Cover

"Das große Buch der heiteren Familienromane"

Acht gefühlvolle Romane in einem Buch

von Anna Martach

Ein CassiopeiaPress E-Book

© by Author

© der Digitalausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

 

Der Umfang dieses E-Book entspricht 787 Taschenbuchseiten.

 

Dieses Ebook beinhaltet folgende acht Romane:

Michael allein auf der Welt

Zusammenstoß der Herzen

Mein Erbe muss der Beste sein

Bauplan für die Liebe

Wir brauchen endlich eine neue Mami

Liebesparcours mit Hindernissen

Ein Herz kann man nicht stehlen

Zum Glücklichsein gezwungen

 

 

Michael allein auf der Welt

Die Eltern des zwölfjährigen Michael sind seit einiger Zeit geschieden, worüber dieser gar nicht glücklich ist. Also beschließt er, eine E-Mail an Gott zu schicken, die aber zufällig bei dem Architekten Alexander Gottlieb landet, der Michael und seine Mutter Anita spontan in den Zoo einlädt. Anfangs verstehen sich auch alle sehr gut und Anita und Alexander kommen sich näher. Dann jedoch funkt Anitas eifersüchtiger Ex-Mann Karsten dazwischen und entführt schließlich sogar Michael.

1

Lieber Gott, du weißt, dass ich meistens ganz lieb bin. Na ja, vielleicht nicht immer. Bei Frau Kersting in der Schule habe ich mich aber entschuldigt für die Maus in der Schublade. Und die zweimal Schwänzen hat Mama auch gemerkt, und meine Strafe habe ich bekommen. Ich hoffe doch sehr, dass das jetzt nicht mehr zählt. Weil ich nämlich eine große Bitte an dich habe. Mach doch bitte, dass Mama und Papa sich wieder verstehen, und dass wir wieder eine Familie sind. Weißt du, es ist nicht einfach, denn in der Schule werde ich geärgert, weil Papa weggegangen ist, obwohl der Vater von Andreas auch weggegangen ist. Aber Andreas ist stärker als ich und haut jeden, das kann ich doch nicht. Aber die Eltern von Britta trennen sich auch, und Britta heult dauernd deswegen. Sie ist ein Mädchen, die darf das. Aber ein Junge wie ich heult doch nicht, und schließlich werde ich ja auch jetzt zwölf. Also bitte, lieber Gott, mach ganz einfach, dass Mama und Papa beim nächsten Treffen sich wieder liebhaben, dann sind wir bald wieder eine Familie. Ich habe doch bald Geburtstag, und das ist der einzige Wunsch, den ich habe. Na ja, fast der einzige. Aber für das neue Computerspiel sorgt ja auch Mama. Hoffe ich. Und ich verspreche auch, ich werde immer ganz, ganz lieb sein. Ich will es versuchen, aber vielleicht mache ich ja doch noch was falsch. Aber ich will mich bemühen, großes Ehrenwort. Dein Michael.“

Es machte dem Jungen sichtlich einige Mühe, die passenden Buchstaben auf der Tastatur zu finden, denn er war nicht daran gewöhnt, Texte auf dem Computer zu schreiben, und einige Rechtschreibfehler hatten sich auch eingeschlichen. Trotzdem betrachtete das Kind stolz sein Werk.

Michael Steingruber saß am Computer seiner Mutter und hatte das E-Mail-Programm aufgerufen, wie er es seine Mutter schon oft hatte tun sehen. Eigentlich durfte er das Programm nicht benutzen, Anita hatte ihm das strengstens verboten. Und das, obwohl Michael durchaus mit einigen Programmen besser umgehen konnte als sie selbst. Aber Internetprogramme waren nichts für Kinder, hatte Anita befunden, und ein Verbot ausgesprochen. Doch jetzt fühlte der Junge sich so unglücklich und verzweifelt, dass er sich über die Gebote seiner Mutter hinwegsetzte und diesen Brief an den lieben Gott geschrieben hatte. Das schien ihm einfach der letzte und einzige zu sein, der noch helfen konnte.

Anita und Karsten Steingruber hatten sich vor einiger Zeit getrennt, und mittlerweile waren sie geschieden, was auch schon fast ein Jahr her war. Vorangegangen waren endlose Streitereien und ein erbitterter Kampf um das Sorge- und Besuchsrecht für Michael. Böse Worte waren gefallen, Hass war auf beiden Seiten geschürt worden, und Michael, der gar nicht verstehen konnte, warum seine Eltern sich plötzlich unversöhnlich bekämpften, stand mittendrin. Von ihm wurde unversehens eine Entscheidung verlangt, wem in Zukunft seine Liebe gehören sollte. Natürlich war das zu viel gewesen für den Jungen. Dazu kamen die Hänseleien in der Schule und Michaels eindeutige Unterlegenheit gegenüber anderen Scheidungswaisen. Er war klein, zierlich und regelrecht schmächtig zu nennen, für sein Alter eindeutig körperlich unterentwickelt, auch wenn die geistigen Gaben stärker ausgeprägt waren. Immerhin war er Klassenprimus.

Aber jetzt hatte der Junge nur noch diesen Ausweg gesehen. Zwar wusste er nicht so recht, ob er überhaupt an Gott glauben sollte, weil der es doch zugelassen hatte, dass Mama und Papa sich trennten. Aber sein Religionslehrer, Herr Kohlhans, hatte fest behauptet, dass es ihn gäbe, und dass es in seiner Macht läge zu helfen, wo kein Ausweg mehr war.

Nun gut. Michael überlegte kurz, wie er die E-Mail adressieren sollte und entschied sich dann ganz einfach für: LieberGott@Himmel.de. Das würde ganz bestimmt ankommen.

Der Junge löschte noch den Eintrag in der Liste, damit seine Mutter nicht bemerkte, dass er ihr Verbot übertreten hatte, und rief dann eines der Spiele auf.

So saß er dann ein wenig gelangweilt, wie es schien, vor dem Spiel, als seine Mutter hereinkam und ihren Sohn zum Essen rief.



2

Alexander Gottlieb brütete über einigen Entwürfen für einen etwas schwierigen Kunden. Der achtunddreißigjährige Mann war Architekt, ein guter und vielgefragter Architekt, der eine Menge Aufträge und nur wenig Freizeit hatte. Vieles bei seiner Arbeit ließ sich mittlerweile einfach per Computer vereinfachen und unterstützen, und Alexander war froh über diese Erleichterungen. Jetzt kam er allerdings bei einer Sache nicht weiter und beschloss, erst einmal seine E-Mails abzurufen. Vielleicht würde ihm beim Lesen seiner elektronischen Post ein rettender Einfall kommen.

Das meiste von dem, was er gleich darauf auf dem Bildschirm sah, war aber noch mehr Arbeit, einiges war Werbung, und dann war da noch ein privater Brief. Merkwürdig, der war ja gar nicht für ihn. Sicher ein Fehler im Verteiler, oder doch nicht?

Voller Erstaunen las der Mann den Brief, den der kleine Michael geschrieben hatte, und war gerührt. Das war das Leben, das es außerhalb seiner Arbeit gab, die ihn mittlerweile doch fast auffraß. Und durch einen unglaublichen Zufall war dieses anrührende Schreiben an seine Adresse gelangt, statt als unzustellbar an den Absender zurückzugehen.

Spontan beschloss Alexander, dem Kind zu antworten. Er war zwar nicht der liebe Gott, aber er besaß ein Herz, auch wenn er bisher einfach noch nicht die Zeit gehabt hatte, es an eine Frau zu verschenken.

Alexander Gottlieb sah ausgesprochen gut aus. Dichtes braunes Haar kräuselte sich auf seinem Kopf, wurde an den Schläfen bereits etwas grau, und umrahmte ein männlich markantes Gesicht, in dem leuchtend blaue Augen dem Betrachter sofort auffielen. Seine Stimme klang weich und samtig, konnte aber von unbeugsamer Härte werden, wenn er etwas unbedingt durchsetzen wollte. Seine Kleidung war im allgemeinen leger, doch zu bestimmten Anlässen trug der Mann Anzüge und Hemden, die ihn zu einem männlichen Mannequin hätten machen können, wenn er denn Wert darauf gelegt hätte. Aber das waren Äußerlichkeiten, deren er sich bei Bedarf bediente. Sie hatten für ihn nicht viel Wert. Aber es gab Kunden, denen man damit imponieren konnte.

Alexander war der Schwarm aller seiner Mitarbeiterinnen, aber noch nie war er mit einer ausgegangen oder hatte gesteigertes Interesse, das über die Arbeit hinausging, gezeigt. Ihm wäre nicht einmal in den Sinn gekommen, dass seine Kolleginnen und Mitarbeiterinnen sich für ihn interessieren könnten. Für ihn gab es einfach nur die Arbeit. Und die machte er eindeutig besser als andere, und alles andere interessierte ihn nicht.

Bis zu diesem Zeitpunkt, da er den Brief von Michael las. Seit langem hatte ihn nichts mehr so angesprochen wie diese Worte, die das Kind aus vollem Herzen und tiefster Verzweiflung geschrieben hatte.

Es kam selten vor, aber Alexander suchte bei der Antwort plötzlich nach Worten. Doch dann beschloss er, ebenfalls aus dem Gefühl heraus zu schreiben, und er lud den Jungen und seine Mutter ein, mit ihm einen Besuch im Zoo zu machen. Er wusste zwar nicht, ob Michael sich überhaupt in der gleichen Stadt befand wie er, denn das ging ja aus der E-Mail nicht hervor, aber auch dafür würde sich bestimmt eine Lösung finden lassen.

Er hätte sein Tun nicht erklären können, wenn ihn jemand gefragt hätte, aber er war sicher, dass er genau das tun musste, was er gerade tat.



3

„Was ist das denn hier?“, fragte Anita Steingruber erstaunt, als sie ihre Post aus dem Computer sah. Sie war, wie die meisten Benutzer, an unnütze Werbung gewöhnt. Aber dieser Brief schien etwas Persönliches zu sein.

Lieber Michael, ich bin leider nicht der liebe Gott, trotzdem ist dein Brief bei mir angekommen. Es tut mir wirklich leid, dass ich so fast gar nichts für dich tun kann. Aber vielleicht kann ich dir einen kleinen Trost anbieten. Ich lebe und arbeite in Mainz, und da wäre es mir eine Freude, wenn du und deine Mutter mich besuchen könntet. Wir könnten zum Beispiel in den Frankfurter Zoo fahren. Das ist sicher nicht das, was du dir gewünscht hattest, aber leider kann ich nicht mehr tun. Mein Name ist Alexander Gottlieb, ich bin Architekt, und wenn es dir Spaß macht, können wir uns auch einige der Hochhäuser ansehen, die ich gebaut habe. Doch die Entscheidung darüber wird sicher bei deiner Mutter liegen. Aber dein Brief hat mir so gefallen, dass ich dich wirklich gerne kennenlernen und einladen möchte.“

Anita las diese Zeilen mit mehr als nur etwas Erstaunen. Da hatte doch Michael, dieser Schlingel, wirklich das E-Mail-Programm benutzt, obwohl es ihm streng verboten war.

Anita suchte die Kopie des Briefes, aber der Junge war schlau genug gewesen, diese zu löschen.

Erst jetzt sah die junge Frau, dass noch ein Anhang von diesem fremden Mann an dem Brief war.

Liebe Unbekannte, ich nehme an, Ihr Sohn hat Sie nicht darüber informiert, dass er einen anrührenden Brief an den lieben Gott geschrieben hat. Machen Sie ihm bitte keine Vorwürfe, er ist ein Kind, und wie mir scheint, sehr unglücklich. Es ist sicher schwer, wenn Eltern sich trennen, und dieser Brief von Michael hat mich so angesprochen, dass ich ihm antworten musste. Ich hoffe, Sie empfinden meine Einladung als nicht zu dreist. Aber ich möchte dem Jungen einfach eine Freude machen, und Ihnen vielleicht auch. Es wäre schön, wenn Sie sich entschließen könnten, mir zu antworten und die Einladung anzunehmen. Sollten Sie nicht in der Nähe von Mainz wohnen, wird sich bestimmt auch dafür eine Lösung finden lassen. Nehmen Sie bitte meine Einladung als das, was sie ist, eine Freundlichkeit für Ihr Kind und Sie. Ich will mich nicht aufdrängen, aber ich möchte gerne Ihren Sohn und natürlich auch Sie kennenlernen. Ihr sehr ergebener Alexander Gottlieb.“

Im ersten Moment war Anita einfach nur verblüfft. War das jetzt ein schlechter Scherz? Nein, danach klangen die Worte eigentlich nicht. Es klang ehrlich und bewegt und ganz einfach nett.

Na, da hatte Michael ja was Schönes angerichtet. Aber Anita konnte ihrem Sohn einfach nicht böse sein. Es war so schwer für ein Kind mit dieser ganzen Situation fertig zu werden. Und es mochte eine verrückte Idee gewesen sein an den lieben Gott zu schreiben, aber es zeigte auf jeden Fall, dass der Junge Einfälle hatte – und sehr verzweifelt war.

Bevor sie an den Fremden schrieb, wollte sie jetzt erst einmal mit Michael sprechen.

Sie ging hinüber in das Zimmer des Jungen, wo er über seinen Hausaufgaben brütete.

„Mama, das kann man nicht lernen“, beklagte er sich und deutete auf seine Rechenaufgaben. Anita lächelte. Michael war ein guter Schüler, aber Rechnen lag ihm einfach nicht, obwohl er mühelos am Computer arbeitete. Irgendwie schienen das doch zwei getrennte Welten zu sein. Vielleicht aber lag es auch daran, dass er die Zusammenhänge noch nicht verstand. Es wäre bestimmt gut gewesen, hätte das Kind einen Vater gehabt, der ihm geduldig alles drei- oder viermal erklärte. Aber so musste Anita das tun, obwohl sie in ihrem Beruf als Journalistin selbst stark eingespannt war. Aber der Job bot die Möglichkeit sich intensiv um den Jungen zu kümmern, weil sie viel daheim arbeiten konnte.

Und doch hatte Anita das Gefühl, dass Michael manchmal zu kurz kam. Jetzt legte sie ihrem Sohn die Hand auf den Kopf.

„Hatte ich dir nicht verboten E-Mails zu verschicken, junger Mann?“, fragte sie sanft.

Sofort verspürte sie die Verlegenheit und das Schuldbewusstsein des Kindes.

Doch dann fuhr er auf. „Hat Gott etwa geantwortet?“, fragte er ungläubig.

Anita musste lachen. „Nein, nicht Gott, mein Schatz. Ein wildfremder Mann, Alexander Gottlieb heißt er. Die Mail ist wohl falsch gelaufen und bei ihm angekommen. Er war aber ganz gerührt von deinem Brief und lädt uns beide ein in den Zoo.“

„Ja – aber wieso denn ein fremder Mann?“, fragte Michael verwirrt. „Ich habe doch nicht an diesen Alexander Gottlob geschrieben“, beschwerte er sich.

„Gottlieb“, korrigierte Anita sanft. „Es war wohl ein Zufall, dass dein Brief bei ihm landete. Und er schreibt sehr nett zurück. Aber richtig war das nicht, was du getan hast. Das weißt du, nicht wahr?“ Anita schaute ihren Sohn gespielt streng an, und der senkte schuldbewusst den Kopf.

„Ich wollte doch nur ...“, begann er sich zu verteidigen, aber seine Mutter unterbrach ihn. „Ist schon gut, ich schimpfe ja nicht länger. Aber versprich mir, dass du das nicht wieder tust. Wenn du solche tollen Einfälle hast, sprich bitte erst mit mir darüber, in Ordnung?“

Michael nickte, er war froh, so glimpflich davongekommen zu sein.

„Und jetzt sollten wir uns überlegen, ob wir diesem Mann antworten“, fuhr Anita fort. „Er hat sehr freundlich geschrieben und verdient eigentlich eine ebenso freundliche Antwort. Und stell dir vor, er wohnt ebenfalls in Mainz. Ist das nicht ein Zufall?“

„Und er lädt uns ein? Einfach so?“, forschte Michael noch einmal.

Seine Mutter nickte. „Ja, das ist schon merkwürdig. Aber vielleicht hat der liebe Gott ihn einfach vorgeschickt. Dein Brief muss ja sehr interessant gewesen sein.“

Michael wollte von diesem verfänglichen Thema gerne ablenken.

„Dann sollten wir ganz einfach seine Einladung annehmen“, schlug er praktisch vor.



4

Karsten Steingruber, der Exehemann von Anita war unglücklich. Nach dem Scheitern seiner Ehe mit Anita hatte er um das Sorgerecht für den Jungen gekämpft, aber verloren. Anita hatte nachweisen können, dass er während der Ehe mehrere Verhältnisse gehabt hatte, während seine Eifersucht seine Frau und den Jungen immer weiter einengte. Das war schließlich so weit gegangen, dass er über jede Minute des Tages Rechenschaft verlangte. Doch Anita wollte sich schließlich nicht länger einengen lassen und hatte ihren Mann vor die Wahl gestellt, entweder zur Vernunft zu kommen oder sich scheiden zu lassen.

Es war zu erbitterten Auseinandersetzungen gekommen, aber selbst jetzt noch, rund ein Jahr nach der Scheidung, verfolgte Karsten das Tun seiner Exfrau und spionierte ihr nach, wovon sie bis jetzt aber nichts wusste.

Und dabei hatte er doch eigentlich eine andere Frau gefunden, die ihn zu lieben schien und mit seinen Eigenarten recht gut zurechtkam. War sie denn für ihn nicht mehr als ein Verhältnis, das er nur bei Bedarf nutzte? Miriam Wolters war eine kluge und hübsche Frau, die ihn wirklich bedingungslos liebte, was er bis jetzt noch nicht gemerkt zu haben schien.

Auch an diesem Tag machte sie Karsten keine Vorwürfe, als sie merkte, dass er wieder nicht zu seiner Arbeit ging, sondern seiner Frau auflauern wollte.

„Kannst du sie nicht endlich in Ruhe lassen?“, fragte sie sanft. „Karsten, es ist doch schon so lange her. Liebst du sie denn immer noch?“

Er schaute sie erstaunt an. „Es ist mein Sohn, um den es hier geht. Aber das verstehst du nicht.“

Miriam schmerzten diese Worte. Sie verstand sehr wohl, wie sie glaubte. Und längst hatte sie beschlossen, dass sie Karsten ein Kind schenken wollte. Vielleicht würde ihn das von seinen verrückten Gedanken abbringen. Nur hatte es bisher noch nicht geklappt, dass sie schwanger wurde. Aber so schnell würde sie nicht aufgeben.

So konnte die Frau den Mann auch jetzt nicht halten. Sie schaute ihm nur traurig hinterher.



5

Michael war ganz zappelig vor Spannung, als er mit seiner Mutter vor dem Eingang zum Zoo stand, wo sie beide auf Alexander warteten. Anita und er hatten Zeit und Ort ausgemacht. Und Gottlieb hatte zusätzlich geschrieben, dass er einen Stadtführer dabei haben wollte. Lächerlich, natürlich, aber da man sich nicht kannte und beide eine Rose im Knopfloch für noch lächerlicher hielten, war es vielleicht doch besser so.

Nun stand Alexander allerdings schon eine ganze Weile ein wenig verborgen hinter einem Strauch und beobachtete die beiden. Und was er niemals für möglich gehalten hätte, sein Blick war auf Anita gefallen, und auf diesen ersten Blick hin hatte sein Herz gesprochen und angefangen schmerzhaft und aufgeregt zu schlagen.

Was er sah, war eine Frau Anfang der dreißig, die einen noch sehr jugendlichen Eindruck machte. Sanftes braunes Haar fiel locker auf die Schultern, das Gesicht war fein und ebenmäßig, die Lippen voll, und das Lächeln einfach nur bezaubernd. Ihre Kleidung war geschmackvoll und eigenwillig, aber durchaus zu ihr passend. Die Bewegungen zeugten von Kraft und Energie, und doch hatte Alexander das Gefühl, dass diese Frau auch ungeheuer anschmiegsam sein konnte. Ihm kam ein Ausspruch in den Sinn, den er einmal bei einem Auftrag in Amerika aufgeschnappt hatte: Sie sieht aus wie eine Million Dollar.

So musste die Frau sein, die er sich erträumt hatte. Ihr Exmann konnte nur blind oder ein Narr sein, dass er sie hatte gehen lassen.

Jetzt schaute sie etwas ungeduldig auf die Uhr und sagte etwas zu dem Jungen. Michael war schlank und zierlich, klein für sein Alter, aber seine Augen blickten wach und intelligent.

Alexander besann sich darauf, dass er mit den beiden verabredet und schon fünf Minuten über die Zeit war. Er trat aus seinem Versteck hervor und schritt rasch auf Mutter und Sohn zu.

„Frau Steingruber? Michael? Ich bin Alexander Gottlieb.“

Er reichte beiden nacheinander die Hand und spürte fast körperlich, wie Freude die junge Frau erfüllte. Sie schien also auch auf den ersten Blick nicht enttäuscht von ihm zu sein.

Gemeinsam wie eine Familie gingen sie hinein.



6

Alexander war seit vielen Jahren nicht mehr im Zoo gewesen. Nun erlebte er zum ersten Mal seit seiner Kindheit mit, wie sehr ein Kind sich freuen konnte auf einem gemeinsamen Ausflug. Die großen Raubtiere interessieren Michael weniger, er liebte Reptilien, Spinnen und Schlangen, sehr zum Leidwesen von Anita. Alexander hingegen fand es faszinierend, vor allen Dingen, als er feststellte, dass sich Michael wirklich gut damit auskannte. Er hatte sich schon länger damit beschäftigt und konnte mühelos die Lebens- und Verhaltensweisen der verschiedenen Spezies erklären.

Aber auch die Gespräche zwischen Alexander und Anita waren anregend, weil beide gebildete und belesene Menschen waren, denen es an Gesprächsthemen nicht mangelte.

Die Zeit verging wie im Flug, und irgendwann schaute Alexander auf die Uhr und stellte fest, dass er eigentlich schon längst wieder zurück im Büro sein wollte. Doch es hätte ihm gar nicht gepasst, diese wunderbare Gesellschaft zu verlassen. Er fühlte sich wohl und stellte erstaunt fest, dass es doch noch mehr gab als nur die Arbeit. Also verschob er seinen Aufbruch und lud die beiden auch noch zum Abendessen ein.

Der Abend verlief harmonisch und angenehm, und irgendwann spät fuhr Alexander die zwei nach Hause. Am nächsten Tag hatte Michael schulfrei, so dass der späte Zeitpunkt nicht so schlimm war.

Auch Anita bedauerte es sehr, dass dieser Abend zu Ende ging. Schon seit langem hatte sie nicht mehr so angeregte Gespräche geführt, und sich vor allen Dingen so sicher gefühlt wie in der Nähe dieses Mannes. Ein wenig belustigt stellte sie bei sich selbst fest, dass er nicht nur unverschämt gut aussah, sondern auch Charme und Intelligenz besaß, so dass selbst Diskussionen über kontroverse Themen zu einem Genuss werden konnten.

Michael hatte sich schon ganz herzlich bei Alexander bedankt, fand das alles toll und geil, sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die eine solche Ausdrucksweise nicht guthieß. Aber Alexander hatte beglückt festgestellt, dass ihm das Lob des Jungen ungeheuer viel bedeutete.

Michael war schon aus dem Auto gesprungen und stand jetzt wartend in der offenen Haustür, während Anita und Alexander sich noch verabschiedeten.

„Sie haben Michael und mir eine sehr große Freude mit diesem Tag bereitet. Und ich gebe zu, ich habe mich lange nicht mehr so gut unterhalten.“

„Mir geht es ähnlich“, sagte er leise. „Ich hatte schon fast vergessen, dass es ein Leben außerhalb der Arbeit gibt. Und – Anita – ich würde Sie sehr gerne wiedersehen. Und natürlich auch Michael“, setzte er rasch hinzu.

Die junge Frau lächelte. Sie hatte sehr wohl gespürt, dass Michael diesen noch so fremden Mann mochte und ihn, was sie nicht geglaubt hätte, als möglichen Partner akzeptierte. Natürlich war das alles nicht mehr als Zukunftsmusik und vielleicht auch nicht mehr als ein schöner Wunschtraum. Aber Tatsache blieb, dass Michaels Brief den Anfang einer Lawine ausgelöst zu haben schien, von der bis jetzt noch niemand sagen konnte, ob sie weiterlief oder nicht doch plötzlich stoppen würde. Das würde die Zeit erweisen, man musste einfach abwarten.

Jetzt aber freute sich Anita darüber, dass Alexander sie wiedersehen wollte.

„Ich rufe Sie morgen an“, versprach der Mann. „Sobald ich weiß, wann mein Terminkalender mir ein wenig Luft dazu lässt.“

Anita lächelte verständnisvoll. „Mir geht es ähnlich. Lassen Sie uns morgen darüber abstimmen, welche Termine wir frei haben.“

Mit einem letzten Blick von beiden, in dem eine Verheißung und ein Versprechen lagen, stieg Anita aus dem Wagen und ging zu Michael, der jetzt langsam ungeduldig wurde.

Ein letztes Winken, dann fuhr der Wagen davon, und Anita starrte ihm sinnend hinterher.

„Was hast du da wohl angerichtet, mein Sohn?“, fragte sie leise, ohne eine Antwort zu erwarten, aber Michael schaute sie erstaunt an.

„War das denn kein schöner Tag, Mama? Und hast du gesehen, er ekelt sich gar nicht vor Spinnen und Schlangen. Und beim nächsten Mal will er mir wirklich eines der großen Hochhäuser zeigen, die er gebaut hat.“

Anita schmunzelte. Beim nächsten Mal! Es war irgendwie klar für Michael, dass es ein nächstes Mal geben würde. Er hatte also Alexander wirklich sofort ins Herz geschlossen. Es gab also doch noch seltsame Wege, die das Schicksal ging.

„Jetzt aber ab ins Bett, junger Mann. Eigentlich müsstest du längst schlafen“, bestimmte sie.

Michael war so müde und erschöpft, dass er widerspruchslos gehorchte.



7

Anita hatte noch einige Minuten still im Wohnzimmer gesessen und über den vergangenen Tag nachgedacht. Schließlich aber entschied sie sich, endlich ins Bett zu gehen und war auf dem Weg ins Badezimmer, als es an der Haustür klingelte. Etwas unwillig blickte sie auf. Wer mochte das sein, um diese Zeit? Oder – und dann glitt ein Lächeln auf ihre Züge – hatte Alexander etwas vergessen? Wollte er ihr vielleicht noch etwas sagen?

Rasch öffnete sie die Tür, auch um zu verhindern, dass die Klingel noch einmal anschlug und Michael weckte.

Aber dann war ihr Erstaunen doch sehr groß, als sie ihren Exmann Karsten dort stehen sah.

„Was willst du denn hier? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, fragte sie fast empört.

Aber Karsten hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. „Wer ist der Kerl, mit dem du dich triffst?“, wollte er barsch wissen.

Anita war durchaus nicht der Meinung, dass es ihn etwas anginge. „Das ist meine Sache“, erwiderte sie also kühl. „Wir beide sind geschieden. Kannst du dich erinnern?“

Karstens Gesicht war bleich, und seine Stimme klang brüchig. Anita kannte diese Anzeichen, er war unendlich wütend und würde gleich mit Sicherheit laut werden.

„Ich will nicht, dass du mit irgendeinem dahergelaufenen Kerl losziehst und meinen Jungen in schlechte Gesellschaft bringst!“, brüllte er plötzlich.

Das ging Anita jetzt zu weit. „Ich bin dir keine Rechenschaft darüber schuldig, was ich tu. Von dir verlange ich schließlich auch keine Auskunft, mit wem du gerade liiert bist. Und ich bringe schon gar nicht Michael in schlechte Gesellschaft. Die hatte er an dir wahrhaftig genug“, konnte sie sich eine Spitze nicht verkneifen. „Im Übrigen geht dich das alles gar nichts an. Außerdem, woher weißt du eigentlich davon? Beobachtest du mich etwa? Dazu hast du kein Recht, und das werde ich mir auch nicht bieten lassen.“

„Und was willst du dagegen unternehmen?“, höhnte er. „Ich nehme mir ganz einfach das Recht herauszufinden, ob es meinem Sohn gut geht.“

„Deinem Sohn?“, wiederholte sie fast nachdenklich. „Du hast doch auch nicht darüber nachgedacht, ob es deinem Sohn gut geht, als du mich am laufenden Meter betrogen hast. Warst du vielleicht der Ansicht, das Kind bekommt nichts davon mit? Michael hat viel zu sehr unter deiner Untreue und deiner unbegründeten Eifersucht gelitten, als dass ich es wagen würde, ihm wehzutun. Und nun willst du bitte gehen, ich möchte schlafen.“

„Du schmeißt mich hinaus?“, fragte er fassungslos.

„Um diese Zeit“, erklärte sie kühl, „lasse ich normalerweise nicht mal mehr jemanden herein. Also muss ich auch niemanden hinauswerfen. Ich wünsche dir eine gute Nacht, Karsten.“ Sprach es und schloss die Tür.

Der Mann blieb ungläubig noch eine Weile draußen stehen, ballte dann aber eine Faust und schüttelte sie.

„Das wird dir noch leid tun!“, waren seine letzten Worte, die er gegen die geschlossene Tür brüllte, laut genug, dass auch andere Hausbewohner sie hören konnten, falls sie noch auf waren. Aber das interessierte ihn nicht. Dann ging auch er.



8

Anita wartete am folgenden Tag voller Ungeduld auf den Anruf von Alexander, und zu ihrer Freude musste sie nicht lange warten, denn schon am Vormittag meldete er sich.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte er sanft.

Anita hatte nicht vor, ihm von der hässlichen Auseinandersetzung am Abend vorher zu erzählen, so vertraut waren sie denn doch nicht miteinander, dass es ihn etwas anging. Und so antwortete sie ausweichend. „Gut, danke. Und Ihnen?“

Ein leises Lachen kam als Antwort. „Sie werden es vielleicht kaum glauben, Anita. Ich brenne vor Ungeduld Sie wiederzusehen.“

Heiße Röte schoss in das Gesicht der jungen Frau, und sie war froh, dass er sie nicht sehen konnte.

„Ich freue mich auch darauf, Sie wiederzusehen“, sagte sie dann leise und fast verlegen.

„Dann lassen Sie uns doch ganz einfach mal prüfen, was unsere Terminkalender sagen.“

Es dauerte gar nicht lange, bis die zwei einen passenden Termin ausfindig gemacht hatten, allerdings stellte Anita dann fest, dass es sich ausgerechnet um den Besuchstag von Karsten handelte, an dem Michael nicht dabei sein würde.

„Nun, ich hoffe doch sehr, dass Sie keine Angst haben mit mir allein zu sein“, sagte Alexander ein wenig spöttisch und war erfreut darüber, wie sie reagierte

„Ich dachte nur – ich meine“, begann sie ein wenig zögernd, „dass wir Michael erst gegen Abend dabei haben werden.“

„Eine gute Möglichkeit, dass wir beide uns besser kennenlernen“, war seine Antwort, und Anita spürte, wie ihr Herz einen raschen Schlag schneller wurde.

Sie wechselten noch einige unverbindliche Worte und legten dann auf, beide von dem gleichen Gedanken erfüllt: Noch eine ganze Woche bis zum Wiedersehen.



9

„Karsten, was hast du vor?“, fragte Miriam etwas verwirrt, als sie erstaunt bemerkte, dass der Mann eine Tasche mit Kleidung packte. „Du willst doch nicht etwa verreisen? Ich denke, du hast heute deinen Besuchstag bei deinem Sohn?“

„Ich muss danach geschäftlich weg“, sagte er wegwerfend und kümmerte sich nicht weiter um die Frau.

Miriam kam das Ganze etwas merkwürdig vor, aber dennoch hatte sie keinen Grund, misstrauisch zu sein, es war nicht ungewöhnlich, dass er auf Dienstreisen ging.

Karsten hatte nicht vor, Miriam noch etwas zu sagen. Sie war immer eine gute und verständnisvolle Geliebte, sicher, aber für mehr sah er sie immer noch nicht an. Dass ihre Liebe zu ihm tief und bedingungslos war, hatte er einfach nicht gemerkt. Und so verabschiedete er sich auch ganz normal von ihr und fuhr los, um seinen Sohn abzuholen.

Michael wartete schon auf seinen Vater und erzählte ihm, ohne dass der nachfragen musste, freudestrahlend von dem Besuch im Zoo mit Alexander. Hätte Karsten noch irgendwelche Zweifel gehabt, dass das, was er jetzt tun wollte, richtig war, so wären diese durch das Gespräch ausgeräumt gewesen.

Sein Sohn, und ein anderer Mann! Das konnte nicht sein, nein, das durfte nicht sein.

„Hättest du Lust, heute mit mir eine ganz tolle Reise zu unternehmen?“, fragte er Michael, und der nickte begeistert.

„Na, dann los“, sagte Karsten entschlossen und startete den Wagen.



10

Alexander und Anita verlebten einen wunderschönen unbeschwerten Tag im Odenwald. Ein Bekannter von Alexander hatte ihm den Schlüssel zu einer kleinen Jagdhütte gegeben. Und hier, sehr abseits gelegen und von keinerlei Spaziergängern gestört, verbrachten die beiden den Tag. Vorräte in Form von Konserven waren mehr als genug da, die Hütte war gemütlich, und nach einem langen Spaziergang kochten die zwei gemeinsam am Herd ein Essen. Es gab einen Stromgenerator und Gasflaschen für den Herd, und das Paar fühlte sich wie allein auf weiter Welt. Sie führten lange Gespräche, sprangen von einem Thema zum anderen, und schließlich kam der Augenblick, vor dem sie beide ein wenig gebangt hatten.

Sie hatten sich nach dem Essen ein wenig träge auf einem gemütlichen Sofa niedergelassen, vorher ein Feuer im Kamin angezündet, weil es doch ein wenig kühl hier draußen war, und plötzlich stockte der Redefluss der beiden. Alexander drehte sich zur Seite, schaute Anita tief in die Augen und zog sie dann an sich. Die Frau ließ es geschehen, ohne sich zu wehren, und beide versanken in einem tiefen, ersten Kuss.

Doch schließlich löste sich der Mann und hielt Anita an beiden Schultern sanft fest. „Ich wollte dich nicht überrumpeln“, sagte er leise. „Aber ich wäre ein Narr gewesen, hätte ich diese Gelegenheit ausgelassen.“

Sie lächelte, sprach aber kein Wort, sondern schaute ihn nur mit funkelnden Augen an und zog ihn wieder an sich. Und das war eine Aufforderung, der Alexander nicht widerstehen konnte.

Sehr viel später fuhren sie nach Hause, um rechtzeitig wieder da zu sein, wenn Karsten Michael zurückbrachte. Sie wollten dann noch gemütlich essen gehen, damit auch Michael etwas von Alexander hatte. Anita fürchtete sich auch nicht mehr davor, dass Karsten Alexander sehen könnte, sie hatte ein Anrecht auf ein eigenes Leben, fand sie.

Aber die Zeit verging, und Karstens Auto tauchte nicht auf. Eigentlich hatte er um achtzehn Uhr mit dem Jungen zurück sein sollen, mittlerweile war es aber schon neunzehn Uhr dreißig.

Kurz nach zwanzig Uhr hielt Anita es nicht mehr aus und rief unter Karstens Telefonnummer an, wo sich Miriam meldete. Sie klang ein wenig unsicher, und Anita wurde misstrauisch.

„Gibt es da etwas, dass Sie wissen und mir vielleicht sagen sollten?“, fragte sie hartnäckig nach, als sie auf ihre Frage nach Karsten nur eine ausweichende Antwort bekommen hatte.

Miriam zögerte, es kam ihr wie Verrat vor, aber dann erzählte sie Anita doch, dass Karsten eine Reisetasche mit Kleidung mitgenommen hatte.

Anita erschrak. „Und er ist bis jetzt nicht zurückgekommen und hat sich auch bei Ihnen nicht gemeldet?“, fragte sie noch einmal nach.

Miriam verneinte, und in Anita kroch eisiger Schreck hoch.

Sie legte mit zitternden Fingern den Hörer auf und erzählte Alexander, was geschehen war. Er nahm sie fest in den Arm.

„Er hat dem Jungen sicher nichts getan“, versuchte er zu trösten. „Nach allem, was du mir erzählst hast, liebt er den Jungen doch.“

„Ja, das tut er“, bestätigte Anita. „Aber ich glaube, er hat ihn entführt.“



11

Die Polizei hatte zunächst versucht abzuwiegeln, Anita sollte noch ein wenig warten, vielleicht würde sich Karsten doch bald melden. Aber sie hatte darauf bestanden, dass die Beamten sofort etwas unternahmen, und Alexander hatte sie unterstützt. Auch er machte sich Sorgen um Michael, den er doch kaum kannte, aber sofort ins Herz geschlossen hatte. Und nun tat es ihm unendlich weh, dass die Mutter des Jungen verzweifelt und den Tränen nah in ein Gespräch mit einer abweisenden und misstrauischen Polizistin verwickelt war. Aber Anita behielt mit bewundernswerter Beherrschung den Kopf oben und die Tränen verborgen.

Die Polizistin stellte eine Unmenge scheinbar sinnloser Fragen, und ein Kollege hielt alle Antworten schriftlich fest.

Mittlerweile ging es auf zweiundzwanzig Uhr zu, und zwischenzeitlich waren auch zwei Polizisten auf dem Weg zu Miriam, um auch ihre Aussage zu Protokoll zu nehmen.

Es sah nun wirklich alles danach aus, als hätte Karsten den Jungen entführt und keineswegs die Absicht ihn wieder zu Hause abzuliefern.

„Hat Ihr Exgatte schon einmal versucht, den Jungen zu entführen?“, fragte die Polizistin jetzt.

„Nein.“

„Gab es Probleme mit der Besuchsregelung? War Ihrem Mann die Zeit zu wenig?“

„Nein, bisher nicht. Aber ...“ Anita stockte, und Alexander spitzte die Ohren.

„Jaa?“, machte die Polizistin.

Anita rang ein wenig hilflos die Hände. „Er schien in letzter Zeit erneut Zeichen von Eifersucht zu zeigen. Jedenfalls hat er mich und das Kind beobachtet. Und in der vorigen Woche kam er noch abends spät, klingelte und machte mir Vorhaltungen.“

„Wann war das genau?“

Anita erzählte es.

„Und aus welchem Grund?“

Jetzt fand Anita, dass die Fragerei weit genug ging. Sie hatte sich weder vor ihrem Exmann noch vor der Polizei zu verantworten. Was in ihrem Privatleben vorging, war auch ihre Privatsache.

„Er hat keinen Grund außer dem, dass er beobachtet hatte, wie wir ausgegangen sind“, sagte sie also bestimmt. „Und wenn ich mit jemandem ausgehe, ist das mein Leben und nicht seines.“

Die Polizistin warf einen Seitenblick zu Alexander hinüber. „Ist Ihr Exgatte eifersüchtig auf Herrn Gottlieb?“

„Es sieht zumindest so aus“, meinte Anita spröde.

„Sind da noch andere Männer in Ihrem Leben?“

„Ich finde, jetzt gehen Sie entschieden zu weit“, fuhr Anita zornig auf, und auch Alexander fand es an der Zeit sich einzumischen.

„Sie benehmen sich, als wäre Frau Steingruber ein Täter und nicht ein Opfer“, warf er dazwischen.

Die Polizistin musterte ihn kühl. „Sie müssen die Art der Befragung schon mir überlassen. Ich mache so etwas nicht zum ersten Mal.“

„Wenn Sie in dieser Form weitermachen, aber sicher zum letzten Mal“, konterte Alexander eiskalt. „Ihre Art der Befragung verdient eine Dienstaufsichtsbeschwerde.“

Noch bevor das Wortgefecht weitergehen und womöglich eskalieren konnte, klingelte plötzlich das Telefon. Für einen Augenblick erstarrten alle Personen wie zur Salzsäule. Als erste regte sich dann die Polizistin und wandte sich an Anita.

„Schnell, haben Sie einen zweiten Apparat, wo man mithören könnte?“

Anita nickte und deutete auf das Schlafzimmer, der Mann verschwand, und die Polizistin nickte. „Nehmen Sie das Gespräch an. Vielleicht ist es ja Ihr Exgatte. Es gibt immer noch viele Möglichkeiten, warum er mit dem Kind noch nicht hier ist. Rasch jetzt.“

Das Telefon klingelte mit hartnäckiger Ungeduld immer weiter, und Anitas Finger zitterten, als sie den Hörer jetzt aufnahm. Alexander warf ihr einen beruhigenden Blick zu, und sie tastete nach seiner Hand, bevor sie sich meldete.

„Anita? Ich bin es, Karsten.“ Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. „Ich wollte dir nur sagen, dass du nicht darauf warten musst, Michael zurückzubekommen.“

„Wo ist Michael? Geht es ihm gut? Was hast du mit ihm gemacht?“ Anitas Stimme überschlug sich fast, und der Griff, mit dem sie Alexanders Hand hielt, war schmerzhaft.

„Reg dich bloß nicht auf. Uns geht es gut. Aber augenscheinlich hast du jemanden gefunden, den du mehr liebst als Michael. Und das kann und werde ich nicht mit ansehen. Das Kind wird bei mir bleiben.“

„Das kannst du nicht tun. Bring mir Michael zurück!“, flehte sie.

„Du hattest deine Chance, meine liebe Exfrau. Jetzt bleibt er bei mir.“

Abrupt legte er auf, und Anita hielt noch eine Weile den Hörer in der Hand und starrte ihn fassungslos an, als könnte sie nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Dann glitt ihr Blick auf die Polizistin.

„Das kann er doch nicht tun“, flüsterte sie tonlos.

Alexander schaute sie an und sah den grenzenlosen Schmerz in ihren Augen. Er zog sie an sich.

„Damit kommt er nicht durch“, flüsterte er. „Wir holen dir Michael zurück. Bitte Anita, du musst jetzt stark bleiben. Du wirst Michael nicht helfen, wenn du zusammenbrichst.“

Unmerklich strafften sich ihre Schultern, und die Frau löste sich von Alexander. „Ich breche nicht zusammen“, sagte sie mit fester Stimme, und mit einem fast grimmigen Lächeln fügte sie hinzu: „Aber auch mir wird es doch gestattet sein, ein wenig Schwäche zu zeigen.“

Beide Polizisten schienen sich wortlos verständigt zu haben, und der Mann telefonierte mittlerweile schon mit dem Revier.

Das Verhalten der Frau hatte sich geändert, sie schien jetzt besorgt. „Brauchen Sie einen Arzt, Frau Steingruber?“, erkundigte sie sich, aber Anita schüttelte den Kopf.

„Nein, alles was ich brauche, ist mein Sohn. Bringen Sie ihn mir zurück.“



12

„Willst du mich nicht nach Hause fahren“, erkundigte sich Michael, als es auf den Abend zuging und Karsten keine Anstalten machte zu drehen und nach Mainz zurückzufahren.

„Ich habe mit deiner Mutter gesprochen“, log Karsten, ohne rot zu werden. „Und sie möchte dich gerne ein paar Tage loswerden. Da ist doch dieser neue Mann, du kennst ihn ja, und die beiden ...“ Er hatte bewusst eine harte Ausdrucksweise gewählt, um dem Kind gleich klarzumachen, dass Anita nichts mehr von ihm wissen wollte.

Michael starrte seinen Vater ungläubig an. „Das würde Mama nie sagen. Und Alexander ist so nett.“

„Nun, scheinbar findet deine Mutter Alexander so nett, dass sie dich im Augenblick einfach nicht brauchen kann.“

Michael biss sich auf die Lippen. Konnte das denn wahr sein? Das hätte seine Mutter ihm doch sicher gesagt. Aber andererseits hatte sein Vater ihn noch nie belogen.

„Und wohin fahren wir jetzt? Und was ist mit der Schule?“, erkundigte er sich dann kleinlaut.

„Nun, wir machen eine Art Ferien, außerplanmäßig“, sagte Karsten improvisierend. „Wir fahren mal hierhin, mal dorthin.“

Am Abend mietete er ein Zimmer in einer Raststätte, blieb bei Michael, bis er eingeschlafen war, und telefonierte dann mit Anita. Er war sicher, dass niemand das Gespräch würde zurückverfolgen können, weil Anita noch immer denken sollte, dass er sich aus irgendwelchen Gründen verspätet hatte. Dass die Polizei längst alarmiert war und dieses Gespräch mithörte, konnte er nicht wissen.

Am nächsten Morgen kaufte er für den Jungen ein paar neue Kleidungsstücke, und dann ging es weiter, bis weit hinter München in die Berge hinauf. Michael war ausgesprochen ruhig und kleinlaut, aber er stellte keine Fragen mehr. Sein Vater kam ihm sehr merkwürdig vor, und in seinem Kopf begannen die Gedanken zu rotieren. Das alles verwirrte ihn, und er wusste nicht mehr, was er denken sollte.

Karsten hatte keine Ahnung, was er seinem Kind antat, und er wäre sehr verwundert gewesen, hätte man ihn jetzt darauf angesprochen. In seinem verwirrten Geist hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass er Michael vor Schaden und anderen Männern bewahren musste.



13

„Jede Polizeidienststelle im ganzen Land ist alarmiert, alle Grenzbehörden wissen Bescheid, und selbst im Fernsehen ist die Suchmeldung gelaufen. Wir müssen Geduld haben“, versuchte der Kommissar der Kriminalpolizei Anita zu beruhigen. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Ihr Mann ...“

„Mein Exmann“, unterbrach sie ihn hart.

Kein Lächeln zeigte sich im Gesicht des Beamten. „Also gut, bis Ihr Exmann aufgegriffen wird und Sie Ihr Kind wieder in die Arme schließen können.“

Es war jetzt schon der dritte Tag des Dramas, an dem Anita um ihr Kind bangte, und sie ging mutlos wieder hinaus und fuhr wie in Trance nach Hause.

Sie hatte sich in diesen Tagen immer enger an Alexander angeschlossen. Der hatte kurzerhand seine Arbeit vernachlässigt, um ständig bei ihr sein zu können und sie in rührender Weise zu umsorgen.

Anita hatte diese fast unmerkliche Hilfestellung zunächst gar nicht bemerkt, bis ihr dann aber plötzlich doch aufgegangen war, dass sie gar nicht allein war. Sie lehnte sich gern an die starke Schulter des Mannes, der einfach nur da war, ohne Forderungen zu stellen, der sie beschützte und behütete, und zum ersten Mal seit langer Zeit vertraute sie wieder einem Mann.

Für Alexander hingegen war es ein vollkommen neues Gefühl. Noch niemals hatte er so stark für eine Frau empfunden, oder war bereit gewesen ihren Schmerz und ihr Leid mitzutragen.

Und auch er bangte um den Jungen, ohne dessen total verrückten Einfall er Anita ja auch nicht gefunden hätte. Auch er wollte Michael zurück haben und wünschte sich, in Zukunft für diese beiden Menschen verantwortlich sein zu dürfen.

Es war merkwürdig, diese Notlage verband Anita und Alexander mehr als es jede Art des normalen Kennenlernens getan hätte. Es gab keine Schranken zwischen ihnen, und die Masken der Höflichkeit und Zurückhaltung, die sonst zwischen zwei Menschen, die sich nur wenig kannten, vorherrschten, gab es hier nicht. Grenzenlose Offenheit war es, die die beiden verband, und sie verstanden sich blind. Beide erkannten voller Erstaunen, dass sie sich liebten. Es war so, als hätte es immer so sein müssen.

„Wenn dies hier vorbei ist, Liebste“, sagte Alexander am Abend leise zu ihr, „dann nehme ich euch, und wir drei machen einen langen gemütlichen Urlaub. Dort, wo uns niemand kennt und niemand stört.“

„Wenn dies hier vorbei ist“, erwiderte sie ebenso leise, „falls dieser Albtraum jemals endet, will ich nichts weiter, als in aller Ruhe von vorn anzufangen.“

Für Anita kam erschwerend hinzu, dass sie Journalistin war und so nun plötzlich zum Objekt ihrer Kollegen wurde. Natürlich hatte ihre Zeitung die Exklusivrechte und wurde ständig auf dem Laufenden gehalten, aber bisher gab es einfach nichts Neues.

So auch jetzt nicht, als Anita zum wiederholten Male bei der Polizei nachfragte. Es schien, als wäre Karsten mit Michael vom Erdboden verschluckt, aber das konnte doch gar nicht sein, oder? Und Michael würde doch auch nicht einfach länger bei seinem Vater bleiben. Das war so nicht abgemacht. Und bisher hatte Karsten auch nur wenig mit seinem Sohn anfangen können. Anita war es ohnehin unklar, wieso er den Jungen entführt hatte, aber darauf schien Alexander eine Antwort zu wissen.

„Er will dich treffen“, stellte er fest. „Er will dir wehtun, weil er dich nicht mehr haben kann.“

„Er hat lange Zeit die Möglichkeit, gehabt ein erfülltes Leben mit mir zu führen. Doch er hatte es vorgezogen andere Frauen zu suchen und mich und das Kind regelrecht einzusperren. Und irgendwann wollte ich einfach nicht mehr länger mitmachen.“

„Ihm scheint ziemlich spät aufgegangen zu sein, was für eine wundervolle Frau du bist“, bemerkte Alexander, erntete aber nur ein hilfloses Lachen von Anita.

„Ob ich so wundervoll bin, weiß ich nicht“, gab sie spröde zurück. „Ich bin im Augenblick nur eine Mutter, die sich Sorgen um ihr Kind macht.“

„Aber du bist nicht allein“, meinte Alexander und zog sie eng in die Arme, wie um ihr Kraft zu geben. Und Anita ließ es willig geschehen.

Da sie es einfach nicht aushielt untätig herumzusitzen, setzte sie sich schließlich an ihren Computer und versuchte einen Artikel zu schreiben, während Alexander in rascher Folge Skizzen und Entwürfe auf einen Block malte. Beiden war die Anspannung der letzten Tage mittlerweile anzusehen, sie hatten dunkle Ringe unter den Augen und wirkten übernächtigt.

Bei jedem Geräusch horchte Anita auf. War es das Telefon, das klingelte? War jemand an der Haustür? Sie verhedderte sich beim Schreiben hoffnungslos, versuchte den Satz zu lesen, den sie gerade eingetippt hatte, und löschte ihn dann zornig wieder. Das alles machte doch keinen Sinn.

Aber alles blieb so unglaublich ruhig, dass sich die Nervosität in Anita immer weiter steigerte. Schließlich legte Alexander seinen Skizzenblock weg, stand auf und trat zu ihr. Sanft löste er ihre Hände, die sich ineinander verkrallt hatten, statt weiter auf der Tastatur zu hämmern. Dann drehte er die Frau auf dem Stuhl herum und zog sie an sich, wobei seine rechte Hand den Computer einfach abschaltete.

„Das hat alles keinen Sinn, Liebste“, sagte er weich.

Und jetzt konnte Anita zum ersten Mal nicht mehr an sich halten, sie brach unvermittelt in Tränen aus.

„Er wird ihm doch nichts tun, Alexander, nein? Ich meine, Karsten war nie gewalttätig, aber neulich abends hatte ich schon Angst vor ihm. Aber er wird doch seinem eigenen Kind nichts tun.“ Ihre Stimme war ein einziges Flehen.

Alexander wusste nicht recht, was er sagen sollte. Im Augenblick lag alles im Bereich des Möglichen, selbst ein Verbrechen. Aber das konnte und wollte er einfach nicht befürchten. So strich er Anita sanft über die Haare und sprach beruhigend auf sie ein.

„Ganz sicher wird er ihm nichts tun. Du musst keine Angst haben. Und es wird auch bestimmt nicht mehr lange dauern, bis die Polizei ihn fasst. Bald ist Michael wieder hier.“

Es dauerte nicht lange, bis Anita sich wieder zusammenriss. Sie war nicht die Frau für Nervenzusammenbrüche, und sie hasste es, sich nicht richtig unter Kontrolle zu haben.

„Entschuldige bitte“, sagte sie dann beherrscht. „Es ist sonst nicht meine Art in Tränen auszubrechen.“

Er schaute sie ein wenig verständnislos an. „Wenn du nicht weinen darfst, wer dann?“, fragte er.

„Ach, weißt du, es macht wenig Sinn zu weinen, wenn ich nichts damit ändern kann.“

„Aber es erleichtert auch“, murmelte er und hielt sie fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. „Ich wünschte nur, ich könnte dir helfen.“

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Es schrillte so unwirklich und unerwartet durch die Stille, dass beide zunächst gar nicht begriffen, was da vorging. Dann aber stürmte Anita zum Gerät und hielt den Hörer fast atemlos an den Kopf.

„Ja?“, sagte sie erstickt und lauschte dann eine Weile. Dann hielt sie den Hörer für einen Augenblick in der Hand, bevor sie ihn sachte auflegte. Langsam drehte sie sich um zu Alexander. „Man hat sie gefunden“, sagte sie. Und dann wurde ihre Stimme lauter, bis es zu einem Jubeln klang. „Alexander, man hat sie gefunden. Michael ist wieder da!“

Sie flog in seine Arme und ließ sich küssen wie eine Ertrinkende, bis sie sich wieder von ihm löste.

„Und nun schnell, lass uns den Jungen abholen!“



14

Die Polizei hatte Karsten Steingruber bereits erkennungsdienstlich behandelt und anschließend in das Untersuchungsgefängnis eingeliefert. Er hatte den dringenden Wunsch hinterlassen, mit Anita zu reden, doch sie lehnte jeden Kontakt vehement ab. Stattdessen schloss sie ihren Sohn Michael in die Arme und lachte und weinte gleichzeitig.

Eine Psychologin vom Jugendamt hatte sich eingefunden und bereits mit dem Jungen gesprochen, war jedoch der Meinung gewesen, dass das Kind bedenkenlos nach Hause mitgenommen werden könnte. Es lagen keine offensichtlichen psychischen Schäden vor, und körperlich hatte Karsten seinen Sohn auch gut behandelt. Michael war nur verstört und geschockt und ein wenig übermüdet. Er hatte seine gewohnte Umgebung und sein Bett vermisst, und natürlich war ihm auch die Anspannung der letzten Tage bei Karsten nicht entgangen, der immer nervöser geworden war, je länger diese Entführung dauerte. Dazu kam natürlich der Einfluss der Worte des Mannes auf den Jungen, der jetzt gar nicht mehr wusste, was er noch denken sollte, und der Schrecken über die Verhaftung seines Vaters. Das alles war nicht unberührt an dem Jungen vorbeigegangen. Doch die Psychologin hielt es für das beste, wenn Michael in der Obhut seiner Mutter war, dort würde er sich am schnellsten wieder fangen.

Schließlich hatte eine ganz normale Verkehrskontrolle dazu geführt, dass man Karsten aufgegriffen hatte, und Michael hatte verständnislos und ängstlich die Verhaftung seines Vaters mit ansehen müssen.

Er wollte jetzt nichts weiter als mit seiner Mutter nach Hause zurückkehren.

Mit Erstaunen hatte er bemerkt, dass Anita von Alexander begleitet wurde, der den Jungen allerdings nicht in die Arme nahm. Dazu kannten die beiden sich noch zu wenig, hatte Alexander gefunden, und so hatte er dem Kind nur mannhaft die Hand gereicht.

Michael begann zu überlegen. Sollte an den Worten seines Vaters etwas wahr gewesen sein? Seine Mutter und dieser Mann benahmen sich nicht so wie Fremde, sondern eher wie Vertraute. War er es doch, der störte? Als er dann auch noch sah, wie die beiden sich einen flüchtigen Kuss gaben, war das Kind überzeugt davon, dass sein Vater mit jedem Wort, das er ihm in den letzten langen drei Tagen gesagt hatte, die Wahrheit ausgesprochen hatte.

Trotzig wischte er sich die Tränen ab, die ihm trotz seiner überkindlichen Beherrschung gekommen waren, ließ sich von seiner Mutter fest in die Arme nehmen und wurde von Alexander nach Hause gefahren.



15

Die nächsten zwei Tage behielt Anita Michael zu Hause und schickte ihn noch nicht wieder zur Schule, er sollte erst einmal ein wenig zur Ruhe kommen. Stattdessen unternahmen sie mit Alexander zusammen Ausflüge in die Umgebung, und beide Erwachsenen versuchten den Jungen von seinem Leid und Schock abzulenken.

Er weigerte sich aber beharrlich, auch nur ein Wort darüber zu verlieren, was zwischen Karsten und ihm gewesen war. Widerwillig nur befolgte er die Anweisungen seiner Mutter und wurde zu Alexander regelrecht abweisend. Doch der brachte eine Engelsgeduld auf, wie er sie selbst niemals für möglich gehalten hätte. Michael war das Kind der geliebten Frau, und deshalb behandelte er den Jungen wie sein eigen Fleisch und Blut. Daher ließ er es sich auch nicht anmerken, wie sehr er sich Sorgen um den Jungen und damit auch um Anita machte. Sie litt noch immer sehr unter den Vorfällen, schlief unruhig und war ein wenig nervös geworden.

Aber im Grunde waren alle drei froh, dass am dritten Tag wieder das ganz normale Leben losging. Michael musste zur Schule, Alexander ging in sein Büro, und Anita fuhr erst einmal zur Redaktion ihrer Zeitung. Das Leben nahm scheinbar wieder einen normalen Verlauf.

Karsten war unter strengen Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen worden und hütete sich, auch nur in die Nähe von Anitas Wohnung zu kommen, verkroch sich stattdessen bei Miriam, die bei all ihrer Liebe auch noch eine unendliche Geduld aufbrachte und ihm verzieh und behutsam ins Gewissen redete, so dass er sich plötzlich schämte, wie noch nie in seinem Leben. Verzweifelt fragte er sich plötzlich, was er seinem Kind angetan hatte, und wie er nur selbst auf diese verrückte Idee hatte kommen können. Doch es war zu spät für Reue, nichts ließ sich ungeschehen machen, auch nicht die Worte, die er Michael gegenüber benutzt hatte und die sich tief in die verletzliche Seele des Kindes eingebrannt hatten.



16

„Michael, willst du wohl aufhören? Lass ihn sofort los. Na, macht schon, auseinander, ihr zwei!“

Frau Kersting, die resolute Klassenlehrerin Michaels zerrte die beiden Jungen auseinander. Zum vierten Mal in dieser Woche hatte Michael ohne Grund eine Schlägerei provoziert. Er war generell der Unterlegene und hatte absolut keine Chance zu gewinnen. Doch seit seiner Entführung durch den eigenen Vater hatte das Kind sich dramatisch verändert. Seine schulischen Leistungen, die sonst immer auf dem oberen Niveau gewesen waren, hatten rapide nachgelassen, im Unterricht war er unkonzentriert und unvorbereitet, wusste keine Antworten zu geben und beteiligte sich auch gar nicht mehr.

Und dann diese ungeheure Aggressivität. Frau Kersting verstand den Jungen, zumindest zeitweise, aber niemand kam mehr an ihn heran und vermochte ein vernünftiges Gespräch mit ihm zu führen.

Auch jetzt hatte er den anderen Jungen so lange provoziert, bis es zu einer Schlägerei gekommen war. Und nun stand er da, aus der Nase blutend, mit zerbissenen Lippen und einem trotzigen Ausdruck in den Augen.

Frau Kerstings Gesicht wurde weich. Es war einfach zu viel, was dieses Kind im Augenblick zu verkraften hatte, aber sie konnte es auch nicht zulassen, dass er seine Aggressionen und Ängste an den anderen Schülern ausließ.

Sie überzeugte sich davon, dass das andere Kind nicht verletzt war, dann zog sie Michael mit sich.

„Dir ist klar, dass ich jetzt deine Mutter anrufen muss?“, sagte sie gespielt streng.

„Mir doch egal“, war die trotzige Antwort.

Frau Kersting seufzte tief und telefonierte, und wenig später tauchte Anita auf. Mittlerweile hatte die Lehrerin das Gesicht von Michael gesäubert, aber die Schramme an der Stirn und die geschwollene Nase hatte sie natürlich nicht beseitigen können.

Anita erschrak, fasste sich aber schnell wieder. Sie hieß Michael sich in das Büro der Sekretärin zu setzen und ging mit Frau Kersting, die auch die Rektorin der Schule war, in deren Büro.

„So kann es nicht weitergehen, Frau Steingruber“, begann die Lehrerin behutsam. „Michael ist total verstört, unkonzentriert und folgt dem Unterricht längst nicht mehr. Er scheint im Augenblick die ganze Welt zu hassen. Aber ich kann es ihm auf keinen Fall durchgehen lassen, dass er andere Schüler in Schlägereien verwickelt. Das war jetzt das vierte Mal in dieser Woche.“

Anita sah eindeutig schuldbewusst aus, wusste aber dennoch nicht, was sie tun sollte.

„Dann wollen Sie ihm jetzt also auch noch Strafarbeiten aufgeben?“, fragte Anita bitter.

„Es tut mir leid, Frau Steingruber. Aber die Disziplin der Schule verlangt ...“

„Ja, ist schon gut, ich verstehe. Tun Sie also, was Sie nicht lassen können.“

„Frau Steingruber, bitte“, bat die Lehrerin. „Wollen Sie es nicht einmal mit einem guten Psychiater für Michael versuchen? Dieser Zustand schadet Michael, und er schadet auch Ihnen. Glauben Sie mir, ich will Ihnen nichts Böses, im Gegenteil, ich möchte Ihnen so gerne helfen, und auch dem Kind. Ich mag Michael.“

Anita musste mit zusammengebissenen Zähnen einsehen, dass die Frau irgendwo recht hatte. Dennoch weigerte sie sich beharrlich einen Psychiater hinzuzuziehen.

„Der Junge hat nichts, was ich mit viel Liebe nicht wieder in Ordnung bringen kann“, blieb sie steif und fest bei ihrer Meinung. „Ich werde mir ganz einfach noch mehr Zeit für ihn nehmen.“

Die Lehrerin schüttelte traurig den Kopf. Sie sah klar voraus, dass Anita auf diese Art scheitern würde. Und es tat ihr furchtbar leid um Michael, der darunter leiden musste.

Sie verabschiedete Anita, nicht ohne Michael noch einiges an Strafarbeiten aufzugeben, was er ungerührt hinnahm, dann griff sie zum Telefon und rief einen Freund an, den sie dringend um Hilfe bat.



17

Alexander Gottlieb schaute erstaunt auf, als der Besucher hereinkam. Er war unangemeldet gekommen, hatte aber darauf bestanden, ihn sofort zu sprechen, es ginge um eine dringende persönliche Angelegenheit. Nun, es gab nicht viel Privatleben, das Alexander hatte, und so war seine erste Vermutung gleich gewesen, dass es um Anita ging.

Der Besucher reichte Alexander seine Karte und stellte sich dann vor.

„Doktor Jakob Beerlander.“

Alexander schaute auf die Karte und runzelte die Stirn. „Psychiater? Ich wüsste beim besten Willen nicht, was ich mit einem Psychiater zu tun hätte.“

Ein gewinnendes Lächeln zeigte sich in den sympathischen Zügen des Mannes. „Die ganze Sache ist ein bisschen kompliziert. Aber wie Sie vielleicht schon vermuten, geht es um Michael Steingruber, den Sie sicherlich kennen.“

Alexander nickte bestätigend.

„Seine Lehrerin, Frau Kersting hat mich heute angerufen, wir sind befreundet. Und sie macht sich große Sorgen um den Jungen, wie auch um seine Mutter. Aber bisher ist sie mit ihrem Vorschlag, einen Psychiater hinzuzuziehen, auf taube Ohren gestoßen.“

„Und warum erzählen Sie mir das?“, fragte Gottlieb.

„Weil ich schlecht bei Frau Steingruber direkt an der Tür klingeln kann. Sie würde mich wahrscheinlich im hohen Bogen hinauswerfen“, grinste der Mann.

„Und da hätte sie nicht einmal so unrecht“, lächelte Alexander spöttisch. „Auch ich halte nicht viel von Psychiatern.“

„Nun gut, es gibt aber eine Menge Leute, die meine Daseinsberechtigung nicht anzweifeln.“

„Verzeihen Sie, so war das natürlich nicht gemeint“, verhaspelte sich Alexander plötzlich, als ihm aufging, welche Beleidigung er gerade ausgesprochen hatte.

„Schon gut, ich verstehe Sie“, kam die kühle, beherrschte Antwort. „Mein Berufsstand scheint für viele Leute eine Art Schreckgespenst zu sein. Aber lassen Sie uns beim Thema bleiben. Nach allem, was Frau Kersting mir erzählt hat, bin ich ebenfalls der Meinung, dass der Junge dringend professionelle Hilfe braucht. Und nicht nur er, vielleicht auch die Mutter. Ich wünsche mir, dass Sie mir helfen.“

„Ich?“, kam die entgeisterte Frage.

„Wenn nicht Sie, wer sonst? Oder liegt Ihnen nichts an den beiden?“

Alexander ließ seinen Stift fallen, stand auf und begann unruhig im Raum auf und ab zu gehen, aufmerksam beobachtet von dem Psychiater, der augenblicklich erkannte, dass er den Finger in eine offene Wunde gelegt hatte. Aber er ließ Alexander Zeit zum Überlegen, drängte sich nicht auf und behielt ganz einfach die Ruhe.

Schließlich hatte der Architekt eine Entscheidung gefällt.

„Ich fürchte, Sie haben ganz Recht, Dr. Beerlander. Aber ich sehe beim besten Willen keine Möglichkeit, wie ich Ihnen helfen sollte. Ich kann schließlich auch nicht zu Anita hingehen und sagen, du musst jetzt Hilfe annehmen. Sie würde zu Recht unwillig reagieren und wahrscheinlich käme es dann sogar zu einer Trotzreaktion.“

„Sie scheinen mir auch ein recht brauchbarer Psychologe zu sein“, sagte Beerlander. „Sie sehen die Reaktion sehr klar voraus. Aber ich habe mir über diesen Punkt schon Gedanken gemacht.“

Alexander fühlte sich überrumpelt. „Das geht mir alles ein wenig zu schnell“, meinte er abweisend.

Der Arzt sah ihn aufmerksam an. „Wollen Sie wirklich, dass Michael noch länger unter diesem Trauma leidet? Oder ist es Ihnen nicht lieber, wenn er zur Normalität zurückkehrt?“

„Was bezeichnen Sie als normal, Doktor? Michael ist wie ein wunderschöner Kristall, ein Juwel, das jetzt in tausend einzelnen Stücken am Boden zerstört daliegt. Wollen Sie das Ganze wieder zusammenpuzzeln? Oder pressen Sie es einfach in eine Form und fabrizieren ein funktionierendes Kind, das Sie dann als normal bezeichnen können? Was ist Normalität?“

„Das sind sehr harte Worte, die Sie da benutzen. Und ich kann Ihnen natürlich nichts versprechen, auch ich bin nur ein Mensch. Aber diesen Kristall in tausend Fragmenten, wie Sie es so treffend nannten, ist es das, was Sie wollen?“

„Nein, natürlich nicht!“, sagte Alexander hart und schlug mit der Faust auf den Tisch vor Hilflosigkeit. „Ich liebe seine Mutter Anita, und ich liebe auch diesen Jungen. Er ist mir ans Herz gewachsen, als wäre er mein eigener. Ich habe um ihn gezittert und gebangt. Und ich muss jetzt hilflos zusehen, wie er vor meinen Augen immer mehr verfällt.“

„Dann helfen Sie ihm“, sagte Beerlander eindringlich. „Helfen Sie mir und Michael. Und damit auch seiner Mutter und sich selbst.“

„Und wie soll ich das tun?“, fragte Alexander brüchig. „Ach ja, richtig, Sie hatten schon darüber nachgedacht.“ Leiser Spott klang in den bitteren Worten auf, was der Arzt anerkennend registrierte. Dies hier war ein starker Mann, der würde sich so leicht nicht unterkriegen lassen. Und deshalb würde er der beste Bundesgenosse sein, den der Arzt sich wünschen konnte. Er lächelte aufmunternd, ja fast schon verschwörerisch.

„Wollten Sie Ihrer Freundin Anita nicht immer schon einen alten Studienkollegen vorstellen? Jakob Beerlander?“



18

Alexander hatte Anita darauf vorbereitet, dass er Besuch mitbringen würde.

„Ein alter Studienfreund. Und wir haben uns jahrelang nicht gesehen“, hatte er erzählt, um damit gleichzeitig zu kaschieren, dass er nicht genug über Jakob wusste, um die Lüge von einer engen Freundschaft aufrechtzuerhalten.

Anita hatte nichts dagegen gehabt. „Bring deinen Freund ruhig mit, wenn er nett ist“, hatte sie gesagt.

„Wird Michael mir das nicht übel nehmen?“, war Alexanders nächste Frage gewesen, und Anita hatte geseufzt.

„Sicher. Aber er nimmt im Moment alles übel, sogar sich selbst. Doch auch er muss lernen, dass das Leben weitergeht. Mehr als meine Liebe kann ich ihm nicht geben.“

Und in diesem Augenblick war es Alexander klar gewesen, dass er richtig handelte.

Die beiden Männer hatten sich das Du angeboten, was es natürlich leichter machte, die Täuschung aufrechtzuerhalten. Jakob hatte darauf bestanden als Arzt vorgestellt zu werden, wenn auch nicht gleich als Psychiater. Es war in seinen Augen der leichtere Einstieg, und Alexander hatte ihm zustimmen müssen. Und so bestand auch eigentlich keine Gefahr, dass Anita misstrauisch werden könnte, dass Jakob mehr war, als es auf den ersten Blick schien.

Anita hatte ein köstliches Essen für vier gekocht, aber Michael kam nur missmutig aus seinem Zimmer heraus und murmelte nur eine kurze Begrüßung. Seiner Mutter war das sichtlich peinlich.

„Verzeihen Sie bitte, Herr Beerlander.“

Ein Lächeln flog über das sympathische Gesicht des Mannes. „Ich heiße Jakob. Und Alexanders Freunde sind auch meine Freunde. Wenn es Ihnen nicht zu vermessen erscheint, möchte ich Ihnen gleich das Du anbieten. Und nun lassen Sie den Jungen ruhig.“

Anita wurde klar, dass Jakob zumindest in der Presse mitverfolgt hatte, was mit Michael geschehen war, und sie war dankbar, dass er kein weiteres Wort darüber verlor.

Die Gespräche bei Tisch drehten sich hauptsächlich um alte studentische Erlebnisse, die Jakob aus dem Stegreif heraus fabulierte, so dass selbst Alexander manchmal der Mund offen blieb. Aber es entlockte Anita von Zeit zu Zeit ein herzliches Lachen.

Schließlich waren alle Schüsseln und Teller leer, und Jakob lobte die Köchin in höchsten Tönen, die sich gleich darauf daranmachte den Tisch abzuräumen.

Alexander sprang auf, um ihr zu helfen. In der Küche zog er sie erst einmal an sich, um sie ordentlich zu küssen, was er vor Michael im Moment einfach nicht wagte. Schließlich schnappte Anita nach Luft und schob den Mann ein wenig beiseite, um das Geschirr in die Maschine zu packen.

„Das ist aber ein reizender Freund, den du da hast“, stellte sie munter fest. „Es ist ja richtig schade, dass ihr euch so lange aus den Augen verloren hattet.“

Plötzlich verdüsterte sich das Gesicht Alexanders. Er zog die Frau wieder eng an sich. „Weißt du, Liebes, ich kann dich einfach nicht belügen.“

Sofort wurde das Gesicht der Frau konzentriert und fast verschlossen. „Stimmt etwas nicht?“

Aber Alexander druckste noch ein wenig herum. „Weißt du, Jakob ist durchaus kein alter Studienfreund von mir. Er ist ein Psychiater, den die Lehrerin von Michael angerufen und um Hilfe gebeten hat.“

Anita wollte eigentlich sofort empört auffahren, befand sich aber noch in den Armen von Alexander, der sie festhielt und jeden Widerspruch augenblicklich im Keim erstickte.

„Ich hätte mich niemals darauf eingelassen, wenn ich nicht auch sehen würde, dass der Junge einfach professionelle Hilfe braucht. Denk darüber nach, bevor du mich jetzt in die Hölle verdammst“, bat er. „Ist Michael in seinem augenblicklichen Zustand das Kind, das du haben willst?“, wiederholte er Jakobs Worte in abgewandelter Form.

„Nein, natürlich nicht. Aber er wird sich schon wieder fangen. Er braucht nur viel Liebe und ...“

Sanft legte Alexander ihr eine Hand auf den Mund.

„Du hast recht, er braucht ungeheuer viel Liebe. Aber er braucht auch professionelle Hilfe, sonst wird er sich selbst und auch uns beide zerstören. Ich weiß nicht, was dein Exmann ihm gesagt hat, aber es ist ungeheuer tiefgreifend. Ich will wirklich nur das Beste für Michael, glaub mir.“

Anita wurde weich unter seinen Worten. Vielleicht hatte er doch recht. Und Jakob machte ja einen wirklich netten Eindruck, er schien alle Vorurteile gegen Psychiater widerlegen zu wollen.

„Lass es ihn wenigstens versuchen. Gib ihm eine Chance“, bat Alexander.

Anita dachte eine Weile darüber nach, während sie sich immer noch in die Arme des Mannes schmiegte. Schließlich aber hob sie ihm den Kopf entgegen und nickte langsam. „Es kann ja vielleicht nicht schaden“, stimmte sie dann tapfer zu.



19

Als die beiden dann ins andere Zimmer zurückkehrten, erwartete sie ein Bild der Überraschung. Jakob und Michael hatten sich auf den Boden gesetzt, ein Spiel aus dem Schrank genommen, und waren eifrig damit beschäftigt sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Sie bauten Holzklötze aufeinander, die aus einem sorgfältig aufgeschichteten Stapel immer wieder unten herausgezogen werden mussten.

Zum ersten Mal seit Tagen sah Michael etwas entspannter aus, wogegen das Gesicht des Arztes hochkonzentriert war.

Die beiden sprachen nur wenig, aber es schien ein wortloses Einverständnis zwischen ihnen zu bestehen, und Anita war mehr als erstaunt. Alexander dagegen schien zufrieden, auch er hatte die Anziehungskraft des Arztes gespürt und war froh, dass Michael ihr ebenso erlegen war.

Das Paar setzte sich auf das Sofa und schaute dem Jungen zu, ohne ihn zu stören.

Nach gut einer Stunde beendeten die beiden das Spiel und packten gemeinsam ein. Michael stand dann auf, um sich zu verabschieden und zu Bett zu gehen. Bei Jakob aber blieb er stehen, schaute ihn gespannt und aufmerksam an und fragte dann: „Kommst du wieder?“

Anita glaubte nicht recht zu hören.

Jakob aber ging in die Hocke, reichte Michael die Hand wie zum Versprechen und gab dann die Antwort. „Wenn deine Mutter nichts dagegen hat, komme ich gern wieder.“

Ein flüchtiger Seitenblick überzeugte Michael, dass seine Mutter wirklich nichts dagegen hatte, dann nickte er eifrig. „Schon morgen?“

„Gegen Abend“, versprach Jakob. „Denn ich habe ja auch noch eine Arbeit und muss am Tag etwas tun.“

„Ja, die hat Mama auch“, kam die Antwort, aber trotzdem schien es, als hätte der Junge ein glückliches Strahlen im Gesicht. Der mürrische Missmut, der sich in den letzten Tagen bei ihm breitgemacht hatte, war fast ganz aus seinem Gesicht gewichen, und Michael verschwand widerspruchslos in seinem Zimmer.

Anita versuchte ihre Verlegenheit zu kaschieren und bot Wein und Bier an, dann stellte sie Knabbergebäck auf den Tisch und suchte verzweifelt nach einer weiteren Möglichkeit, den beiden Männern und besonders Jakob fernzubleiben. Sie kam sich plötzlich als schlechte Mutter vor, die nicht erkannt hatte, was ihr Sohn wirklich brauchte, und die jetzt quasi mit der Nase hatte darauf gestoßen werden müssen.

Schließlich aber streckte Alexander die Hand aus.

„Komm her“, sagte er sanft. „Ich glaube nicht, dass er dich beißt. – Jakob, ich habe ihr die Wahrheit gesagt“, wandte er sich dann an den Arzt.

„Ja, das habe ich mir schon gedacht. Unter diesen Umständen ist es auch besser so.“

Eine greifbare Spannung lag plötzlich im Raum, während Jakob Anita weiter beobachtete.

„Und Sie haben – du hast ...“ Er war sich nicht ganz sicher, ob er jetzt noch beim Du bleiben konnte, ihr Verhältnis hatte sich durch das Geständnis Alexanders etwas verändert. Doch dann lächelte er zufrieden.

„Bleib ruhig beim Du“, sagte Anita. „Ich habe wirklich nichts dagegen, wenn du morgen wiederkommst. Ich habe Michael seit Tagen nicht mehr so aufgeweckt gesehen. Und ich bin dir sehr dankbar dafür.“

Jakob nippte nachdenklich an seinem Weinglas. „Ich glaube von deiner Seite aus hast du wirklich alles getan, was du konntest. Du gibst ihm alle Liebe, deren du fähig bist. Aber bei Michael ist etwas, das ihn völlig verstört. Alexander hat mir die Geschichte mit dem Brief an den lieben Gott erzählt. Und Michael war zu Anfang ganz angetan von ihm. Was ist da jetzt, dass der Junge ihn fast völlig ablehnt?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Alexander ratlos. „Ich habe ihm wirklich nichts getan. Das wäre vermutlich auch das Letzte, was mir in den Sinn käme.“

„Anita, ich wäre dir dankbar, wenn du mir einige Fragen beantworten würdest“, wandte Beerlander sich jetzt wieder an die Frau. „Aber du musst natürlich nicht.“

„Du lieber Himmel, ich habe doch nichts zu verbergen.“

„Wie hat Michael sich nach der Scheidung verhalten?“

Sie überlegte. „Er hat das eigentlich ganz ruhig hingenommen. Wir haben es ihm beide erklärt, dass wir einfach nicht mehr zusammen leben können, dass das aber nichts mit ihm zu tun hat und dass wir ihn beide weiter lieben. Allerdings gab es einige hässliche Zwischenfälle zwischen Karsten und mir, und natürlich ist das nicht spurlos an dem Kind vorbeigegangen.“

Jakob nickte. „Und seit wann verhält er sich so abweisend und verschlossen? Seit der Entführung?“

Anita nickte. „Ja. Er entwickelt seitdem regelrechte Aggressionen gegen sich und andere. Seine Leistungen in der Schule sind auf null herabgesunken.“

Jetzt lächelte Jakob. „Das weiß ich schon.“

Anita zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Und nun hast du mir auch noch sehr deutlich vor Augen geführt, wie dumm ich mich verhalte. Eigentlich muss ich zugeben, ich bin ganz froh, dass du da bist, auch wenn ich vermutlich nicht den Mut gehabt hätte dich selbst aufzusuchen. Glaubst du denn, dass du Michael helfen kannst?“

„Du darfst keine Wunder von mir erwarten, Anita. Auch ich bin nur ein Mensch. Aber wir werden sehen“, murmelte er dann. „Wir werden sehen.“



20

Michael hatte sich an diesem Morgen in der Schule ausgesprochen mustergültig betragen, so dass Frau Kersting direkt überrascht war. Ihr kam nicht die Vermutung, dass das schon auf den Einfluss von Jakob zurückzuführen war, aber sie freute sich, dass es an diesem Tag keine Schwierigkeiten zu geben schien. Nach der Schule lief Michael rasch nach Hause, und zum Erstaunen von Anita machte er ohne zu murren seine Hausaufgaben. Danach saß er allerdings ein wenig ratlos herum, während sie versuchte, einen neuen Artikel zu schreiben.

Schließlich aber ließ sie die Hände sinken. „Magst du mit mir spielen?“, fragte sie ihren Sohn.

Michael schüttelte stumm den Kopf. „Wann kommt Jakob?“

Diese Frage hatte die Frau gefürchtet. Sie schaute auf die Uhr. „Das wird sicher noch zwei bis drei Stunden dauern, wenn nicht mehr. Du weißt doch, mein Schatz, erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen. Und Jakob ist Arzt, das ist ein Beruf mit viel Verantwortung.“

„Was für ein Arzt ist er?“

„Ein Neurologe“, antwortete Anita ohne zu zögern. Über dieses Thema hatten sie gestern Abend noch gesprochen.

„Was ist ein Neurologe?“

„Jemand, der sich um die Nerven im Körper kümmert. Schau mal, wenn ich dich berühre oder in den Arm nehme, dann fühlst du das. Und dieses Fühlen wird durch Nerven weitergegeben. Diese Nerven untersucht und behandelt ein Neurologe.“

„Wie kann man etwas untersuchen, was man nicht sieht?“

Anita musste lachen, setzte sich dann aber neben ihren Sohn auf das Sofa. „Weißt du, das ist ganz schrecklich kompliziert. Nerven sind wie kleine Stromkabel, sie senden elektrische Impulse aus, und wenn ich dich zwicke und kitzle, so wie jetzt ...“, sie kitzelte Michael, bis er glucksend lachte – „dann kommt dieser Strom schließlich in deinem Gehirn an und sagt dir, dass du lachen sollst. Und diesen Strom kann man messen mit elektrischen Geräten.“

Michael beruhigte sich von seinem Lachanfall, legte den Kopf schief und schien zu überlegen. „Dann ist Jakob doch wohl eher ein Elektrodoktor, oder?“

Anita lachte auf. „Am besten fragst du ihn das selbst, er kann dir das bestimmt genauer erzählen.“

„Ach ja“, seufzte das Kind abgrundtief. „Wenn er nur schon da wäre.“

„Du magst ihn sehr, hm?“, fragte Anita.

„Er ist nett“, stellte der Junge mit Bestimmtheit fest. „Und er nimmt mich ernst. Hast du gemerkt, er hat mich wie einen Erwachsenen behandelt.“

Anita war betroffen. Hatte sie es denn versäumt, ihren Sohn wie ein eigenständiges Wesen zu behandeln? Eigentlich war sie sich keiner Schuld bewusst, aber an den Worten des Kindes musste doch etwas Wahres sein. Doch hier sah sie auch eine Möglichkeit zum Einhaken.

„Das tut Alexander aber doch auch.“

Michael warf ihr einen eigenartigen Blick zu. „Alexander ist dein Freund“, stellte er dann fest.

Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Nein. Zuerst war er deiner, schließlich hast du ihm geschrieben.“

„Aber ihr zwei sitzt dauernd zusammen und wollt schmusen“, meinte Michael abfällig.

So hatte Anita das noch gar nicht gesehen. Konnte es denn sein, dass Michael sich zurückgesetzt fühlte? Dann war diese verfahrene Situation mit Sicherheit ganz allein ihre Schuld.

„Ich glaube, ich möchte gerne auch mit dir schmusen. Und Alexander würde das vielleicht auch gerne tun.“

Michael machte ein entsetztes Gesicht. „Nee, ich bin doch schon groß. Ich muss nicht mehr schmusen. Das tun nur Kinder und Verliebte.“

Unwillkürlich lachte Anita auf. „Dann findest du also, dass Alexander und ich Verliebte sind?“

„Ja, schon“, kam in diesem Fall die eintönige Antwort.

„Aber es gefällt dir nicht“, stellte sie dann fest. „Du möchtest lieber, dass Alexander geht?“ Ihr Herz krampfte sich bei ihren Worten schmerzhaft zusammen. Sollte sie wirklich ihre große, eben gefundene Liebe um des Jungen willen aufgeben müssen?

„Ich weiß nicht so recht“, sagte Michael. „Ich will mal darüber nachdenken.“

Das klang so ernsthaft und erwachsen, dass Anita befürchtete, ihr Kind verloren zu haben. Bevor das Gespräch jedoch noch weitergehen und unerwartete Tiefen erreichen konnte, wurde sie vom Klingeln an der Haustür gerettet, Jakob war da.

Er schien ein untrügliches Gespür dafür zu haben, wenn irgendwo heiße Eisen angepackt wurden. Oder zog er vielleicht ganz einfach Rückschlüsse aus dem, was er sah? Anita musste demnach regelrecht verstört aussehen, und Michael ein wenig mürrisch und ratlos.

Trotzdem glitt ein glückliches Leuchten über das Gesicht des Kindes, weil Jakob sein Versprechen gehalten hatte.

„Spielst du Schach?“, fragte der Arzt. Als Michael nickte, wies er ihn an: „Geh und bau ein Spiel für uns auf. Ich möchte mich noch eine Minute mit deiner Mutter unterhalten.“

Er zog Anita in die Küche und forschte in ihrem Gesicht.

„Was war los?“

„Du meine Güte, ist das so offensichtlich?“, fragte sie verwirrt.

„Nun, ich will nicht unbedingt sagen, dass ein Blinder das sehen muss“, bemerkte er spöttisch. „Aber jeder Mensch mit zwei gesunden Augen kann sehen, dass du ein Gespräch mit deinem Sohn hattest, mit dessen Verlauf du nicht ganz einverstanden warst.“

Anita lachte fast ein wenig hysterisch auf. „Das hast du sehr vornehm ausgedrückt.“

„Hat Michael etwas darüber gesagt, was zwischen ihm und seinem Vater vorgefallen ist?“, forschte der Arzt nach.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das ist es nicht. Aber er hat mir indirekt vorgeworfen, dass ich ihn vernachlässige, indem ich mit Alexander zusammen bin.“

„Eine typische Reaktion“, stellte Jakob fest. „Und davon hast du dich jetzt einschüchtern lassen. Anita, du und Alexander, ihr seid ein prächtiges Paar, und Michael ist ein fantastischer Junge. Aber du darfst es nicht zulassen, dass er einen Keil zwischen euch treibt. Er wird mit sich selbst nicht fertig, was nur natürlich ist, und gibt dir und Alexander jetzt die Schuld daran. Aber willst du wirklich auf ein glückliches Leben, dein Leben verzichten, und dir für den Rest deiner Tage Vorwürfe von deinem Sohn machen lassen? Nein, ich denke, da wird sich noch etwas tun. Aber wie schon einmal gesagt, erwarte keine Wunder. Und schon gar nicht von heute auf morgen. Aber lass dir bitte kein schlechtes Gewissen einreden. Wie wäre es überhaupt, wenn du mich jetzt mit dem Jungen allein lässt und zu Alexander hinüberfährst? Ich bin sicher, ihr könnt mit eurer Zeit etwas Besseres anfangen, als gegenseitig Trübsal zu blasen.“

Sie strich sich verwirrt durch die Haare. „Das meinst du doch nicht ernst!“, wollte sie ungläubig wissen.

„Wie jeder normale Mensch“, begann Jakob mit Engelsgeduld, „scherze auch ich gerne mal. Aber niemals, wenn es um so ernste Dinge geht. Also los, fahr schon. Oder hast du Angst, mich mit Michael allein zu lassen?“

„Aber nein“, beeilte sie sich zu versichern. „Es ist nur ...“

„Du hast wahrhaftig schon ein schlechtes Gewissen. Also wirklich, Anita, du bist ganz bestimmt keine Rabenmutter, wenn du jetzt gehst. Ich verspreche dir, Michael ist bei mir in guten Händen.“



21

Jakob war ein recht guter Schachspieler, aber schon nach wenigen Zügen musste er erkennen, dass Michael eine besondere Strategie besaß, und sich sehr schnell in Vorteil zu setzen verstand.

„Du spielst auch nicht erst seit gestern“, stellte er anerkennend fest.

Michael schüttelte den Kopf. „Nein, hat mein Vater mir vor langer Zeit beigebracht.“ Da war das heikle Thema.

Jakob machte jetzt nicht den Fehler, den Jungen kreuz und quer auszufragen. Er musste von allein erzählen – erzählen wollen.

„Hast du oft mit deinem Vater gespielt?“, kam also die scheinbar harmlose Frage des Arztes.

Stummes Nicken.

„Hat er dich auch manchmal gewinnen lassen?“

„Aber nein“, sagte Michael gedehnt. „Das Spiel muss man allein gewinnen. Gewinnen lassen ist ja unfair, und dabei lernt man auch nichts.“

Eine Weile schwiegen die beiden, jeder auf seine Züge konzentriert, bis Jakob plötzlich Schach bot.

Michael blickte erstaunt auf, Verblüffung in dem fein gezeichneten Gesicht. Dann setzte er hastig seine Dame vor den gefährdeten König.

„Ein kluger Zug“, lobte Jakob. „Hast du mit Alexander auch schon mal gespielt?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

Michael zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht.“

„Magst du Alexander nicht mehr? Er hat mir von deinem Brief erzählt.“

„War ‘ne blöde Idee“, kam der trockene Kommentar des Jungen.

„Finde ich eigentlich nicht. Man braucht eine Menge Mut, um einen solchen Brief zu schreiben. Und derjenige, der ihn empfängt, braucht ebenso viel Mut, um zurückzuschreiben. Denn schließlich kannte Alexander dich ja gar nicht.“

„Kann schon sein. Aber jetzt hat er Mama lieber als mich.“

„Woher willst du das wissen? Hast du ihn mal danach gefragt?“

Jetzt schaute Michael auf. „Nein! Aber das sehe ich doch. Dauernd sitzen die beiden da und wollen schmusen, igitt.“

Jakob lachte herzhaft auf. „Wenn Alexander deine Mutter lieb hat, dann muss das doch nicht heißen, dass er dich nicht mag. Hast du mal darüber nachgedacht?“

„Nein. Und mein Vater hat gesagt ...“ Abrupt brach Michael ab, während Jakob konzentriert aufsah.

„Was hat dein Vater gesagt?“, fragte er sanft.

„Ach, nichts“, kam die ausweichende Antwort. Jakob zog sich zurück. Es wäre ein Fehler gewesen, jetzt nachzuforschen, Michael wäre wahrscheinlich in seine Trotzphase zurückgefallen.

Stattdessen bot der Arzt dem Jungen auf dem Schachbrett das Matt und wurde gleich darauf zur Revanche gefordert.

Als Anita später nach Hause kam, lag Michael schon längst im Bett und schlief.

Jakob hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und eines ihrer Bücher aus dem Schrank genommen, in dem er nun interessiert blätterte.

„Ich bin spät dran, entschuldige bitte“, begann sie, doch der Arzt winkte ab. „Ich hatte noch nie einen so billigen und absolut überqualifizierten Babysitter“, lachte sie dann.

Man sah ihr an, dass ihr der Abend gutgetan hatte. Für kurze Zeit hatte sie alle Sorgen vergessen können. Jakob stand auf, legte das Buch aus der Hand und lachte.

„Stets zu Diensten. Kann ich noch etwas für dich tun?“

„Hast du“, begann Anita zögernd, „ich meine ...“

Er schüttelte den Kopf. „Lass ihm Zeit“, bat er weich. „Lass uns beiden Zeit.“



22

Im Osten kroch die Sonne gerade langsam über den Horizont, überflutete das Land mit flammender Röte und versprach einen schönen, warmen Tag.

Jakob hatte Angeln und Picknick für alle vier vorgeschlagen, und Anita und Alexander waren begeistert darauf eingegangen, Michael sowieso. Er liebte Jakob fast abgöttisch und hätte es am liebsten gesehen, wenn der den ganzen Tag um ihn herum gewesen wäre.

Das ging natürlich nicht, meistens hatte er nur am Wochenende einen Tag Zeit, und Michael sehnte die Stunden herbei, in denen er mit seinem großen Freund zusammen sein konnte.

Auch das Verhalten des Jungen hatte sich mittlerweile geändert. Er betrachtete Alexander nicht mehr nur als unerwünschten Eindringling, war aber noch nicht mit ihm ins Reine gekommen. Seine Wutausbrüche hatten sich verringert, und die Leistungen in der Schule waren wieder etwas besser geworden. Frau Kersting, die sich von Zeit zu Zeit von Jakob das berichten ließ, was nicht der Schweigepflicht unterlag, atmete schon fast erleichtert auf. Es schien sich doch noch alles zum Guten zu wenden.

Anita und Alexander hatten lernen müssen, dass Geduld die oberste Tugend war, und Jakob stand noch immer vor einer Mauer, wenn er versuchte, zu dem Jungen durchzudringen. Im Grunde war er noch keinen Schritt weitergekommen bei der Lösung des Problems, das Michael so sehr bedrückte. Aber zumindest hatte er ein normales Verhalten erreicht, was in Anitas Augen ein riesiger Fortschritt war.

Karsten hatte auf Drängen seines Anwalts und Miriams einen langen Entschuldigungsbrief geschrieben. Das löschte seine Tat natürlich nicht aus, doch er zeigte Reue, was sich bestimmt auch strafmindernd auswirken würde, wenn es zum Prozess kam. Aber das änderte natürlich nichts daran, was er Michael zugefügt hatte. Und nun hatte er darum gebeten, mit dem Jungen sprechen zu dürfen. Aber Anita hatte empört alles abgelehnt. Doch Jakob hielt Kontakt zur Familienrichterin und wollte mit Anita auf diesem Ausflug noch einmal darüber reden. Dennoch blieb das Besuchsrecht für Karsten vorerst aufgehoben.

Der schien sich aber jetzt, dank Miriams Hilfe, gefangen zu haben. Ihre Liebe half ihm im täglichen Leben wieder Fuß zu fassen und seine Eifersucht zu überwinden. Anita wünschte ihm nichts Böses, hoffte nur, dass er sie in Zukunft einfach in Ruhe ließ.

Aber Jakob war hartnäckig, er meinte, dass ein Kind schon den Kontakt zu beiden Elternteilen brauchte. Und er war fest entschlossen, heute das Gespräch auszudiskutieren.

In aller Herrgottsfrühe waren die vier hinausgefahren zu diesem See, der in einem kleinen Wäldchen lag. Das ganze Gelände befand sich in Privatbesitz eines Freundes von Jakob.

Michael hatte vor Vorfreude und Ungeduld die Nacht kaum geschlafen und war ganz zappelig gewesen. Und jetzt hatte Alexander eine besondere Überraschung für den Jungen parat.

Während Anita Decken ausbreitete und die Picknickkörbe aus dem Wagen holte, wobei Jakob ihr hilfreich zur Hand ging, rief Alexander zu Michael hinüber: „Hilfst du mir bitte mal?“

Aus dem Kofferraum seines Wagens holte er zwei stabile Taschen hervor und drückte eine davon Michael in die Hand.

„Komm, mach auf!“ Michael verschlug es fast den Atem. In beiden Taschen befand sich jeweils eine komplette Angelausrüstung, und die eine davon war genau auf Michaels Größe zugeschnitten.

„Ich habe einen Angelschein und natürlich eine Genehmigung“, lächelte Alexander, der sich über die Verblüffung des Jungen freute.

„Soll das heißen, ich darf jetzt mit dir angeln?“, fragte er fast atemlos.

„Hier und auf der Stelle“, bestätigte der Mann lächelnd. „Wenn du magst, zeige ich dir, wie man die Angel zusammensteckt und sie dann richtig auswirft.“

Michael dachte einen Moment darüber nach, Jakob zu fragen, ob der ihm das zeigen könnte, aber Alexander hatte ihm dieses Geschenk gemacht. Und er besaß genügend Taktgefühl, dass er jetzt eifrig nickte, während seine Augen vor Freude leuchteten. Und gleich darauf waren die beiden darin vertieft, die Geheimnisse einer Angelrute zu entschlüsseln.

Jakob hingegen nutzte die Gelegenheit, mit Anita unter vier Augen zu sprechen, auf seine Weise. Er war durch Alexander natürlich genau darüber informiert, wie die junge Frau über ein Treffen mit Karsten dachte. Und er verstand auch ihre ablehnende Haltung ihrem Exmann gegenüber. Andererseits fand er es aber sehr wichtig, dass alle Unklarheiten ausgeräumt wurden, und dass es zu einer offenen Aussprache kam. Sollte das nicht passieren, würde Michael weiter darunter leiden. Das konnte Anita für ihren Sohn einfach nicht wollen.

„Hast du darüber nachgedacht, wie es jetzt weitergehen soll?“, fragte Jakob also behutsam. Der Arzt hatte sich auf eine Decke gesetzt, den Rücken an einen Baumstamm gelehnt und naschte mit Genuss ein paar Erdbeeren. Er wirkte vollkommen entspannt, so als unterhielte er sich über das Wetter. „Du kannst diesen Status des kalten Krieges zwischen dir und deinem Exmann nicht weiter aufrecht erhalten. Ihr müsst zu einer Klärung kommen.“

„Was gibt es da zu klären?“, fragte Anita spröde. „Ich will nicht, dass er den Jungen jemals wiedersieht. Selbst du hast bis heute nicht herausfinden können, was zwischen den beiden war. Und ich fürchte, sobald die beiden sich wiedersehen, wird in Michael alles wieder aufbrechen.“

„Vielleicht auch nicht“, gab Jakob zu bedenken. „Es könnte auch sein, dass wir dann endlich den entscheidenden Schritt vorankommen.“

„Niemals!“, fuhr Anita auf.

„Sag niemals nie“, zitierte der Arzt lächelnd. „Niemals ist eine sehr lange Zeit.“

„Bist du nur mitgekommen, um mir das Leben schwer zu machen?“, fragte sie bitter.

Er schüttelte den Kopf, ließ sie dabei aber nicht aus den Augen. „Ich bin mitgekommen, um dir das Leben leichter zu machen, was leider manchmal ein und dasselbe ist.“

„Aber Michael ist doch ...“ Sie brach ab, als er wiederum den Kopf schüttelte.

„Er ist nicht auf dem Wege zur Normalität, falls du das denken solltest. Er hat die Vorfälle verdrängt, aber er hat sie nicht verarbeitet. Und beim geringsten Anlass kann alles wieder aufbrechen.“

Vom Seeufer her klang fröhliches Lachen auf. Alexander und Michael schienen sich wieder gut zu verstehen, und der Junge folgte begeistert den Anweisungen des Mannes, der ihm beibringen wollte, die Rute richtig auszuwerfen. Dabei hatte sich der Angelhaken irgendwo im Gewirr der Blätter verfangen, und so hing Michael jetzt selbst an der Angel, was ihm großen Spaß zu bereiten schien.

„Das hier“, Jakob machte eine umfassende Handbewegung, die Michael und Alexander einschloss, „ist nicht mehr als eine Maske. Eine gute Maske, wie ich zugeben muss. Aber es ist keine Normalität. Michael ist eine starke kleine Persönlichkeit. Andere Kinder wären unter diesem Druck längst zusammengebrochen. Aber auch bei ihm kann alles nur bis zu einem bestimmten Punkt gehen. Anita, gib ihm die Chance, wieder ein normales Kind zu sein.“

„Indem ich ihn an Karsten ausliefere?“, fragte sie bitter.

„Auslieferung? Ich bitte dich, dramatisiere das nicht. Zunächst einmal möchte ich, dass du mit Karsten sprichst. Und ich würde es für gut halten, wenn Alexander dabei ist, und vielleicht auch Karstens neue Freundin.“

„Oh, Familientreffen“, höhnte sie.

„Wenn du es so nennen willst, bitte sehr.“ Jakob blieb absolut ruhig, aber kein Lächeln zeigte sich jetzt auf seinen Lippen, und seine Augen schienen sich in Anita hineinbohren zu wollen. Er schien sie allein durch seinen Willen dahin bringen zu wollen, dass sie sich nicht länger gegen ein Treffen mit Karsten sträubte.

Aber auch Anita war eine ungeheuer starke Frau, die sich nicht einfach beeinflussen ließ. Doch all die Argumente des Arztes wogen schwer, und Anita musste zugeben, dass er in vielen Punkten recht hatte.

Jakob sah noch eine Menge Kämpfe voraus. Er sah aber auch den Grund, warum Anita sich gegen alles sträubte, was mit Karsten zu tun hatte: Sie hatte ganz einfach Angst. Angst, dass jemand Michael noch einmal wehtun könnte, und Angst, dass sie selbst nicht mehr durchhalten könnte. Aber Anita hatte noch längst nicht das Ende ihrer Kräfte erreicht, sie würde auch weiterhin stark sein. Doch sie würde auch die Entscheidung treffen müssen, je eher, desto besser.

Die junge Frau saß jetzt ganz still auf ihrem Platz, genoss fast unbewusst den wärmenden Sonnenschein und dachte nach. Sie war bemüht sich keine Blöße zu geben, damit Jakob, der so ungeheuer einfühlsam sein konnte, ihren Gedankengängen möglichst nicht folgte. Sie wollte unbeeinflusst entscheiden. Dabei hatte der Arzt sie längst durchschaut.

„Du würdest es also als Fehler ansehen, wenn ich Michael weiter von Karsten fernhalte?“, fragte sie nach.

Er nickte. „Ich würde es vor allen Dingen als Fehler ansehen, wenn du dich weiter sträubst, ein klärendes Gespräch zu führen. Aber niemand kann dich zu etwas zwingen, Anita, und ich wäre sicher der letzte, der das täte. Doch ich appelliere an deine Vernunft.“

Anita schaute ihn unverwandt an, und Jakob erkannte, dass sie mit den Tränen kämpfte.

„Ich habe solche Angst“, flüsterte sie plötzlich. „Hilf mir doch, bitte!“

Er griff nach ihrer Hand und hielt die eiskalten Finger tröstend fest. „Wenn du Wert darauf legst, werde ich auch dabei sein“, versprach er. „Aber ich weiß, du schaffst das schon.“

In diesem Augenblick kam Michael aufgeregt herbeigelaufen und hielt an einem Haken einen gefangenen Fisch, einen recht großen sogar.

„Mama, du musst ein Lagerfeuer machen und dann diesen Fisch braten.“

Anita riss sich zusammen. Sie wollte nicht, dass Michael etwas von ihrer augenblicklichen Verfassung bemerkte. So setzte sie ein Lächeln auf und schaute noch einmal zu Jakob hinüber. Dann senkte sie zustimmend den Kopf. „Ich bin einverstanden“, signalisierte das.

Dem Arzt fiel in diesem Augenblick ein dicker Stein vom Herzen, denn er hatte wirklich befürchtet, dass Anita sich noch weiter sträuben würde.

Die aber strahlte jetzt ihren Sohn an. „Für Lagerfeuer bin ich nicht die Richtige. Das kann Alexander sicher viel besser.“

„Er hat mir gezeigt, wie man angelt“, sprudelte der Junge hervor. „Und ich habe gleich etwas gefangen, und er nicht.“

Anita bewunderte gebührend den Fisch, während auch Alexander langsam näher kam. Wieder einmal spürte die junge Frau, wie sehr sie diesen Mann liebte, und sie war dem Schicksal dankbar, dass er Michael so tief in sein Herz geschlossen hatte. Gemeinsam würden sie es schaffen, aus Michael wieder ein normales Kind zu machen.

„Da hast du etwas Schönes angerichtet!“, rief sie ihm zu. „Nicht nur, dass mein Sohn jetzt Fische fängt, er möchte sie auch noch gebraten haben. Würdest du also bitte ein Lagerfeuer anzünden?“

Alexander kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich glaube, das habe ich noch nie getan“, musste er zugeben. „Michael, du hast doch bestimmt Bücher gelesen, in denen steht, wie das geht. Kannst du es uns nicht zeigen?“

Der Junge glühte förmlich vor Stolz und kramte dann eifrig in seinen Erinnerungen. So stärkte Alexander sein Selbstbewusstsein unmerklich, was Jakob anerkennend vermerkte.

Das Feuer, das wenig später aus Gemeinschaftsarbeit entstand, qualmte furchtbar, aber es brannte. Und der Fisch, zwischen Blättern und verkohltem Holz gegart, war der beste, den die Menschen je gegessen hatten.



23

Alexander war es gewesen, der einen neutralen Ort für das Treffen vorgeschlagen hatte. Und so hatte er einen kleinen Konferenzraum in einem Hotel angemietet, wo sich Karsten und Miriam mit Anita und ihm treffen wollten.

Nachdem Anita all ihre Bedenken überwunden hatte, war sie der Meinung gewesen, dass Jakob bei Michael bleiben sollte.

Karsten wirkte befangen und verlegen, als er hereinkam und Anita mit Alexander in trauter Eintracht sitzen sah. Er tastete nach Miriams Hand. Die Frau ging dicht neben ihm. Auch sie wirkte verlegen, aber sie hielt den Kopf aufrecht.

„Ich bin Miriam Wolters“, sagte sie dann und reichte Anita die Hand. „Wir sind – ich meine, Karsten ist sehr froh darüber, dass Sie ihm hier die Gelegenheit geben, miteinander zu reden.“

Anita konnte nicht anders, sie musste den Mut dieser Frau bewundern. Ob sie selbst in einer solchen Situation so viel Tapferkeit und Stolz aufgebracht hätte, wagte sie denn doch zu bezweifeln.

Jetzt räusperte sich Karsten. „Ich habe es dir schon geschrieben, Anita, und ich sage es dir auch noch einmal, hier vor Zeugen: Das alles tut mir ganz furchtbar leid. Ich kann dir auch einfach nicht erklären, was in mich gefahren ist, aber glaube mir, ich wollte Michael ganz sicher nicht schaden.“

„Ja, ich glaube, das habe ich mittlerweile verstanden“, antwortete sie kühl. „Aber das erklärt natürlich nichts. Nun, lass uns wie zivilisierte Menschen darüber reden. Bis vor wenigen Tagen war ich noch der Meinung gewesen, du dürftest den Jungen nie wieder sehen.“

Qual und Leid zeichneten sich auf Karstens Gesicht ab, doch dann blitzte ein Fünkchen Hoffnung auf. „Bis vor wenigen Tagen?“, wiederholte er. „Ich kann verstehen, dass du schlecht von mir denkst, Anita, aber ich liebe Michael auch.“

„Muss schon eine merkwürdige Art von Liebe sein“, warf sie ein. „Aber es gibt da jemanden, der mich überzeugt hat, dass es für Michael noch schwieriger wird, wenn er dich nie wieder sieht. Immerhin bist du sein Vater, auch wenn man das kaum glauben möchte, nach dem, was du getan hast.“

Die Spannung zwischen diesen vier Menschen im Raum war fast greifbar. Und doch gab es in Karsten eine winzig kleine Hoffnung, dass Anita ihm verzeihen könnte.

Alexander betrachtete den anderen Mann genauer. Das war also der Narr, der eine so wundervolle Frau wie Anita hatte gehen lassen. Eigentlich machte er auf den ersten Blick einen recht guten Eindruck, und Alexander dachte darüber nach, was den Mann bewogen haben mochte, so durchzudrehen. Aber schließlich glaubte er zu verstehen. Anita und Michael waren ihm das Liebste auf der Welt gewesen. Und durch seine Sorglosigkeit und seine Untreue hatte er selbst sein großes Glück verspielt. Die Entführung war ein letzter verzweifelter Versuch gewesen, doch noch alles zum Besseren zu wenden. Es war ein unheimlich großer Glücksfall, dass Miriam jetzt an Karstens Seite stand, denn diese hübsche und sicher auch kluge Frau machte den Eindruck, als könnte sie mit Karstens Eigenheiten recht gut umgehen.

Es fiel allen vier Personen zunächst sehr schwer, ein Gesprächsthema und auch den passenden Ton zu finden, ohne dass Beschuldigungen und Vorwürfe laut wurden. Natürlich hatte Karsten einen großen Fehler gemacht, und Anita war zu Recht aufgebracht, aber alle Anschuldigungen und Vorwürfe mussten einmal ein Ende haben.

Aber schließlich war es Miriam, die dann die Anspannung ein wenig brach. „Ich glaube nicht, dass es viel Sinn hat, wenn wir hier weiter herumsitzen und die Anklagen endlos wiederholen. Jeder weiß, was geschehen ist, das bringt uns also der Lösung des Problems keinen Schritt näher.“

Karsten starrte verwundert auf Miriam, so energisch hatte er sie eigentlich noch nie erlebt. Was mochte noch alles in dieser Frau stecken? Aber bisher war es auch noch nie notwendig gewesen, dass sie so energisch wurde. Er war ihr jedenfalls dankbar, dass sie die Initiative ergriffen hatte, und sah sie nun plötzlich mit anderen Augen an.

Aber auch Anita war angenehm überrascht. Im Grunde gönnte sie Karsten von Herzen eine neue Frau, die genug Kraft und Energie aufbrachte, um mit ihm fertig zu werden. Und hier schien er endlich an die Richtige geraten zu sein.

„Ich denke, Frau Steingruber, in erster Linie geht es um das Wohl Ihres und Karstens Sohn. Er muss wieder den Weg zur Normalität zurückfinden. Und ich würde es begrüßen, wenn auch Karsten seinen Teil dazu beitragen könnte. Ich glaube nicht, dass die Gefahr besteht, dass er noch einmal so verantwortungslos handelt. Und ich denke, er wird in einem absehbaren Zeitraum auch kein Bedürfnis mehr haben, Ihnen und Michael Schwierigkeiten zu bereiten, weil er mit seinem anderen Kind beschäftigt sein wird.“

Bei ihren Worten glitt ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht, aber Karsten schaute sie einigermaßen verständnislos an.

„Könntest du mir das näher erklären?“, bat er, aber Anita schien augenblicklich begriffen zu haben, was die Worte von Miriam bedeuteten.

„Absehbarer Zeitraum?“, lächelte sie. „Wann ist es denn soweit?“

„In fünfeinhalb Monaten“, strahlte Miriam.

„Ich gratuliere Ihnen“, sagte Anita von Herzen. „Und ich hoffe für Sie, dass Sie es nie bereuen müssen.“

Jetzt schien auch Karsten endlich zu begreifen, was seine Freundin da gesagt hatte. Er verschluckte sich fast vor Aufregung. „Fünfeinhalb Monate? Miriam, kann es denn wahr sein? Du bist schwanger? Aber warum hast du mir nichts gesagt? Ich habe ja nicht gewusst ...“

„Glückwunsch auch von mir“, sagte jetzt Alexander. „Aber es bleibt doch immer noch die Frage: Soll Michael wieder mit seinem Vater zusammentreffen?“

Miriam schaute ihn eindringlich an. „Ich denke, ja. Auch wenn Sie in Zukunft die Rolle des Ersatzvaters übernehmen, so sollte der Junge doch nicht vergessen, dass er auch einen leiblichen Vater hat, der durchaus aus seinen Fehlern zu lernen versteht. Das kann auch eine Lehre für das Leben sein.“

Anita war mittlerweile schon fast überzeugt zuzustimmen. Trotzdem ging das Gespräch noch eine ganze Weile hin und her, bis man sich darauf geeinigt hatte, die Sachlage und den augenblicklichen Zustand dem Familiengericht zu unterbreiten, mit der Bitte, es bei der bisherigen Besuchsregelung zu belassen.

Schließlich verabschiedeten sich die beiden Paare voneinander.

„Ich wünsche Ihnen wirklich alles Gute“, sagte Anita zu Miriam. „Und ich hoffe, dass Sie nie Grund haben werden, ihre Entscheidung zu bereuen.“

„Vielen Dank. Ich bin sehr froh, dass Sie ein Einsehen mit Karsten hatten“, erwiderte die junge Frau. „Und ich hoffe mit Ihnen, dass Michael bald wieder ganz der Alte ist.“

Beide Frauen waren sich sympathisch und beschlossen spontan, den Kontakt zumindest lose aufrechtzuerhalten.

Auf der Nachhausefahrt saß Anita ein wenig nachdenklich im Wagen.

„Denkst du immer noch, dass du einen Fehler gemacht hast?“, fragte Alexander.

„Nein!“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ich überlege, welchen Fehler ich in meiner Ehe gemacht habe. Miriam jedenfalls scheint mit Karsten gut auszukommen.“

„Mach dir nur keine Vorwürfe“, bat Alexander. „Vielleicht war auch Karsten noch nicht reif genug für die Ehe und die Verantwortung für ein Kind.“

„Ja, das kann es gewesen sein. Aber es ist müßig darüber zu spekulieren. Lass uns nach Hause fahren, zu Michael. Es wird sicher wieder alles gut werden.“ Das klang wie eine Beschwörung.



24

Jakob fragte sich mittlerweile, ob er irgendwo einen Fehler gemacht hatte. Michael benahm sich fast so, wie jedes Kind in seinem Alter. Aber das war ja nur äußerlich. Innerlich hatte er sich hinter eine dicke Mauer zurückgezogen, die auch der Arzt bisher nicht hatte durchbrechen können. Allerdings war es schon als Fortschritt anzusehen, dass Michael seine Aggressionen unter Kontrolle hatte, und seine sinnlose Wut sich nicht mehr gegen Mitschüler richtete.

Jakob hatte die Zeit des Treffens von Anita und Karsten genutzt, um den Jungen in seine Praxis mitzunehmen. Er erklärte und beschrieb, was es zu sehen gab. Und vielleicht war es für den Jungen hier leichter zu reden. Jakob hatte hier ebenfalls ein Schachspiel stehen, ein sehr wertvolles, altes Stück aus Ebenholz und Elfenbein, das sich seit Generationen in seiner Familie befand. Der Arzt war der Meinung, dass dieses Mal das Spiel nach seinen Regeln laufen musste. Er würde das Gespräch bestimmen und wollte auch nicht mehr zurückweichen.

Es dauerte nicht lange, bis Michael völlig in das Spiel vertieft war, und Jakob begann sich langsam mit behutsamen Fragen voranzutasten.

„Erzähl mir doch mal, was du so gedacht hast, als die Polizisten deinen Vater auf der Straße verhafteten. Das muss doch schrecklich gewesen sein.“

Michael blickte kurz auf, Schmerz stand in seinen Augen und eine klare Ablehnung, er wollte nicht darüber sprechen.

„Warum?“, stellte er eine Gegenfrage.

„Vielleicht deshalb, weil es dir so wehtut“, erwiderte Jakob. „Ich dachte eigentlich, wir beide wären Freunde, und Freunde teilen Freud und Leid miteinander.“

Eine Weile herrschte Stille, und Jakob ließ die Worte erst einmal auf den Jungen wirken.

„Die hätten Papa gar nicht verhaften müssen“, sagte Michael plötzlich leise.

„Warum nicht?“, forschte der Mann sanft nach.

„Weil – na ja, er hat doch recht gehabt. Er hat gesagt, dass Mama mich loswerden will, weil sie jetzt Alexander liebt. Und vorher ist Papa weggegangen, weil er auch eine andere Frau liebte, und da war ich ja dann auch im Weg. Eigentlich bin ich ziemlich überflüssig. Aber ich bin nun einmal da, und Mama brauche ich noch. Deswegen wäre es gut, wenn Alexander wieder geht.“

„Meinst du denn wirklich, dass Alexander dich nicht haben will?“, fragte Jakob. „Ich weiß jedenfalls, dass er dich sehr gerne hat.“

„Aber nicht so lieb wie Mama.“

Jakob lächelte. „Weißt du, die Liebe zwischen erwachsenen Menschen ist etwas anderes als zu einem Kind. Aber das heißt auf keinen Fall, dass die beiden dich loswerden wollen, ganz im Gegenteil.“

„Papa hat das aber gesagt.“

„Ich denke, dass dein Vater sich da geirrt hat. Vielleicht solltest du ihn ganz einfach noch einmal danach fragen.“

„Mama hat gesagt, ich darf ihn nicht wiedersehen.“

Jakob verfluchte innerlich diesen unüberlegten Ausspruch Anitas. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

„Nun, auch deine Mama weiß nicht immer alles, was passieren wird. Und ich bin ganz sicher, dass du deinen Vater bald wiedersehen wirst.“

„Dann haben mich ja alle angelogen“, stellte Michael bitter fest. „Und woher weiß ich, dass du mich nicht auch anlügst?“

„Ich bin dein Freund“, sagte der Arzt. „Freunde belügen einander nicht. Auch wenn es manchmal schwerfällt, die Wahrheit zu sagen oder zu hören.“

„Das glaube ich nicht.“ In dem Jungen krochen Wut und Hilflosigkeit hoch, und mit einer raschen Bewegung fegte er die Figuren vom Spielbrett. „Ich weiß gar nicht mehr, wem ich noch etwas glauben soll. Ich wollte am liebsten, ich wäre tot.“

Die letzten Worte schrie er nur so heraus, sprang auf und wollte davonlaufen, doch Jakob war schneller, er hatte mit einer ähnlichen Reaktion gerechnet. Mit beiden Händen fing er den Jungen ab und hielt ihn fest, obwohl der sich strampelnd wehrte.

„Lass mich los!“, brüllte Michael. „Ihr Erwachsenen seid doch alle gleich. Ich bin ja nur ein Kind, dem kann man ja erzählen, was man will. Ihr lügt doch alle, und ich will gar nichts mehr mit euch zu tun haben. Lass mich los!“

Er brach in hilflose Tränen aus, und Jakob drückte ihn fest an seine breite Brust.

„Oh, Kind, wie konnte man dir nur so wehtun?“, murmelte er, ohne dass Michael ein Wort davon verstand. Dann aber sprach er eindringlich auf den Jungen ein.

„Hör mal zu, Michael. Ich gebe dir hier mein feierliches Ehrenwort – und du weißt, was ein Ehrenwort bedeutet? – dass ich dich niemals im Stich lassen werde. Und auch, dass ich dich nicht belügen will. Wir sind Freunde, und ich möchte gern, dass wir auch noch weiterhin Freunde bleiben.“

Der Junge war plötzlich still geworden in Jakobs Armen, er schien zu überlegen. Dann hob er den Kopf hoch und schaute Jakob intensiv an.

„Ganz bestimmt sind wir Freunde?“

Jakob nickte.

„Und ein Versprechen ist etwas, das man nicht brechen darf?“

Wieder Nicken.

„Und du willst mich ganz bestimmt nie im Stich lassen?“

„Nein, bestimmt nicht“, beteuerte der Arzt.

„Und du sagst das nicht bloß so, um mich abzuwimmeln?“

„Das würde ich niemals tun.“

„Dann ist es ja gut“, murmelte der Junge.

Jakob war erschüttert. So viele Sorgen für ein Kind, so viele Fragen, die niemand beantwortete, und so viel Schmerz, den niemand linderte. Es wurde allerhöchste Zeit, dass all diese Sorgen von den Schultern des Jungen genommen wurden. Anita und Alexander würden noch eine Menge Arbeit mit ihm haben, bis sie sein Vertrauen wieder erlangen konnten. Aber Karsten hätte Jakob in diesem Moment gerne gründlich den Kopf gewaschen. Nun gut, das Unheil war angerichtet, und nun mussten eben alle neu anfangen das Vertrauen und die Liebe Michaels neu zu erringen. Diese kleine Seele war ganz tief verletzt worden, und es würde sicher noch eine lange Zeit dauern, bis Michael das überwunden hatte. Aber ein erster Schritt war getan.

„Komm, lass uns jetzt nach Hause fahren“, sagte Jakob.

„Kommst du morgen wieder?“, bettelte Michael.

Der Arzt seufzte. Er hatte eigentlich schon viel zu viel von seiner üblichen Arbeit an die Seite geschoben, aber im Augenblick war Michael wohl jedes Opfer wert.

„Ich werde tun, was ich kann, aber du weißt, auch ich muss ...“

„Versprich es!“, bettelte der Kleine.

„Nun gut, in Ordnung, ich verspreche es.“

Jetzt erst war Michael beruhigt und ließ sich nach Hause fahren. Er ging dann nicht darauf ein, dass Anita noch gerne mit ihm sprechen wollte, und er zeigte auch keine Reaktion, als er erfuhr, dass sein Vater demnächst wieder zu Besuch käme.

Anita wollte mit Jakob über ihren Sohn reden, der sich noch seltsamer verhielt als sonst schon. Aber der Arzt wirkte müde und erschöpft und bat darum, dieses Gespräch verschieben zu können. Er wollte selbst erst einmal über das nachdenken, was Michael ihm erzählt hatte, und er würde einen Weg finden müssen, das Vertrauen in dem Kind wieder aufzubauen.

Aber das alles ganz sicher nicht mehr an diesem Abend.

Nach einem flüchtigen Abschiedsgruß ging Beerlander hinaus.



25

Nach einer längeren Schönwetterperiode hatte es jetzt angefangen zu regnen. Auf den Straßen hatte sich aus dem Staub der letzten Tage und dem Nieselregen ein übler Schmierfilm gebildet, und Jakob fuhr so vorsichtig, als befände er sich auf blankem Eis. Immer wieder hörte man von Unfällen, die bei diesem Wetter passierten. Und meist geschah es dadurch, dass die Menschen sich über- und die Autos unterschätzten. Jakob kannte die Gefahren. Aber er fühlte sich ausgelaugt und erschöpft und wollte möglichst schnell nach Hause.

Plötzlich bemerkte er, dass der Wagen, der ihm entgegenkam, ins Schleudern geriet und schlingernd auf ihn zuhielt. Blitzartig trat er Bremse und Kupplung, um dann am Lenkrad zu kurbeln, damit er ein Ausweichmanöver schaffte. Doch das andere Fahrzeug war gar nicht mehr unter Kontrolle.

Mit einem hässlichen knirschenden Geräusch prallten die Wagen aufeinander. Der Arzt fühlte, wie ihm Glasscherben ins Gesicht prasselten, dann presste etwas ganz furchtbar seinen Brustkorb zusammen, und es wurde dunkel um ihn.

Den entsetzten Aufschrei des anderen Fahrers, als der ihn erblickte, nachdem der fast unverletzt aus seinem Auto gestiegen war, hörte Jakob schon nicht mehr.



26

Schon sehr früh am nächsten Morgen klingelte bei Anita das Telefon. Am anderen Ende der Leitung war Frau Kersting, die von dem schrecklichen Unfall erfahren hatte und nun Anita schonend darauf vorbereiten wollte.

„Es tut mir leid, dass ich so früh schon stören muss“, begann die Lehrerin. „Aber ich bin die Überbringerin einer schlechten Nachricht. Doktor Beerlander hatte gestern Abend auf dem Heimweg einen Unfall.“

„Um Gottes willen“, rief Anita aus. „Ist es schlimm? Wie geht es ihm? Liegt er im Krankenhaus?“

„Er liegt auf der Intensivstation im Hospital. Und im Augenblick kann niemand zu ihm, sein Zustand ist noch kritisch, und er liegt im Koma.“

„Kann ich irgendetwas tun?“, fragte Anita ein wenig hilflos.

Frau Kersting seufzte. „Ich fürchte, im Augenblick hilft nur beten.“

Anita war total geschockt. Wie hatte das nur passieren können? Kaum hatte sie das Gespräch mit der Lehrerin beendet, rief sie im Hospital an, bekam dort aber nur eine vage Auskunft. Dem Patienten gehe es den Umständen entsprechend, was immer das auch heißen mochte. Die Frau empfand das als eine unbefriedigende Auskunft, aber da sie keine direkte Angehörige war, konnte sie wohl kaum mehr verlangen.

Anschließend meldete sich Anita bei Alexander, der ebenso bestürzt war wie sie.

„Das wird ein schwerer Schlag für Michael“, stellte er fest. „Wir müssen ihm das sehr schonend beibringen.“

„Am besten sagen wir es ihm gar nicht“, entschied Anita spontan.

„Du willst ihn doch nicht belügen?“, fragte Alexander entsetzt.

„Nein, ich verschweige ihm die Wahrheit, weil ich nicht weiß, ob er das auch noch verkraftet. Es war einfach zu viel in letzter Zeit. Und jetzt noch diese Unsicherheit, ob Jakob durchkommt. Ich werde Michael ganz einfach sagen, dass Jakob zu einer wichtigen Besprechung wegfahren musste.“

„Das könnte ein Fehler sein“, wandte Alexander ein.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich will den Jungen doch nur schonen.“

„Überlege dir das gut“, beharrte er. Anita seufzte.

„Ich kann nicht noch mehr Schmerz in seinen Augen sehen.“

Alexander gab nach. Auch er wollte Michael nur schützen, und er hatte doch ein ungutes Gefühl dabei.

„Kann ich hinüberkommen, wenn du es ihm sagst?“, erkundigte er sich.

„Du weißt doch, du bist hier jederzeit willkommen, aber ich glaube, das sollte ich allein tun.“ Anita dachte an ihren Sohn, der in Jakob einen so fantastischen Freund gefunden hatte, den er jetzt vielleicht verlieren würde. Das durfte einfach nicht sein, nein, konnte das Schicksal denn so ungerecht sein? Anita überdachte die Sache noch einmal, kam dann aber endgültig zu dem Entschluss, dass es besser war, wenn Michael eine kleine Notlüge zu hören bekam. Sie konnte ja nicht ahnen, welch ein verhängnisvoller Fehler das sein würde.



27

Michael kam gut gelaunt aus der Schule, knallte seiner Mutter ein Schulheft auf den Schreibtisch und verkündete freudestrahlend: „Eine Zwei!“

„Prima, gut gemacht!“, lobte sie und küsste ihn auf die Stirn. „Ich muss dir noch etwas sagen, warte mal“, bat sie dann und suchte nach Worten. Obwohl sie Zeit genug gehabt hatte, sich etwas zu überlegen, hatte sie festgestellt, dass es die passenden Worte für so etwas nicht gab. „Jakob lässt dir etwas ausrichten“, begann sie also unvermittelt, und sofort wurde das Gesicht des Jungen aufmerksam. Seine Miene nahm einen gespannten Ausdruck an.

„Was ist mit Jakob?“, wollte er wissen.

„Er musste dringend für einige Tage zu einer Geschäftsreise. Er lässt dir sagen, dass es ihm ganz furchtbar leid tut, dass er aber bald zurückkommt.“

Das Gesicht Michaels verzerrte sich. „Das ist nicht wahr!“, schrie er dann auf. „Er würde nicht einfach wegfahren, ohne mir was zu sagen. Wir sind doch Freunde. Er hat es mir doch versprochen.“ Die letzten Worte endeten in einem furchtbaren Weinkrampf, und Anita, die tröstend ihren Sohn in die Arme nehmen wollte, wurde heftig zurückgestoßen. Sie war so überrascht von der Heftigkeit der Bewegung, dass sie völlig überrumpelt wurde und schwer in einen Stuhl fiel.

Michael schlug mit der kleinen Faust krachend gegen die Tür, rannte hinaus und trat noch einmal dagegen.

„Ihr belügt mich alle! Ihr verdammten Erwachsenen seid alle gleich. Keinem von euch kann man trauen. Nicht einmal dann, wenn er sich Freund nennt. Sein Ehrenwort hat er gegeben, und er hat es gebrochen. Ich will euch alle nie, nie wieder sehen. Ich wünschte, ich wäre tot.“

Michael rannte in sein Zimmer, schlug knallend die Tür zu und drehte den Schlüssel herum.

Anita war dicht hinter ihm, wollte mit ihm reden, beruhigend auf ihn einsprechen und ihn trösten, aber er reagierte nicht. Er wollte nichts mehr hören. Stattdessen warf er sich auf das Bett und zog das Kopfkissen und die Bettdecke über den Kopf, damit er ja nichts mehr hören konnte.

„Alle Erwachsenen sind Lügner“, weinte er. „Und ich will nichts mehr von euch wissen. Nie wieder.“

Anita war von diesem Ausbruch völlig überrascht worden, und sie sah jetzt ein, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, ihm die Wahrheit zu sagen, denn die hätte er akzeptieren können. Aber jetzt fühlte das Kind sich, als hätte Jakob ihn verraten, was sich in seiner augenblicklichen Situation nur negativ auswirken konnte.

Anita überlegte, ob es wohl Sinn machte, Michael jetzt die Wahrheit zu sagen. Aber zunächst würde er wohl gar nicht auf sie hören. Und dann würde er erst recht annehmen, dass alle Erwachsenen nur logen. Nein, es war sicher besser, bis zum nächsten Tag zu warten, wenn sich das Kind wieder etwas beruhigt hatte.

Insgeheim verfluchte sie jetzt ihren eigenen dummen Einfall, aber daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Sie klopfte noch mehrmals erfolglos an die Tür des Kinderzimmers, aber Michael rührte sich da drinnen nicht und gab auch keine Antwort.

Niedergeschlagen hockte Anita sich auf das Sofa im Wohnzimmer, überließ sich ein wenig ihrer Verzweiflung und wartete auf Alexander. Der hatte recht gehabt mit seinen Bedenken. Und vielleicht würde er jetzt noch eine Möglichkeit finden zu Michael vorzudringen.



28

„Michael, bitte mach die Tür auf!“ Die Stimme von Alexander klang ein wenig scharf. Er machte sich Sorgen um den Jungen, nachdem Anita ihm den Vorfall erzählt hatte. Und nun klopfte er seit mehr als fünf Minuten immer wieder an die Tür, ohne eine Reaktion oder Antwort zu erhalten. Oder doch nicht? Jetzt klang es ganz leise durch die Tür.

„Geh weg! Ich will nichts mehr hören und sehen. Lasst mich in Ruhe!“

„Michael, bitte mach auf, ich möchte mit dir reden.“

„Ich aber nicht mit dir!“

Und das war das letzte Wort, das Alexander aus ihm noch herausbekam.

Schließlich gab der Mann niedergeschlagen auf.

„Du hattest vollkommen recht“, jammerte Anita. „Ich habe diesen Fehler gemacht.“

„Nun, er wird sich schon wieder beruhigen“, versuchte Alexander zu trösten. „Aber sobald Jakob wieder bei sich ist und dahinterkommt, wird er uns beiden den Kopf abreißen.“

„Es tut mir so leid“, sagte Anita. „Ich wollte ihn doch wirklich nur beschützen.“

„Hast du etwas Neues aus dem Krankenhaus gehört?“, wollte Alexander wissen.

„Nein, es heißt immer noch, lebensbedrohlich aber einigermaßen stabil. Er wird doch nicht sterben?“

„Lass uns das Beste hoffen. Jakob ist zäh, er hängt am Leben, und er wird schon kämpfen.“

Die beiden kuschelten sich auf dem Sofa eng aneinander, sich gegenseitig Kraft und Halt bietend, und verzweifelt darauf hoffend, dass Michael sich bald wieder beruhigte.



29

Michael hatte in seinem Zimmer zunächst hemmungslos geweint. Er fühlte sich verraten, verkauft und gedemütigt. Und er war überzeugt davon, dass er nie wieder jemandem würde trauen können. Wie hatte Jakob das tun können? Einfach wegzugehen, ohne ihm etwas zu sagen.

Das mühsam aufgebaute Kartenhaus von erstem Vertrauen war radikal zerstört worden. Nie wieder würde Michael seiner Mutter ein Wort glauben, und auch nicht Alexander, der so lange und beharrlich an die Tür gehämmert hatte. Nein, hier gab es niemanden mehr, dem man noch trauen konnte, und am besten war es wohl, wenn er fortging, dann brauchten sich die Erwachsenen wenigstens keine neuen Lügen mehr auszudenken.

Dieser Gedanke setzte sich in Michael fest, bis nichts anderes mehr in seinem Kopf Platz hatte. Schließlich nahm er seine kleine Reisetasche, warf achtlos ein paar Sachen hinein und schlachtete dann sein Sparschwein. Es war eine beachtliche Summe Geld darin, wie er fand, über hundert Mark. Das würde ausreichen, um ihm die ersten Tage weiterzuhelfen.

Michael hatte keine klare Vorstellung davon, wo er überhaupt hin oder was er weiter tun wollte. In seinem Kopf herrschte nur ein einziger Gedanke vor: Weg von hier!

Es schien endlos lange zu dauern, bis seine Mutter an diesem Abend zu Bett ging und endlich schlief. Kurz vorher war Alexander wieder davongefahren. Während der Zeiger der Uhr langsam weiterkroch, blinzelte Michael mit den Augen. Eigentlich war er viel zu müde, um davonzulaufen, aber dann riss er die Augen weit auf. Jetzt oder gar nicht!

Es war schon weit nach Mitternacht, als er sich mit seiner Tasche in der Hand aus dem Haus schlich.



30

„Was soll das heißen?“, fragte Alexander verwirrt. „Michael ist weg?“

„Er muss weggelaufen sein, in der Nacht“, wiederholte Anita tonlos. „Er hat seine kleine Tasche gepackt, und die Scherben des Sparschweins liegen noch auf dem Boden.“

„Hat er eine Nachricht hinterlassen?“

„Nein, nichts. Alexander, ich mache mir solche Sorgen. Ich hätte gestern einfach nicht nachgeben dürfen.“

„Mit Selbstvorwürfen kommen wir hier nicht weiter“, sagte er etwas schärfer, weil er befürchtete, dass Anita in Hysterie ausbrechen könnte.

„Ruf die Polizei an, ich bin auf dem Weg.“

Mit weit höherer Geschwindigkeit als erlaubt, raste Alexander zur Anita. Es war noch früh am Morgen, und als Anita ihren Sohn hatte wecken wollen, war sein Zimmer leer gewesen.

Was mochte wohl im Kopf des Kindes vorgehen, wenn er keinen anderen Ausweg mehr sah als wegzulaufen. Aber Michael war erst zwölf, weit würde er nicht kommen. Ein Kind, das allein herumreiste, musste jedem auffallen. Das zumindest dachte Alexander. Es würde bestimmt nicht lange dauern, bis die Polizei ihn fand.

Als er eintraf, stand bereits ein Dienstwagen vor der Haustür, und Anita machte gerade die notwendigen Angaben und suchte ein Foto heraus, während ein Beamter sich das Zimmer des Jungen ganz genau ansah.

„Welche Kleidung hat er an?“, fragte einer der Beamten. Anita schaute in die Schränke und überlegte kurz, dann beschrieb sie präzise die Kleidung.

„Wir geben sofort eine Suchmeldung an alle Stationen heraus. Im Augenblick können wir nichts weiter tun. Haben Sie schon beim Vater des Jungen angerufen?“

Anita nickte. „Dort ist er auch nicht.“

„Hat er Bekannte, Freunde, Verwandte im näheren Umkreis, bei denen er sich aufhalten könnte?“

Endlos gingen die Fragen weiter, und Alexander bemühte sich nach Kräften, Anita zu unterstützen. Schließlich waren die Beamten fertig und fuhren davon.

Anita schaute Alexander mit bleichem Gesicht an. Sie reichten sich wortlos die Hände.

Wieder einmal konnten sie beide nichts anderes tun als warten.



31

Jakob erwachte unvermittelt wie aus einem tiefen Schlaf. Der Geruch und die Geräusche sagten ihm, dass er sich in einem Krankenhaus befand. Wie war er hierhergekommen? Ach ja, ein Unfall. Der andere Wagen musste ihn wohl ziemlich heftig erwischt haben.

Dumpfer Schmerz strahlte von seinen Rippen aus, ein Arm steckte in einer Schiene, und es schien noch mehr Verbände zu geben. Der schrille Piepton des Herzmonitors störte den Mann, er drehte sich um, wollte einen Knopf suchen, mit dem er das Geräusch abstellen konnte.

„Oh, hallo, Sie sind wieder bei sich!“, klang eine warme, freundliche Stimme auf. „Ich bin Schwester Erika, und Sie sind hier im Krankenhaus. Können Sie sich erinnern, wie Sie heißen und was passiert ist?“

Jakob grinste, für jemanden, der aus dem Koma erwachte, war er bemerkenswert gut beisammen. „Ich bin Jakob Beerlander, Psychiater von Beruf und in einen heftigen Unfall verwickelt. Reicht das?“

Die Schwester lachte. „Schon gut, Sie kennen diese Prozedur ja. Schön, dass im Kopf alles heil zu sein scheint. Ihre körperlichen Werte stabilisieren sich auch langsam, und ich werde jetzt den Arzt rufen. Der kann Ihnen mehr sagen.“

Noch im Laufe

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: BEKKER
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2015
ISBN: 978-3-7368-9328-3

Alle Rechte vorbehalten

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