Alpendoktor Daniel Ingold – Band 24
von Anna Martach
Der Umfang dieses Buchs entspricht 102 Taschenbuchseiten.
Die Wahl des Stadtrates steht an, und plötzlich ist halb Hindelfingen der Meinung, Doktor Daniel Ingold würde kandidieren. Dieser ist jedoch nicht begeistert, zumal er schon genug zu tun hat, nicht nur aufgrund des Unfalls, der sich bei einer Gruppe junger Bergsteiger am Grimsteig ereignet hat.
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„Gehen S‘ heut‘ Nachmittag auch zu der Wahlveranstaltung?“, erkundigte sich Hermine Walther, die ältere Sprechstundenhilfe, bei ihrem Chef, Doktor Daniel Ingold. Der Arzt aus Hindelfingen schaute von dem Bericht auf, den er gerade las.
„Warum soll ich?“
„Na, weil der Landrat auch da sein wird, und weil da auch das Publikum mitdiskutieren kann. Ist doch sonst auch so, dass S‘ sich für die Themen interessieren, die uns alle angehen. Wo doch jetzt Wahlkampf ist.“
„Wahlkrampf meinen S‘ wohl eher, Minchen“, erklärte er spöttisch.
„Aber net doch, ich mein, hier ist‘s doch bisher nur klar, dass der Silvester Bergmann auch Bürgermeister bleibt. Wer könnt‘ das auch besser machen als er? Ich hab noch nie wen gesehen, der immer das passende Wort auf den Lippen hat und bei einer Rede so viel schwatzen kann, ohne auch nur ein Wort konkret zu sagen. Das wär‘ ja so weit klar. Aber die anderen Sitze im Stadtrat? Da tät‘ die Wahl schon schwer werden, denn ein jeder hat doch andere Vorstellungen, was er denn so machen will, und die meisten denken halt nur an sich selbst. Da gibt‘s nur wenige, die das Wohl aller Einwohner im Auge haben. Vielleicht sollten S‘ sogar selbst kandidieren“, schlug die Frau ganz ernsthaft vor.
Minchen hatte in jeder Beziehung volles Vertrauen zu „ihrem“ Doktor, ebenso wie schon zu seinem Vorgänger, Alois Huber, der mittlerweile in Pension war. Trotzdem sprang der alte Arzt noch immer ein, wenn Not am Mann war. Die beiden Ärzte galten als Autoritäten für jede Lebenslage, da lag der Vorschlag der Frau nahe. Doch Daniel blickte seine Angestellte irritiert an.
„Sind S‘ krank, Minchen? Brauchen S‘ eine Sonderbehandlung?“, erkundigte er sich scheinbar mitfühlend. Sie lachte auf, wusste sie doch recht genau, wie er seine Worte meinte.
„Ach, was S‘ nur wieder haben. Es ist net freundlich, eine arme alte Angestellte zu necken.“
„Und wer hat damit angefangen?“,. fragte er gespielt empört. „Es ist auch net fair, einen armen gestressten Doktor zu necken. Ich muss doch sehr bitten, Minchen. Können S‘ sich das vorstellen, wie ich im Stadtrat sitze, einer langweiligen Sitzung lausche und stattdessen eher ein paar kranken Leuten helfen könnt‘?“
„Ja“, erwiderte sie, ohne zu zögern. Er schüttelte den Kopf.
„Ich bin entsetzt, was S‘ mir alles zutrauen. Also – vergessen S‘ das ganz schnell einfach wieder. Ich hab wirklich anderes zu tun, als mich ausgerechnet in den Wahlkampf zu stürzen. Und die Sitzung heut‘ Nachmittag werd‘ ich wohl auch versäumen, weil ich mit der Bernie zu einem gemütlichen Plausch verabredet bin.“
„Na, wenigstens was Gescheites“, stellte die Frau fest. „Aber nun müssen S‘ sich leider doch noch mit dem Fall hier herumschlagen, fürcht‘ ich. Bei der Untersuchung im Hospital ist ein Melanom festgestellt worden, und der Rudi hat mir nun schon fast eine Stunde in den Ohren gelegen, dass er sich auf gar keinen Fall operieren lassen will.“
Seufzend nahm der Arzt den Bericht und las ihn aufmerksam.
„Das befallene Hautstück ist ja net mal so groß wie ein Pfennig. Da braucht‘s net mal eine Narkose. Und die Heilungschancen stehen gut. Was hat er denn dagegen einzuwenden? Ich glaub, ich versteh da was net recht.“
Minchen lächelte traurig. „Ich glaub‘ ganz einfach, der Rudi hat Angst. Wenn ich bedenk‘, dass er sein Leben lang als Holzrücker gearbeitet hat und dabei oft genug größere Wunden davongetragen hat, scheint‘s zuerst lächerlich. Aber der macht sich im Kopf verrückt und glaubt, wenn er so tut, als hätt‘ er nix, dann könnt auch nix weiter passieren. Da sollten S‘ einfach noch mal mit ihm reden – oder besser noch, diesen kleinen Eingriff gleich selbst machen. Da tät‘ er ja net mal was von merken.“
„Was ist heut‘ nur los mit Ihnen, Minchen? Wollen S‘ jetzt auch noch den Patienten und mir Vorschriften machen? Das wissen S‘ doch selbst auch, dass man nur gute Ratschläge und Empfehlungen geben darf, gut zureden oder auch mal ein bisserl deutlich werden geht auch noch an. Aber man kann doch niemanden zwingen.“
„So ein Schmarrn.“ Sie wirkte ob dieser Schelte kein bisschen verlegen. „Der bildet sich doch nur was ein. Du liebe Güte, ich kann‘s ja noch verstehen, wenn einer eine kleine Macke hat, Klaustrophobie, meine ich, Depression oder auch eine ausgewachsene Psychose mit sich herumträgt. Aber sagen S‘ doch mal ehrlich, Herr Doktor, Angst vor einem so kleinen Eingriff, wo er schon ganz andere Verletzungen hinter sich gebracht hat – so was ist einfach nur dumm und lächerlich.“
„Nein, find‘ ich gar net. Auch Angst kann so weit gehen, dass man sie behandeln muss. Außerdem denk‘ ich, dass der Rudi weniger Angst vor dem kleinen Eingriff hat, sondern vielmehr Furcht davor, dass sich im Anschluss herausstellen könnt‘, dass mehr daraus wird. Auch wenn die Chancen gut stehen, kann er zu den wenigen Leuten gehören, bei denen es halt net gut geht. Aber dann muss man noch mal mit ihm reden, und net mit dem Holzhammer draufschlagen. Ich versteh‘ S‘ net ganz, Minchen. Sie sind doch sonst net so rabiat.“
Sie zuckte die Schultern. „Mag ja vielleicht daran liegen, dass ich mir um den Patienten Sorgen mach‘ und diese Dummheit net verstehen kann. Außerdem – wir sind zusammen zur Schule gegangen, und so kenn‘ ich den Rudi einfach schon mein Leben lang, da hat man natürlich eine ganz andere Beziehung zueinander.“
Daniel glaubte jetzt zu verstehen. Die beiden waren offenbar in einem Alter. Nun war der Rudi aber schon Frührentner und kämpfte gegen eine heimtückische Krankheit, während Hermine weiterhin tagein tagaus arbeitete und plötzlich damit konfrontiert wurde, dass auch sie so langsam in das Alter kam, wo es einen hier zwickte und aus einer Kleinigkeit eine bösartige Geschwulst werden konnte. Offenbar hatte sie selbst Angst vor dem Alter und den damit verbundenen Problemen. Deshalb ging es sie schon persönlich etwas an, wenn ihr alter Schulkamerad sich weigerte, sich diesem kleinen harmlosen Eingriff zu unterziehen. Ein Melanom konnte auf jeden Fall ein Hinweis auf eine weitergehende Krebserkrankung sein, und Metastasen konnte man niemals ausschließen.
Daniel legte den Bericht beiseite und bat seine Angestellte sich zu setzen, er wollte ihr auf gleicher Höhe in die Augen sehen.
„Ich glaub‘, ich kann verstehen, warum S‘ sich um den Rudi so viel Gedanken machen. Aber ich würd‘ ganz einfach mal sagen, dass S‘ selbst mit ihm reden sollten, weil S‘ vielleicht den besseren Kontakt zu ihm haben als ich. Auf jeden Fall aber sollte er trotzdem zu mir kommen, und ich will gern versuchen, ihm noch einmal klarzumachen, wie wichtig es ist, dass er sich behandeln lässt. Es gereicht Ihnen zur Ehre, dass S‘ sich so um ihn sorgen. Aber schaut‘s net in Wirklichkeit so aus, dass S‘ selbst auch Angst haben, es könnt‘ Ihnen ebenso passieren? Glauben S‘ mir Minchen, so was ist nur natürlich. Wahrscheinlich geht‘s Ihnen auch im Kopf herum, dass der Rudi sterben könnt‘, und das bringt einem die eigene Sterblichkeit zu Bewusstsein. Aber damit müssen wir alle leben, und das sollte einem net zu viel im Kopf herumgehen.“
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Jetzt haben S‘ tatsächlich geredet wie ein Politiker. Aber wirklich, Herr Doktor, ich bin lang genug in diesem Beruf, um mit dem Tod umzugehen. So ganz unrecht haben S‘ natürlich net, wenn S‘ sagen, es sind Menschen, die man lang und gut kennt, die dann plötzlich von uns gehen müssen. Vielleicht steckt davon was im Unterbewusstsein. Ich dank‘ ihnen auf jeden Fall, dass S‘ sich noch mal die Zeit dafür nehmen wollen. Und ich dank‘ ihnen auch schön, dass ich hier offen über alles reden kann.“
„Wenn net hier, wo dann?“ Der Doktor war ernst geworden. „Ich tät‘s schrecklich finden, wenn wir net mehr über alles miteinand‘ reden könnten, Minchen. Dann müsst ich nämlich annehmen, dass Sie und auch andere das Vertrauen in mich verloren haben. Ich geb‘s zu, für mich ist das eine furchtbare Vorstellung.“
„Da sei Gott vor“, erklärte die ältere Frau inbrünstig. Mit einem dankbaren Lächeln nahm sie die Unterlagen wieder mit sich. Es waren noch Termine einzurichten für Patienten, und mit dem Rudi würde sie tatsächlich mal ein ernstes Wort unter vier Augen reden, schließlich waren sie lang genug befreundet, um kein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen.
Der Tag bot sich an für eine Bergtour, so ideal war es längst nicht immer. Von einem blauen Himmel lachte die Sonne warm und freundlich herunter, und die wenigen Schäfchenwolken vervollständigten schier das Bild einer kitschigen Postkartenidylle. Dabei war es wirklich so traumhaft schön in Hindelfingen.
Eine Gruppe von sieben Leuten, die sich hier an den Aufstieg mittlerer Schwierigkeit auf dem Grimsteig machte, war guter Dinge, zumindest die meisten von ihnen.
Der Bergführer, Max Ensinger, war sicher, heut‘ auf keine größeren Probleme zu treffen. Jeder von ihnen hatte schon Erfahrung in der Wand gesammelt. Er musste also keine längeren Vorträge über Sicherheit in der Seilschaft halten, und es war auch nicht nötig, auf jeden einzelnen besonders zu achten – ganz im Gegenteil. Alle bewegten sich sicher in der Wand, und der erste Halt für eine kleine Brotzeit war in Rekordzeit erreicht. Mit Stolz betrachtete Max „seine“ sechs Kameraden. Vier von ihnen stammten aus Hindelfingen und waren nicht zum ersten Mal auf dieser Route unterwegs, die beiden andern kamen aus einem benachbarten Ort und kannten sich hier ebenfalls aus. Es könnte fast ein Spaziergang werden, wenn – ja, wenn diese beiden hier sich nicht streiten würden.
Alexander Pretzl und Leonie Strasser waren schon seit einiger Zeit ein Paar. Die meisten Leute erwarteten in nächster Zukunft eine Verlobung, auch wenn es Stimmen gab, die dieser Verbindung keine große Haltbarkeit prophezeiten. Diese Stimmen schienen für den Augenblick recht zu haben, denn an einer Kleinigkeit hatte sich ein Streit entzündet.
Leonie und Alexander waren beide gute Kletterer, und meist überboten sie sich darin, besser zu sein als der andere, um sich dann spätestens auf dem Gipfel in die Arme zu fallen und glücklich zu sein.
Heute hatte Alexander mit einer äußerst scharfen Bemerkung reagiert, als Leonie die Sicherheit der Karabiner bei einem anderen Kameraden überprüfte. Natürlich war es Unsinn, daraus gleich eine Eifersuchtsszene zu machen, und natürlich war es auch wichtig, dass die Kameraden einer Seilschaft gegenseitig darauf achteten, dass alles in Ordnung war. So hatte Leonie sich nichts gefallen lassen und passend herausgegeben, dann war die Gruppe relativ schnell aufgestiegen. Im Berg musste sich einer auf den anderen verlassen, da gab es keinen Raum für Streit und Unfrieden.
Während der Brotzeit hatte sich Leonie entfernt von Alexander hingesetzt, was der Bursche missmutig zur Kenntnis nahm. Das verdarb die Laune der anderen zusätzlich.
„Können wir weiter?“, knurrte Alexander schließlich. „Immerhin wollen wer net den ganzen Tag auf halber Höhe vertrödeln.“
„Meinst net, dass eine ausgedehnte Pause nötig ist?“, gab Leonie spöttisch zurück. „Sonst hängst nämlich gleich auf dreiviertel Höhe und kommst net weiter.“
„Ich hab noch nie schlapp gemacht am Berg. Das muss ich mir net bieten lassen.“
„Dann nimm doch einfach Rücksicht auf die anderen.“
„Nun langt‘s aber“, ging Max dazwischen. „Es macht sich net besonders gut, wenn die Seilschaft zerstritten ist. Macht bitte weiter, wenn wir wieder unten sind, dann bringt‘s uns alle net in Gefahr.“
„Musst dich einmischen?“, fauchte Alexander.
„Als Bergführer misch‘ ich mich grundsätzlich ein, wenn es um die Sicherheit der Kameraden geht.“
Ein klares Wort, mit dem Alexander wohl leben musste. Er zuckte die Schultern und starrte verbissen ins Leere. Nicht weit entfernt ging die Seilbahn entlang, aus der Gondel heraus winkten die Leute fröhlich, einige beobachteten die Bergsteiger mit Ferngläsern. Es wäre klug, den Abstieg zu streichen und mit der Seilbahn hinunter ins Tal zu fahren.
„Kommt, lasst uns aufbrechen“, forderte nun auch Max und schaute Leonie etwas merkwürdig an. Wollte dieses fesche Madl tatsächlich ihr Leben mit einem Mannsbild verbringen, der ihr Vorschriften machen wollte über alle möglichen Dinge? Nun gut, sie musste selbst wissen, was sie tat. Aber Max würde schon wissen, was er alles besser machen könnte – würde die Leonie zu ihm gehören.
Jetzt bewegte sich die Seilschaft weiter nach oben, nur das Keuchen bei der Anstrengung, die Hammerschläge bei den Befestigungen der Haken und das Schleifen der Kleidung auf dem Felsen war zu hören.
Max beobachtete nach allen Richtungen. Es war seine Aufgabe zu sichern, darauf zu achten, dass niemand einen Fehler machte und gegebenenfalls einzugreifen. Diese Route war schon von vielen Bergsteigern benutzt worden, es gab eine ganze Reihe von Haken, in die man sich einklinken konnte, ohne neu einzuschlagen.
Nun war der Weg auch nicht mehr weit, in gut einer halben Stunde würde man das Ziel erreichen und auf der Grundler-Alm eine ausgedehnte Pause einlegen können.
Niemand hatte widersprochen, als Max vorschlug, mit der Seilbahn ins Tal zu fahren. Der Bergführer führte, dicht hinter ihm befand sich Alexander, dann kam Leonie, dahinter kletterten die anderen vier.
Max befand sich jetzt auf einem Vorsprung, wo alle einen guten Stand finden würden, bevor das letzte Stück, das relativ steil war, in Angriff genommen werden konnte. Max reichte dem nachfolgenden Mann die Hand, ließ dann seinen Blick einen Moment schweifen, ob alles in Ordnung war.
Unvermittelt drehte sich alles um ihn, Rauschen klang in seinen Ohren auf, und eine seltsame Schwäche zog durch seinen Körper. Unwillkürlich stöhnte er auf. Nicht noch einmal, schickte er ein Stoßgebet zum Himmel.
Schon einmal, vor gar nicht langer Zeit, hatte ihn diese seltsame Art der Höhenkrankheit überfallen. Damals war er selbst fast abgestützt, und nur seine beiden erfahrenen Kollegen hatten ihn davor bewahrt. Er hatte gleich am nächsten Tag einen Arzt in der Stadt aufgesucht, doch der hatte nichts gefunden. Eine vorübergehende Schwäche, nichts Ernstes, uneingeschränkt bergfähig, war die Diagnose geheißen.
Doch jetzt war es wieder da, ausgerechnet jetzt.
Max ließ die Hand von Alexander los und griff selbst haltsuchend in die Luft. Erst der Schrei des Kameraden, wie auch der erschreckte Ausruf von Leonie brachten ihn wieder ein bisschen zu sich. Der junge Mann kämpfte das Rauschen in den Ohren und den Schwindel nieder, dann sah er zu seinem Entsetzen, dass sich Alexander, der sich schon mit dem letzten Karabiner vom Berg gelöst hatte, nicht mehr halten konnte. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe.
Das Sicherungsseil glitt durch die Ösen, bis es mit einem heftigen Ruck gestrafft wurde. Erneut schrie Alexander auf, dann folgten ein ausgedehnter malerischer Fluch und eine seltsame Stille.
„Oh, mein Gott, bist verletzt?“, rief Leonie entsetzt und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: Steve Mayer
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1212-6
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