Eorin - Band 1
von Margret Schwekendiek
Der Umfang dieses Buchs entspricht 566 Taschenbuchseiten.
Die junge Eorin muss gegen ihren Willen Magieschülerin werden. Es ist für sie fast unmöglich, Gehorsam und Demut einzuhalten. Ihr Mentor Darras erkennt das riesige geistige Potential, das in ihr schlummert. Er unternimmt alles, um sie zu schulen, doch das ist für beide Seiten nicht einfach. Immer wieder verstößt sie im Laufe der Jahre gegen einzelne Regeln der Gemeinschaft, meistens aus dem Bedürfnis heraus anderen zu helfen, oder manchmal aus Trotz gegen Darras. Die beiden reiben sich aneinander auf, und doch brauchen sie einander. Diese Situation spitzt sich zu, als Darras in den Bann des Bösen gerät, verkörpert durch ein magisches Schwert, das Blutvergießen und Terror fordert. Er sträubt sich lange Zeit dagegen, sich ganz dieser dunklen Macht zu unterwerfen. Während ihrer Abenteuer lernt Eorin die Zauberin Samtara kennen, die großes Interesse an der jungen Frau zeigt und versucht, sie in ihre Gilde aufzunehmen, was Eorin empört ablehnt. Zauberer der Gilde bevorzugen die dunkle Seite der magischen Kräfte, und Samtara beherrscht diese fast perfekt, Eorin verweigert sich der dunklen Seite.
Darras verfällt schließlich der dunklen Macht, ergreift nach einem mörderischen, brutalen Kampf auf geistiger Ebene mit Eorin das Schwert und errichtet eine Schreckensherrschaft und überzieht die Menschen mit Krieg und Horror.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
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Dies wird ein Bericht über mein Leben, so wie ich es erlebt habe. Ich habe dabei weder mich selbst mit allen meinen Fehlern und Schwächen geschont, noch sonst jemanden, mit dem ich zu tun hatte. Selbstverständlich ist es kein objektiver Bericht, denn manchmal habe ich aus rein persönlicher Sicht und mit meinen Gedanken und Gefühlen aufgeschrieben was passierte. Ich habe Hass und Liebe erlebt, doch so etwas wie Gleichgültigkeit ist mir nie entgegengeschlagen, dafür ist mein Leben einfach zu gegensätzlich.
Im Laufe der Jahre habe ich einen ständigen Wandel in meinem Leben durchgemacht, angefangen von einem jungen, unwissenden und trotzigen Mädchen bis hin zur reifen Priesterin, die dennoch nie vergessen hat, dass das Leben außerhalb der Mauern existiert. Mein Temperament habe ich nie zügeln können, obwohl es mir immer wieder Schwierigkeiten bereitet hat, und doch habe ich oft an die Warnungen meines Mentors denken müssen. Es gab viele schmerzliche Augenblicke, der schlimmste von allen war mit Sicherheit die große Auseinandersetzung, die selbst in die Geschichtsschreibung eingegangen ist. Ich war bis heute einem ständigen Wechsel unterlegen, und ich hoffe, dass sich das nie ändern wird. Denn nur durch solche Wechselwirkungen im Leben wird es interessant.
In großer Dankbarkeit denke ich an die Menschen, die mich geprägt haben, zum Guten wie zum Bösen, denn alles hat seinen Sinn.
Niemals wird es wieder eine solche Konstellation geben wie sie in der Person meines Mentors und mir auftrat, und wahrscheinlich wird es auch niemals wieder eine solche Bedrohung geben.
Es lag und liegt an mir, das Gleichgewicht zwischen der Welt der Magie und der der Menschen aufrechtzuerhalten. Ich hoffe, ich werde es auch während der übrigen Zeit meines Lebens schaffen.
Heute ist der Tag, an dem die größte Bedrohung aufgehoben wurde. Dies erfüllt mich mit unendlicher Trauer, mein Herz ist schwer, und beim geringsten Anlass breche ich in Tränen aus. Dennoch erachte ich es als meine Pflicht, diesen Bericht abzulegen, um nachfolgenden Generationen zu zeigen, dass auch in der schlimmsten und bösesten Bedrohung Gutes liegen kann. Selbst die Liebe ist nicht ausgeschlossen, wenn auch eine absonderliche Art von Liebe. Aber ich hätte sie nicht missen mögen, nicht eine Sekunde davon.
Doch nun will ich niemanden mit diesen einführenden Worten langweilen. Ich beginne! Mögen die Götter mir meine Fehler verzeihen!
Zögernd setzte ich einen Fuß vor den anderen. Das Gebäude, das so lange in unerreichbarer Ferne gestanden hatte, kam mit jedem Schritt näher.
Und mit jedem Schritt vergrößerte sich meine Angst.
Ich war unterwegs zum Haus der Novizen, wo ich eine Ausbildung zur Magiepriesterin machen sollte.
Ich sage bewusst sollte, denn ich wollte nicht unbedingt.
Jetzt sah ich diesen Klotz vor mir. Hoch aufragende Mauern aus behauenen Steinen, an manchen Stellen mit Moos bewachsen, wuchsen vor mir auf. Das Ganze machte den Eindruck, mich und andere auf ewig festhalten zu wollen, dabei dauerte die Ausbildung nur drei Jahre, und das war auch die Zeit meiner Verpflichtung.
Es half ja alles nichts; ich gab mir einen Ruck, ich musste hinein. Vor mir, neben einem schönen schmiedeeisernen Tor, hing ein Seil für die Schelle. Ich überwand meine Befürchtungen und zog entschlossen an dem Strick. Ein schepperndes Geräusch ertönte und fast im gleichen Augenblick öffnete sich das Tor, als hätte jemand auf mich gewartet.
Ein hoch gewachsener Mann mit schwarzen Haaren öffnete, gekleidet war er in ein langes weit fallendes Gewand: Eine schwarze Kutte mit einer grauen Kordel. Leuchtend graue Augen sahen mich an, und eine warme dunkle Stimme klang mir entgegen.
„Sei willkommen, Eorin, Tochter des Brianos. Ich habe dich erwartet.“
Ich war verblüfft. Woher wollte er denn wissen, wann ich ankomme? Er nahm meine Hand und zog mich hinein. Hinter mir schlug die Tür zu. Es war wie ein Urteil.
Doch ein wenig neugierig geworden sah ich mich um. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber sicher nicht so etwas. Innerhalb der Mauern stand das lang gestreckte Haus, weiß getüncht, mit vielen hohen Fenstern. Dass die meisten der Fenster vergittert waren, fiel mir noch gar nicht auf. Aber direkt vor mir begann der schönste Garten, den ich jemals gesehen hatte. Leuchtend bunte Blumen in geometrisch angelegten Beeten strahlten mir entgegen, weiße geharkte Kieswege führten durch die Beete und an manchen Stellen sah ich Gestalten, die in verschiedenfarbigen Kutten umhergingen.
Niemand beachtete uns.
„Ich bin Darras, für die Dauer deiner Ausbildung dein Mentor. Du darfst mir alles sagen und mich alles fragen. Innerhalb der gebotenen Regeln natürlich.“
Mit diesen Worten nahm er meine Tasche und ging voraus. Es war so selbstverständlich, dass ich ohne ein Wort zu erwidern folgte.
Über die schönen Wege und durch die Beete mit den schönen und duftenden Blüten führte er mich zum Haus. Ein großes geschnitztes Portal öffnete sich wie von Geisterhand. Durch die große Halle, die sich vor mir auftat gingen, schwebten fast, einige Gestalten. Wieder fielen mir die verschiedenfarbigen Kutten auf.
„Welche Bedeutung haben die Farben der Kutten?“, fragte ich ein wenig schüchtern.
Er fuhr herum, seine Augen blitzten mich an, dann wurden sie wieder normal.
„Kennst du die Regeln nicht? O nein, das hat dir noch niemand gesagt. Du musst erst um Erlaubnis bitten zu fragen. Aber das konntest du noch nicht wissen. Nun gut, ich will dir deine Frage beantworten. Unsere Kutten kennzeichnen den Ausbildungsstand und den Rang. Die Weißen sind Novizen, die noch in der Ausbildung stehen, also bis zu drei Jahren hier sind. Die Grauen haben ihre Ausbildung beendet und das Erste und Zweite Gelöbnis abgelegt, man erkennt sie an den Kordeln. Die Schwarzen sind Magiepriester in gehobener Stellung, sie bilden aus wie ich und forschen nach dem wahren Wissen. Sie erwarten Ehrfurcht und absoluten Respekt. Auch du wirst den Brüdern und Schwestern den schuldigen Respekt zollen. Dann sind da noch die Braunen: Sie sind Hilfskräfte, ohne die unsere Gemeinschaft nicht leben kann. Sie erhalten die Gärten, sorgen für unser leibliches Wohl und sind Diener. Zufrieden?“ Es klang wie Spott.
Eingeschüchtert vermochte ich nur zu nicken.
„Gut, dann komm weiter.“
Durch viele Gänge und Türen kamen wir in den zweiten Stock. Hier reihte sich Tür an Tür. Irgendwo hielt Darras an, schloss auf und schob mich hinein.
„Hier wirst du wohnen. Heute behältst du deine Kleidung noch, morgen wird die formelle Aufnahme und Einkleidung sein. Deine übrigen Sachen brauchst du nicht, ich werde sie in Verwahrung geben. Sei versichert, nichts davon wird verloren gehen. Waschgelegenheiten findest du am Ende des Flures. Und hier ist noch etwas.“ Mit diesen Worten zog er ein dicht beschriebenes Blatt aus seiner Tasche.
„Es sind die Regeln für das Leben in der Gemeinschaft. Bis morgen zur Aufnahme wirst du die Regeln auswendig gelernt haben.“
Er drückte mir das Blatt in die Hand, schloss die Tür leise von außen und ich war allein.
Ich sah mich erst einmal um. Eine karge Einrichtung: Ein Bett mit einer Decke, ein Tisch, zwei Stühle. An einer Wand hing ein Haken mit einem Bügel. Und dann gab es noch das Fenster. Freudig wollte ich hineilen und hinaussehen, doch jetzt fiel mir auf, was mir draußen entgangen war. Das Fenster war vergittert. Das hinderte mich zwar nicht am Hinaussehen, doch ich fühlte mich mehr denn je eingesperrt.
Schließlich setzte ich mich hin und begann zu lesen. Und meine Augen wurden groß und immer größer.
1. Ich schulde den Priestern absoluten Gehorsam. Jede ihrer Bitten und Anweisungen werde ich als Befehl betrachten
2. Es wird mein Bestreben sein, immer demütig zu sein, um der Gemeinschaft keine Schande zu machen.
3. Alle mir anvertrauten Geheimnisse werde ich bewahren, selbst wenn es mich das Leben kosten sollte.
4. Die mir anvertrauten Bücher und Gegenstände, sowie Kleidung werde ich sorgsam und pfleglich behandeln.
5. Ich werde für selbstverständliche Hilfeleistungen niemals eine Entlohnung annehmen noch fordern.
6. Für die Dauer meines Bleibens in der Gemeinschaft entsage ich allem, was mir jemals gehörte, ich stelle es der Gemeinschaft zur Verfügung.
7. Ich werde meine Mitschwestern und -brüder stets als höchstes Gut behandeln und immer hilfsbereit sein.
8. Ich gelobe, nur auf Verlangen zu sprechen und keine unnützen Worte über meine Lippen kommen zu lassen.
9. Nach Abschluss meiner Ausbildung werde ich ernsthaft erwägen, der Gemeinschaft auf Dauer meines Lebens beizutreten. Nur schwerwiegende Gründe können mich davon abhalten.
10. Ich gelobe, die in mir erweckten Kräfte und Fähigkeiten stets zum Nutzen der Gemeinschaft anzuwenden.
11. Sollte ich jemals die Gemeinschaft verlassen, werde ich meine Kräfte in den Dienst an der Menschheit stellen.
12. Es steht mir nicht zu, zu kritisieren, nach Verbotenem zu fragen oder jemals an der Weisheit der Gemeinschaft zu zweifeln.
Das alles war schlimmer, als ich es jemals gedacht hatte. Wie sollte ich hier jemals wieder herauskommen? Ich hatte mich auf drei Jahre verpflichtet, aber jetzt erkannte ich mit bitterer Klarheit, dass ich auf Lebenszeit gefangen war. Selbst wenn ich nach Ablauf meiner Verpflichtung austreten wollte, würde ich nie mehr frei über mich entscheiden können.
Verzweiflung überkam mich.
Würde ich jemals wieder frei lachen können wie auf dem Hof meines Vaters?
Mein Vater, der Hof, Dienstmägde, Tiere, das alles schien plötzlich eine Ewigkeit zurückzuliegen. Doch, war ich nicht erst gestern Morgen losgegangen, versehen mit den liebsten Abschiedswünschen und einem Versprechen auf ein baldiges Wiedersehen?
Was tat ich dann hier?
Hier in dieser kühlen und kahlen Zelle, mit Gittern vor dem Fenster, einer einzelnen trüben rußigen Kerze und viel Angst vor der Zukunft.
Würde es überhaupt eine Zukunft für mich geben?
Ich wusste, ich würde es sehr schwer haben, ich war noch nie das, was man ein folgsames Mädchen nennt. Ich versuche gern, meinen eigenen Kopf durchzusetzen. Und jetzt sollte ich allem entsagen, nur noch gehorsam sein?
Wie war ich nur dazu gekommen, freiwillig ja zu sagen?
Aber dann dachte ich wieder an meinen Vater: Ich musste hier bleiben und das Beste daraus machen.
Eine Glocke läutete melodisch. Ich schrak auf.
Noch immer saß ich auf dem Stuhl, auf dem ich gestern Abend bis zum Erlöschen der Kerze gelernt hatte.
In mir sträubte sich noch immer alles gegen das, was ich in kurzer Zeit verkörpern würde. Ich würde mich selbst aufgeben. Ich würde demütig sein und gehorsam und ehrfürchtig, und ich wusste genau, ich würde jeden Tag hassen, an dem ich hier sein musste, um mich selbst zu verleugnen.
Die Tür öffnete sich, und Darras trat ein.
„Ich wünsche dir einen guten Morgen. Bist du aufgeregt?“
Eingedenk meiner gelernten Regeln verbeugte ich mich leicht und wünschte ebenfalls einen guten Morgen.
„Ich bin sehr aufgeregt.“
„Wenn du mit einem Priester oder einer Priesterin sprichst, hänge Herr oder Herrin an. Ich freue mich, dass du deine Lektion gelernt hast.“
Woher wollte er eigentlich wissen, dass ich gelernt hatte? Die Kerze konnte auch ohne Grund gebrannt haben.
Darras schickte mich zum Ende des Flures, für meine Morgentoilette. Ich schlug mir eiskaltes Wasser ins Gesicht und dachte, ich müsste jeden Moment aus einem bösen Traum erwachen. Dem war aber nicht so. Dies musste also Wirklichkeit sein.
Das Wasser erfrischte mich nicht, und wacher wurde ich auch nicht davon. Ich versuchte, so gut wie möglich, meine Angst zu verbergen, straffte meine Schultern und ging zurück.
Darras erwartete mich. Ob er ungeduldig war, konnte ich nicht feststellen. Sicher konnten die Priester und Ausbilder ihre Gefühle gut verbergen.
„Fertig?“, fragte er. Ich nickte nur und folgte ihm.
Unterwegs sahen wir noch mehrere Schwarzkutten mit Neulingen im Schlepptau. Aber nirgendwo war auch nur ein Sterbenswörtchen zu hören.
Schon nach wenigen Abzweigungen war ich völlig verwirrt. Die vielen Türen und Gänge schienen alle gleich auszusehen. Wie sollte ich mich jemals hier zurechtfinden? Am besten war wohl zu zählen.
Ich versuchte verzweifelt, meine Erregung zu unterdrücken, duckte den Kopf und tat sehr demütig. Ein rascher Seitenblick belehrte mich, dass die anderen Neulinge es ebenso hielten. Am liebsten hätte ich kehrtgemacht, doch da war etwas in mir, das mich zwang, weiterzugehen. Ich hätte beim besten Willen nicht haltmachen können.
Endlich standen wir vor zwei großen Flügeltüren. Die Priester warteten, bis alle Neulinge zusammen waren. Wir wurden angewiesen, in Paaren hintereinander mit gemessenen Schritten zu gehen. Zwei Priester gingen jeweils zwischen uns.
Die Türen schlugen nach innen auf, und ich bekam einen Schreck. Ein riesengroßer Saal tat sich vor uns auf. Reichverzierte Säulen ragten bis zu einer Kuppeldecke hinauf, schmale hohe Fenster mit farbigen Scheiben tauchten den Saal in ein vielfach gebrochenes Licht. Vor uns erstreckte sich ein Gang durch zwei Reihen harter Holzbänke. Rechts und links dieser quer gestellten Bänke waren Sitze in Längsrichtung angeordnet. Auf den Bänken saßen Novizen in ihren weißen Gewändern, auch hier unterschieden durch die verschiedenen Kordeln.
In den Sitzen hatten Priester des ersten und zweiten Grades in ihren grauen Kutten Platz genommen.
Wir setzten uns in Bewegung, und als wir die ersten Schritte gemacht hatten, erhoben sich alle Anwesenden. Noch immer war kein Laut zu hören, bis auf das Rascheln des Stoffs.
Langsam gingen wir durch den Gang, bis wir vor drei Stufen Aufstellung genommen hatten.
Nun erst kamen die übrigen Schwarzkutten. Eine Öffnung in der Wand, die vorher nicht zu sehen war, entließ eine Menge Personen, die zu hohen, reich geschnitzten Stühlen schritten. Mit den Gesichtern zur Menge gewandt, warteten die ersten, bis alle ihren Platz erreicht hatten. Wie auf ein unhörbares Kommando setzten sich alle gleichzeitig. Ein einzelner Stuhl genau in der Mitte war noch frei. Und wem dieser Stuhl gebührte, wurde klar, als wir IHN kommen sahen.
Ich spürte es. Diesen Mann umgab etwas nicht Fassbares. Nicht nur, dass er Autorität ausstrahlte, die von allen wie selbstverständlich unterstützt wurde; eine Aura umgab ihn, eine Kraft, die man nicht sehen und noch viel weniger beschreiben konnte.
Obwohl alle saßen, hatte ich das Gefühl, jeder würde sich vor ihm verneigen.
Er blieb stehen, und sein Blick schien jeden Einzelnen zu erfassen. Unwillkürlich beugte auch ich den Kopf.
„Seid uns allen herzlich willkommen“, sprach seine wohl modulierte angenehme Stimme.
Ich hatte das Gefühl, als würde ich den Ton nicht nur hören, nein, in meinem Innern klang etwas wider, und es rührte mich an. In diesem Moment hätte ich mein Leben gegeben, nur um weiter diese Empfindung auskosten zu können.
„Ich sehe, meine Kinder, dass ihr bereit seid, eure Verpflichtung auf euch zu nehmen. Ich bin Agros, der Obere dieser Gemeinschaft. Und ich bin glücklich, dass ich heute so viele junge Gesichter in unserer Mitte begrüßen darf. Ihr tretet heute ein neues Leben an. Es wird für einige nicht leicht sein, und manche werden scheitern. Doch seid versichert, dass wir alle versuchen werden, euer Leben in der Gemeinschaft zum Nutzen aller lebenswert zu machen.“
Warum hatte ich das Gefühl, er würde mich bei diesen Worten besonders ansehen?
Immer weiter senkte sich seine Stimme in meine Seele.
„Ihr müsst viel lernen, aber wir werden gemeinsam die Kräfte der Natur in euch wecken.“
Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
„Und nun werdet ihr nacheinander die Regeln vorsprechen, die ihr in der letzten Nacht gelernt habt. Erst danach werdet ihr beginnen, vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft zu werden. Haltet euch stets an diese Regeln, und nichts und niemand kann euch etwas anhaben.“
Eine dunkle Drohung schien über diesen Worten zu schweben, als wolle er uns warnen, auch nur mit einem falschen Gedanken zu spielen.
„Nun wollen wir beginnen.“
Agros machte unseren Mentoren ein Zeichen, und der erste Neuling in der Reihe begann die Regeln aufzusagen.
Er schien aber nicht viel im Kopf zu haben, oder war er nur so aufgeregt? Schon bei Nummer drei begann er zu stottern. Fast unmerklich bot sein Mentor Hilfestellung, gab ihm hier und da mit einem geflüsterten Wort Hilfestellung. Schließlich stand er mit hochrotem Kopf da und traute sich nicht, die Augen zu heben. Verstohlen betrachtete ich die Gesichter der Mentoren, aber aus ihren Mienen war nichts abzulesen. Eine undurchdringliche Mauer aus Beherrschung und Zucht verhinderte, dass sie ihre Gefühle und Empfindungen zeigten.
Ich hätte gern gewusst, was die Novizen hinter uns taten. Saßen sie jetzt auf ihren Plätzen und lachten innerlich, waren sie in der Lage, unsere Situation nachzuvollziehen? Oder machte sich Schadenfreude in ihnen breit? Ich wusste noch nicht, dass die Regeln alle so veränderten, dass sie seelische Qualen empfanden bei dem Gedanken, einer von uns könnte sich derart blamieren, dass er nicht mehr weiterkam und so Schande über die Gemeinschaft brachte.
Mittlerweile war die Reihe am Neuling neben mir. Ein junges Mädchen, jünger noch als ich, und ich war doch erst fünfzehn. Sie hatte eine nette fröhliche Stimme und sprach die Worte fast ohne zu stocken, nur bei den Geboten über das Sprechen und die lebenslange Verpflichtung hatte ich das Gefühl, sie müsse sich überwinden. Das machte sie mir sympathisch. Ich hegte schließlich die gleichen Bedenken.
Dann war die Reihe an mir.
Ich hatte zwar gelernt, bis ich nicht mehr konnte, dennoch war ich nicht sicher, alles so herunterzuspulen, wie ich es mir gewünscht hätte. Doch kaum hatte ich begonnen, entstand in meinem Geist ein Bild, und darauf konnte ich das Blatt mit den Regeln sehen. Ich brauchte einfach nur alles abzulesen, es konnte gar nichts schief gehen. In meiner Verwirrung blieb mir aber keine Zeit, über dieses Phänomen nachzudenken.
Ich erhaschte einen Blick des Oberen, er sah mich äußerst wohlwollend an. Was sollte das nun wieder?
Immer mehr verstärkte sich in mir der Verdacht, dass die Gemeinschaft etwas Bestimmtes von mir wollte. Aber was?
Endlich waren alle fertig. Und mit einer neu gewonnenen Gewissheit spürte ich, dass keinem anderen auf diese merkwürdige Art geholfen worden war.
Doch uns allen war die Erleichterung ins Gesicht geschrieben.
Wir bekamen nun den Befehl, uns auszuziehen. Scheu begannen wir damit. Bis auf die Unterwäsche legten wir die Kleidung ab. Dann kam eine der Braunkutten und gab jedem von uns eine weiße Kutte mit weißer Kordel.
Die Braunen schienen zu dieser Veranstaltung nicht zugelassen zu sein. Es war mir bisher noch nicht aufgefallen, dass bis auf diese Dienerin keiner von ihnen anwesend war.
Schnell zog ich mich wieder an, mir war plötzlich kalt, ganz furchtbar kalt.
Nun standen wir alle, äußerlich von den anderen Novizen nicht mehr zu unterscheiden, in einer Reihe. Der Obere hob die Hand wie zum Segen.
„Geht nun, meine Kinder, lernt und lebt in der Gemeinschaft, haltet euch an die Regeln, macht sie zu eurem Lebensinhalt, und wir wollen euch ein Heim und eine Familie sein. Wir alle sind Brüder und Schwestern.“
Diese Worte rief er laut aus, und wieder hatte ich das Empfinden, als bilde sich ein geistiger Zusammenschluss, der von ihm ausging. Es war wie ein Sog, der mich drängte, mich diesem Zustand anzuschließen, alle meine Kräfte beizusteuern und die Gemeinschaft zu stärken.
Noch leicht verwirrt reihte ich mich ein in den Zug der Neulinge, der sich anschickte, die Halle der Besinnung wieder zu verlassen.
*
Hinter uns schlossen sich die Türen, und wir blieben alle wie auf ein Kommando stehen. Darras ergriff das Wort.
„Nachdem ihr nun aufgenommen seid, werden wir beginnen, euch zu unterrichten. Jeweils fünf von euch gehören in eine Gruppe. Auf diese Weise bekommt ihr die bestmögliche Ausbildung. Zusätzlich jedoch wird jeder einzelne noch Übungsstunden bei seinem Mentor verbringen und von diesem lernen, wie die Kräfte nutzbringend angewandt werden.“
Die Kräfte! Diese nicht zu beschreibende Macht musste es sein, die ich gespürt hatte. In mir regte sich der Wunsch, auch solche Kräfte zu besitzen.
Kurze Zeit später saßen wir in einem Lehrraum. Wir, das waren zwei Jungen und drei Mädchen, deren jeder einen schmalen Tisch vor einem harten Stuhl hatte. Im Hintergrund hatten die Mentoren auf bereitgestellten Stühlen Platz genommen, während vor uns Darras, mein Ausbilder, stand.
Eine leere schwarze Tafel lehnte verloren in einer Ecke, und durch die geöffneten Fenster drangen weiche warme Luft und das Gezwitscher vieler Vögel herein.
Ich schüttelte die Beklemmung ab, die sich in der Halle der Besinnung auf mich gelegt hatte. Jetzt kam ich mir selbst albern vor, was sollte dieses merkwürdige Gefühl schon bedeuten? Hier war das richtige Leben, nicht irgendwelche nicht greifbaren Kräfte, die ich mir sicherlich nur eingebildet hatte. Schon mein Vater hatte mich oft ermahnt, meiner Phantasie nicht die Zügel schießen zu lassen.
Dummkopf, der ich war!
„Zuerst möchten wir euch etwas näher kennenlernen“, begann Darras. „Ihr alle könnt schreiben und lesen, das wissen wir. Und sicher kennt ihr die meist gebräuchlichen gesunden giftigen Kräuter. Doch wie ist es mit dem Gesang? Es ist wichtig für uns, klare reine Töne zu singen. Eorin, sing uns ein Lied vor, das du kennst.“
Ausgerechnet ich. Meine Wangen wurden rot, und ich spürte vor Verlegenheit Hitze aufsteigen. Aber es half ja nichts.
Ein Lied kam mir in den Sinn, das mein Vater gerne sang, von grünen Wäldern und tiefen Seen, in denen Nixen und Elfen hausen. Zaghaft begann ich, doch nach und nach wurde meine Stimme kräftiger.
„Gut gemacht“, lobte Darras. „Du hast eine sehr schöne Stimme. Wir werden sie schulen, und schon bald wirst du so klar und rein singen, wie es die Wasser sind, die du beschrieben hast.“
Noch immer knallrot im Gesicht setzte ich mich.
Die anderen sangen meiner Meinung nach ebenso gut, bis auf einen Jungen, Idros, er war noch im Stimmbruch und krächzte vor sich hin.
Darras lächelte.
„Du wirst noch warten müssen. Aber das legt sich. Nun werde ich euch zeigen, wie wir singen. Hört gut zu.“
Er begann ein Lied von Kampf und Sieg, über die Liebe einer Frau zu einem Krieger und ihren Verzicht auf ihn. Seine Stimme schlug uns in den Bann. Wir fühlten die Wut und die Kraft während des Kampfes, die zärtliche Liebe und die Angst um den Geliebten, und endlich die Aufgabe, es war, als risse man uns das Herz aus dem Leibe. Als Darras endete, weinten wir, und keiner schämte sich seiner Tränen.
„Bewahrt es gut. Bald werdet ihr es auch können. Ihr seht nun, dass man in den Gesang Kraft legen kann. Damit kann man heilen und helfen, aber auch schrecklich zerstören. Hütet euch! Geht jetzt zum Essen, die Glocke läutet.“
Wirklich, es läutete. Ich hatte gar nicht darauf geachtet. Folgsam verließen wir den Raum.
Der Speisesaal bestand aus einem lang gestreckten Raum, in dem lange Tische mit Stühlen darauf warteten, besetzt zu werden. Die Tische waren ohne Decken, nur mit Tellern und Löffeln gedeckt. Auf Brettchen waren duftige Brotlaibe aufgeschichtet, aus der offenen Flügeltür zur Küche hin drang ein verlockender Duft.
Unsere Mentoren wiesen uns ein, und wir suchten uns Plätze. Hinter den Stühlen blieben wir stehen und warteten. Als auch der Obere als Letzter eingetreten war, dankten wir den Göttern für ihre Gaben und setzten uns. Braunkutten brachten große Kessel, in denen eine Gemüsesuppe dampfte. Jeder bekam eine ordentliche Portion, und ich musste anerkennen, dass es hervorragend schmeckte. Nach dem Essen wurden wir in unsere Kammern geschickt, zur Meditation. Hier gab es für mich die ersten ruhigen Augenblicke des Tages.
Es gab einiges, worüber ich nachzudenken hatte. Aufs Bett durften wir uns tagsüber nicht legen, so stellte ich mich ans Fenster, genoss den Duft des Frühlingstages durch die Gitterstäbe und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Zuerst purzelten sie kreuz und quer durcheinander, doch dann kam endlich Ordnung in das Chaos.
Eine Frage stand klar vor mir: Was hatte ich gespürt?
Zuerst bei der Aufnahmezeremonie und später auch bei Darras` Gesang. Es war eine geistige Kraft, etwas Unfassbares, das jedoch in der Lage war, Menschen zu manipulieren, ohne dass sie sich dagegen wehren konnten. Magie, das musste es sein.
Ich hatte kaum eine Vorstellung davon, was ich von Magie zu halten hatte. Sicher kannte ich auch die Magiepriester. Sie wurden geholt, wenn jemand krank war, wenn Tiere ohne Grund eingingen, wenn Wiesen und Äcker nicht genug Frucht trugen. Sie waren die stillen Helfer.
Aber ich hatte nie gewusst, wie sie es machten. Ich hatte mir, wie die meisten anderen Menschen auch, nie Gedanken darüber gemacht. Sie waren einfach da. Und jetzt wurde mir mit erschreckender Deutlichkeit klar, dass es Gedankenkraft sein musste, die sie benutzten.
„Hütet euch!“, hatte Darras gesagt. Ich verstand, dass diese Warnung sehr berechtigt war. Meine Gedanken konzentrierten sich immer mehr auf diesen Punkt, und doch bekam ich nicht mehr als einen Zipfel zu fassen.
Nur einen kleinen Zipfel der Wahrheit, die unfassbar und schon fast ungeheuer war. Die Kraft konnte nicht nur helfen und heilen. Hatte auch schon jemand zerstörerischen Gebrauch davon gemacht? Diese Frage begann mich brennend zu interessieren. Was konnte man damit noch alles anfangen? Ein Schreck durchfuhr mich. Konnte Darras, und damit auch die anderen, vielleicht Gedanken lesen?
Dann lagen meine Gefühle und Wünsche, und nicht nur meine, offen vor ihm wie ein aufgeschlagenes Buch.
Das wäre ja furchtbar!
Meine Gedanken verwirrten sich wieder. Wäre ich nur zu Hause und könnte mich an die breite Brust meines Vaters schmiegen. Er würde mir über den Kopf streichen und mich trösten.
Aber ich war hier und konnte nicht weg. Also Kopf hoch und durchhalten.
Leise öffnete sich die Tür. Ich hatte zwar nichts gehört, spürte aber, dass mich jemand ansah. Ich drehte mich um.
„Gehen wir“, sagte Darras.
Durch nichts in seinem Aussehen hätte ich feststellen könne, ob er wirklich meine Gedanken las, und zu fragen getraute ich mich nicht. Nur zu gut war mir meine erste Lektion im Gedächtnis geblieben. Ich würde bestimmt nicht den Mund aufmachen.
Wir gingen wieder ins Lehrzimmer. Irgendwann würde ich mir diese vielen Wege sicherlich merken. Aber nicht heute, heute war zuviel Neues auf mich eingestürmt.
Darras blieb stehen. Ich war noch immer tief in Gedanken versunken, bemerkte es nicht und prallte auf ihn.
„Entschuldigung“, murmelte ich, weil mir nichts anderes einfiel.
Ein strafender Blick traf mich ins Innerste.
„Wir reden noch darüber“, hörte ich ihn sagen.
Wir waren die Letzten, die ankamen. Schnell setzte ich mich auf meinen Platz. „Ihr werdet jetzt lernen, angemessen zu gehen“, hörte ich und wünschte mir ein Mauseloch, um darin zu verschwinden. Das konnte sich ja nur auf meine Ungeschicklichkeit beziehen.
„Ihr habt sicher schon gemerkt, dass wir nicht hart auftreten oder gar trampeln. Wir schreiten, selbst wenn wir es eilig haben. Niemandem würde es einfallen, die Gänge entlang zu hasten oder gar zu rennen. Auch in der Öffentlichkeit bewegen wir uns nicht anders. Das ist ein Prinzip und gehört ebenso zur Gemeinschaft, wie unser Aussehen. Niemals erlauben wir unseren Augen, sich nach innen zu kehren und womöglich nicht auf den Weg zu achten.“
Dabei sah er mich an. Ich fühlte einen kalten Schauder über meinen Rücken laufen. Wenn er doch nur aufhören würde.
„Brüder und Schwestern unserer Gemeinschaft genießen ein bestimmtes Ansehen. Und niemand, ich wiederhole, niemand, wird Schande über uns bringen. Ihr werdet jetzt hier entlanggehen. Einer nach dem anderen.“
Ich überhörte den drohenden Unterton nicht. Ich nahm mir vor, auch diese Lektion nie zu vergessen.
Jetzt aber musste ich gehen. Und mir zitterten die Knie. Ich versuchte, den gemessenen, fast schwebenden Gang nachzuahmen, den ich immer wieder gesehen hatte, konnte aber nichts dagegen tun, dass ich ein Gefühl wie „auf Stelzen“ hatte. Prompt hörte ich hinter mir einen der Novizen kichern. Das bekam ihm allerdings schlechter als mir meine Gangart. Die Bewegung war kaum zu sehen, ansatzlos und blitzschnell hatte sein Mentor ihm eine Ohrfeige verpasst. Der so Gemaßregelte sagte nicht einmal Aua. Vor Verblüffung riss er seine Augen weit auf, bevor knallige Röte hochzog bis zum Haaransatz.
„Jetzt du“, sagte Darras zu ihm.
Vor Scham und Verlegenheit stolperte der Junge mehr als er ging. Er tat mir schon wieder leid.
Auch die anderen mussten vormachen, wie sie sich das Gehen vorstellten. Aber es sah nicht besser aus als bei mir. Das versöhnte mich ein bisschen.
Danach zeigten uns die Mentoren, wie es richtig war. Sie zogen die Kutte ein wenig vom Boden hoch, so dass wir sehen konnten, wie die Füße richtig gesetzt wurden. Wir übten so lange, bis es nicht mehr so gestelzt bei uns aussah, danach ging es zu einem Rundgang. Diese Aufgabe übernahm Woras, einer der anderen Mentoren.
Die übrigen Ausbilder zogen sich zurück und niemand fragte, wohin. Woras zeigte uns neben verschiedenen Räumlichkeiten auch den Keller, in dem Weinflaschen vor sich hinstaubten und Vorräte aufgetürmt lagen, die Gärten, die nicht nur duftende und bunte Blumen enthielten, sondern auch Heilkräuter, deren Namen wir längst nicht alle kannten.
Immer und überall waren Braunkutten zu sehen, emsig an der Arbeit und still. Ich hatte bisher noch keine von ihnen reden gehört.
Wir sahen, dass es außer der Halle der Besinnung und dem Essraum noch zwei große Säle gab. Das eine war die Tempelhalle, die täglich für die gemeinsame Andacht genutzt wurde, das andere eine Art Aufenthaltsraum, in dem man Briefe schreiben, sich unterhalten oder auch kleine Dinge reparieren konnte.
Uns taten die Füße weh, als der Rundgang beendet wurde. Es war noch ungewohnt, in flachen Sandalen zu laufen, die nur von einem schmalen Lederriemen gehalten wurden. Woras führte uns zurück zur Tempelhalle, wo sich nach und nach alle versammelten, um die gemeinsame Andacht zu halten. Wir hörten ein melodisches Geläut, und auch die letzten Nachzügler trafen ein.
Die Halle war groß und hoch, weiß getüncht, und nur vorne in Blickrichtung stand das „Verehrungswürdige“. Leider sagte mir das überhaupt nichts, denn das große Geheimnis war mit Tüchern verdeckt. Später erfuhr ich, dass nur einmal im Jahr die Tücher abgenommen wurden, nämlich am „Tag des geheimen Wissens“, an dem nur die Priester teilnehmen durften. Doch hier und jetzt konnte ich mir nichts darunter vorstellen, so blieb meine Neugier noch lange ungestillt.
Die Andacht begann mit einigen Minuten Meditation. Wir versenkten uns in uns selbst, leerten unseren Geist, um aufnahmebereit zu sein. Der Obere intonierte einen Gesang, der ruhig und gelassen begann, in den aber nach und nach alle Stimmen einfielen. Das Lied klang empor, und jeder fühlte sich angesprochen einzustimmen, so mitreißend war es. Wieder erklang es nicht nur für das Ohr, sondern der Geist, die Seele wurde angesprochen. Auch mein Innerstes jubilierte mit ihnen. Das Zeitempfinden schwand völlig. Ich fühlte mich plötzlich frei und dennoch eins mit dem Universum. Eine berauschende Erfahrung.
Nur widerwillig mochte ich zurückkehren in diese Welt, doch auch dieser wunderschöne Moment ging vorbei, und damit war die Andacht beendet.
Anschließend nahmen uns die Mentoren wieder unter ihre Fittiche. Zu meinem größten Erstaunen machten Darras und ich einen Spaziergang im Garten.
Wir wanderten schweigsam über die weißen Kieswege, nahmen den Duft auf und ließen das Farbenspiel auf uns wirken.
„Du hast sicher viele Fragen, denn alles muss neu und verwirrend für dich sein“, meinte er nach einiger Zeit.
„Darf ich reden?“, fragte ich.
Er machte ein zustimmendes Zeichen.
„Es ist heute sehr schwer, alles aufzunehmen, und ich werde noch lange brauchen, um es zu verarbeiten. Ich bin sicher, dass die meisten Fragen sich im Lauf der Zeit selbst beantworten. Doch eine Frage möchte ich stellen.“
Ich machte eine kleine Pause, wie um mir selbst Mut zu machen.
„Die Kräfte, die ich hier gespürt habe, und die du angesprochen hast, ist das eine Bewusstseinserweiterung, eine Gedankenkraft, oder was...“ Ich brach ab und blickte Darras an.
Er sah zum ersten Mal konsterniert aus. Hatte ich ihn etwa aus der Reserve gelockt? Er ließ einige Zeit verstreichen, bevor er antwortete.
„Mit dieser Frage habe ich noch nicht gerechnet“, brachte er schließlich hervor. „Du sagst also, du hast die Kräfte gespürt. Hast du jemals vorher schon so etwas gefühlt? Hast du vielleicht schon mal gedacht, du kannst die Gedanken anderer Menschen erfassen? Ist irgendwann etwas Ungewöhnliches passiert? Dachtest du schon einmal, dass es merkwürdig wäre, weil du ein Ereignis vorher wusstest? Sag es mir und sei ehrlich.“
Darras hatte mich an den Schultern gefasst und drückte in starker Erregung fest zu. Ich sah ihn mit großen Augen an.
„Ja, manchmal...“, gab ich zögernd zu.
„Was? Was genau?“
„Mein Vater hat gesagt...“
„Ich will wissen, was genau du gespürt hast, nicht was dein Vater gesagt hat.“ Seine Stimme klang hart, fordernd. Nichts mehr war zu hören von dem weichen melodischen Klang, den ich schon so mochte. Ich sah ihn ängstlich an. Er hatte sich jedoch schon wieder gefangen.
„Komm, erzähle mir, was los war. Du kannst und sollst mir alles sagen. Und hab keine Angst, ich lache bestimmt nicht.“
Er lächelte mich aufmunternd an, und endlich spürte ich, dass er es ernst meinte. Ich verstand zwar seine Erregung nicht, doch in meinem Kopf formte sich ein Gedanke. Dem aber würde ich später nachgehen. Ich fasste mir ein Herz und erzählte ihm alles, was ich schon von früher Kindheit an gelernt hatte zu verschweigen. Mein Vater hatte immer gesagt, ich hätte zuviel Phantasie, und ich sollte mit keinem Menschen darüber reden. Jetzt aber sprudelte ich alles heraus; so als ob eine Schleuse geöffnet worden wäre, redete ich. Von dem Wissen über Gedanken, die andere Leute für geheim hielten, die ich aber erkannte, wenn sie stark daran dachten, über Besuche, von denen ich vorher wusste, über Krankheiten beim Vieh, die dann auch eintraten. Darras sah mich verständnisvoll an.
„Ja, ich verstehe deinen Vater. Wäre es ruchbar geworden, hätte man dich als Hexe bezeichnet und verbrannt. Der einfache Mensch tut sich sehr schwer damit. Aber schau einmal...“
Im ersten Moment wusste ich nicht, was er meinte, doch dann sah ich, dass sich wie von selbst eine Handvoll Kies erhoben hatte. Ich fuhr zurück.
„Hab keine Angst, das sind die Kräfte, von denen du sprachst.“
Die Neugier siegte über die Angst.
„Kann ich das auch?“
Darras lachte, herzhaft und laut.
„Ja, Kind, das wirst du auch noch lernen. Du bist auf dem besten Wege dazu. Und du wirst es schnell lernen, denn du bist schon erweckt.“
Er führte mich in einen der Klassenräume. Ich warf einen sehnsüchtigen Blick aus dem vergitterten Fenster. Ein vorwitziger Vogel hatte sich auf das Fensterbrett gesetzt und lugte hinein. Darras ging zu ihm hin, streckte den Arm aus, und das Tier hüpfte auf seine Hand. Zärtlich streichelte er über das farbenfrohe Gefieder, dann ließ er den Vogel wieder fliegen.
„Du fühlst dich eingesperrt?“, erkundigte er sich, als er meinen Blick bemerkte.
„Ich - ja - nein - doch! Ich fühle mich eingesperrt. Was sollen die Gitter, wenn ich doch ohnehin eine Verpflichtung habe zu bleiben. Und nicht nur ich, auch die anderen. Es - es bedrückt mich.“
„Du wirst dich daran gewöhnen, Eorin. Es wird eine Zeit kommen, da sie dich nicht mehr stören werden. Und immerhin könntest du doch ohne Schwierigkeiten aus dem Tor gehen. Niemand würde dich halten, wenn du dein Versprechen brechen wolltest.“
Erstaunt blickte ich ihn an.
„Und was würde dann mit mir geschehen?“, fragte ich bang.
„Äußerlich wohl gar nichts. Du könntest nach Hause gehen und dein bisheriges Leben wieder aufnehmen. Aber in deinem Innern sähe es ganz anders aus. Und dazu kommt ja auch noch deine Begabung, die du kaum vor den anderen Menschen auf Dauer verheimlichen könntest. Früher oder später würde die Kraft dich beherrschen. Schreckliches Unheil wäre die Folge!“
Ich hätte zu gern gefragt, wie sich dieses Unheil auswirken würde, traute mich aber nicht. Doch er schien mir die Gedanken vom Gesicht abzulesen. Ruhig setzte er sich auf einen Stuhl, betrachtete mich aufmerksam und bemerkte, dass ich meine Hände nervös in meinem Schoß knetete. Ein leichtes Lächeln flog über sein Gesicht.
„Ich werde dir die Geschichte eines solchen Unglücklichen erzählen, um deine Neugierde zu befriedigen. Aber lass dir gesagt sein, dass Neugier einer künftigen Priesterin nicht angemessen ist.“
Ich wollte empört aufbegehren, dass ich doch gar nichts gesagt hätte, dass ich es nicht unbedingt wollte, nein, dass ich es gar nicht wissen wollte. Doch mit einer herrischen Handbewegung schnitt er mir jedes Wort ab.
„Ich weiß, was du sagen willst, aber schweige besser. Ich habe nichts dagegen, dir in diesem Fall zu Willen zu sein. Geh nicht immer gleich in die Luft, wenn etwas nicht nach deinem Willen geht. Du wirst hier noch lernen müssen, dass du dich unterordnen musst. Und nun lass mich erzählen.
Vor einigen Jahren kam ein junger Mann in unsere Gemeinschaft. Er war ebenso wie du, jung, temperamentvoll, idealistisch - und widerspenstig. Bereits vom ersten Tag an widersetzte er sich allen Anordnungen und Regeln, war nicht bereit, auf die Liebe und das Verständnis einzugehen, mit der ihm alle begegneten, und ging schließlich eines Tages ohne Gruß und Abschied davon. Ich selbst war damals noch kein Ausbilder, doch Bruder Adolar, den du noch kennenlernen wirst, war sein Mentor. Er erzählte mir von dem weiteren traurigen Schicksal. Der junge Mann kehrte zurück in das Haus seiner Eltern. Er arbeitete hart, doch er wurde immer wortkarger und mürrischer, und die Nachbarn behaupteten nach einiger Zeit, im Hause spuke es. Blitze flammten des Nachts über das Dach, das Land veränderte sich seltsam, einige Bäume verdorrten, andere wuchsen mehr als üppig, Tiere verendeten oder wurden plötzlich rasend. Der junge Mann aber wollte sich von niemandem helfen lassen. Er bestritt sogar die Vorkommnisse.
Einer unserer Brüder bot ihm wiederholt Hilfe an, doch er verfluchte uns in die tiefste Unterwelt und schwor, niemals wieder mit einem von uns etwas zu tun haben zu wollen.
Das Leben wurde für ihn aber immer schlimmer. Er war nicht in der Lage, seine Kräfte zu beherrschen, die wir, ebenso wie bei dir, nicht erst wecken mussten. Die Kräfte beherrschten ihn zu dieser Zeit schon. Bei jedem Schritt und Tritt musste er sich konzentrieren, da seine Gedanken sonst ständig Verheerungen anrichteten. Ungebeten stürmten die Gedanken und Gefühle anderer Menschen auf ihn ein, und da half es ihm nichts, dass er sich die Ohren zuhielt und manchmal schreiend durch die Gegend lief. Er schlug unkontrolliert mit seiner Kraft um sich, weinte dann, wenn er wieder Schaden angerichtet hatte, und wusste doch nicht, wie er aus diesem Teufelskreis ausbrechen konnte. Die Leute aus seinem Dorf baten uns um Hilfe, doch auch wir wussten lange Zeit nicht, was wir tun sollten, denn gegen seinen Willen war ein Eingreifen fast unmöglich. Um eine Blockade einzusetzen, war es schon zu spät, es hätte uns selbst geschädigt. Doch es musste etwas geschehen.
So fand sich einer unserer Brüder bereit, sein Leben für alle zu opfern, um der ständig größer werdenden Bedrohung ein für allemal Herr zu werden. Er forderte den jungen Mann zu einem Duell heraus. In einem kleinen Wald standen sich die beiden gegenüber. Noch heute ist das Betreten des Waldes verboten, denn noch immer sind die Auswirkungen der ungeheuren Kräfte zu spüren, die die zwei aufeinander losließen. Keiner von beiden kehrte je zurück.“
Für einige Zeit saß ich wie erstarrt. Das war ja schrecklich. Natürlich würde ich am liebsten auch sofort gehen, doch stand mir dann nicht vielleicht das gleiche Schicksal bevor? Auch ich wusste jetzt ziemlich sicher, dass ich diese Kräfte besaß. Würden sie sich ebenso schrecklich auswirken, oder hatte Darras das nur erzählt, um mich von dem Gedanken abzubringen zu gehen. Aber nein, so einfach gehen würde ich nicht. Ich würde nie ein gegebenes Wort brechen. Es musste einen Weg geben, diese Verpflichtung wieder loszuwerden.
Noch etwas interessierte mich plötzlich.
„Was geschieht mit denen, die ihre Kräfte nicht aktivieren können?“, fragte ich, um mich aus den trüben Gedanken zu lösen. Darras schüttelte tadelnd den Kopf.
„Deine Sprunghaftigkeit werde ich dir auch noch abgewöhnen müssen, Eorin. Aber um deine Frage zu beantworten: Dieser Fall ist äußerst selten, und wir werden niemanden verstoßen, nur weil seine und unsere Hoffnungen nicht in Erfüllung gehen. Die Brüder und Schwestern bleiben ebenfalls bei uns und erfüllen ihre Aufgaben, so weit ihre Kräfte reichen. Und nun wirst du versuchen, all das, was heute auf dich eingestürmt ist zu verarbeiten. Wir sehen uns später.“
Er brachte mich in meine Kammer zurück, wo ich bald schon die Glocke zum Abendessen hörte.
Das Essen war wieder gut, Käse, Marmelade, gute Butter und viel frisches Brot. Die älteren Priester tranken Wein dazu, es half ihnen bei ihren abendlichen Meditationen, sich leichter zu konzentrieren. Wir bekamen jedoch nur Wasser.
Mittlerweile war es fast dunkel. Wir wurden zur Nachtruhe in unsere Kammern geschickt.
Ich legte mich auf mein Bett und versuchte, meine Gedanken in eine ordentliche Reihenfolge zu zwingen. Seit gestern - wirklich erst seit gestern? - war mehr auf mich eingestürmt, als sonst in einem ganzen Jahr. Ich war müde und dennoch so aufgeregt, dass ich keine Ruhe fand. Auch die Reaktion von Darras hatte mich nicht ruhiger gemacht, eher mehr noch verwirrt. Trotzdem, ich musste jetzt schlafen. Der morgige Tag würde sicher nicht leichter werden als der heutige. Ich kuschelte mich in meine Decke und schloss die Augen.
Ich konnte einfach nicht einschlafen. Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die andere, schloss die Augen, versuchte meinen Geist zu leeren und zu innerer Harmonie zu finden. Alles zwecklos. Mein Vater hatte einmal gesagt, je mehr man etwas will, umso weniger wird es eintreffen. Vielleicht sollte ich mich gegen den Schlaf wehren, um das Gegenteil zu erreichen.
Ach ja, mein Vater. Mein lieber, guter, immer hilfsbereiter Vater, der doch so schwach war, und mir immer Stärke vermitteln wollte. Wie sehr hatte ich ihn geliebt und liebte ihn noch, auch wenn ich ihn verlassen musste. Daran war er allerdings nicht ganz unbeteiligt.
Mein Vater war ein einfacher Mensch vom Lande. Er besaß allerdings einen schönen Hof, der ausgereicht hätte, um eine Familie mit vielen Kindern zu versorgen. Er hatte gute Manieren und sah ausgesprochen stattlich aus, mit schwarzen lockigen Haaren und blitzenden Augen. Seine Hände, die so hart zupacken konnten, waren dennoch von einer Zartheit und Sensibilität, die man bei einem Bauern nicht vermuten würde. Dieser Mann, angesehen bei seinen Nachbarn und geachtet bei den Ältesten, verliebte sich ausgerechnet in ein Edelfräulein. Es muss wohl ein großer Skandal gewesen sein. Denn ihr Vater hatte etwas dagegen, dass seine Tochter unter dem Stand heiratete. Da konnte der Mann ruhig wohlhabend sein und gute Manieren besitzen. Es schickte sich einfach nicht. Auch die einfache Landbevölkerung lehnte diese Verbindung ab. Eine Adlige war das Letzte, was man brauchen konnte. Die hatte keine Ahnung, wie das Haus zu führen war, konnte mit dem Gesinde nicht umgehen und passte in ihrer ganzen Art nicht dazu. Trotz dieser widrigen Umstände setzten die beiden sich durch, und so heiratete mein Vater meine Mutter.
Es dauerte lange, bis sie schwanger wurde und so bewies, dass sie meinem Vater wenigstens Kinder schenken konnte. Ansonsten traf leider genau das ein, was im Dorf befürchtet worden war. Meine Mutter war sehr anspruchsvoll, und mein Vater, der sie abgöttisch liebte, versuchte wirklich, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Um sie von seinen Sorgen abzulenken, mit denen sie ohnehin nicht belastet sein wollte, erzählte ihr mein Vater auch nicht, welche Probleme sich durch ihre Ansprüche auftürmten. Es war in der Regel sehr kostspielig, was sie forderte.
Nun war aber auch ihr Vater nicht sehr wohlhabend gewesen und hatte ihr vieles abschlagen müssen. Hier bei ihrem Mann wollte sie endlich alles nachholen, was ihr bisher versagt worden war. Und mein Vater musste schließlich Schulden machen, um die Kosten zu decken. Zuerst nahm er Abschläge auf kommende Ernten, dann aber musste er den Hof verpfänden.
Meine Geburt stand unter keinem guten Stern. Meine Mutter empfand die Schwangerschaft als persönliche Beleidigung und gerade die letzten Wochen als Folter. Jede Störung war nur dazu angetan, ihre ach so schrecklichen Qualen zu verstärken. Die Geburt selbst dauerte, wie bei vielen Erstgebärenden, sehr lange. Als man ihr sagte, ich wäre ein Mädchen, seufzte sie nur.
„Auch das noch.“
Sie lehnte es strikt ab, mich zu stillen, das würde ihre Figur verderben. Schließlich wurde eine Amme aufgetrieben, und ich gedieh doch noch ganz prächtig. Mein Vater war vor Glück fast verrückt. Seine Frau hatte jedoch nichts Eiligeres zu tun, als sich eine komplette neue Garderobe anzuschaffen, sie könnte die alten Fetzen aus der Schwangerschaft nicht mehr sehen.
Selbstverständlich bekam sie, was sie wollte.
Mit fünf Jahren bekam ich den ersten Unterricht. Ich lernte schnell und fleißig, was meinen Vater sehr freute und meine Mutter unendlich langweilig fand.
„Wozu braucht ein Mädchen das? Was soll ihr das im Leben nützen?“
Doch ich lernte weiter. Bald darauf geschah es zum ersten Mal, dass ich die Gedanken meines Vaters erfasste. Er hatte meiner Mutter ein Geschenk gemacht, und trotz ihrer Freude zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er es bezahlen sollte.
Ich sprach ihn darauf an, er war sehr erschrocken.
„Woher weißt du das?“, fragte er.
„Ich weiß es einfach. Keine Ahnung, woher.“
Er ließ die Sache auf sich beruhen, doch als ich kurz danach von einer Kuh sprach, die krank wäre, obwohl sie absolut gesund aussah und auch gute Milch gab, und auch das genau eintraf, sprach er ein ernstes Wort mit mir.
„Eorin, woher weißt du diese Dinge?“
„Ich kann es dir nicht sagen, Vater.“
„Du darfst mit keinem Menschen darüber reden, auch nicht mit deiner Mutter. Hörst du? Sprich nie mehr davon. Zügle deine Phantasie. Es ist nicht gut, dass ein junges Mädchen darüber spricht. Versprich mir, alles zu vergessen.“
Ich hatte keine Ahnung, was „so etwas“ war, versprach meinem Vater allerdings, nie mehr ein Wort darüber zu verlieren.
Natürlich wusste ich oft genau, was los war, doch ich behielt es in Zukunft für mich.
Trotz alledem verlief meine Kindheit gut und fröhlich. Ich tobte mit anderen Kindern über Wiesen und Bäche, fürchtete mich davor, tief in den Wald zu gehen, weil da angeblich Kobolde und Hexen hausten, und lernte, die Natur zu lieben.
Das alles änderte sich jäh, als mein Vater eines Tages merkwürdigen Besuch erhielt. Ich wusste seit langem von seinen zunehmenden Schwierigkeiten. Er kämpfte darum, den Hof nicht zu verlieren. Da tauchte eines Tages dieser Mann auf. Heute weiß ich, dass es einer der Magiepriester war, damals war es für mich nur ein unheimlicher Fremder. Er ging mit meinem Vater ins große Zimmer, das wir nur zu besonderen Feiertagen benutzten, und dort blieben die beiden lange Zeit.
Was dort gesprochen wurde, weiß ich nicht. Ich konnte auch keine Gedanken aufschnappen, obwohl ich es ganz bewusst versuchte. Jedenfalls war mein Vater sehr ernst, als er sich von dem Mann verabschiedete. Seine Stirn hatte viele Falten, die mir vorher nicht aufgefallen waren, und er drückte mich später ganz heftig an sich. Spät am Abend hörte ich meine Eltern streiten. Es war bisher noch nie vorgekommen, dass sie eine solche Lautstärke entwickelten.
Eigentlich sollte ich schlafen, doch ich schlich mich vorsichtig durch den Flur und legte lauschend den Kopf an die Tür.
„...kann es nicht weitergehen“, hörte ich meinen Vater. „Ich habe den Hof total verschuldet, um deine Wünsche zu erfüllen. Du weißt, dass ich dich liebe und versuche, dir ein guter Mann zu sein. Deshalb kann ich aber nicht meine Tochter verkaufen oder den Hof völlig ruinieren.“
Was war das? Er wollte mich verkaufen? Da war ich ja wohl im richtigen Moment gekommen.
„Wenn du mich liebst, wie du ständig behauptest, würdest du mich nicht mit deinen Problemen behelligen. Und was soll das heißen, deine Tochter verkaufen? Sie soll eine Ausbildung zur Priesterin machen. Das kann ja wohl nicht verkehrt sein. Du bist doch ohnehin dafür, dass sie etwas lernt.“
„Das ist etwas ganz anderes. Aber Eorin soll für mindestens drei Jahre der Gemeinschaft beitreten, und das schon mit fünfzehn. Und ich bin fast sicher, dass sie nicht zurückkommt.“
„So ein Unsinn. Sie soll für drei Jahre verpflichtet werden, und du bekommst eine Menge Geld dafür. Es ist mir zwar ein Rätsel, wie sich jemand freiwillig mit den Bälgern beschäftigen kann und dafür auch noch zahlt, aber einen größeren Vorteil kannst du gar nicht haben.“
„Ja, Geld ist das Einzige, was dich interessiert. Geld und immer wieder Geld, damit du es für noch mehr unnützen Tand ausgeben kannst“, brüllte mein Vater los.
So kannte ich ihn gar nicht. Ungewohnt bitter und laut. Ich verstand nun auch, worum es ging. Jemand hatte meinem Vater viel Geld geboten, wenn ich für drei Jahre wegginge.
Drei Jahre, das erschien mir schon damals eine unendlich lange Zeit. Ich sollte von meinem Vater weg? Und meine Mutter hatte nichts dagegen? Das war ja schrecklich.
Verstört tappte ich zurück in mein Bett. Darüber konnte ich mit niemandem reden, mit meinem Vater schon gar nicht. Außerdem hätte ich dann ja zugeben müssen, gelauscht zu haben.
Ich wurde in den nächsten Tagen immer stiller, und schließlich erfasste mich ein heftiges Fieber.
Eines Abends, als mein Vater allein an meinem Bett saß, fasste ich mir doch ein Herz und fragte ihn. Er sah mich lange an, mit Augen, die nicht mehr wie früher lachten und blitzten, sondern dunkel von Schwermut und Trauer waren. Als er dann sprach, schnitt es mir ins Herz.
„Ja, mein Kind. Ich glaube, ich muss mit dir darüber reden. Du weißt ja, dass ich viele Schulden habe. Ich liebe deine Mutter, obwohl ich weiß, dass es ein Fehler ist. Aber ich kann nicht anders. Ich liebe dich aber auch, mein Kleines. Und das macht mir die Entscheidung so unendlich schwer. Und bevor ich euch beide verliere, muss ich auf dich verzichten. Denn du wirst eines Tages ohnehin dein eigenes Leben führen müssen. Und dann ist es sicher besser, wenn du die bestmögliche Ausbildung hast. Und du bist ja nur für drei Jahre weg.“ Er stöhnte plötzlich auf. „Drei Jahre. Bei den Göttern, ich wollte, ich könnte sie dir ersparen.“
Er legte den Kopf auf die Arme und weinte lautlos. Nur am Zucken der Schultern erkannte ich es. Und ich verstand. Zärtlich strich ich ihm über den Kopf.
Drei Tage später war der Priester wieder da. Meine Mutter zog sich ihr bestes Kleid an und wollte ihn großzügig bewirten. Doch nur ein verächtlicher Blick traf sie. Mein Vater sprach nur kurz mit dem Mann, der daraufhin einen prallen Geldbeutel zurückließ und befriedigt verschwand.
Die ausstehenden Schulden wurden alle bezahlt, und mein Vater behielt noch eine ansehnliche Summe zurück. Meine Mutter wollte daraufhin wie gewohnt weitermachen, doch da biss sie plötzlich auf Granit.
„Nein“, bestimmte mein Vater, „du hast lange genug für dich allein gelebt und jeder Laune nachgegeben. Du hast alles zerstört, was hätte schön sein können. Du wirst dich jetzt anpassen und dein Teil Arbeit tragen wie jeder hier.“
Es kam zu einem sehr hässlichen Streit. Und noch Tage später gab es immer wieder laute Auftritte. Dann packte meine Mutter ihre Sachen.
„In diesem Haus bleibe ich keine Minute länger“, schrie sie. „Ich soll arbeiten? Ich? Hast du vergessen, wer ich bin? Ich Dummkopf! Wie konnte ich mich nur an einen Bauern wegwerfen? Das habe ich nun davon. Ich gehe. Jawohl! Zurück zu meinem Vater. Wie konnte ich nur jemals glauben, hier ein glückliches und angemessenes Leben zu führen?“
Wahllos griff sie in die Schränke und warf ungeordnet in eine Tasche, was ihr in die Finger kam.
Letztendlich wollte sie auch den Schmuckkasten einpacken, doch da griff mein Vater ein.
„Der Schmuck bleibt hier. Er wird einmal Eorin gehören, und er wurde mit dem Geld von diesem Hof bezahlt.“
Meine Mutter fuhr auf ihn los wie eine Wilde und zerkratzte ihm das Gesicht. Doch mein Vater blieb hart, und sie verließ den Hof ohne den Schmuck. Ich atmete tief auf. Die Sache hatte mich doch sehr mitgenommen. Mein Vater war weiß wie Kalk. Doch er biss die Zähne zusammen und ging wie gewohnt an seine Arbeit.
Das Leben wurde ruhiger für uns alle. Zwar versuchte meine Mutter mit Drohungen und Erpressungen eine standesgemäße Versorgung für sich herauszuschlagen, doch das Gericht, das aus dem Ältestenrat bestand, entschied, dass meine Mutter kein Recht hatte, weiterhin Geld von meinem Vater zu verlangen. Sie wohnte wieder bei ihrem Vater, bescheiden, aber zumindest versorgt.
Mein Vater arbeitete hart, härter als je zuvor. Er sparte eisern, obwohl es mir an nichts fehlte. Er häufte Geld zusammen, und an meinem 14. Geburtstag fuhr er mit dem Pferdewagen weg.
Zerknirscht kehrte er zurück.
„Ich wollte dir heute eine ganz besondere Freude machen“, sagte er. „Ich habe versucht, den Vertrag über deine Ausbildung zu widerrufen. Aber leider...“. Hier brach er ab. „Dafür darfst du dir wünschen, was du willst. Egal, was es ist. Denn uns bleibt nur noch ein Jahr.“
Was sollte ich mir wünschen? Ich besaß alles, was ich brauchte. Sonderwünsche hatte ich keine, und das Einzige, was ich gewünscht hätte, war meinem Vater von den Priestern abgeschlagen worden.
Ich entschied mich, um meinem Vater eine Freude zu machen, für eine Halskette mit einem Medaillon. Wir fuhren in die Stadt, und hier durfte ich nach Herzenslust aussuchen. Ich fand ein goldenes Medaillon, auf dem sprungbereit eine Raubkatze eingearbeitet war. In die Kapsel erbat ich mir eine Locke von meinem Vater, die ich auch bekam. Dieses Medaillon besitze ich, allen Anordnungen zum Trotz, heute noch.
Es wurde dann doch noch ein schöner Geburtstag. Das ganze Gesinde feierte mit, und am Abend wurde ein Kalb geboren, das meinen Namen bekam.
Mit der Zeit gewöhnte ich mich schweren Herzens an den Gedanken, mit 15 das Haus verlassen zu müssen. Und jedes Mal, wenn sich meine Gedanken ernsthaft mit diesem Thema beschäftigen wollten, lenkte ich mich mit irgendetwas ab. Ich verdrängte einfach den Bruch, der mir bevorstand.
Doch das alles nützte nichts. Es kam der Tag, an dem ich meine Sachen packen musste.
„Du wirst nicht viel brauchen“, sagte mein Vater.
Also nahm ich nur das Notwendigste, Kamm, Bürste, Wäsche zum Wechseln und mein Medaillon.
Mein 15. Geburtstag war ein strahlend schöner Tag. Schon früh am Morgen leuchtete die Sonne und tauchte alles in ein rötlich- goldenes Licht. Die letzte Mahlzeit, besonders gut zubereitet, mit allen meinen Lieblingsspeisen. Mora, unsere Magd, lief mit verweinten Augen umher, und mein Vater hatte eine starre Maske aufgesetzt, doch ich kannte seine Gefühle.
Nach dem Essen holte ich mein Bündel.
„Ich muss gehen.“
„Ja, mein Kind.“
Weitere Worte waren unnötig.
Ich sah nicht zurück. Ich weiß nicht, ob ich dann noch die Kraft aufgebracht hätte, weiterzugehen. Und ich wollte meinen Vater nicht wortbrüchig werden lassen. Ich versprach ihm und mir in Gedanken, bald wiederzukommen. Doch damals sollte ich nicht ahnen, wie bald dieses Versprechen in Erfüllung gehen sollte.
Langsam tauchte ich aus meinen Erinnerungen auf und kehrte zurück in meine karge Kammer. Hilflosigkeit überfiel mich.
Wie ging es meinem Vater?
Ohne mich zu wehren, überließ ich mich den Tränen, die unvermittelt aus meinen Augen strömten, und ich weinte mich in den Schlaf.
Ein Tag reihte sich an den anderen, und jeder Tag war angefüllt mit Lernen, Arbeit und Andacht.
In den ersten Tagen wurde ich behutsam mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass ich keine Gewissensbisse mehr entwickeln musste, wenn ich meine eigenen Kräfte benutzte.
„Du hast wild gearbeitet, Eorin, ohne Ausbildung, eigentlich ohne Wissen. Du musst jetzt lernen, deine Kraft bewusst zu entwickeln und gezielt einzusetzen. Um dieses Ziel zu erreichen, benutzen wir den Gesang, denn er konzentriert die Gedanken, und es wird leichter, diese Gedanken auf ein Ziel zu richten.“
Also begann ich mit einfachen Tonleitern, die ich stundenlang rauf und runter intonierte, bis mein Hals schmerzte, mein Kopf dröhnte und ich glaubte, nie wieder Spaß am Gesang haben zu können. Darras ertrug diese Torturen, die es sicher auch für ihn waren, mit einer bewundernswerten Geduld. Bald aber merkte ich, dass es mir leichter fiel, meine Gedanken zu bündeln, ich konnte mich bewusst darauf konzentrieren, im Geist meines Mentors zu lesen, wenn er sich nicht abschirmte und mich nicht daran hinderte. Was ich auch lernen musste, war die persönliche Abschirmung. Zuerst verstand ich nicht, wie ich es machen musste, ich versuchte einfach, an nichts zu denken, was aber ein Fehler war, denn das Unterbewusstsein arbeitet grundsätzlich weiter. Meine verzweifelten angestrengten Versuche entlockten Darras gelegentlich ein amüsiertes Schmunzeln, was mich wütend machte. Ich verdoppelte dann meine Anstrengungen, was aber meistens wenig Erfolg hatte.
„Du bist ein Dickkopf, Eorin. Mit Gewalt wirst du nichts erreichen. Lass dir Zeit“, sagte Darras sanft. Aber in meiner Sturheit wollte ich alles auf einmal. Als Darras merkte, dass mit gutem Zureden meine Starrköpfigkeit nur weiter zunahm, griff er zu einem anderen Mittel.
Nachdem ich wieder einmal mit äußerster Anstrengung meinen Geist abschirmen wollte, dabei aber unglücklicherweise meine Ausstrahlung auf ihn ausdehnte, schlug er zurück. In meinem Kopf entstand plötzlich ein schmerzhafter Druck, als würde er von einer Zange zusammengepresst. Verzweifelt griff ich an die Schläfen, um den Druck zu mildern, aber er nahm noch immer zu, bis ich nicht mehr klar denken konnte.
„Hör auf“, schrie ich, denn mein Mentor zwang mich auf diese Art nieder.
„Das musste sein, Eorin“, hörte ich wie durch einen dichten Nebel. „Du wolltest nicht hören, und ich werde nicht zulassen, dass du dich selbst zerstörst, weil du dich überforderst.“
Langsam nahm die Qual ab, mein Kopf klärte sich, ich atmete erleichtert auf, als die Schmerzen endlich abklangen.
„Geht’s wieder?“, fragte Darras.
Tränen des Schmerzes und der Wut in den Augen nickte ich, beherrschte mich aber mühsam und schluckte schwer.
„Du Trotzkopf“, murmelte Darras. „Glaubst du, du könntest das Wissen und die Erfahrung von Jahren in wenigen Tagen in deinen Schädel hämmern? Geh langsam an die Sache heran, und vor allen Dingen höre auf mich.“
In mir explodierte wieder mal mein Temperament.
„Was tu ich denn die ganze Zeit? Ich höre ständig auf dich. Du bist es doch, der mir alle meine Lektionen eintrichtert. Außer nachts im Schlaf höre ich immer auf dich.“
„Und warum befolgst du dann meine Anweisungen nicht?“ Ironisch sah er mich an, Spottlust tanzte um seine Mundwinkel. Das brachte mich noch mehr in Rage.
„Ich werde mir alle deine Anweisungen aufschreiben und für jeden Bedarf die Richtige heraussuchen“, erklärte ich wütend.
„Das ist gar keine schlechte Idee“, meinte er mit einem sanften Lächeln. Ich hätte gewarnt sein müssen, aber mir fehlte die kühle Beherrschtheit, die einen Priester auszeichnet. Ich sprang auf, rannte aus dem Raum und knallte die Tür zu. Noch immer vor Wut kochend lief ich in meine Kammer und warf mich, allen Verboten zum Trotz aufs Bett. Ich spürte, wie ich anfing zu weinen, und dann wurde mir klar, was ich getan hatte. Ich hatte nicht nur in meiner Lektion überzogen, ich hatte auch meinen Mentor angebrüllt, und was das Schlimmste war, ich war einfach davongelaufen.
Was würde Darras tun? Was stand mir jetzt wohl bevor? Würde er mich vielleicht rausschmeißen? Ach nein, so viel Glück würde ich nicht haben.
Die Tür öffnete sich. Erschreckt fuhr ich auf, angstvoll schaute ich in das Gesicht von Darras. Doch wie fast immer war seine Maske undurchdringlich.
Schuldbewusst stand ich vom Bett auf, stellte mich auf die Füße und senkte den Kopf. Warum überfiel mich eigentlich plötzlich so ein Lachreiz? Ich biss mir auf die Lippen, aber das nützte nicht viel. Unwiderstehlich drängte sich ein völlig unpassendes Gelächter hervor. Ich versuchte krampfhaft, diesen Drang zu unterdrücken, doch es wurde immer schlimmer. Und schließlich platzte es heraus, unpassend und der Situation völlig unangemessen. Ich lachte und lachte, wusste nicht warum, da ich viel lieber geweint hätte, aber ich konnte nicht aufhören.
Irgendwie hatte Darras diesen Zustand erfasst, und er tat das einzig Richtige. Er gab mir eine kräftige Ohrfeige. Abrupt brach ich ab.
„Hysterie“, kommentierte er knapp.
Ich holte tief Luft, obwohl meine Wange schmerzte, war ich ihm dankbar. Jetzt endlich war ich bereit, meine verdiente Strafe zu empfangen.
Darras lief in meiner Kammer hin und her. „Ich müsste dich eigentlich streng bestrafen, das weißt du, ja?“
Zaghaft nickte ich.
„Aber mir ist klar, dass es zum Teil meine Schuld war, da ich es zugelassen habe, dass du deine Kräfte überfordert hast. Ich hätte früher eingreifen müssen. Es war einfach zu viel für dich. Für heute beenden wir den Unterricht, und du wirst dich ausruhen. Leg dich schlafen, ich befreie dich von allen Verpflichtungen. Morgen sehen wir weiter. Du hast mich da auf eine hervorragende Idee gebracht.“
Diese Nachsicht war fast mehr, als ich ertragen konnte. Hemmungslos liefen mir die Tränen die Wangen herunter, und ich fühlte mich schuldiger, als wenn ich Arrest oder sonst etwas aufgebrummt bekommen hätte.
Darras verließ meine Kammer, und ich sank zusammen.
*
Ich fühlte mich elend, denn Darras hatte mich beschämt. Ich hatte ihn schwer gekränkt mit meinem Verhalten, das wusste ich, und doch hatte er mir verziehen, hatte sogar sich selbst einen Teil der Schuld gegeben. Welche Größe besaß dieser Mann.
Folgsam hatte ich mich hingelegt und versuchte zu schlafen, ich musste Kräfte sammeln. Hin und wieder döste ich ein, doch der erlösende Tiefschlaf wollte nicht kommen. Ich hörte die Glocke läuten, zur Meditation, zum Essen. Es war ein Bruch des gewohnten Tagesablaufs, vielleicht konnte ich deswegen keine Ruhe finden.
„Du schläfst nicht“, sagte die weiche Stimme von Darras. Es klang wie ein Streicheln. Ich hatte ihn nicht bemerkt, er war wie ein Geist hereingekommen. Er stellte einen Stuhl neben mein Bett und setzte sich. Aufmerksam forschte er in meinem Gesicht.
„Fühlst du dich wieder besser?“, fragte er freundlich.
Ich wollte mich aufsetzen, doch er drückte mich zurück.
„Es tut mir sehr Leid, Herr. Ich bitte um strenge Bestrafung“, murmelte ich.
„Ich habe dir schon gesagt, dass es zum Teil meine Schuld ist. Du hättest schon früher gebremst werden müssen. Doch morgen wirst du genau das tun, was du heute vorgeschlagen hast. Du wirst aufschreiben, was ich dir sage, damit du es dir einprägst. Und wenn es nötig sein sollte, wirst du es hundertmal schreiben, aber du wirst meine Anweisungen befolgen. Ist das klar?“
„Ja, Herr. Aber ich....“.
„Keinen Widerspruch. Es reicht. Schlaf jetzt.“
Langsam fielen mir die Augen zu und der erlösende Schlaf kam.
*
Der nächste Tag begann jedoch damit, dass eine große Versammlung in der Halle der Besinnung angesetzt wurde. Tuscheleien unter den Novizen machten mir aber schnell klar, dass einer der Novizen ausgestoßen werden sollte. Richtig aus der Gemeinschaft verstoßen. Nun konnte ich nicht gerade sagen, dass es hier wie der Himmel auf Erden war, doch man konnte lernen, sich zurechtzufinden. Auch ich versuchte, das Beste daraus zu machen.
Es war ein schwerer Gang, es schien mir auch so, als kämen die anderen nur zögernd.
Nachdem alle ihre Plätze eingenommen hatten, flogen die großen Flügeltüren auf und zwei Gestalten, nicht nur eine, wurden hereingeführt. Sie hatten ihre Kapuzen übergeschlagen und erst, als sie vor der Versammlung standen, wurden ihre Köpfe entblößt.
Man hatte ihnen die Haare abgeschnitten, und ich konnte zunächst gar nicht erkennen, wer die beiden waren.
Doch dann durchfuhr mich ein Schreck. Ich kannte sie beide aus meiner Gruppe. Es mussten schwerwiegende Verfehlungen sein, die sie sich hatten zuschulden kommen lassen. Mir drehte sich der Magen um.
Wie hatten sie nur Schande über uns bringen können? Für sie wäre es besser gewesen, die Gemeinschaft still und heimlich zu verlassen und sich nie wieder bei einem von uns sehen zu lassen. Ich wollte nicht einmal mehr wissen, was sie getan hatten. Ich vertraute voll und ganz der Weisheit des Oberen. Er würde bestimmt keine falsche Entscheidung treffen.
Einer der Ausbilder trat vor. Die beiden mussten ihre Kutten ausziehen und mit einem heftigen Ruck wurden sie zerrissen. Doch auch bei diesem Geräusch, das mir in der unwirklichen Stille durch Mark und Bein ging, zuckte bei den beiden kein Muskel. Sie standen vor uns, ohne das geringste Anzeichen von Demütigung oder Aufbegehren. Doch auch Zorn oder Reue waren nicht zu erkennen. Dabei fragte ich mich ständig, was mit ihnen los sein konnte. Sie wirkten auf mich, als wären sie geistig weggetreten.
Nun trat der Obere vor. In seiner Stimme klangen Trauer und Wehmut, doch auch Befriedigung dachte ich herauszuhören.
„Ihr habt Schande über uns und euch gebracht. Da ihr noch keine voll ausgebildeten Mitglieder seid, bleibt uns als Konsequenz nur der Ausschluss. Ihr werdet gehen wie ihr gekommen seid. Geht in Frieden, doch hütet euch vor den Menschen, sie werden euch das Leben schwer machen. Mein Segen soll euch trotzdem begleiten, denn ihr seid nur unwissende Kinder. Nun geht und versucht zu leben.“
Mit einer segnenden Geste schickte er sie fort, während wir alle in der Gemeinschaft mit den breiten Ärmeln unserer Kutten unsere Gesichter verhüllten. Ob dies nun eine Geste der Trauer oder der Abscheu sein sollte, wusste ich nicht. Doch mir gab es Gelegenheit, meine Tränen zu verbergen.
Es war eine sehr entwürdigende Szene, wobei ich mich fragte, für wen sie schwerer war, für die beiden, oder für uns andere.
Der Obere sprach wieder zu uns.
„Es tut mir leid, dass wir zwei von uns verloren haben. Noch dazu zwei so viel versprechende Brüder. Mein Herz ist von Trauer erfüllt und meine Seele weint. Wir wollen ihrer als Verlorene gedenken.“
Danach wurde über diese Angelegenheit nie mehr ein Wort verloren. Jeder versuchte, auf seine Weise damit fertig zu werden.
*
„Ich sage dir noch einmal, du sollst für heute aufhören!“, befahl Darras mit scharfer Stimme.
„Aber, Herr, nur noch einen Versuch“, bettelte ich.
„Nein!“, donnerte er.
Dennoch wollte ich nicht aufgeben. Es war mir einfach zu wichtig, mir selbst zu beweisen, dass ich erste echte Erfolge mit meiner Kraft hatte. Und so missachtete ich die Anweisung meines Mentors.
Seit dem frühen Morgen bündelte ich meine Kraft, um einfach ein Feuer zu entzünden. Ich hatte es schon einmal geschafft, doch ich wollte es genauso einfach und leicht können wie Darras, der mit einem einfachen Gedankenbefehl eine Flamme emporschießen lassen konnte.
Wieder konzentrierte ich meine Kraft, warf den geballten Befehl auf einen kleinen Haufen Reisig, der am Boden lag, und taumelte plötzlich zurück. Aus den Augen von Darras schossen Blitze auf mich zu. Heiße Feuerströme umflossen meinen Körper, und ich hob abwehrend die Hände. Jede Nervenfaser strahlte plötzlich Schmerzen aus, und ich schrie unterdrückt auf.
„Du wirst gehorchen, wenn ich dir etwas befehle, oder du wirst es bitter bereuen“, sagte Darras leise.
Jedes seiner Worte brannte sich glühend in mein Gehirn ein. Ich nickte unter Schmerzen, und endlich ließ er von mir ab. Vorsichtig bewegte ich mich, mein ganzer Körper kribbelte schmerzhaft, und Tränen schossen mir in die Augen.
„Wir werden jetzt zurückgehen ins Klassenzimmer und deine mathematischen Fähigkeiten schulen“, ordnete Darras an und ging voran.
Ich folgte ihm eilig, obwohl jeder Schritt mich Überwindung kostete. Doch mehr als diesen Tadel hätte ich an diesen Tag nicht verkraften können, so dachte ich. Kurz darauf saß ich an meinem Pult und versuchte den Erklärungen von Darras zu folgen, der an der Tafel stand und etwas über Bruchteile und Landvermessung aufschrieb. Noch immer kämpfte ich gegen die Schmerzen an, die sich besonders im Nacken, im Kopf und in den Händen zu konzentrieren schienen. Kaum konnte ich den Stift in der Hand halten.
„Hörst du mir überhaupt zu?“, unterbrach mein Mentor plötzlich meinen inneren Kampf.
„Ja, Herr“, sagte ich leise.
„Du lügst“, warf er mir vor. „Ich sagte gerade, dass die geteilten Stücke zusammen immer größer als das Ganze sind. Und du hast diesen groben Fehler nicht bemerkt. Es scheint heute ein sehr schlechter Tag zu sein. Liegt es an der Luft, dass du gegen mich rebellierst?“
„Nein, Herr. Ich bitte um Verzeihung, ich wollte doch nur meine Aufgaben erfüllen.“
„Deine Aufgaben sind dann erfüllt, wenn ich es für richtig halte. Deine wichtigste Aufgabe ist es, das zu tun, was ich dir sage, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Du kannst es dir nicht leisten, gegen meine Anordnungen zu verstoßen. Du bist noch nicht weit genug, um deine Kraft selbst einzuschätzen. Du musst dich auf mich verlassen, ob du willst oder nicht.“
Widerwillig hörte ich zu, spielte dabei aber nervös mit meinem Stift, bis er plötzlich zu Boden fiel.
Ich erstarrte!
Darras brach mitten im Wort ab. Sein Blick bohrte sich in meinen, seine Augen brannten sich in mir fest, während ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Kopf wich. Der Stift rollte auf dem Boden weiter, bis er irgendwo liegen blieb. Das Geräusch, so leise es war, dröhnte in meinen Ohren.
Darras stand vor mir. Wie magisch angezogen erhob ich mich, konnte den Blick nicht von ihm lösen.
„Hast du mir etwas zu sagen?“, fragte er sanft.
Ich begann plötzlich zu zittern. „Ich - bitte - um - Entschuldigung!“, brachte ich mit trockenem Mund hervor.
„Weiter nichts?“ Immer noch diese sanfte Freundlichkeit.
Ich schwieg, was sollte ich noch sagen?
„Willst du nicht Reue zeigen und um eine angemessene Bestrafung bitten?“, fragte er.
Ich nickte stumm.
„Ich höre nichts“, mahnte Darras.
In diesem Augenblick explodierte ich.
„Dann sag doch schon, was du ohnehin sagen willst. Warum willst du mich noch mehr demütigen? Warum brummst du mir nicht eine Strafe auf, und damit ist es gut!“, stieß ich zornig hervor.
„Daraus würdest du gar nichts lernen“, erklärte mein Ausbilder gemütlich. „Du musst lernen einzustecken, zu schlucken und den Mund zu halten. Immer wieder. Und dann, selbst wenn du am Boden liegst, erwarte ich von dir, dass du freundlich, höflich und demütig den Kopf neigst und noch mehr einsteckst. Und du wirst jede Bestrafung annehmen, die ein Mitglied der Gemeinschaft dir auferlegt. Ohne Widerspruch, aber voller Dankbarkeit.“
„Ja, Herr“, erwiderte ich tonlos und senkte den Kopf.
„Ich warte“, sagte er nach einer Weile.
In mir kochte es immer noch, doch ich beherrschte mich.
„Mein - meine Unaufmerksamkeit tut mir Leid, Herr. Ich bitte um Bestrafung für mein Fehlverhalten“, sagte ich leise.
Darras lachte leise und scheinbar amüsiert.
„Du zeigst keine Reue. Meinst du es vielleicht nicht ernst?“
„Was soll ich denn noch tun? Vor dir auf die Knie fallen, deine Kutte küssen und Erbarmen schreien?“ Jetzt blitzen auch meine Augen zornig, und fast hätte ich mit dem Fuß aufgestampft. Darras schien mein Zorn Spaß zu machen.
„Das wäre eine von mehreren Möglichkeiten“, meinte er spöttisch. „Aber noch will ich es nicht so weit kommen lassen. Das heben wir uns für später auf. Jetzt würde ich es als Fortschritt empfinden, wenn du es ehrlich meintest. Du bist bereit, deine Strafe zu empfangen? Vielleicht merkst du dir sogar, was du daraus zu lernen hast. Aber du bist nicht bereit, deinen Stolz aufzugeben. Du willst dich also nicht wirklich meinem Urteil unterwerfen, sondern nur die Strafe als etwas Unabänderliches hinnehmen. Das reicht mir nicht.“
„Dir vielleicht nicht, mir schon“, entgegnete ich unüberlegt, aber noch immer wütend.
Doch nun hatte er genug. Mit einem Blick brachte er mich zum Schweigen. Und dann ließ er in meinem Geist ein Chaos an quälenden Gedanken entstehen, dass ich gepeinigt aufstöhnte und bis zur Wand zurücktaumelte.
„Hör auf“, bat ich gequält.
„Nein! Ich werde dir eine Lehre erteilen, die du nicht vergessen wirst. Ich will, dass du gehorchst. Unter allen Umständen.“
„Nein“, schrie ich heftig. „Ich habe doch nicht meinen Geist und meine Seele hier am Eingang abgegeben. Blinden Gehorsam kannst du doch nicht verlangen. Was hast du davon?“
Ich konnte kaum noch sprechen, wirre Gedankenfetzen tobten durch mein Gehirn, ich hätte gern alles getan, wenn er nur aufhörte. Doch das fiel ihm nicht ein. Wie ein Feuerwerk explodierten immer wieder Befehle in mir, doch mit dem letzten Rest von eigenem Willen hielt ich mich aufrecht und wehrte mich dagegen, mich völlig zu unterwerfen. Dann, ganz plötzlich, hörte Darras auf.
„Du besitzt eine bemerkenswerte Widerstandskraft“, stellte er anerkennend fest. „Dies war ein kleiner Vorgeschmack auf das, was mit dir passieren kann, wenn du dich weiter widersetzt. Nun wollen wir den Unterricht fortsetzen, falls du nichts dagegen hast. Ich werde dir am Ende der Stunde sagen, welche Strafe du erhältst.“
Da hatte ich doch gedacht, das wäre die Strafe gewesen, aber ich hatte mich getäuscht. Langsam hob ich meinen Stift auf und gab mir Mühe, den Ausführungen meines Ausbilders zu folgen.
Endlich beendete er den Unterricht.
„Ich möchte, dass du hinausgehst in den Garten und das Wachstum der Blumen beobachtest. Beachte, wie die Blumen auch unter Druck und Schwierigkeiten heranwachsen. Sie beugen sich, aber sie brechen nicht. Lerne daraus. Auch du musst dich beugen, um nicht zu brechen. Ich will nicht deinen Geist zerstören, aber er muss sich unterordnen, bevor er eigene Wege gehen kann. Suche einen anderen Weg, wenn du den geraden nicht nehmen kannst. Manchmal ist der gewundene Weg der Kürzere.“
Ich senkte den Kopf, um anzuzeigen, dass ich mich seinem Urteil unterwarf. Ich ging hinaus in den Garten, setzte mich auf den Kiesweg und betrachtete eine einzelne Blume. Sie war nicht gerade gewachsen wie so viele andere. Ein Stein lag auf ihrer Wurzel, und die junge Pflanze hatte unter diesem Stein ihren Weg gesucht. So war sie krumm gewachsen, aber sie hatte sich den Umständen gebeugt.
„Ich möchte, dass auch du deinen Weg suchst. Du bist zu wertvoll, um zerbrochen zu werden. Gib nach, wo du deinen Kopf nicht durchsetzen kannst.“
Ich hatte ihn nicht kommen hören, aber seine warme volltönende Stimme unterbrach den Gang meiner Gedanken sanft und leicht. Darras legte seine Hand auf meine Schulter, wie ein warmer Strom floss es durch meinen ganzen Körper.
„Ich werde dir morgen etwas Neues zeigen. Würde es dich interessieren, deine Kräfte in einer ungewöhnlichen Form zu gebrauchen?“
Wieso wusste er immer gleich, wie er mich zu nehmen hatte? Was er ansprach, interessierte mich brennend, und ich hätte am liebsten noch sofort angefangen.
„Langsam, Kind“, sagte er, bevor ich Fragen stellen konnte. „Du musst einen Schritt nach dem anderen machen. Lass dich von mir führen, auch wenn es dir schwer fällt.“
*
Verdrossen lief ich den langen Gang entlang, der zur Kammer von Darras führte. Es war spät abends, und ich hatte einen langen Tag mit unendlich viel Lehrstoff hinter mir. Trotzdem bestand mein Ausbilder darauf, mich sofort zu sprechen. Am liebsten wäre ich jetzt in mein Bett gefallen und hätte bis zum nächsten Morgen vergessen, wo ich war.
Vor der Tür von Darras blieb ich stehen, blickte an mir herunter, ob ich ordnungsgemäß gekleidet war, und klopfte leise.
„Komm herein“, antwortete Darras von drinnen. Ich öffnete und ging hinein.
Darras saß auf einem Stuhl und las in einem Buch. Er sah auf, bemerkte meine verdrossene Miene und lächelte. Ich hasste ihn in diesem Augenblick.
„Ich kenne deine Gedanken, Eorin. Und ich weiß auch, was du heute bereits geleistet hast. Aber du wirst noch mehr als einmal mich und die Gemeinschaft verfluchen. Setz dich dorthin.“
Er deutete auf den anderen Stuhl, der am Tisch stand. Eine einzelne Kerze spendete trübes Licht. Darras legte das Buch beiseite und stand auf. Unruhig schritt er einige Male auf und ab, er schien zu überlegen.
Was soll denn das nun geben, fragte ich mich. Dann blieb er unvermittelt vor mir stehen.
„Ich habe lange überlegt, ob mit dir schon heute den Versuch wagen soll. Ich habe sogar mit dem Oberen darüber gesprochen. Aber sicher bin ich mir nicht.“
Ich bekämpfte meine Neugier. Was meinte er nur damit?
Ich beschloss, mich in Geduld zu üben, doch ganz sicher konnte er mir die Ungeduld vom Gesicht ablesen.
„Leg dich mal auf das Bett“, kommandierte er.
Ich tat es.
Darras setzte sich auf seinen Stuhl und konzentrierte sich. Ich achtete darauf, was er tat, und hielt unwillkürlich den Atem an. Er durchforschte meinen Körper, ohne sich zu rühren. Wie zarte Energieströme spürte ich die Abtastung in meinen Nervenbahnen. So wie er es mich gelehrt hatte, folgte mein Geist seinem Weg und erforschte ebenfalls mein Inneres. Ich stellte fest, wie das Blut kraftvoll durch die Adern strömte, angetrieben vom unablässigen Schlag meines Herzens. Ich war fasziniert, hätte ich doch nie gedacht, dass so etwas möglich war. Ich tastete weiter. An meinem Knie besaß ich eine hässliche dicke Narbe von einem Sturz. Sie erschien wie ein Fremdkörper in dem vollendeten Zusammenspiel meines Körpers. Ob sich dieses Schandmal vielleicht sogar beseitigen ließ?
Ich wollte gerade einen Versuch starten, als ich einen äußerst schmerzhaften Impuls erhielt, der mich aus meiner Konzentration riss. Widerwillig kehrte ich in die Wirklichkeit zurück.
„Es ist genug für heute“, sagte Darras.
Mein ganzer Körper schien plötzlich unendlich schwer zu sein.
„Das war nur ein erster Versuch“, klärte mein Mentor mich auf. „Komm nur nicht auf die Idee, allein weiterzumachen. In der nächsten Zeit darfst du nur unter Aufsicht arbeiten. Morgen werde ich dir Einzelheiten dazu erklären. Und nun geh zurück. Du brauchst Schlaf.“
Müde schleppte ich mich in meine Kammer. Mehrmals blieb ich unterwegs stehen, lehnte mich an die kühle Wand und nahm dann alle meine Kräfte zusammen. Schließlich taumelte ich bis zum Bett, fiel darauf und schlief augenblicklich ein. In meinen Träumen geisterte ich durch meinen Körper, wurde vom Blut umspielt, spürte den Herzschlag und sah, wie sich die Zellen regenerierten und die Nervenbahnen wie unter Peitschenschlägen zuckten.
*
„Eorin, hörst du mir zu?“, fragte Bruder Alviras und riss mich aus meinen Gedanken.
„Ja, Herr!“, erklärte ich verwirrt, obwohl ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach.
„Nun, dann erkläre uns doch bitte die Wirkungsweise der Flammenzunge“, forderte er mich auf.
Ich starrte auf das Bild, das er an die Tafel gezeichnet hatte, und versuchte mich zu erinnern, wie die Blume in freier Natur aussah. Doch es wollte mir absolut nichts einfallen. So stand ich vor Bruder Alviras und schwieg. Zwei der jungen Novizen kicherten hinter vorgehaltener Hand. Mit einem Blick brachte ich sie zum Schweigen.
„Es ist ja sehr schön, dass du es zumindest verstehst, deine Mitschüler einzuschüchtern“, bemerkte der Bruder sarkastisch.
Er ging langsam um mich herum, wobei er mich scharf beobachtete.
„Da du schon nicht aufgepasst hast, möchtest du uns vielleicht erzählen, was dich so sehr interessierte, dass du abwesend warst?“
Ich schwieg weiter. Ich konnte ihm doch nicht sagen, dass ich verzweifelt versuchte, die Gedankengänge nachzuvollziehen, mit denen der Körper untersucht wurde. Das war mir strengstens verboten, und so war es besser zu schweigen.
„Nun, Eorin. Du hast uns also nichts zu sagen. Du hast nicht aufgepasst, die redest nicht über deine Ablenkung, scheinbar willst du gar nicht mehr mit uns reden.“
„Verzeihung, Herr!“, stieß ich hervor. „Ich wollte nicht unaufmerksam sein.“
„Ja, das glaube ich dir. Doch du kennst die Regeln, auch die Ungeschriebenen?“
„Ja, Herr!“, sagte ich tonlos.
„Also geh!“, sagte er.
Nach den Regeln hatte ich nun zu meinem Mentor zu gehen, meine Verfehlung zu gestehen und eine Strafe anzutreten. Mit gesenktem Kopf ging ich hinaus.
Darras saß in seiner Kammer. Es schien, als hätte er mich erwartet.
„Nun, wieder einmal gegen die Regeln verstoßen?“, fragte er spöttisch.
„Ja, Herr. Ich bitte um Bestrafung und Verzeihung“, sagte ich leise.
Er stand auf und kam auf mich zu, bis er dicht vor mir stand.
„Was war los?“, wollte er wissen.
„Ich - ich war unaufmerksam.“
„Nur unaufmerksam?“
Ich schwieg.
„Ich habe dich etwas gefragt“, sagte er peitschend.
„Ich war unaufmerksam“, beharrte ich.
Er griff nach meinem Geist, doch ich wehrte mich. Ich wollte nicht, dass er mich auspresste wie eine Frucht, ich wollte nicht, dass er in meine Gedanken eindrang. Meinen Fehler hatte ich eingestanden, schlimm genug. Jetzt aber reichte es. Ich wehrte ihn ab.
„Du willst nicht, dass ich alles erfahre?“, fragte Darras fast ungläubig.
Trotzig schüttelte ich den Kopf. Er verstärkte seine Anstrengungen, und ich musste nachgeben. Dann lachte er halblaut auf, es klang bitter, er schien böse zu sein.
„Gibt es noch eine Regel, die du noch nicht gebrochen hast? Meine Anweisungen missachtest du ständig, und jetzt verärgerst du auch noch die anderen Ausbilder. Ich habe viel Nachsicht mit dir gehabt. Doch jetzt wirst du feststellen müssen, dass es ein Fehler war, nicht zu gehorchen. Komm mit!“
Er führte mich in meine Kammer.
„Warum machst du es mir und dir so schwer?“, fragte er, während er die Tür hinter sich schloss.
„Warum muss ich immer nur gehorchen? Warum darf ich nicht einmal selbst entscheiden? Es ist langweilig, wenn ich mich stundenlang mit Dingen plagen muss, die ich schon kenne. Es geht alles viel zu langsam. Ich möchte so gerne mehr lernen, aber immer, wenn es interessant wird, werde ich gebremst. Ich würde so gerne meine Kräfte üben, aber ich darf nicht. Ich mache es dir und mir nicht schwer, ich möchte nur viel mehr.“
Endlich hatte ich alles herausgesprudelt, was mich bedrückte. Wahrscheinlich bekam ich jetzt erst recht Ärger, aber ich hatte endlich alles loswerden können.
„Du fühlst dich also unterfordert? Du hältst den Unterricht für langweilig und möchtest mehr tun?“, fragte Darras sanft.
Ich nickte, von trügerischer Hoffnung erfüllt.
„Dann wollen wir mal sehen, was sich machen lässt“, meinte er.
Aus einer Tasche seiner Kutte holte er einen Schlüssel und versperrte die Tür.
„Dann fang an“, sagte er.
„Womit?“, wollte ich wissen.
„Mit deinen Übungen. Ich lasse dir jetzt freie Hand und werde dich vorläufig nur überwachen.“
Ich starrte ihn ungläubig an. Meinte er das ernst? Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich übte kreuz und quer alles, was ich bisher gelernt hatte. Dabei stellte ich fest, dass ich noch immer Konzentrationsschwierigkeiten hatte. Nach einigen Stunden war ich in Schweiß gebadet, mein Kopf dröhnte und meine Hände zitterten. Ich ließ mich zurücksinken in meinen Stuhl und schaute zu Darras hinüber. Er hatte mich die ganze Zeit wortlos überwacht. Jetzt starrte er mich durchdringend an.
„Hast du jetzt genug?“, fragte er.
Ich nickte.
„Ja, Herr. Vielen Dank.“
„Gut. Dann wird es dir sicher nichts ausmachen, in den nächsten Tagen eine kleine Ruhepause einzulegen.“
Darras lächelte sanft, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Er blickte mich eiskalt an.
„Ich werde dich für drei Tage kopfblind machen. Du wirst deine Kammer nicht verlassen. Diese Strafe wird dich lehren, Befehle zu befolgen. Leg dich jetzt hin, das macht es dir leichter.“
Sprachlos starrte ich ihn an. Das konnte doch nicht wahr sein. Was meinte er damit, kopfblind? Hart riss er mich vom Stuhl hoch und schubste mich auf das Bett. Plötzlich verstand ich ihn.
„Das kannst du doch nicht tun!“, stieß ich hervor.
„Doch, ich kann, und ich werde. Wehr dich nicht. Du kannst es doch nicht verhindern.“
„Bitte, tu's nicht!“, flehte ich ihn an.
Mit einem seltsamen Blick drückte er mich zurück. Ich wusste, es hatte keinen Zweck, wenn ich mich dagegen wehrte, und doch unternahm ich den Versuch. Aber ich war viel zu erschöpft, um einen Abschirmblock zu errichten.
Die unglaublichen Kräfte meines Ausbilders griffen nach meinem Geist, zwangen ihn zusammen, und plötzlich fühlte ich mich wie tot. Wo vorher zahllose Gedankenimpulse auf mich einstürmt waren, war jetzt alles leer. Ein dumpfes Gefühl machte sich breit in mir. Ich fühlte, wie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: STEVE MAYER
Tag der Veröffentlichung: 25.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3940-6
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