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Besuch aus dem Reich der Toten

von Ann Murdoch

 

Ein CassiopeiaPress E-Book

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© der Digitalausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

 

Der Umfang dieses E-Book entspricht 100 Taschenbuchseiten.

 

Nach dem Tod ihres Onkels Robert erbt Rebecca Fitzpatrick nicht nur ein großes Vermögen, sondern auch einen dreieckigen Gegenstand aus Jade, der in der Mitte ein fein gearbeitetes Auge aus einem blauen Stein enthält. An den drei Rändern sind seltsame Schriftzeichen eingeritzt. Der Gegenstand ist das Erbe ihrer ums Leben gekommenen Eltern, die ihn bei einer Ausgrabung gefunden haben. Um dem Geheimnis des Artefakts auf den Grund zu gehen, setzt Rebecca ihr Leben aufs Spiel...

1

Nervös knetete Rebecca Fitzpatrick die Hände und lief auf dem langen Flur im Obergeschoss des vornehmen Herrenhauses Hollyroot auf und ab. Wie lange brauchte der Arzt denn noch bei ihrem Onkel Robert? Immer wieder wanderte der Blick der jungen Frau zu der Tür, hinter der sich das Schlafzimmer ihres Onkels befand.

Robert Fitzpatrick war der letzte lebende Verwandte der hübschen rothaarigen Lady Rebecca, die seit mehr als acht Jahren wie eine Tochter für ihn war, seit dem Zeitpunkt, da die Eltern von Rebecca bei einer Forschungsreise ums Leben gekommen waren. Allerdings hatte das Mädchen auch schon vorher hier auf Hollyroot gelebt, denn Eileen und Gordon Fitzpatrick waren beide bekannte und bedeutende Archäologen gewesen, die von ihrer Arbeit besessen waren und sich bei ihren beschwerlichen Reisen nicht mit einem Kind hatten belasten können. So war Rebecca von klein auf bei ihrem Onkel aufgewachsen, was der Liebe zu den Eltern aber keinen Abbruch getan hatte.

Die beiden hatten ein phantastisches Verhältnis zueinander, und als Sir Robert jetzt schwer erkrankte, war Rebecca zutiefst besorgt. Es handelte sich um eine langwierige Lungenerkrankung, die mit der Zeit jedoch immer schlimmer statt besser wurde. Alle Möglichkeiten zur Heilung hatte man ausgenutzt, doch nichts hatte wirklich angeschlagen.

Und nun war offensichtlich der Zeitpunkt gekommen, an dem es zu Ende ging.

Aber doch nicht so schnell!

Lady Rebecca schickte ein Stoßgebet gen Himmel, sicher schon das hundertste an diesem Tag. Sie wollte Onkel Robert nicht verlieren, und das nicht nur deswegen, weil er noch das einzige Bindeglied an ihre Familie war.

Die Vierundzwanzigjährige stöhnte unbewusst auf, als sich jetzt doch endlich die Tür öffnete. Dr. Nathaniel Parker, der langjährige Hausarzt, kam heraus und betrachtete Rebecca voller Mitleid.

„Geh hinein, Kind, es wird nicht mehr lange dauern“, sagte er leise.

Sie zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern.

„Versuche nicht zu weinen, das hilft deinem Onkel auch nicht mehr. Lass ihn nicht mit schwerem Herzen von dieser Welt gehen.“

Sie nickte zaghaft, drückte dann aber entschlossen die Klinke zum Schlafzimmer nieder. Die laue Luft eines Spätsommertages durchflutete den Raum, das Gezwitscher von Vögeln klang herein, und Onkel Robert lag, auf einige Kissen gestützt, schwach in seinem Bett. Das Gesicht war eingefallen, die Haut trocken, und die Augen waren bereits vom nahen Tod überschattet. Doch mit letzter Kraft streckte der Sterbende seiner Nichte die Hand entgegen.

„Tut mir so leid, liebste Rebecca, aber ich fürchte, ich muss jetzt von dir gehen.“

Die junge Frau kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder und versuchte ein zaghaftes Lächeln.

„Niemand hat dir erlaubt, mich einfach allein zu lassen. Du darfst also jetzt nicht einfach sterben.“ Rebecca ließ sich auf der Bettkante nieder und strich sanft über die eingefallenen Wangen.

„Danach fragt uns niemand, mein Kind. Aber ich will nicht, dass du in tiefe Trauer versinkst. Du bist noch jung und wirst rasch darüber hinwegkommen.“ Die Worte des Mannes waren von langen Pausen begleitet, in denen er mühselig Atem schöpfte. „Für dich ist auf jeden Fall gesorgt“, fuhr Sir Robert dann fort. „Du hast nicht nur das Erbteil deiner Eltern, auch ich habe dich zu meiner Universalerbin gemacht, dir bleibt also auch Hollyroot erhalten. Und dazu mehr Geld, als du hoffentlich jemals brauchen wirst. Aber du bist ein vernünftiges Mädchen, du wirst schon nichts verschwenden. Ich bedaure nur, dass ich nicht mehr erleben kann, dass du noch einen guten Ehemann findest, der dich den Rest deines Lebens begleiten wird.“

„Rede nicht soviel“, mahnte Rebecca, der es im Augenblick ziemlich egal war, was und wie viel sie erbte.

„Ich muss aber jetzt mit dir reden, es ist die letzte Gelegenheit. Widersprich mir nicht, ich mache mir da keine Illusionen. Bitte, Rebecca. – Und nun sei bitte so gut und öffne dort drüben im Sekretär das Geheimfach.“ Sir Robert musste Rebecca genaue Anweisungen geben, sie hatte nicht einmal gewusst, dass sich dort ein Geheimfach befand.

„Ich hätte es dir vielleicht längst geben sollen – es ist ein Vermächtnis deiner Eltern. Doch ich hatte immer Angst davor, du könntest mich dann verlassen, um den Spuren deiner Eltern zu folgen. Verzeih mir bitte.“

„Ich hätte dich niemals verlassen, Onkel Robert, wir haben doch nur uns“, erwiderte Rebecca leise.

Jetzt endlich hatte sie das Fach geöffnet und nahm einen Gegenstand heraus, der in mehrere Lagen Seide gewickelt war.

„Was ist das?“, fragte sie ratlos.

Sir Robert nahm ihr den Gegenstand etwas mühsam aus der Hand und wickelte ihn aus. Zum Vorschein kam ein Dreieck aus Jade, das in der Mitte ein fein gearbeitetes Auge aus Turmalin enthielt, der Stein leuchtete strahlend blau auf, als das Licht der Sonne darauf fiel. An den drei Rändern waren seltsame Schriftzeichen eingeritzt, die jedoch aus einer unbekannten Sprache stammten. Das Auge selbst war mit getriebenem Gold belegt, und die Pupille bestand aus einem schwarzen Opal. Ein selten schönes Stück.

„Das hier war mit hoher Wahrscheinlichkeit der Grund, warum deine Eltern sterben mussten“, sagte Robert Fitzpatrick jetzt mit tonloser Stimme.

„Meine Eltern? Aber wieso? Warum? Für dieses Auge? Völlig unmöglich“, protestierte Rebecca, die plötzlich ein äußerst ungutes Gefühl hatte.

„Unterbrich mich nicht, ich habe nicht mehr viel Zeit“, bat der Mann. Er fühlte den Blick aus den leuchtend grünen Augen von Rebecca auf sich ruhen und wusste, dass er ihr jetzt das Herz schwer machen würde.

„Deine Eltern waren in Babylon, wie du weißt. In der alten Ruinenstadt waren sie auf der Suche nach archäologisch wertvollem Material. Als sie diesen Gegenstand hier fanden, taten sie das einzig richtige und schickten ihn mit ganz gewöhnlicher Post hierher. Diese Voraussicht rettete ihnen zwar nicht das Leben, aber dieses – dieses Ding hier eben. Zwei Tage später waren deine Eltern tot, ermordet. Die Sache wurde nie aufgeklärt, doch nach dem, was ich aus den letzten Briefen und den Tagebuchaufzeichnungen lesen konnte, gab es mindestens eine Geheimorganisation, oder einen Orden, oder so etwas, die versuchten, dieses Auge in ihren Besitz zu bringen – mit allen Mitteln.“

„Und du hast es acht Jahre lang hier verborgen gehalten, vor allem und jedem?“, fragte Rebecca fassungslos.

„Ich sah keine Notwendigkeit das Auge wieder ans Tageslicht zu bringen. Ich glaube nämlich, dass es magische Kräfte besitzt. Und ich glaube, dass es Schwierigkeiten bringen wird. Aber ich durfte nicht zulassen, dass du völlig unvorbereitet nach meinem Tod damit konfrontiert wurdest. Deshalb musste ich es dir jetzt übergeben. Du solltest es wieder verbergen – wenn es nicht schon zu spät dafür ist. Das Auge des Bukadnazar besitzt die Fähigkeit mit gewissen Leuten in Verbindung zu treten.“

Das fand Rebecca nun doch unwahrscheinlich. Sie hielt es eher für die Ausgeburt eines Sterbenden. „Das spielt jetzt keine Rolle“, wehrte die Frau ab und legte das Auge achtlos am Bettende ab.

Die Stimme von Sir Robert Fitzpatrick war bei seinen letzten Worten immer leiser geworden, die Atemzüge schwer und röchelnd. Sir Robert strich seiner Nichte über die kupfern schimmernden Haare. „Lebe wohl, mein Kind. Ich wäre gern noch geblieben.“

Rebecca umklammerte die Hand ihres Onkels. Dessen Körper erschlaffte jetzt jedoch, die Augen brachen. Rebecca starrte ihn ungläubig an. Das konnte doch jetzt nicht alles gewesen sein. Aber ein untrügliches Gefühl sagte ihr, dass sie sich mit den Tatsachen abzufinden hatte.

Wie betäubt stand sie auf und öffnete die Tür, Dr. Parker saß draußen auf einem der schrecklich unbequemen Stühle und schrieb einen Bericht.

„Er ist – Onkel Robert hat – ich meine...“ Jetzt brachen doch die Tränen aus der jungen Frau heraus, und der alte Arzt zog sie zärtlich an sich.

„Du wirst es schon schaffen, Rebecca. Das ist jetzt vielleicht ein schwacher Trost, aber du bist jung und stark.“



2

Die folgenden Tage erlebte Rebecca wie im Traum. Fast automatisch regelte sie die Formalitäten für die Beerdigung, ließ die Kondolenzbezeugungen unzähliger Besucher über sich ergehen, und war selbst bei der Testamentseröffnung noch völlig apathisch.

Doch am vierten Abend ging sie in ihr Schlafzimmer, um dort eine weitere schlaflose Nacht zu verbringen. Ihr Blick blieb plötzlich auf einem kleinen Tisch hängen. Da lag das Auge des Bukadnazar. Aber wie kam es hierher?

Rebecca hatte eine undeutliche Erinnerung daran, dass sie das Dreieck auf dem Totenbett von Onkel Robert liegen gelassen hatte, was danach damit geschehen war, wusste sie nicht zu sagen. Nun, vielleicht hatte eines der Hausmädchen den Gegenstand hierher gelegt.

Sie wollte das Dreieck etwas achtlos in eine Schublade packen, doch wurde ihr Blick plötzlich magisch angezogen von den seltsamen Schriftzeichen. Sie waren ihr völlig unverständlich, bestanden aus Strichen und pfeilartigen Dreiecken, die in regelmäßigen Anordnungen harmonische, aber unverständliche Muster ergaben.

Fasziniert setzte sich die junge Lady an den Tisch und starrte auf die Zeichen. Die Welt um sie herum versank, als sie versuchte, einen Sinn darin zu ergründen. So kam es ihr nicht einmal seltsam vor, als plötzlich zwei fremde Stimmen aufklangen.

„Sie kann das sowieso nicht lesen“, erklärte eine dünne piepsende Stimme.

„Aber sie muss herausfinden, was sich dahinter verbirgt, sonst wird es sie umbringen. Sie muss die Schrift entziffern, sonst nützt ihr alles nichts“, antwortete die andere Stimme.

Etwas erstaunt schaute Rebecca auf und glaubte ihren Augen nicht zu trauen.

Eine Maus und eine Katze saßen vor ihr auf dem Tisch, beide wirkten jedoch unwirklich, durchsichtig, nicht real.

„Wer seid ihr denn? Wie kommt ihr hierher? Und wieso könnt ihr sprechen?“, fragte Rebecca. Noch war sie so in den eigenen Gedanken gefangen, dass ihr das Absurde dieser Situation nicht zu Bewusstsein kam.

„Ich bin Ariel“, sagte die Maus. Sie hatte ein hellgraues Fell, winzig kleine, schwarze Knopfaugen und feine lange Tasthaare an der Nase.

„Und ich bin Mephisto“, stellte die Katze klar. Sie besaß ein schwarz-weiß geflecktes Fell, ungewöhnlich große ausdrucksvolle Augen und eine zart-rosa Nase.

„Wir sind Geister“, kam es dann von beiden gleichzeitig.

„Ach ja, wirklich? Klar, und was macht ihr dann hier?“ Es konnte sich hier wirklich nur um einen Alptraum handeln, stellte Rebecca für sich fest. Sicher war sie über der Betrachtung des Auges eingeschlafen, und ihr Unterbewusstsein gaukelte ihr jetzt diesen verrückten Traum vor.

„Wir haben noch zu unseren Lebzeiten den Tod eines Menschen verursacht. Und nun müssen wir den Menschen helfen, damit wir irgendwann keine Geister mehr sind.“

Verrückt, total verrückt.

Rebecca sah, dass Mephisto die Maus mit einem ausgesprochen hungrigen Blick anschaute. Er streckte eine Tatze aus und schlug Ariel wie spielerisch auf den Rücken.

„Kannst du gar nicht aufhören mich zu quälen?“, protestierte die Maus schrill.

„Ich bin ein Kater, es ist meine Natur, dich zu jagen.“

„Dann halte dich mal zurück, sonst jagst du mich in hundert Jahren immer noch.“

„Hört mal auf mit dem Streit. Ich möchte gerne wissen, warum ich die Schrift auf dem Auge entziffern soll“, mischte sich jetzt Rebecca ein. Sie war entschlossen, diesen Traum mitzumachen, wenn sie am Morgen erwachte und sich vielleicht noch an diesen Traum erinnern konnte, würde sie vielleicht sogar ein Lächeln finden.

„Wenn du das Auge ignorierst, wirst du große Probleme bekommen“, stellte Ariel klar.

„Und wenn du das Auge der Bruderschaft überlässt, werden viele Menschen große Probleme bekommen“, fügte Mephisto hinzu. Der halb durchsichtige Kater setzte sich hin wie eine Sphinx, wobei er jedoch die Maus nicht einen Augenblick aus den Augen ließ.

„Und was soll ich tun? Wenn ihr schon hier seid, um mir zu helfen, habt ihr doch bestimmt auch einen klugen Vorschlag“, erkundigte sich Rebecca ernsthaft.

„Warum wir?“, fragte Ariel. „Du bist doch der Mensch, also musst du auch wissen, was man tut, wenn man selbst keine Ahnung hat.“

„Du hast recht, Ariel, sie ist ein Mensch. Wir sollten ihr auf die Sprünge helfen.“

Ariel seufzte piepsend. „Du bist eine Katze und kennst die Zweibeiner wahrscheinlich besser. Muss man ihnen alles auf die Nase binden?“

„Ja, meistens“, erwiderte Mephisto und miaute.

„Ich glaube, ich werde langsam verrückt. Es war wohl ein bisschen viel in den letzten Tagen.“ Rebecca schüttelte über sich selbst den Kopf. „Ihr solltet jetzt besser aus meinem Traum verschwinden.“

„Aber du träumst doch gar nicht.“ Das Miau des Katers klang wie ein Kichern. „Aber weil du ein Mensch bist, verzeihen wir dir. Du solltest jemanden finden, der dir diese Schriftzeichen übersetzen kann. Jemanden wie Jonathan Lindbergh zum Beispiel. Und dann reden wir noch einmal miteinander. – Wenn du dann noch lebst.“ Mephisto sprang unvermittelt auf und stürzte sich auf Ariel, der mit einem wilden Piepsen verschwand. Gleich darauf war auch der Kater nicht mehr zu sehen, und Rebeccas Kopf ruckte hoch.

Sie saß noch immer hier am Tisch, und sie hatte eigentlich nicht geschlafen – oder doch? Bestimmt sogar. Schließlich gab es keine Geistermäuse und -katzen. Welch ein verrückter Traum. Und doch hatte der Traum ihr einen wichtigen Hinweis gegeben. Gleich morgen wollte sie versuchen jemanden ausfindig zu machen, der in der Lage war, die seltsamen Schriftzeichen in eine geläufige Sprache umzusetzen. Wer war eigentlich Jonathan Lindbergh?

Rebecca ging endlich zu Bett, fühlte sich aber noch immer wie im Traum. Mephisto und Ariel, nein, wie absolut verrückt.



3

„Herr Professor, Ihre Besucherin ist da.“
Jonathan Lindbergh hob kurz den Kopf von dem antiken Kasten, der vor ihm auf einem Tisch stand. Noch mit der Lupe in der Hand machte er eine unbestimmte Bewegung.
„Soll hereinkommen.“

Gleich darauf war er schon wieder in die Betrachtung der halb verwitterten Schriftzeichen auf dem hölzernen Kasten vertieft.

Rebecca trat ein und sah sich einem relativ jungen Mann gegenüber. Braunes lockiges Haar umgab einen schmalen Kopf, bei dem die Frau im Schein der starken Lampe ein fast klassisches Profil erblickte. Lautlos bewegte der Mann die Lippen, hielt die Augen weiterhin unverwandt auf den Kasten gerichtet und schrieb mit der rechten Hand ohne hinzusehen ebenso seltsame Zeichen auf einen Zettel.

„Professor Jonathan Lindbergh?“, fragte sie nach einer Weile, in der der Mann sie vergessen zu haben schien.

Irritiert hob er den Kopf. „Bin ich.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Tag der Veröffentlichung: 30.04.2015
ISBN: 978-3-7368-9249-1

Alle Rechte vorbehalten

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