen sind nicht gut genug zu erkennen. Aber eins ist gewiss: Wenn ich der Mörderseele gegenüberstehe und ihren Blick erwidere, werde ich ihr wahres Wesen erkennen!“

Mit diesen Worten verließ Branagorn den Raum.


*


Anna lief ihm nach. Auf dem Flur war er nicht zu sehen. Die Geschwindigkeit, mit der er sich entfernt hatte, überraschte sie. Sie lief mit schnellen Schritten bis zur nächsten Biegung und dann sah sie ihn ganz am Ende des Korridors.

„Branagorn!“, rief sie. Er blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht um, obwohl Anna sich eigentlich sicher war, dass er sie bemerkt haben musste.

Erst am Ausgang holte sie ihn endlich ein, stellte sich vor ihn in den Weg. Sie war ziemlich außer Atem.

„Branagorn, was haben Sie denn jetzt vor?“

„Ich habe dem Hüter der Ordnung gesagt, was ich weiß, und mein Schwert Nachtmahrtöter werde ich offenbar so schnell nicht zurückerhalten, weil es mir offenbar unter fadenscheinigen Vorwänden weiterhin vorenthalten werden soll. So bleibt mir nichts anderes, als mich auf die Kräfte meines Geistes zu verlassen. Nehmt Euren Platz an der Seite der Ordnungshüter ein, werte Cherenwen. Dass mein Platz dort nicht sein kann, wurde mir eindringlich deutlich gemacht.“

„Ich möchte wissen, wo Sie jetzt hingehen?“

„Es besteht kein Anlass, dass Ihr Euch beunruhigt, Cherenwen. Achtet auf den Traumhenker. Das ist alles, was ich Euch raten kann.“

„Versprechen Sie mir, jetzt zurück nach Münster-Kinderhaus zu fahren?“

„Wovor fürchtet Ihr Euch?“

„Dass Sie etwas Unbedachtes tun, Branagorn. Und dass Sie sich in die Ermittlungen einmischen.“

„Wie sollte das denn möglich sein?“

„Vertrauen Sie den Hütern der Ordnung, Branagorn!“

„Natürlich. Im Übrigen seid unbesorgt. Mir geht es so gut wie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr und der Gedanke, dem Lebensüberdruss nachzugeben, liegt mir zurzeit ferner denn je. Das liegt auch daran, dass Ihr nun doch endlich erkannt habt, wer Ihr im Innersten Eurer Seele seid, werte Cherenwen. Dass Ihr Euch selbst und damit auch mich in dieser Weise erkannt habt, bedeutet für mich eine Form des Glücks, die zu erleben ich kaum noch zu hoffen gewagt habe. Insofern sind all Eure Sorgen unberechtigt. Auf dem Dach eines Hochhauses werdet Ihr mich so schnell nicht wieder antreffen. Und ansonsten könnt Ihr über das sprechende Artefakt mit mir in Verbindung bleiben, sollte die Kraft Eures Geistes allein dafür nicht ausreichen!“


*


Mit einem Gefühl der Verwirrung kehrte Anna van der Pütten in den zum Lagezentrum umfunktionierten Konferenzraum zurück. Haller hatte gerade den Bericht des Gerichtsmediziners bekommen und blätterte darin herum.

„Ich hoffe, wir sehen deinen Patienten so schnell nicht wieder“, meinte Haller.

„Sven, er könnte Recht haben!“, sagte Anna und ihre eigene Stimme klang dabei wie die eines Fremden.

„Das meinst du nicht ernst!“

„Wir sollten zumindest die Personen, die wir bisher mit den Opfern in Verbindung bringen konnten, daraufhin überprüfen, ob von denen jemand in Lengerich zu dem Zeitpunkt in der Psychiatrie war, in der auch Branagorn – also Frank Schmitt dort gewesen ist!“

„Du überraschst mich!“, stellte Haller fest und schloss den Obduktionsbericht wieder. „Was soll das? Bist du jetzt auch schon geistig in einer anderen Welt oder muss ich befürchten, dass du in Zukunft als Burgfräulein oder sonst was verkleidet ins Präsidium kommst?“

„Wir haben bisher nicht viel an Anhaltspunkten. Aber einer ist doch, dass alle Opfer offenbar eine Vorliebe für mittelalterliche Verkleidungen hatten! Das Foto beweist es!“

„Die werden sich dabei vermutlich kennengelernt haben“, vermutete Haller.

„Und ein anderer Anhaltspunkt ist diese Pestmaske. Sie ist auf dem Foto und Branagorn war überzeugt, den Täter auf der Planwiese darunter erkannt zu haben und Timothy Winkelströter vertreibt diese Verkleidungen – der Mann, der als Einziger bisher so etwas wie ein Verdächtiger ist!“

„Was schon reichlich übertrieben ist!“

„Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass der Mörder und die Opfer sich kannten – denn die Opfer kannten sich auch untereinander.“

„Und dieser Herzog Schmitt soll ihm in einer Klapsmühle begegnet sein?“

„Ergibt das denn keinen Sinn? Außer, dass der Täter dem erweiterten Bekanntenkreis dieser jungen Leute entstammen muss, wäre es nicht überraschend, wenn er zuvor schon mal wegen psychischer Auffälligkeiten in Behandlung gewesen ist! Er hat dauernd davon geredet, dass dieser Traumhenker mit ihm aus seiner Welt in die unsere gekommen ist. Aber mittlerweile glaube ich, dass man diese Aussagen vielleicht nicht als Spinnerei, sondern als eine metaphorische Ausdrucksweise verstehen sollte. Seine Welt – das ist vielleicht nur ein anderer Ausdruck für die Psychiatrie in Lengerich. Dort fühlt er sich wohl. Und vielleicht wollte er mit dieser Redeweise einfach nur ausdrücken, dass er davon überzeugt ist, dass der Mörder auch dort war – und jetzt wieder in unser aller Welt herumzieht und tötet!“

„Da gibt es nur ein Problem, Anna!“

„Und das wäre?“

„Ich glaube einfach nicht, dass es möglich ist, jemanden anhand seiner Augen zu identifizieren! Das ist doch an den Haaren herbeigezogen!“

„Du irrst dich Sven. Bei jemandem wie Frank Schmitt ist das durchaus möglich.“

„So?“

„Er hat ein fotografisches Gedächtnis. Das ist nichts Ungewöhnliches für Savants.“

„Savants - die Wissenden. Ein bisschen Französisch habe ich auch gehabt. Ein schönes Wort macht mir das Ganze noch nicht plausibel!“

„Das Savant-Syndrom, das bei Branagorn diagnostiziert wurde, ist auch von der Wissenschaft noch längst nicht völlig verstanden, Sven. Aber mit Frank Schmitt sind eine Reihe eingehender Untersuchungen durchgeführt worden. Die Testergebnisse sind beeindruckend. Weißt du, womit er sich normalerweise die Zeit vertreibt? Er geht in die Uni-Bibliothek Münster und liest systematisch die Bücher. Nein, er liest sie nicht, er prägt sie sich ein. Dazu braucht er sich die entsprechenden Seiten nur einmal angesehen zu haben. Mir erzählt er natürlich, dass das immenses Wissen daher rührt, dass er schon vor vielen Zeitaltern in unsere Welt gelangte und schon die Bibliotheken von Alexandria, Konstantinopel und Bagdad durchstöbert hätte.“

„Ach, so weit geht dein Glaube dann doch nicht“

„Das ist kein Glaube, Sven! Sieh bei Gelegenheit mal im Internet nach unter Stephen Wiltshire, genannt die lebende Kamera! Dann werden dir Branagorns Fähigkeiten kaum noch fantastisch vorkommen!“ Anna atmete tief durch. Ihr war durchaus klar, auf welch dünnem Eis sie argumentierte. Nicht etwa, weil es an den Savants und ihren Fähigkeiten Zweifel gab oder weil es ihr zweifelhaft erschien, dass Branagorn tatsächlich jemanden allein an den Augen wiederzuerkennen vermochte. Es gab genügend gut dokumentierte Fälle in der Fachliteratur, die noch weit erstaunlichere Fähigkeiten gezeigt hatten. Aber was nützte es, wenn Branagorn tatsächlich bei einer Gegenüberstellung auf jemanden zeigte und behauptete, er sei der Pest-Arzt von der Planwiese? Damit war noch lange kein Mord bewiesen, geschweige denn ein Zusammenhang zwischen der so identifizierten Person und den Taten des Barbier hergestellt. Aber vielleicht war es ein Anfang. „Also, wenn du da nichts machen willst, werde ich mich mal in Lengerich melden, um herauszufinden, ob irgendjemand von den Personen, die die da inzwischen an den Stellwänden hängen, vielleicht zur passenden Zeit einen Aufenthalt dort hatten! Leichter wäre es natürlich, wenn ihr das machen würdet – von wegen Schweigepflicht und so.“

„Nein, das sollte schon seinen regelgerechten juristischen Gang gehen“, meinte Haller. „Ich kümmere mich darum.“

Anna deutete auf den Obduktionsbericht. „Steht da noch irgendetwas Interessantes drin?“, hakte sie nach.

„Wie man's nimmt.“

„Was soll das heißen?“

„Verschiedene Spuren an der Leiche weisen darauf hin, dass der Täter eher klein gewesen sein könnte. Aber das wussten wir ja eigentlich auch schon vorher. Es ist nur eine Bestätigung.“

„Das passt doch zu Branagorns Aussage!“

„Anna, das war keine Aussage, sondern wirres Zeug!“

In diesem Moment betrat ein übergewichtiger Mann in einem viel zu engen kobaltblauen Anzug den Raum. Der größte Teil des Kopfes war kahl, aber es gab einen Haarkranz in Höhe der Ohren, der aus ungebändigten Locken bestand, was seiner gesamten Erscheinung eine etwas skurrile Note gab. Anna hatte ihn schon des Öfteren bemerkt, wusste aber bisher nur, dass er von den anderen Wolli genannt wurde. Außerdem war er offenbar im Innendienst tätig. Sein Rang, seine genaue Funktion innerhalb des Teams und sein vollständiger Name waren ihr jedoch bisher verborgen geblieben, was für Anna die Schwierigkeit mit sich brachte, dass sie nicht wusste, wie sie ihn ansprechen sollte. Die Zahl ihrer durch Umstände oder die selbstherrliche Anordnung von Sven Haller gestifteten Duzfreundschaften wollte sie keineswegs noch vergrößern.

„Was gibt’s, Wolli?“, fragte Haller.

„Du hast doch gesagt, ich sollte mal diesen Timothy Winkelströter genauer unter die Lupe nehmen.“

„Und? Ist dabei was herausgekommen?“

„Er scheint eine nicht unwesentliche Rolle in einer sehr dubiosen Sekte zu spielen, die sich die 'Neuen Templer' nennt und eine Art Heidentum der Moderne propagiert.“

„Von mir aus soll jeder glauben, an was er will“, erwiderte Haller wenig interessiert. „Hat irgendetwas davon mit unserem Fall zu tun?“

„Schwer zu sagen“, meinte Wolli. „Also erstens ist diese Sekte mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Es ging dabei zumeist um Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz, Anzeigen wegen Betruges und Steuerhinterziehung. Es gab sogar ein Verfahren wegen Verdachts der Geldwäsche, das aber nicht zu einer Verurteilung geführt hat. Der springende Punkt ist wohl, dass die 'Neuen Templer' recht zweifelhafte spirituelle Heilmethoden für alle möglichen Krankheiten und Gebrechen anbieten. Auch Hilfe für psychische Leiden kann man dort bekommen, wenn ich den Internet-Auftritt richtig verstanden habe. Allerdings werden dafür Summen verlangt, die alle regulären Ärzte und Psychiater vermutlich vor Neid erblassen ließen ...“ Wolli wandte sich an Anna. „Dieser Timothy Winkelströter ist gewissermaßen ein Kollege von Ihnen. Er gibt Kurse in „positiver Ich-Findung“ - was immer das auch sein mag!“

„Ich habe von den 'Neuen Templern' schon mal etwas gehört“, sagte Anna.

„Inwiefern?“, fragte Haller.

„Vor etwa anderthalb Jahren hatte ich eine Patientin, die über mehrere Jahre dort Mitglied war und durch okkulte Praktiken einer Art Hirnwäsche unterzogen und zutiefst traumatisiert worden war. Unter anderem wurden mir Rituale geschildert, bei denen Sektenmitgliedern die Haare abgeschnitten wurden. Insbesondere dann, wenn sie sich der Macht Baphomets verschlossen.“

„Auf der Homepage stand aber nur was von Heilsteinen und so“, warf Wolli ein.

„Natürlich!“, erwiderte Anna. „Die 'Neuen Templer' betrachten sich ja als Nachfolger der Tempelritter, denen man die Verehrung eines stierköpfigen Dämons namens Baphomet vorwarf, um den Orden auflösen und dessen Vermögen konfiszieren zu können. Der Baphomet-Kult gehört zum geheimen Teil dieses Glaubens – falls man ihn so bezeichnen möchte.“

„Und wie würdest du es bezeichnen?“, fragte Haller.

„Psychoterror und Ausbeutung. Letztere geschieht sowohl psychisch als auch finanziell. Dieses Ritual, von dem ich gerade sprach, ist eine Art negativer Exorzismus. Der Dämon wird nicht ausgetrieben, wie es früher in der katholischen Kirche üblich war, sondern umgekehrt: Die Seele soll für Baphomet geöffnet werden, damit er in sie hineinfahren kann ...“ Anna stockte bei den letzten Worten. Sie hatte lange nicht mehr an Linda Meyer-Braksiek gedacht, die seinerzeit bei ihr Hilfe gesucht hatte. Letztlich allerdings erfolglos, denn sie wurde schließlich mit aufgeschnittenen Pulsadern in ihrer Badewanne gefunden. Anna erinnerte sich noch genau an den Moment, als sie davon erfahren hatte. Ein knochentrockener Polizeiobermeister hatte ihr die schlechte Nachricht übermittelt. Auch die sonore, warme Stimme hatte dabei nicht irgendetwas abzumildern vermocht. Anna hatte ernsthaft darüber nachgedacht, den Beruf aufzugeben. Schließlich war sie doch offensichtlich gescheitert! Sie hatte Linda Meyer-Braksiek nicht so weit psychisch stabilisieren können, dass sie die Fähigkeit erlangte, unabhängig von den 'Neuen Templern' ihr Leben zu fristen. Dass die Sekte die junge Frau nach ihrem Weggang mit einer Flut von Klagen überzogen hatte und damit sicherlich auch ihren Beitrag zum völligen seelischen Zusammenbruch geleistet hatte, stand auf einem anderen Blatt. Erst durch eine intensive Supervision durch einen erfahreneren Kollegen, gelang es schließlich, Anna davon zu überzeugen, dass dieser Fall für sie kein Grund sein durfte, den Beruf, für den sie doch alles gegeben und alles eingesetzt hatte, aufzugeben. Nicht alles, was man tat, konnte gelingen!, hielt sich Anna seitdem jeden Tag mindestens einmal vor Augen.

Haller wandte sich unterdessen an Wolli. „Wo hat denn diese Sekte ihr Hauptquartier oder wie immer man das nennen will?“

„Die Zentrale ist in Osnabrück. Dort haben sie auch eine alte Villa angemietet, in der sie ihr Schulungs- und Therapiezentrum eingerichtet haben“, sagte Wolli und ließ suchend den Blick schweifen. „Habt ihr zufälligerweise noch Kaffee, der nicht kalt und auch nicht zu dünn ist?“

Haller ging darauf nicht weiter ein. „Dass die Rituale, die diese sogenannten 'Neuen Templer' praktizieren, was mit kahlen Schädeln zu tun haben, ist schon eine sehr auffällige Parallele zu dem, was dieser irre Mörder macht“, stellte er fest und war dabei sehr nachdenklich geworden. „Vielleicht sollten wir uns doch mal genauer ansehen, was die so treiben.“

„Fragen wir doch einfach Timothy Winkelströter“, schlug Anna vor. „Der muss es doch eigentlich wissen!“




Elbenmagie in Borghorst

„Lange ist es her“, murmelte Branagorn, während er mit der Regionalbahn von Münster nach Steinfurt fuhrt. Ein älterer Mann in einem Jackett, das dem völlig unmodischen Schnitt nach uralt sein musste, aber offenbar selten getragen und gut gepflegt war, saß ihm gegenüber. Dazu trug er eine Baseballmütze. Schon die ganze Zeit hatte der alte Herr Branagorn misstrauisch gemustert. Ein Elbenkrieger, der auch noch im Sommer einen relativ warmen Umhang trug, unter dem dann auch noch ein Schwertgriff hervorschaute - das war für ihn einfach nicht so richtig einzuordnen.

Noch viel mehr wunderte sich der alte Herr, als sein Gegenüber plötzlich anfing, eigenartige Silben aneinanderzureihen. Für Branagorn war das eine elbische Stärkungsformel. Denn Stärke, so glaubte der Elbenkrieger, konnte er jetzt dringender als je zuvor gebrauchen, zumal ihm ja auch sein bevorzugtes Schwert Nachtmahrtöter nach wie vor nicht zur Verfügung stand.

Jener Klinge auf seinem Rücken hatte er inzwischen den Namen Feind des Traumhenkers gegeben. Einer Klinge einen Namen zu geben, verlieh ihr zusätzlich Macht. Dies erst im Hinblick auf eine ganz bestimmte Aufgabe zu tun, in der die Waffe sich zu bewähren hatte, bedeutete erst recht, dass zusätzliche Kräfte wachgerufen wurden. Reserven, von denen der Betreffende vielleicht nicht einmal geahnt hatte, dass es sie überhaupt gab.

„Sagen Sie, Sie sind aber nicht von hier, oder?“, fragte der alte Mann.

Branagorn sah ihn etwas irritiert an. Sollte er diesem Mann erwidern, dass er vor tausend Jahren schon einmal hier gewesen war und für Kaiser Otto III die Urkunde angefertigt hatte, mit der dieser die Gründung des Stiftes Borghorst bestätigte? Nein, besser nicht, entschied er. Es war nicht immer ratsam, die Wahrheit allzu unverblümt zu sagen. Das hatte er inzwischen gelernt. Man musste es vermeiden, seinem Gegenüber vor den Kopf zu stoßen, wobei Branagorn zugeben musste, dass ihm das keineswegs immer gelang. Schließlich wirkte schon seine Kleidung, sein Auftreten und seine Ausdrucksweise auf mache Zeitgenossen wie die pure Provokation.

„Ich war schon einmal hier, aber es ist lange her“, sagte Branagorn.

„Ich meine ja nur, wenn ich Sie so ansehe.“

„Was meint Ihr damit?“

„Na ja – wir im Münsterland gelten ja als stur und dickfellig – aber dat wir nich mitkriegen täten, dat man man im Sommer oder meinetwegen sogar Frühherbst kein Karneval mehr mehr feiert – dat halte ich für'n Gerücht!“

„Mir dünkt, dass ich niemals Karneval gefeiert habe“, erwiderte Branagorn. „Der Auflauf der Massen und ihr schrilles Geschrei sind mir zuwider.“

„Sie reden eigenartig. Kommen Sie aus den neuen Bundesländern? Oder sind Sie ein Türke mit gefärbten Haaren? Heute sieht ja nichts mehr so aus, wie es eigentlich ist.“

„Ihr müsst verzeihen, aber Eure Sprache ändert sich so schnell, dass manchmal nur Augenblicke zu vergehen scheinen, ehe sie sich so gewandelt hat, dass man Gefahr läuft missverstanden zu werden.“

„Ja, dat ist wohl wahr“, stimmte der Mann zu. „Was die heute so für Ausdrücke benutzen, da kommt unsereins nich mit!“

„Ich nehme an, dass Ihr das Marienkrankenhaus in Borghorst kennt – angesichts der deutlichen Zeichen des Alters, die Euer Leib trägt, nehme ich an, dass Ihr es hin und wieder aufsuchen müsst.“

Der alte Herr runzelte die Stirn. „Wie kommen Sie mir denn? Ich bin fit wie ein Turnschuh, auch wenn meine Treter schon etwas abgelaufen sind. Aber für neue Schuhe bin ich zu geizig, die könnte ich ja nicht mehr richtig ablaufen, das sag ich immer auch, wenn meine Frau sagt: Schmeiß die alten, schief gelaufenen Dinger weg, da fällst du nur mit.“ Er beugte sich etwas vor. „Wie kommen Sie denn jetzt auf dat Krankenhaus?“

„Ich bin unterwegs dorthin.“

„Wat Ernstes? Na, ich will nich indiskret sein. Ich bin nur ab und zu da, um die Blutwerte überprüfen zu lassen und wegen Rücken. Ich hab nämlich Rücken, aber nix Ernstes. Wie gesagt: Fit wie'n Turnschuh, nur dürfen Sie sich meine Turnschuh nich ansehen, die usseligen Dinger.“

„Wenn Ihr öfter in diesem Hospital weilt, dann kennt Ihr gewiss auch eine Krankenschwester namens Nadine Schmalstieg!“

Eine tiefe Furche erschien nun auf der Stirn des alten Herrn und teilte sie mehr oder minder exakt in zwei gleich große Hälften. „Also ich bin ja schon froh, wenn ich den Namen vom Arzt behalten kann. Die Schwestern kann ich mir nicht auch noch merken! Das überfordert meine kleinen grauen Zellen. Außerdem: Wenn die sich alle erst vorstellen würden, bevor sie einem Blut abzapfen oder sowat, da bräuchte die Ambulanz ja wohl ein doppelt so großes Wartezimmer!“

„Häufig tragen die mildtätigen Helfer im Hospital Schilder mit ihrem Namen an der Kleidung. Ich könnte mir denken, dass dies hier in Borghorst auch so sein könnte.“

„Ja schon – aber die soll ich mit meinen Matschaugen erkennen? Ich bin nämlich kurz- und weitsichtig. Und das heißt, wenn ich eine Brille aufsetze, habe ich immer die falsche auf – und von Gleitsicht wird mir schwindelig. Darum setze ich besser gar keine Brille auf, was dazu führt, dass ich nur das richtig lesen kann, was exakt im richtigen Abstand ist. Die Schnörkelbuchstaben auf dem Amulett um ihren Hals kann ich zum Beispiel klar erkennen. Das heißt Coca Cola, vermute ich mal. Aber wenn ich mich jetzt etwas zurücklehne oder Sie das tun, dann passt dat schon wieder nich.“ Er kratzte sich am Kinn und schüttelte den Kopf. „Also eine Schwester Nadine Schmalstieg ist mir nicht begegnet. Ich glaube, das hätte ich mir auch gemerkt, denn meine falsche Enkelin heißt auch Nadine. Also – falsch deswegen, weil die eigentlich nur durch die Patchworkfamilie meines Schwiegersohnes gewissermaßen importiert worden ist, aber trotzdem Opa zu mir sagt.“

„Ja, die Zeiten sind verworren und schwierig“, erwiderte Branagorn.

„Aber einen Tipp kann ich Sie noch geben, wenn Sie ins Marienhospital kommen!“

„Jeder Ratschlag ist mir willkommen - und ganz besonders der Eure, edler Herr.“

„Wenn Sie Probleme mit der Verdauung haben – dann gehen Sie nicht zu Dr. Freckenbrede!“ Der alte Herr verzog das Gesicht, als gäbe es da unaussprechbare Grausamkeiten, die er auf keinen Fall über die Lippen bringen konnte. Er sagte nur dreimal stoßgebetsartig: „Ne! Ne! Ne!“ - jeweils mit einem abgehackten, kurzen, aber hell gesprochenen 'e' am Ende des Wortes, das eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Hecheln eines Hundes hatte.


*


Später betrat Branagorn das Marienhospital von Borghorst. Borghorst hatte gegenüber Burgsteinfurt, dem anderen, größeren und wichtigeren Stadtteil von Steinfurt, in nahezu jeder Hinsicht den Kürzeren gezogen. Die Vereinigung der beiden Städte war im Grunde eine Eingemeindung von Borghorst nach Burgsteinfurt gewesen. Burgsteinfurt war auch vorher schon Kreisstadt gewesen, nur dass der Kreis anschließend etwas größer geworden war. Nicht mal die Reformation hatte es bis Borghorst geschafft, denn im Gegensatz zu Burgsteinfurt war Borghorst so etwas wie eine katholische Insel, wo es Prozessionen mit Weihrauch, Karneval und all die anderen Dinge gab, die die reformierten Spaßbremsen, für die das Leben ein Jammertal war, abgeschafft hatten. Aber immerhin gab es in Borghorst das Marienhospital – und das war mit seinen 500 Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber der Stadt.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt die Stimme im Glaskasten an der Pforte des Marienhospitals. Sie gehörte einer beleibten Mittdreißigerin mit gelockten blonden Haaren und freundliche Augen.

„Ich suche eine Krankenschwester“, sagte Branagorn.

„Nun, davon gibt es bei uns viele. Haben Sie Beschwerden und wollen Sie zur Notaufnahme? Oder sind Sie hier, um jemanden zu besuchen.“

„Ich suche Nadine Schmalstieg. Sie arbeitet hier als Krankenschwester.“

„Also hier arbeiten so viele Menschen, die kenne ich nicht alle persönlich und mit Namen“, sagte die Frau mit den Locken.

„Ich muss Nadine Schmalstieg dringend sprechen und wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr mir in dieser Angelegenheit helfen würdet!“

„Sind Sie ein Verwandter oder ein Freund? Ich meine, Sie kommen hier einfach her ...“

„Ich bin ein wohlmeinender Freund und es geht um Leben und Tod, werte Frau Kemper!“

Sie trug ein gut lesbares Namensschild an ihrer Kleidung – Ilona Kemper.

Sie beugte sich vor und musterte Branagorn nun stirnrunzelnd von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Von den spitz zulaufenden und leicht nach oben gebogenen Spitzen der Wildlederstiefel bis zu dem Schwertgriff, der über seiner rechten Schulter unter dem Umhang hervorragte. Anschließend blieb ihr Blick einige Augenblicke an dem gusseisernen Elbenrunen-Amulett hängen. Nachdem sie es wohl aufgegeben hatte, darin irgendeine für sie unmittelbar erfassbare Bedeutung erkennen zu wollen, lehnte sie sich wieder zurück, sodass sie nun nicht mehr Gefahr lief, mit der Stirn gegen das Glas zu stoßen, das sie beide voneinander trennte.

„Gehören Sie zu der Laienspieltruppe, die die kranken Kinder unterhalten soll? Dafür ist aber jemand anders zuständig als ...“

„Nein, nein, Ihr missversteht mich! Ich bin keineswegs ein Gaukler zur Belustigung der Genesenden.“

Ilona Kemper blätterte in ihren Unterlagen herum und wirkte auf einmal etwas hektisch. „Ach, Entschuldigung! Nicht Laienspieltruppe, sondern Kasperletheater! Ich habe mich wohl vertan. Allerdings frage ich mich, was Ihre Verkleidung dann soll.“ Sie zuckte mit den Schultern.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: Torben Haehnke
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5494-2

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