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Godwin – Freund der Götter (Gesamtausgabe)

Teil 1 bis 12

von Pete Hackett

 

Ein CassiopeiaPress E-Book

© by Author

© der Digitalausgabe 2014 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

www.postmaster@alfredbekker.de

 

Der Umfang dieses Ebook entspricht 609 Taschenbuchseiten.

 

Dieses Ebook beinhaltet folgende Teile:

Teil 1: Godwins Traum vom Bund des Friedens

Teil 2: Godwins Pakt mit den Göttern

Teil 3: Godwin und die Diener des Bösen

Teil 4: Godwin bei den Ansibarii

Teil 5: Godwin und der unversöhnliche Fürst

Teil 6: Godwin und Richwin, der Wolf

Teil 7: Godwin und der Bund der Stämme

Teil 8: Godwin und die große Schlacht

Teil 9: Heimkehr unter schlechtem Stern

Teil 10: Die Flucht zu den Ansibarii

Teil 11: Godwin – verraten und verkauft

Teil 12: Der Wolf und die Schakale

 

 

Godwins Traum vom Bund des Friedens – Teil 1

Die Schlacht war vorbei, das Klirren der Schwerter und der letzte, grässliche Todesschrei waren verklungen, im letzten Licht des Tages lagen hunderte von Kriegern tot und sterbend im Gras. Ihr Blut versickerte im ausgetrockneten Erdreich, Myriaden von Fliegen, angezogen vom süßlichen Geruch des vergossenen Blutes, krochen auf den reglosen oder sich im Todeskampf windenden Körpern herum.

Bei Godwin, dem Sohn des Fürsten Arnold, trat nach dem Blutrausch, der ihn bis vor wenigen Minuten voll und ganz im Klammergriff hatte und der ihn unerbittlich und mitleidlos töten ließ, die Ernüchterung ein und er schaute sich um wie ein Erwachender. Mit erschreckender Schärfe sprang ihm das Bild, das das Schlachtfeld bot, in die Augen. Der Tod hatte wieder einmal – unersättlich in seiner Gier - grausame Ernte gehalten.

In der Gruppe von Kriegern, in der der Fürstensohn stand, herrschte Schweigen. Fast jeder der Männer hatte eine Wunde davongetragen, stellenweise war ihre Kleidung blutgetränkt, die Gesichter waren mit dem Blut der getöteten Feinde bespritzt, die Klingen der Langschwerter und die Blätter der Äxte in ihren Händen trieften vom Blut niedergemetzelter Gegner.

„Ruft unsere Leute zusammen“, gebot Godwin. „Sie sollen sich hier sammeln. Wir werden die Nacht in den Bergen weiter westlich verbringen und morgen ziehen wir nach Hause.“ Seine eigene Stimme kam dem Fürstensohn fremd vor, denn er wollte diesen Krieg nicht, hatte aber nicht die Kraft, gegen diesen Strom aus vernichtender Brutalität und irrsinniger Gewalt anzuschwimmen. Er räusperte sich, bekam aber den Hals nicht frei; ein Kloß schien in seiner Kehle zu stecken.

Das Horn erklang, der Ton war lang gezogen und durchdringend. Nachdem er verhallt war, näherten sich von allen Seiten die Krieger des Stammes der Harier, die an diesem Tag einen blutigen Sieg über die Ansibarii errungen hatten; sie kamen über die Kuppen und Kämme der Hügel ringsum, aus den Hügellücken, erhoben sich aus dem kniehohen Gras, in das sie sich nach dem Kampf einfach fallen gelassen hatten, weil sie sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten konnten.

Es waren Männer mit langen Haaren, die unter ihren Helmen aus Leder und Eisen hervorquollen. Wilde Bärte wucherten in den verkniffenen Gesichtern, ihre Kleidung bestand aus engen Hosen und hemdähnlichen Kitteln, einige trugen darüber Mäntel in den verschiedenen Farben. Die einen waren mit Schwertern, andere mit zweischneidigen Äxten, einige mit schweren Keulen oder kurzen Lanzen bewaffnet.

Die untergehende Sonne warf ihre Schatten über die nebeneinander und übereinander liegenden Toten. Das Wimmern, Stöhnen und röcheln der Sterbenden rührte sie nicht. Sie stiegen über die leblos daliegenden oder zuckenden Körper hinweg, nicht die Spur einer Gemütsregung in den Augen und in den wie versteinert anmutenden Gesichtern.

Der Krieg kennt keine Gefühle – im Kampf gab es weder Gnade noch Erbarmen. Nur der Starke war anerkannt, nur der Sieger wurde respektiert. Der Krieg forderte aber auch einen hohen Tribut, denn nicht nur Ansibarii waren gestorben, sondern auch viele, viele Harier.

Verstreut herumstehende Pferde wurden eingesammelt. Die Krieger, die das Horn gerufen hatte, durchbohrten mit ihren Schwertern und Lanzen auf ihrem Weg zum Sammelpunkt verwundete Ansibarii oder erschlugen sie mit ihren Äxten oder Keulen, unerbittlich und mit unmenschlicher Brutalität. Ihr Hass auf den Feind kannte kein Entgegenkommen und kein Mitleid, sie wollten nur töten und vernichten.

Godwin war anders. Ihm drehte sich der Magen um, doch er konnte das bestialische Morden nicht stoppen. Es widerte ihn an und er wusste nicht, wen er mehr hasste und verachtete – die Feinde, die ihnen, seinem Stamm, den Krieg aufgezwungen hatten, oder seine eigenen Leute, die sich wie den niedrigsten Trieben gehorchende Bestien benahmen.

Im Westen versank die Sonne hinter den Hügeln, die Schatten lösten sich auf, der Widerschein des Gestirns färbte den Himmel blutrot und legte einen rötlichen Schein auf das Land. Von Osten her schob sich die Dämmerung näher, der Himmel dort hatte eine graue Färbung angenommen.

Die Krieger der Harier zogen zwischen die Hügel, und in einer Senke, die von sandigen und Geröll übersäten Hängen begrenzt wurde, erteilte Godwin den Befehl zum Lagern. Feuer wurden entfacht; verdorrtes Strauchwerk stand in ausreichender Zahl herum, sodass es an Feuerholz nicht mangelte. Die wenigen Pferde, die das blutige Gemetzel überlebt hatten, wurden angebunden und rupften an den Büscheln vertrockneten Grases, das den Boden der Senke bedeckte. Nachdem die Unterführer der Harier die Wachen eingeteilt hatten, setzten sie sich zu Godwin ans Feuer. Licht- und Schattenreflexe huschten über sie hinweg, die düsteren Schatten ließen die Linien und Furchen in den Gesichtern dunkel und scharf erscheinen, das Licht spiegelte sich in den Augen der Männer. Über ihren Köpfen zogen Fledermäuse mit lautlosem Flügelschlag ihre Bahnen auf der Jagd nach Mücken.

„Ein grandioser Sieg, Godwin“, sagte einer kehlig. „Dein Vater wird stolz auf dich sein, und die Ansibarii werden erzittern, wenn dein Name genannt wird.“

Einige der Unterführer nickten zustimmend. Rumpeln und Poltern ertönte, als aus einer Hügellücke drei schwere Fuhrwerke, die jeweils von vier Ochsen gezogen wurden, rollten. Peitschen knallten, die rauen Rufe der Wagenlenker erklangen.

„Der Krieg, den wir mit den Ansibarii und all den anderen Stämmen führen, ist irrsinnig“, murmelte Godwin und jedes Wort schien tonnenschwer zu wiegen in seinem Mund. Nach einer kurzen Pause, in der ihn seine Unterführer betroffen fixierten, fuhr er fort: „Wir sind alle ein Volk, die Harier, die Ansibarii, die Aduatuker, die Angriouarioi und wie sie sonst noch alle heißen. Warum schlachten wir uns gegenseitig ab? Jenseits des großen Flusses stehen die Legionen der Heboniter, sie haben begonnen, erste Brücken zu bauen, um den Fluss zu überqueren und in unser Land einzufallen. Unsere Stämme sind uneins, und jeder Stamm hat für sich allein auf sich gestellt keine Chance.“

„Es geht um fruchtbares Land, Godwin“, gab einer der Männer in dem Kreis zu bedenken, „um Wasser und um die Schätze im Boden. Wir brauchen Erz für unsere Waffen, wir müssen Getreide anbauen können, damit wir selbst und unsere Tiere nicht hungern, wir benötigen Wasser, um …“

Godwin winkte fast etwas ungeduldig ab. „Wenn die Heboniter in unser Land einfallen, brauchen wir das alles nicht mehr, denn sie machen keine Gefangenen. Und dann gehört das, wofür wir Krieg führen und Schlachten schlagen, ihnen, unsere verrottenden Körper werden den Boden düngen und sie werden reiche Ernten erhalten.“

„Ich kann mir denken, wovon du träumst, Godwin“, sagte ein anderer der Unterführer. „Aber das wird wohl ein Traum bleiben, denn niemand wird es je gelingen, die Stämme auf dieser Seite des großen Flusses zu vereinen.“

„Wahrscheinlich hast du recht, Degenar“, versetzte Godwin mit lahmer Stimme und hob den Blick, denn von den Fuhrwerken her näherten sich einige Männer mit Brot und gebratenem Fleisch und Krügen voll Wein und Met. Nach kurzer Überlegung erhob der Fürstensohn noch einmal die Stimme und sagte: „Viele Ansibarii sind in die Hügel geflohen. Sie werden sich sammeln, und wie ich sie einschätze, werden sie versuchen, aus dem Hinterhalt zuzuschlagen. Wir müssen also auf der Hut sein, wenn wir uns auf dem Marsch befinden.“

„Sie sollen nur kommen!“, stieß er einer der Krieger grimmig hervor. „Wobei ich nicht glaube, dass sie sich trauen, uns zu attackieren, denn ich denke, dass wir ihnen heute den nötigen Respekt eingeflößt haben.“

Godwin verzog skeptisch den Mund. Zwei Männer traten in ihren Kreis und begannen, Brot und Fleisch zu verteilen. Ein anderer brachte Krüge und verteilte sie. Als auch Wein und Met eingeschenkt waren, aßen die Männer schweigend.

Godwin hing seinen bohrenden Gedanken nach. Er war stolz, zum Stamm der Harier zu gehören, und bis vor kurzer Zeit hielt er die Harier auch für den von den Göttern bevorzugten Stamm. Doch heute Mittag, als sich die Heere gegenüberstanden, hatte er zu zweifeln begonnen. Die Harier unterschieden sich durch nichts von den anderen Stämmen, die östlich des großen Flusses, der das Land teilte, seit vielen Jahrhunderten lebten. Sie glaubten sogar an dieselben Götter und feierten dieselben Feste. Es gab keinen Unterschied. Und dennoch schlachteten sie sich gegenseitig ab, und schuld daran waren Habgier, Machtbesessenheit, Arroganz und Ignoranz.

Die Völker und Stämme westlich des großen Flusses waren von den Hebonitern, die sich im Laufe der Jahrhunderte ein Weltreich geschaffen hatten, brutal unterworfen worden. Und nun waren die Heboniter drauf und dran, den Fluss zu überschreiten und Eroberungsfeldzüge im Land östlich des großen Flusses zu unternehmen.

Godwin sorgte sich. Stämme wie die Harier, Ansibarii, Aduatuker, Angriouarioi und all die anderen, die bis zu dem fernen Gebirge, das unüberwindlich war und das noch niemals ein Mensch überquert hatte, das Land besiedelten, drohte die Unterwerfung durch die Heboniter; das bedeutete Tod oder Sklaverei, die weitaus schlimmer war als der Tod.

Aber die Feindschaft zwischen den Stämmen war tief verwurzelt, der Hass wahrscheinlich unauslöschlich und stärker als die Vernunft.

In der Zwischenzeit war es finster geworden. Am Himmel flimmerten einige Sterne. Die Krieger unterhielten sich raunend, die Zungen wurden zunehmend schwerer, weil Wein und Met ihre Wirkung nicht verfehlten, der eine oder andere kippte dort, wo er saß, einfach um und begann zu schnarchen. Ab und an erklang der schauerliche Ruf eines Raubvogels wie ein Schrei aus einer anderen Dimension, immer wieder schoben sich Wolken vor Aurycume, einen der drei Monde, der kurz nach Einbruch der Nacht im Osten aufgegangen war und der die Dunkelheit etwas lichtete; Wolkenschatten huschten durch das Tal, in dem die Harier lagerten.

Godwin hielt sich mit dem Genuss des berauschenden Gebräus zurück. Viele seiner Unterführer hatten sich schon zur Seite gelegt und schliefen. Die anderen unterhielten sich flüsternd, einige starrten nur in die Flammen des kleinen Feuers, in dem das trockene Holz knackte und nach und nach zu Asche verbrannte und zerfiel.

Godwin Gedanken arbeiteten. Daran, dass die Ansibarii in dieser Nacht zurückkehrten, um einen Überfall zu wagen, glaubte er nicht. Sie hatten ihnen empfindliche Verluste zugefügt, die Überlebenden waren Hals über Kopf geflohen, und nun hatten sie sich sicher irgendwo im Gewirr der Hügel und Felsen verkrochen, um ihre Wunden zu lecken und über Racheplänen zu brüten.

„Schläfst du schon, Degenar?“, fragte er leise, den Blick auf den Freund gerichtet, der sich vor wenigen Minuten zurückfallen hatte lassen und die Hände hinter dem Kopf verschränkte.

„Nein.“ Degenar richtete sich wieder auf, strich sich mit den gespreizten Fingern seiner Linken durch die struppigen, blonden Haare, die ihm auf die Schultern und weit auf den Rücken fielen, und blinzelte Godwin an. „Du möchtest sprechen, nicht wahr?“

Godwin nickte, beugte sich vor, nahm ein paar Holzstücke und warf sie in die Glut. Funken sprühten. „Du denkst, es ist ein Traum, wenn ich von einem Zusammenschluss aller Völker auf dieser Seite des großen Flusses spreche, Degenar.“

„Es ist undurchführbar. Zu tief sitzt die Feindschaft zwischen den einzelnen Stämmen, eine Feindschaft, die seit Jahrhunderten besteht und die sowohl in den Herzen als ich in den Gemütern tief verwurzelt ist.“

„Feindschaft kann man in Freundschaft umwandeln“, wandte Godwin ein.

Fast bedächtig schüttelte Degenar den Kopf, dann erwiderte er: „Es ist eine Blutsfeindschaft, Godwin, die Stämme haben sich gegenseitig Schmach zugefügt – eine Schmach, die seit Jahrhunderten mit Blut abgewaschen wird. Man hat uns – dich, mich und all die Männer hier, die heute kämpften, die gestorben sind oder verwundet wurden, die getötet und verwundet haben -, in diesem Sinne erzogen, und bei den anderen Stämmen werden die Kinder ebenfalls in diesem Sinne geprägt. Es ist nicht zu ändern, wir müssen damit leben und es an unsere Kinder weitergeben.“

„Das ist verrückt, angesichts der Gefahr, die uns von Westen droht. Die Heboniter werden einen Stamm nach dem anderen überrennen, sie werden die Männer, Frauen und Kinder abschlachten oder versklaven, unsere Dörfer werden sie niederbrennen und unsere Ernten stehlen.“

„Die Harier werden sich wehren“, erklärte Degenar im Brustton der Überzeugung.

„Und zugrunde gehen“, ergänzte Godwin. „Ebenso wie all die anderen Stämme bis zu den Bergen fern im Osten. Wir sind alle ein Volk, und der Gedanke, dass es uns in naher Zukunft vielleicht nicht mehr gibt, erschreckt mich.“

Wieder schüttelte Degenar den Kopf, dieses Mal aber weniger bedächtig, und mit Nachdruck stieß er hervor: „Nein, wir sind nicht alle ein Volk, Godwin. Zwischen dem Land der Halogit und dem der Kasnarier hausen die Murdocks, die Wolfsmenschen. Sie bringen jeden Fremden um, der es wagt, auch nur einen Fuß auf ihr Land zu setzen. Östlich der …“

Godwin winkte ab und Degenar schwieg. „Die Murdocks, die Chauboi und die Maiaten zähle ich nicht zu unserem Volk. Sie können die Heboniter meinetwegen auch vernichten und ausrotten. Es sind keine richtigen Menschen, es sind halbe Tiere, die sich von rohem Fleisch ernähren und von einer triebhaften Brutalität sind.“

„Du musst ihre Gebiete durchqueren, wenn du zu den Stämmen möchtest, die du vereinen willst. Sollen deine Gebeine irgendwo im Murdock-Land verrotten? Bei den Göttern – von den Hebonitern erschlagen zu werden ist sicher gnädig gegen das, was dich bei den Murdocks oder den Chauboi oder den Maiaten erwartet.“

„Du willst mir Angst einjagen, mein Freund“, kam es lahm von Godwin.

„Nein, ich versuche dir klarzumachen, dass der Plan, der sich in deinem Kopf mehr und mehr zu verfestigen scheint, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Lass den Dingen ihren Lauf, Godwin. Wenn die Heboniter zu den Hariern kommen, dann kämpfen wir, und wenn es die Götter wollen, dann sterben wir. Dem Willen der Götter müssen wir uns beugen.“

„Ich werde, sobald wir in unser Dorf zurückgekehrt sind, mit meinem Vater, dem Fürsten sprechen“, stieß Godwin hervor.

„Du wirst Arnold verärgern“, prophezeite Degenar. „Du kennst die Einstellung des Fürsten.“

In düsteres Schweigen versunken starrte Godwin versonnen in die Flammen.

 

 

1

Das Krächzen der Aasgeier erfüllte die Senke, die unter einem flirrenden Hitzeschleier lag und vom süßlichen Geruch der Verwesung erfüllt war. Die hässlichen Tiere stritten sich flügelschlagend um das Fleisch, dass sie mit ihren scharfen Schnäbeln von den toten Körpern rissen.

Die Harier zogen am Rand der Senke nach Norden. Voraus ritten Godwin und seine Unterführer in loser Ordnung. Die schweren Rosse stampften, schnaubten und prusteten, manchmal erklang ein nervöses Wiehern, weil der Geruch des Todes die Pferde beunruhigte. Die Soldaten marschierten in Dreierreihe hinter ihren Führern her. Die Lanzenträger hatten sich ihre Waffen auf die Schulter gelegt, ebenso jene, die mit schweren, zum Teil doppelschneidigen Äxten bewaffnet waren. Das Blut auf den Klingen war eingetrocknet, Staub, den der heiße Wind über die Hügel und Felsen herantrug, verklebte die kleinen Wunden. Hinter den Soldaten fuhren die drei Fuhrwerke mit den Vorräten und den Verwundeten, die zu schwach waren, um zu marschieren.

Sie würden zwei Tage unterwegs sein, um ihr Dorf zu erreichen. Zwei Tage, in denen jeden Moment das Unglück über sie hereinbrechen konnte, wenn sich die versprengten Ansibarii wieder zusammengerottet hatten und ihnen einen Hinterhalt legten. Die tödliche Gefahr war allgegenwärtig.

Godwin ließ der Gedanke, die Stämme zu vereinen und mit einer starken Gemeinschaft den Hebonitern die Stirn zu zeigen, nicht mehr los. Er gab sich aber keinen Illusionen hin; sein Vater war ein unduldsamer, unerbittlicher und unbeugsamer Mann, der mit Hass im Herzen aufgewachsen war und der keinem, außer den Mitgliedern seines Stammes, das Recht auf ein freies Leben zubilligte.

Das Land zwischen dem großen Fluss und dem gigantischen Gebirge, das viele für das Ende der Welt hielten, war riesig. Auch westlich des großen Flusses dehnte es sich unendlich weit und es endete am Ozean, der die Erde nach Westen begrenzte. Tief aus dem Süden des riesigen Kontinents kamen die Heboniter, die sich die halbe Welt unterworfen hatten und die nun die Hände nach der anderen Hälfte ausstreckten.

Nachdem sie eine Stunde marschiert waren, hatten sie die Senke, die am Tag zuvor Schauplatz einer blutigen Schlacht gewesen war, verlassen und sie zogen zwischen den Hügeln dahin. Das Land, das sie umgab, hatte den Charakter einer Wüste; Sand, Staub, Geröll, Felsen und dorniges Strauchwerk, das ein kümmerliches Dasein fristete. Vereinzelte Windböen rissen den gelben Staub vom Boden in die Höhe und die Staubwolken hüllten die Männer ein. Auf ihrer Haut vermischte sich der Staub mit dem Schweiß und bildete bald eine dünne Schicht, die Augen entzündeten sich und brannten.

Die Hitze nahm zu, die Luft schien zu kochen. Nur selten gab es Schatten. Für die Tiere und Menschen wurde bald jeder Schritt zur Tortur, die Waffen, die die Soldaten trugen, schienen mit jedem Schritt an Gewicht zuzunehmen.

Degenar trieb sein Pferd neben das Godwins, ritt eine ganze Weile schweigend neben ihm, musterte ihn aber immer wieder von der Seite und brach endlich das Schweigen, indem er hervorstieß: „Es ist alles von den Göttern vorbestimmt, Godwin. Du solltest nicht versuchen, das Schicksal ändern zu wollen.“

„Kannst du meine Gedanken lesen, Degenar?“, fragte Godwin, ohne den Kopf zu drehen, um Degenar anzusehen.

„Was du denkst steht dir ins Gesicht geschrieben, mein Freund“, antwortete der blonde Krieger. „Alles was kommt – es ist Vorhersehung und wir müssen es hinnehmen, wenn wir die Götter nicht erzürnen wollen. Wenn es die Bestimmung ist, dass die Heboniter den Kontinent vom Ozean bis zum Gebirge übernehmen, dann müssen wir es akzeptieren, selbst wenn es unseren Tod bedeutet.“

„Die Heboniter glauben nicht an unsere Götter“, gab Godwin zu bedenken. „Warum also sollten die Götter sie zu den Herren des gesamten Kontinents erheben.“

„Die Götter sind die gleichen“, versetzte Degenar. „Sie haben lediglich andere Namen.“

„Die Heboniter sind Räuber und Mörder!“, knirschte Godwin. „Wenn ihre Götter dieselben sind wie meine, und wenn diese Götter die Heboniter bevorzugen, dann will ich mit den Göttern nichts mehr zu tun haben!“

„Vorsicht!“, mahnte Degenar. „Was du sagst, ist frevlerisch. Die Götter werden dich strafen.“

Godwin verzog den Mund. Obwohl seine Gedanken immerzu um dasselbe Thema kreisten, waren seine Augen unablässig in Bewegung. Er rechnete mit einem Hinterhalt, und so ließ er die gebotene Vorsicht nicht außer Acht, sicherte nach vorne und nach beiden Seiten, und eine seltsame Ungeduld begann Besitz von ihm zu ergreifen – die Ungeduld eines Mannes, der sich wünschte, dass bald etwas geschah, das die Nerven zermürbende Anspannung von ihm nahm.

Aber da war nichts, außer totem Gestein und dem wirbelnden Staub, außer dem blauen Himmel, der sich ungetrübt von einem Horizont zum anderen spannte und der sengenden Sonne, die ihren höchsten Stand erreicht hatte und senkrecht über den Hariern stand.

Jeder Schritt, den sie machten, brachte sie der Heimat näher. Dort warteten die Ehefrauen und Mütter, die Kinder und die Väter der Kämpfer und die Trauer in den Familien, die einen oder gar mehrere Tote zu beklagen hatten, würde groß sein. Zur Totenklage aber würde sich der Stolz gesellen und die Hoffnung, dass die im Kampf gefallenen Männer von den Göttern wohlgefällig in ihren Palast aufgenommen wurden und in Valaskjalf kämpfen und feiern durften.

Das Gespräch zwischen den beiden Freunden war wieder eingeschlafen. Als sie einen schmalen Fluss erreichten, der nahezu ausgetrocknet war und nur noch ein klägliches Rinnsal darstellte, ordnete Godwin eine Ruhepause an. Die Pferde wurden getränkt, die Krieger wuschen sich Staub und Schweiß aus den Gesichtern, löschten ebenfalls ihren Durst und bekamen zu essen. Sie hockten auf Felsbrocken und auf dem Boden, die Waffen griffbereit neben sich, bereit, beim Auftauchen des Feindes aufzuspringen und sich ihm entgegenzustürzen. Der Kampf war ihr Leben, im Kampf zu sterben war eine Ehre, einem tapferen Krieger, der im Kampf ums Leben kam, war die Aufnahme in Valaskjalf sicher. Nichts war erstrebenswerter …

Leise Unterhaltungen wurden geführt. Die Wachposten, die von den Unterführern eingeteilt worden waren, umrundeten konzentriert den Lagerplatz. Sie trugen die Verantwortung dafür, dass ein etwaiger Überfall frühzeitig bemerkt und die Truppe gewarnt wurde. Nachlässigkeit bei der Wache wurde mit dem Tod bestraft, der Betroffene wurde lebendig im Moor versenkt. Ein schmählicher Tod, dem Delinquenten war der Einlass in den Palast der Gefallenen verwehrt; eine schreckliche Vorstellung.

Gefahr lag in der Luft; Godwin merkte es ganz deutlich, es war wie ein sechster Sinn – es war der Pulsschlag einer tödlichen Bedrohung. Sein hellwacher Blick tastete sich über die Kämme und Kuppen der Hügel ringsum; das zum großen Teil verdorrte Strauchwerk erinnerte an Skelette und unwillkürlich wurde Godwin an die toten Kämpfer erinnert, die in der staubigen Senke zurückgeblieben waren, deren Körper den wilden Tieren einen reich gedeckten Tisch boten und deren Gebeine bald in der sengenden bleichen würden.

Skelette!

Wir erschlagen uns gegenseitig!, zuckte es durch Godwins Verstand. Und am Ende sind wir nicht mehr genug, um die Heboniter aufzuhalten und die Quittung wird sein, dass die Wenigen, die noch leben, von ihnen massakriert werden. Eine quälende Vorstellung, die das Blut des Fürstensohnes zu Wallung und seinen Puls zum Rasen brachte.

„Du erwartest den Angriff, Godwin, nicht wahr?“

Die Stimme Degenars ließ Godwin zusammenzucken. Er blinzelte und nickte. „Der Platz zwischen den Hügeln ist hervorragend für einen Hinterhalt geeignet.“ Godwin deutete, während er sprach, mit der linken Hand nach Norden, wo sich lang gezogene Hügelketten und Felsbarrieren von Westen nach Osten dehnten; düstere Einschnitte und v-förmige Kerben führten zwischen sie, die jedoch keinen Schluss darauf zuließen, ob sie den Anfang eines Weges durch dieses Labyrinth aus Hügeln, Felsen, Senken, Schluchten und Canyons bildeten oder ob sie irgendwo an einer Felswand oder einem Steilhang endeten und den Reisenden zur Umkehr zwangen.

„Warum schickst du nicht einige Krieger als Kundschafter voraus?“, fragte Degenar.

„Wenn irgendwo die Ansibarii lauern, schicke ich sie in den sicheren Tod“, verlieh Godwin seiner Befürchtung Ausdruck.

„Das wird so sein. Der Hass zwischen den Hariern und den Ansibarii ist unversöhnlich und sie würden deine Kundschafter abschlachten. Ist das nicht Grund genug, deinen Traum von einem Bündnis oder gar einer Verbrüderung zu begraben, Godwin? Du kannst dich mit ihnen nur in einer Sprache unterhalten – in der Sprache, die sie verstehen … Das ist die Sprache der Gewalt. Die Ansibarii kennen keinen Ehrenkodex, das Wort Fairness ist ihnen fremd, sie sind hinterhältiger als Skorpione und haben kein Ehrgefühl im Leib …“

„Das sagst du auch von den Aduatukern, den Burgodionern, den Hologiten und allen anderen Stämmen zwischen dem großen Fluss und dem Gebirge am Ende der Welt im Osten.“

„Nicht ohne Grund, mein Freund, ganz gewiss nicht ohne Grund. Du kennst ihn.“

Godwin nickte. Er konnte es nicht abstreiten – Degenar hatte recht. Doch das gefiel dem Fürstensohn nicht, denn der Hass unter den Stämmen kam der Selbstvernichtung gleich; dessen war er sich ganz sicher, und die düsteren Ahnungen, die ihn erfüllten, ließen ihn regelrecht erschaudern.

„Finde dich damit ab, Godwin“, murmelte Degenar und erhob sich. „Ich würde mich als Kundschafter zur Verfügung stellen. Wenn die Götter meinen Tod bestimmt haben, dann ereilt er mich so oder so. Stell mir Irminar und Ragin zur Verfügung.“

Godwin nagte lange Zeit nachdenklich an seiner Unterlippe, er hatte die Lider gesenkt, Unschlüssigkeit prägte jeden Zug seines Gesichts. Schließlich aber nickte er. „Mögen die Götter mit dir sein, Freund. Es ist in Ordnung. Erkundet den Weg und meldet es mir, wenn die Luft rein ist.“

Degenar legte die Hand flach gegen den Leib und deutete eine Verneigung an, drehte sich herum und rief die Namen der beiden Krieger, die ihn begleiten sollten. Es waren zwei große, breitschultrige Männer mit muskulösen Armen und scharf geschnittenen Gesichtszügen. Der eine war mit einem langen Schwert bewaffnet, das so schwer war, dass es nur mit zwei Händen geführt werden konnte, der andere trug einen kurzen Speer mit geschmiedeter Eisenklinge am langen Arm.

Schnell näherten sie sich, einen fragenden Ausdruck in den Augen, die Gesichter gezeichnet von den Strapazen der vergangenen Tage und vom Kampf mit den Ansibarii.

„Wir drei bilden eine Vorhut“, klärte Degenar sie auf. „Ich vermute nämlich, dass irgendwo vor uns die Ansibarii lauern, denen gestern die Flucht gelungen ist. Ihr seid erfahrene Männer, und das Wort Angst ist euch fremd. Seid ihr bereit, mit mir zu gehen und Gefahr zu laufen, von den Ansibarii erschlagen zu werden.“

„Ich bin bereit“, sagte Irminar, der Krieger mit dem Langschwert.

„Ich gehe ohne Furcht mit dir, Degenar“, erklärte Ragin, der Kämpfer mit der Lanze. In einer Scheide an seinem Gürtel steckte außerdem ein schweres Messer mit breiter Klinge und einem Knochengriff.

Degenar streckte den Arm aus und hielt den beiden Kriegern die Hand so hin, dass der Handrücken nach oben schaute. „Beim Blut unserer Väter und Vorväter – wir fürchten die Ansibarii-Hunde nicht.“

Die beiden Krieger legten ihre Hände flach auf seine. „Wir zertreten sie wie lästige Würmer“, stieß Ragin hervor.

„Nehmt euch Pferde“, sagte Godwin. „Damit seid ihr beweglicher und schneller. Und seht zu, dass ihr bis zum Abend wieder zurück seid. Die Götter mögen mit euch sein.“



2

Die Sonne ging unter, die Dämmerung schlich ins Land, der Himmel bewölkte sich und in den Wolkenlöchern flirrten vereinzelte Sterne. Aurycume, einer der drei Monde, war nur als bleicher Fleck hinter grauen Wolken auszumachen. Mesaglute, der rote Mond, und Femisto, der weiße Zwergmond, würden sich erst im Lauf der Nacht zeigen. Wispernd strich der Wind an den kahlen Felsen entlang, raschelte in den Zweigen der halbverdorrten Sträucher und wühlte im Staub, der das ganze Land wie gelber Puder überzog.

Fiebernde Ungeduld erfüllte Godwin, sein stechender Blick bohrte sich in die Dunkelheit hinein, er lauschte angespannt und hin und wieder glaubte er sogar, ferne, verschwommene Hufschläge vernommen zu haben, was sich aber sehr schnell als Sinnestäuschung herausstellte. Seine überreizten Nerven gaukelten es ihm vor, und seine Zuversicht, dass Degenar, Irminar und Ragin unversehrt und mit einer erfreulichen Nachricht zurückkehrten, erhielt einen Dämpfer, wenn er feststellen musste, dass er sich wieder einmal geirrt hatte.

Im Lager seiner Soldaten war es ruhig. Die meisten der Männer schliefen, übermannt von der Erschöpfung, die ihnen in den Knochen steckte, wie schleichendes Gift ihre Muskeln und Sehnen lähmte und ihr Denken verzerrte. Er, Godwin, fand keinen Schlaf, obwohl auch er die Schwäche nach den Strapazen der vergangenen Tage bis in die letzte Faser seines Körpers spürte. Die Sorge um Degenar, seinem Freund, und die beiden Kämpfer ließ ihn immer wieder hochschrecken, und er richtete sich dann auf, drehte das linke Ohr nach Norden und lauschte voller Anspannung, nur ganz flach atmend, damit das eigene Atemgeräusch sein Lauschen nicht störte.

Nichts!

Er erhob sich, nahm sein Schwert, legte es sich auf die Schulter und umrundete von seiner inneren Rastlosigkeit getrieben den Lagerplatz. Ein rötlicher Widerschein über dem bizarren Horizont im Norden kündete den roten Mond Mesaglute an, den die Harier auch den blutigen Mond nannten.

Zwei Wachposten schälten sich aus der Dunkelheit, Godwin wurde angerufen und gab sich zu erkennen, die beiden schemenhaften Gestalten kamen näher und nahmen Formen an, dann hielten sie zwei Schritte vor dem Sohn ihres Fürsten an und einer sagte: „Es ist alles ruhig, Godwin. Nicht der geringste Hinweis deutete darauf hin, dass Feinde in der Nähe sind.“

„Degenar und zwei Krieger, die den Weg auskundschaften wollten, sollten spätestens am Abend zurückkehren. Etwas hat sie daran gehindert – und ich glaube, ich weiß, was das war.“

„Die Ansibarii“, murmelte der Wachposten.

„Davon bin ich überzeugt.“

„Wir hätten sie verfolgen und alle erschlagen sollen!“, brach es aus der Kehle des Wachpostens.

Bei den Göttern!, durchfuhr es Godwin. Dreht sich denn alles nur noch ums Erschlagen, ums Abschlachten und Massakrieren? Ist denn niemand in unserem Land in der Lage, die Zeichen der Zeit zu deuten und umzudenken. Die Heboniter haben unser Land ins Auge gefasst, und sie sind eine Macht, gegen die wir nur als Gesamtheit bestehen können. Er sagte kehlig: „Ich denke, dass die Ansibarii uns zwischen den Hügeln erwarten. Du wirst also Gelegenheit bekommen, Soldat. Ich schließe aber auch nicht aus, dass sie schon um unseren Lagerplatz herum Stellung beziehen. Also seid aufmerksam.“

Godwin ging weiter und traf wenig später auf die zweite Streife. Auch mit diesen beiden Soldaten wechselte er einige Worte und schärfte ihnen ein, wachsam zu sein. Er erreichte das Rinnsal, das einmal ein schmaler Fluss gewesen war, blieb auf dem schlammigen Ufersaum stehen und starrte durch die Dunkelheit nach Norden, wo sich die Hügel und Felsen erhoben und der Mond Mesaglute die Kuppen und Kämme und bizarren Gipfel der Felsen in rötliches Licht tauchte. In den Einschnitten, Hügelkerben und Schluchten herrschte absolute Finsternis, die derart dicht war, dass sie fast stofflich und greifbar anmutete.

Diese schwarzen Spalten wirkten drohend und prophezeiten Unheil.

Der junge Fürstensohn stand reglos – wie versteinert – im Geröll übersäten Flussbett spürte den warmen Nachtwind, der in seinen langen Haaren wühlte und sein von der Sonne verbranntes Gesicht streifte.

Gedanken kamen und gingen. Schließlich kam ihm Hadwinga, die Tochter des Egmont, in den Sinn. Sie war achtzehn Sommer alt und sehr, sehr hübsch. Er, Godwin, liebte sie, sie war ihm versprochen, mit ihr wollte er Kinder – Söhne und Töchter – haben. Ihr schmales Gesicht mit den großen, blauen Augen, der kleinen, geraden Nase, dem schön geschnittenen Mund, dem runden Kinn und dem schlanken Hals erschien vor seinem geistigen Auge und alle anderen Gedanken verschwanden. Ihr Haar hatte die Farbe reifen Weizens, und wenn sie lächelte, gaben ihre sinnlichen Lippen eine Reihe weißer, wie die Perlen an einer Schnur aufgereihter Zähne frei.

Ein Gefühl der Wärme durchzog den Fürstensohn, sein Herz schlug höher, und er spürte das Verlangen, Hadwinga in seine Arme zu schließen, ihren Körper zu spüren und ihre weichen Lippen …

Er dachte an die Zukunft und heißer Schreck durchzuckte ihn, sein Herz schien einen Schlag zu überspringen, eine Bruchteile von Sekunden andauernde Blutleere im Gehirn ließ ihn schwindlig werden. Würden seine Söhne aufwachsen wie er? Würden sie, kaum dass sie den Kinderschuhen entwachsen waren, ausziehen, um Feinde zu erschlagen, weil sie deren Land besitzen wollten oder ganz einfach nur, weil es keine Harier waren?

Der Gedanke war erschreckend. Und der nächste, der ihn wie mit tonnenschwerer Last zu erdrücken drohte, war der, dass alles, was er von der Zukunft erwartete, Illusion bleiben würde, wenn die Heboniter nicht aufgehalten werden würden und sich das Land östlich des großen Flusses unterwarfen. Jetzt war es nur noch die Angst vor der Zukunft, die ihn innerlich erbeben ließ und ihn regelrecht überwältigte und die für geraume Zeit keinen anderen Gedanken zuließ. Sie jagte wie Fieberschauer durch seine Blutbahnen, und so sehr er sich auch bemühte, sein Denken in eine andere Richtung zu lenken – es wollte ihm nicht gelingen.

Wenn es keine Änderung gab, würde sich die Zukunft düster gestalten; das war Godwin klarer denn je. Er richtete den Blick hinauf zum Firmament, an dem vereinzelte Sterne flimmerten. Irgendwo in der Weite des Alls hatten die Götter ihren Sitz. Warum ließen sie zu, dass sich die Menschen gegenseitig zerfleischten, warum hatten sie sie mit schlechten Eigenschaften ausgestattet, mit Habgier, Hass, Niedertracht, Skrupellosigkeit, Neid und Missgunst?

Das waren die Beweggründe, und sie leiteten nicht nur die anderen Stämme und die Heboniter, sondern auch die Harier. Anerkannt und respektiert war der, der die meisten Feinde erschlagen hatte.

Quälende Ahnungen befielen den Fürstensohn – Ahnungen, an deren Ende etwas Dunkles, etwas Unheilvolles stand und das in ihm einen wühlenden Aufruhr der Gefühle verursachte. Konnte das, was sich abzeichnete, von den Göttern gewollt sein? Godwin konnte es sich nicht vorstellen. Hatten sie die Menschen erschaffen, damit sich diese gegenseitig vernichteten? Waren die Menschen lediglich Figuren auf einem überdimensionalen Brettspiel, die die Götter nach Belieben hin und her schieben und auch völlig aus dem Spiel nehmen konnten? Diente die Menschheit der Kurzweil der Götter?

Godwin war voller Zweifel. Groß und hager stand er am Rand des fast ausgetrockneten Flussbettes, das blutige Licht des Mondes Mesaglute umriss scharf seine Gestalt und ließ seine Augen glitzern, schwer trug er an seinen Ängsten und Nöten. In seinem Stamm nannten sie ihn den Freund der Götter, man schrieb ihm besondere Kräfte zu, sogar die Priester respektierten und verehrten ihn wie einen Halbgott. Er stand über den Dingen, und eines Tages sollte er Stammesfürst sein, um die Tradition fortzusetzen, die sein Vater und alle seine Vorväter schon gepflegt hatten.

Wenn alles so blieb, wie es war.

Die Bilder jedoch, die die Zukunft zeigten und wie ein Film vor Godwins geistigem Auge abliefen, waren nichts als Visionen des Schreckens und des Grauens. Und sie waren so erschreckend lebendig; Feuer, Rauch, Ströme von Blut, gellende Todesschreie, Wimmern, Stöhnen und Röcheln – Tote und Sterbende und – nirgendwo ein Gott, der diesem Irrsinn Einhalt gebot.

Stunde um Stunde stand Godwin auf demselben Fleck, und irgendwann lichtete sich die Dunkelheit, die Monde und die Sterne verblassten, die Jäger der Nacht begaben sich zur Ruhe, das Land ringsum gewann nach und nach seine Farben zurück. Der Morgendunst hüllte alles ein und er war ein Vorbote der sengenden Tageshitze.

„Wir sollten abrücken, Godwin. Degenar, Irminar und Ragin kehren wohl nicht mehr zurück.“

Godwin drehte sich langsam um und fasste den Sprecher ins Auge. Es war einer seiner Unterführer. Seine Worte klangen in dem Fürstensohn nach und sekundenlang schien er ihnen hinterherzulauschen. Schließlich nickte er: „Ja, die Männer sollen sich fertig machen. Verheimlicht ihnen nicht, dass ich zwischen den Hügeln und Felsen mit einem Hinterhalt der Ansibarii rechne und dass es wohl zum Kampf kommen wird. Sie sollen sich darauf einstellen.“

„Jeder weiß es, Godwin“, murmelte der Unterführer, der sein langes Schwert mit der Spitze auf den Boden gestellt hatte und essen beide Hände den Griff umklammerten. „Und jetzt, da wir davon ausgehen müssen, dass Degenar, Irminar und Ragin tot sind, brennen unsere Krieger geradezu darauf, so viele Ansibarii wie möglich zu töten.“

Godwin verspürte einen bitteren Geschmack in der Mundhöhle.

Eine halbe Stunde später zogen sie durch das Flussbett. Eine große Zahl verschiedener Geräusche vermischte sich miteinander und rollte vor der Truppe her. Anspannung prägte die Mienen, die an Intensität zunahm, je näher sie den Hügeln und Bergen kamen, die sich wie ein riesiger Wall vor ihnen auftürmten und deren enge Durchlässe in tödliche Fallen umfunktioniert werden konnten.

Der Dunst hatte sich verflüchtigt, klar und scharf zeichneten sich die Konturen der Anhöhen und bizarren Felsformationen gegen den gleißenden Hintergrund ab. Bald aber würde die Hitze wieder so sengend sein, dass die Konturen in der wabernden Luft verschwammen und jeder Atemzug die Lungen wie mit Feuer füllte.

Die Harier zogen zwischen die Hügel. Nichts geschah. Das hügelige Terrain endete und Felsmassive mit fast senkrechten Wänden erhoben sich. Nur eine enge Schlucht, sie mutete an, als hätte ein Riese mit seiner Axt eine der lang gezogenen Felsketten gespalten, öffnete sich. Darauf hielt der Zug zu. Godwin und die Unterführer ritten vor den marschierenden Soldaten, denen folgten die Fuhrwerke. Zwischen den Felswänden waren die Geräusche mehr als doppelt so laut und es wäre unmöglich gewesen, irgendeine Unterhaltung zu führen. Aus engen Seitenschluchten strömte den Hariern kühle Luft entgegen. Jeder von ihnen hatte das bedrückende Gefühl, in ein riesiges, steinernes Grab hineinzumarschieren. Die Beklemmung bei den Soldaten wuchs, unruhig tasteten sie mit ihren Blicken die Felswände ab, ihre schweißnassen Hände saugten sich regelrecht an den Griffen der Schwerter und den Schäften der Lanzen und Äxte fest.

Als sie sich mitten in der engen Schlucht befanden, brach das Unheil über sie herein. Massen von Geröll stürzte auf beiden Seiten der Schlucht auf sie hernieder, der Poltern der Gerölllawinen verschmolz mit dem Geschrei der Harier und dem trompetenden Wiehern der Pferde, Staub wallte dicht und verhüllte das schreckliche Szenarium. Und dann kamen die Ansibarii von zwei Seiten. Jene, die von Süden her, brüllend und die Waffen schwingend, zwischen die Felsen stürmten, hatten sich in den Hügeln verborgen und die Harier an sich vorbei gelassen, um ihnen dann unbemerkt in die Schlucht zu folgen und ihnen den Rückweg zu versperren. Die andere Gruppe hatte weiter nördlich gelauert, und als die Krieger auf den Felsen die Gerölllawinen auslösten, griffen sie an.

Hass und Vernichtungswille verzerrte die Gesichter, wütete in den Augen und vergiftete das Bewusstsein. Die Ansibarii wollten nur zerschlagen, vernichten und töten. Und die Harier, die noch dazu in der Lage waren, warfen sich ihnen entgegen. Eisen klirrte, Männer sanken tot oder sterbend zu Boden, schrille Todesschreie erhoben sich.

Vor Godwin tauchte ein Krieger auf, es war, als würde ihn die Staubwolke ausspucken, die zwischen den Felsen hing. Der Fürstensohn parierte den Hieb mit der Keule, der derart kraftvoll geführt wurde, dass er ihm fast das Schwert aus den Händen prellte. Er rammte dem Gegner das Bein in den Leib, der beugte sich nach vorn und fiel aufs Gesicht, als Godwins Schwertklinge auf seinen Rücken knallte. Und schon warf sich ein neuer Gegner dem Fürstensohn entgegen und stieß mit der Lanze nach ihm.

Das Schwert in den Händen Godwins wirbelte. Ohne von einem bewussten Willen geleitet zu werden schlug und stach er, parierte Schwert- und Keulenhiebe sowie Lanzenstöße, seine Klinge schlug grässliche Wunden, spaltete Schädel und bohrte sich in die Leiber seiner Feinde. Sein Arm wurde nicht müde, es war, als wäre es gar nicht der Fürstensohn selbst, der das Schwert führte, sondern eine unsichtbare Macht, deren Kraft nicht zu erlahmen schien.

Der Kampf dauerte eine gefühlte Ewigkeit, und immer neue Ansibarii stürmten brüllend und vom vernichtenden Willen zum Töten erfüllt von beiden Seiten in die Schlucht. Aber irgendwann wurde das Kampfgetümmel schwächer, die Geräusche reduzierten sich, der Staub verwehte oder sank auf die Erde nieder. Männer mit weit aufgerissenen Augen, die den letzten Schreckens ihres Lebens ausdrückten, und aufklaffenden Mündern, aus denen sich keine Schreie mehr lösten, weil der Tod sie erstickt hatte, lagen auf dem Geröll, zwischen und unter dem weitere, reglose Gestalten lagen, die bereits von dem herabstürzenden Gesteinsschutt erschlagen worden waren.

Die Harier hatten sich mit dem Mut der Verzweiflung zur Wehr gesetzt, und sie hatten gesiegt. Wenn der Sieg auch teuer erkauft worden war, denn es waren höchstens noch drei Dutzend Harier, die auf den Beinen waren. Unter ihnen befand sich Godwin, über dessen Gesicht Bäche von Schweiß rannen und das Blut seiner Feinde abwuschen, mit dem es über und über besudelt war.

„Da liegen diese Hunde von Ansibarii!“, schrie einer der Harier triumphierend, riss den Arm mit der blutverschmierten Keule in die Höhe und schüttelte sie. „Die Götter waren mit uns, sie haben nicht zugelassen, dass uns die Ansibarii erschlagen. Den Göttern sei dank, wir sollten ihnen ein Opfer darbringen.“

Godwin strich sich mit der linken Hand über die Augen, als wollte er das furchtbare Bild, das sich seinem Blick bot, einfach wegwischen. Es war wie ein Alptraum, und der Sieg seines Stammes über die Ansibarii fühlte sich für ihn persönlich an wie eine Niederlage. Er wusste nicht, wie viele Feinde er niedergemetzelt hatte. Er wusste nur, dass er das alles nicht wollte und hasste sich für das, das zu tun sie ihn gezwungen hatten, nämlich brutal zu töten.

„Nein!“, presste er hervor. „Das ist es nicht wert, den Göttern zu opfern.“

Seine Männer starrten ihn eine ganze Zeit befremdet an, dann stiegen sie, ohne ein Wort zu verlieren, über die kreuz und quer liegenden reglosen und im Todeskampf zuckenden Leiber hinweg und töteten jeden Ansibarii, in dem noch ein Funke Leben war. Keine Gefangenen! Das war das Gesetz. Kein Feind sollte jemals wieder die Gelegenheit erhalten, sich fortzupflanzen.

Tatenlos schaute Godwin zu. Dumpf schlug das Herz in seiner Brust. Er zwang sich, nicht einzuschreiten, denn er wollte seine Krieger nicht herausfordern. Es war schon schlimm genug, dass sich die Angehörigen der verschiedenen Stämme gegenseitig umbrachten. Blutvergießen innerhalb seines Stammes wollte er auf jeden Fall vermeiden.

Schließlich wurden die verwundeten Harier versorgt, die Waffen der Toten wurden eingesammelt und auf die Fuhrwerke geworfen, dann verließen Godwin und seine Männer die Schlucht, die für viele ihrer Gefährten tatsächlich zum Grab geworden war.

In einer Senke, in der es einige Wasserlöcher gab, die von einem kleinen Rinnsal gespeist wurden, hielten sie an, um Kraft zu schöpfen, denn vor ihnen lag noch ein weiter und beschwerlicher Weg voller Strapazen und Unbilden.



3

Es war Nacht. Die Monde und die Sterne wurden von einer dicken Wolkenschicht bedeckt. Die Harier hatten ihr Lager zwischen steilen Felsen aufgeschlagen. Die Feuer waren heruntergebrannt, drei Doppelstreifen umrundeten den Lagerplatz und lauschten dem Säuseln des Windes. Es war, als meldeten sich die alten, längst verklungenen Stimmen dieses gnadenlosen Landes, von dem Godwin fürchtete, dass es im Blut seiner Menschen ertrank, wenn die Stämme und Völker nichts unternahmen, um die Unterwerfung durch die Heboniter zu verhindern.

Godwin schlief. Seine Lippen bewegten sich, die verzerrten Gesichter der Krieger, die von seinem Schwert tödlich verletzt zu Boden sanken, schoben sich aus seinem Unterbewusstsein in den Vordergrund und riefen ihm mit gehässiger Stimme irgendwelche Anklagen zu. Sie verschwanden wieder in den Nebeln seines Unterbewusstseins, aus dem sich nun eine hohe Gestalt löste, die in der rechten Hand ein Schwert hielt von dessen Klinge dunkles Blut tropfte. Die Brust des Kriegers wies eine klaffende Wunde auf, Blut pulsierte aus der Wunde.

Noch verhüllten die wallenden Nebel das Gesicht der Erscheinung, und Godwin spürte, wie sich Angst in ihm breit machte. Er wollte zurückweichen, doch er war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Langsam näherte sich ihm der Krieger mit der Verletzung, die kein Mensch überleben konnte und aus der ununterbrochen Blut sprudelte. Godwin wurde von der Panik überwältigt, er wollte sich herumwerfen und die Flucht ergreifen. Vergeblich.

„Bleib!“

Er kannte die Stimme, es war die seines Freundes Degenar. Bei den Göttern! Es war auch die Gestalt seines Freundes, und jetzt schälte sich das Gesicht aus den wogenden Nebelschleiern - Degenars bleiches Gesicht mit den dunklen Augenhöhlen.

„Degenar!“, entfuhr es Godwin, eine Woge der Glückseligkeit überschwemmte ihn und seine Panik war wie verflogen. „Du lebst. Ich …“

Degenar hatte angehalten, rammte das Schwert einige Handbreit in den Boden und setzte sich auf einen Felsblock. Godwins weitere Worte waren in der Kehle erstickt, denn Degenar kam ihm fremd vor, etwas in seinem Gesicht war verändert, in seinem Blick war nicht die Spur von Wärme, und dann war da diese fürchterliche Verletzung … Degenar müsste längst verblutet sein.

„Warum hast du den Göttern das Opfer verweigert, Godwin?“

„Sie meinen es nicht gut mit uns“, versetzte Godwin, ohne sich vorher die Antwort im Kopf zurechtzulegen. „Sie haben uns Menschen nach ihrem Ebenbild geschaffen, lassen aber zu, dass wir uns gegenseitig massakrieren.“

„Du hast die Götter beleidigt, Godwin.“

„Ich bezweifle lediglich, dass ihnen am Schicksal derer, die sie geschaffen haben, etwas liegt. Darum muss ich ihnen auch nicht huldigen und Opfer darbringen.“

„Du bist Godwin, der Freund der Götter.“

„Ich mag ihr Freund sein. Sie hingegen sind nicht meine Freunde – nicht mehr.“

„Das ist frevlerisch.“ Degenar starrte den Fürstensohn mit kalten Augen, in denen kein Leben zu sein schien, an. „Hör mir zu, Godwin: Der Weg, den du einzuschlagen gedenkst, ist der Falsche. Du bist dabei, es dir mit den Göttern zu verderben. Sei vorsichtig! Denn wenn du bei ihnen in Ungnade fällst, vernichten sie dich. Du wirst nicht mit den tapferen Kriegern in Valaskjalf an einem Tisch sitzen, du wirst nicht mit ihnen speisen und trinken und dich nicht mit ihnen im Kampf üben, du wirst verflucht sein bis ans Ende aller Tage. Willst du das, Godwin?“

„Was ist falsch daran, wenn ich versuche, die Stämme östlich des großen Flusses zu vereinen, und wenn es mir gelingt, sie in den Kampf gegen die Heboniter zu führen?“

„Ohne die Hilfe der Götter wird es dir nicht gelingen. Sie aber sind dabei, sich von dir abzuwenden.“

„Warum haben die Götter nicht schon längst dafür gesorgt, dass sich die Stämme zu einer große, starken Gemeinschaft zusammengeschlossen haben?“

„Weil die Götter beschlossen haben, es den Menschen selbst zu überlassen, wie sie miteinander auskommen, ob sie sich freundlich gesinnt sind oder ob sie sich gegenseitig die Schädel einschlagen.“

„Dann werden sie mir auch nicht helfen, die Stämme zu vereinen. – Degenar, mein Freund, du bist schwer verwundet, dein Blut tränkt den Boden. Lass mich deine Wunde versorgen …“

Degenar lachte schrill auf. „Hilf dir selbst, Godwin, und werde wieder der, der du bis vor kurzer Zeit warst, ehe in dir die verrückte Idee entstand, die Stämme zu vereinen. Dann lieben dich auch die Götter wieder und es wird dir gut gehen auf Erden.“

Degenar erhob sich mit einem Ruck, zog sein Schwert aus dem Boden und entfernte sich rückwärtsgehend. Schnell wuchs die Distanz zwischen ihm und Godwin, Nebel schlierten vor seinem Gesicht und verhüllten es mehr und mehr, die Stimme wurde leiser und leiser und zuletzt war es nur noch ein eindringliches Geflüster, das Godwins Gehör erreicht hatte. Degenar wurde von den grauen Nebelschwaden regelrecht aufgesogen.

„Degenar!“, schrie Godwin voll Verzweiflung, denn er spürte, dass sich der Krieger für immer und ewig entfernte. „Mein Freund …“

Von seiner eigenen Stimme erschreckt wachte Godwin auf. Sekundenlang starrte er mit dem stupiden Ausdruck des Nichtbegreifens in die Finsternis über sich hinein. Schließlich fragte er sich, ob es Traum oder Realität gewesen war. Hatte ihn Degenar, der tote Freund, gewarnt? Hatte er, Godwin, mit seinen Zweifeln und vielleicht lästerlichen Aussagen die Götter tatsächlich erzürnt?

Ja, Degenar war tot. Die Ansibarii hatten ihn umgebracht. Er, Godwin, hatte die schreckliche Wunde in der Brust des Freundes gesehen. Hatten ihn die Götter als Boten benutzt, um ihn, den Fürstensohn, den Freund der Götter, auf den rechten Weg zurückzuführen?

Godwins Innerstes war aufgewühlt, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Der Fürstensohn erhob sich und fühlte die geradezu schmerzhafte Steifheit in seinen Armen und Beinen. Ein gurgelnder Laut kämpfte sich in seiner Brust hoch und staute sich in seiner Kehle. Godwin atmete tief durch – ein befreiender Atemzug. Die Kuppen der Hügel und die Gipfel der Felsen hoben sich schwarz, klar und scharf gegen die Nacht ab, sie wirkten wie geduckt daliegende, schlafende Ungeheuer aus grauer Vorzeit, auf besondere Art bedrohlich und Respekt einflößend.

Der Fürstensohn bückte sich nach seinem Schwert, nahm es hoch und legte es sich auf die Schulter. Seine rechte Hand hielt den Griff aus Eisen und Holz umklammert.

Ohne von einem bewussten Willen geleitet zu werden setzte sich Godwin in Bewegung. Er konnte seine Bewegungen nicht mehr beeinflussen, eine unsichtbare Macht, die stärker war als er, führte ihn. Er schritt zwischen den am Boden ausgestreckt daliegenden und schlafenden Soldaten hindurch, unter seinen Sandalen, deren Riemen bis unter seine Knie gewickelt waren, knirschte der feine Sand, mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, unfähig, sich dagegen zu wehren.

„Wer da?“, wurde er angerufen.

„Godwin, der Sohn deines Fürsten.“

„Es ist gefährlich, das Lager zu verlassen“, mahnte der Wächter. „In den Bergen treiben Wölfe und Bären ihr Unwesen.“

„Ich fürchte sie nicht“, antwortete Godwin und es trieb ihn weiter, ohne dass er eine Ahnung hatte, wohin ihn seine Beine trugen, wohin seine Schritte führten. Als er einen Blick über die Schulter warf, konnte er den Lagerplatz nicht mehr sehen. Die Nacht zwischen ihm und dem Lager war wie ein schwarzer Vorhang. Jäh wurde dem Fürstensohn seine Einsamkeit bewusst, Unbehaglichkeit beschlich ihn und sorgte für ein sonderbares Kribbeln in seinen Eingeweiden. „Wohin führt ihr mich, ihr Götter?“

Er rief es laut, seine Stimme entfernte sich von ihm und versank in der Lautlosigkeit.

Er war nicht mehr Herr seines Willens. Alles in ihm bäumte sich dagegen auf, er kämpfte dagegen an, stemmte sich dagegen, doch er war chancenlos. Aus Unbehagen wurde Angst, und schließlich kam bei Godwin die lähmende Furcht, dass er dem Zorn der Götter ausgeliefert war und dass sie ihn ins Verderben führten.

„Wenn es euer Wille ist, dann soll es so sein!“, stieß er hervor, und die Angst wich einer fatalen Gleichgültigkeit. Er schritt an senkrechten Felswänden entlang, passierte Hänge, über die gelber Sand floss und andere, die mit Geröll übersäht waren, stapfte durch Senken und gelangte in eine Schlucht, die von zerklüfteten Felswänden begrenzt war, die sich hoch über Godwin aufeinander zuneigten, sodass vom Himmel nur ein schmaler Streifen zu sehen war. Entsprechend finster war es auf dem Grund des Spalts.

Der Fürstensohn wurde beobachtet. Es waren phosphoreszierende Wolfslichter, die wie grünlich glühende Punkte durch die Nacht auszumachen waren, und immer wieder glaubte Godwin das bedrohliche Knurren der Bestien zu hören. Einmal erklang in der Ferne schauerlich klagendes und zugleich Unheil verkündendes Geheul, das Godwin anmutete wie eine Botschaft aus der Unterwelt und ihm einen eisigen Schauer den Rücken hinunterjagte.

Warum auch immer – die Wölfe griffen den Fürstensohn nicht an. Hatten die Götter ihre Hände im Spiel?

Die Augen Godwins gewöhnten sich an die schlechten Sichtverhältnisse und er konnte Konturen wahrnehmen. Übereinander getürmte Felsbrocken, die vor Urzeiten in die Schlucht gestürzt waren, versperrten ihm schon nach wenigen Schritten den Weg. Vor diesem Haufen Steine nahm Godwin drei dunkle, längliche Bündel wahr, deren oberes Ende jeweils ein etwas hellerer Fleck bildete.

Es handelte sich um drei Menschen – tote Menschen. Aus der Brust eines jeden ragte der Schaft einer Lanze. Man hatte sie damit regelrecht auf den Boden genagelt. Godwin ahnte, um wen es sich handelte. „Degenar“, flüsterte er. „Irminar … Ragin …“ Er ging neben einer der stillen Gestalten auf das linke Knie nieder und seine linke Hand tastete über den hellen Fleck, als den das Gesicht des Toten in der Finsternis auszumachen war. Es war kalt das Fleisch wirkte seltsam hart, und Godwin zog schnell die Hand zurück. Er richtete sich auf und presste zwischen den Zähnen hervor: „Ich habe die Botschaft verstanden. Degenar war euer Bote, es war kein Traum. Na schön, ich werde euch ein Opfer darbringen. Sobald wir in unserem Dorf sind, erhaltet ihr es. Und ich werde eure Hilfe erflehen – eure Hilfe bei meinem Bemühen, die Völker und Stämme auf dieser Seite des großen Flusses zu einer starken Streitmacht zu verbünden, mit der ich den Vormarsch der Heboniter aufhalten kann. Werdet ihr mir helfen, ihr Götter?“

Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte hinauf zum Firmament. Die Antwort der Götter blieb aus. Aber Godwin war davon überzeugt, dass sie durch Degenar zu ihm gesprochen hatten. Zum Beweis, dass Degenar als Bote aus einer anderen Welt bei ihm war, hatten sie ihn zu seinem Leichnam geführt.

Der Fürstensohn kehrte zum Lager zurück, und als er es erreichte, hatte er sich mit den Göttern ausgesöhnt. Er brauchte sie …



4

Nachdem die Sonne noch zweimal aufgegangen war, erreichten sie das Dorf der Harier. Den Kern des Dorfes bildete das Gehöft des Fürsten, der hier zusammen mit seiner ganzen Familie und seinem Gesinde lebte. Drum herum gab es vier weitere Höfe, etwas abseits, auf einer niedrigen Anhöhe, im Schatten einer uralten Linde, befand sich die Thingstätte, der Platz also, an dem die Harier ihre Versammlungen abhielten, an dem aber auch der Fürst über die verschiedenen Vergehen seiner Untertanen urteilte.

Im Übrigen lebten die Harier auf Gehöften, die weit verstreut auf der weitläufigen Ebene, die nach allen Seiten von Bergen und Felsketten umgeben war, die in rauchiger Ferne nur schemenhaft auszumachen waren, soweit die Sicht nicht von uralten Eichen- und Buchenwäldern begrenzt war, errichtet worden waren.

Auf der Ebene lebten allenfalls zweihundert Harier. Aber auch in den Hügeln und in den Gebirgstälern ringsum lebten Angehörige des Stammes, und im Falle des Falles, sobald die Späher die Annäherung eines Feindes meldeten, war ein Kriegsheer innerhalb von zwei Tagen aufgestellt.

Die Häuser waren aus Baumstämmen gebaut, die Dächer mit einer dicken Lage Stroh gedeckt. Auf den Koppeln weideten Kühe und Pferde, in den Pferchen Schafe und Ziegen. In den Schatten der Hütten lagen einige Hunde, Hühner liefen frei herum und pickten in den Staub auf der Suche nach Fressbarem. Umgaben waren die Gehöfte von Gärten, Feldern und Äckern. Auf der Ebene gab es einige kleine Flüsse und Bäche; die Harier konnten sich also mit allem, was lebensnotwendig war, selbst versorgen, und zusätzlich gingen sie auf die Jagd, so dass sie ihren Speiseplan auch mit dem einen oder anderen Wildbret ergänzen konnten.

Aus den Gehöften des Dorfkerns kamen Menschen; alte Männer, Frauen und Kinder. Die jungen Männer waren mit Godwin den Ansibarii entgegengezogen, die in das Land der Harier einfallen wollten, um Beute zu machen, fruchtbares Land zu erobern und viele der verhassten Feinde zu töten und jene, die ihnen entkamen, für alle Zeiten aus der Ebene zu vertreiben.

Die Krieger, müde, ausgelaugt und oftmals am Ende ihrer Kräfte nach dem Kampf und dem langen Marsch, ließen sich einfach zu Boden sinken. Die Strapazen, die hinter ihnen lagen, hatten unübersehbare Spuren in den Gesichtern hinterlassen. Die Augen lagen tief in dunklen Höhlen und waren entzündet, die Lippen waren trocken und rissig, Staub verklebte die Poren und knirschte zwischen den Zähnen. Es waren – kurz gesagt – drei Dutzend ausgemergelter, zum Teil vom Blutverlust gezeichneter Gestalten, die nach allem, was hinter ihnen lag, kaum noch die schweren Waffen tragen konnten.

Die Fuhrwerke wurden angehalten. Das Rumpeln und Knarren versank in den Geräuschen, die die Menschen und Pferde produzierten.

Godwin, der dem Trupp vorausgeritten war, vollführte nun eine halbe Drehung auf dem Pferderücken, stützte den linken Arm auf die Kruppe des Pferdes und rief mit staubheiserer, krächzender Stimme: „Ruht euch aus, Krieger. Ihr bekommt hier noch einmal zu essen und zu trinken. Wenn ihr euch erholt habt, dann kehrt auf eure Höfe zurück.“

Nach diesen Worten sprang der junge Fürstensohn vom Pferd. Er hatte Hadwinga erspäht, der die Freude über seine Rückkehr ins hübsche Gesicht geschrieben stand und deren blaue Augen vor Glückseligkeit strahlten, und er wollte schon zu ihr eilen, um sie in die Arme zu nehmen, als er seine Eltern aus dem Tor ihres Hofes schreiten sah. Sein Vater, Fürst Arnold, dessen Gestalt in einen roten Mantel gehüllt und dessen langes, graues Haar stark gelichtet war, hatte den Blick der grauen Augen auf ihn, Godwin, gerichtet, und obwohl dem Fürsten sicher ein Stein vom Herzen gefallen war, weil sein Sohn wohlbehalten zurückgekehrt war, blieb sein Gesicht ernst.

Godwin ging seinen Eltern entgegen, umarmte erst seine Mutter, die ihm liebevoll über den Rücken strich, dann gab er seinem Vater die Hand, trat einen Schritt zurück, deutete eine Verneigung an und sagte: „Wir haben die Ansibarii, die in unser Land eingefallen sind, vernichtet, mein Fürst.“

„Ein teuer erkaufter Sieg, Godwin“, antwortete der Fürst grollend. „Mit mehr als dreimal so vielen Kriegern bist du ausgezogen.“

„Die Ansibarii waren in großer Überzahl, mein Fürst“, rechtfertigte sich Godwin. „Diejenigen, die in der Schlacht entkamen, legten uns einen Hinterhalt, und dem fielen viele unserer Männer zum Opfer. Kein Ansibarii hat es überlebt.“

„Bei den Familien der Getöteten wird große Trauer herrschen“, murmelte Arnold.

„Die Gefallenen befinden sich im Palast der Götter“, sagte Godwin. „Sie haben tapfer gekämpft und gewiss Aufnahme in Valaskjalf gefunden. Die Freude darüber sollte die Trauer überwiegen. – Ich habe versprochen, den Göttern ein Opfer darzubringen, mein Fürst. Und wenn du gestattest, soll die Opferung morgen, wenn die Sonne aufgeht, stattfinden.“

„Es wird die Götter freudig stimmen und sie werden ihre schützenden Hände über die Harier halten. - Ich sehe nirgends deinen Freund Degenar. Ist auch er in Valaskjalf eingezogen?“

Mit Schwermut im Blick nickte Godwin. „Ich bin ihm großen Dank schuldig, mein Fürst. Er hat mich gelehrt, nicht mehr an den Göttern zu zweifeln.“

Fragend schaute Arnold seinen Sohn an, aber der wandte sich schon ab, nahm sein Pferd am Kopfgeschirr, legte den linken Arm um die Schultern seiner Mutter und zog sie mit sanfter Gewalt mit sich, als er das Pferd in den Hof führte. Dort übergab er das Tier einem Knecht, küsste seine Mutter auf die Stirn und sagte: „Ich will Hadwinga begrüßen, Mutter.“

„Ich mag sie gerne“, sagte die Fürstin und lächelte warm. „Ich freue mich schon auf den Tag, an dem sie deine Frau wird, Godwin. Willst du ihren Vater nicht endlich fragen? Du und Hadwinga – ihr seid euch doch sicher längst einig.“

„Ich werde ihn bald fragen, Mutter.“ Godwin küsste sie noch einmal auf die Stirn, dann wandte er sich ab und eilte davon.

„Du siehst sehr mitgenommen aus“, sagte Hadwinga, nachdem sie und Godwin sich lange geküsst hatten. „Es muss sehr schlimm gewesen sein. Warum können die Stämme nicht in Frieden miteinander leben, Godwin?“

Sie befanden sich am Rand eines Waldes mit uralten, knorrigen Eichen, deren Kronen ein richtiges Dach bildeten und kaum Sonnenlicht durchließen, so dass es zwischen den dicken Stämmen düster war. Nur hier und dort erreichte ein Sonnenstrahl den Boden und malte einen gleißenden Kringel auf den dicken Teppich aus abgestorbenem Laub.

Sie setzten sich auf den weichen Boden, Godwin legte den Arm um die Schultern der jungen Frau mit den langen, blonden Haaren und zog sie dicht an sich heran. Er spürte die Wärme ihres Körpers und ein wohliger Schauer durchrieselte ihn. „Ja, es war sehr schlimm. Töten oder getötet werden, etwas anderes kam nicht in Frage. Im Land zwischen dem großen Fluss und dem Gebirge weit im Osten regiert der Hass. Das war immer so und wird immer so sein. Kein Mensch kann es ändern, und die Götter wollen …“

Er brach fast erschreckt ab und schluckte würgend. Und als er wieder zum Sprechen ansetzte, drohten ihm die Stimmbänder den Dienst zu versagen. Er räusperte sich, zog frische Luft in seine Lungen, und murmelte: „Die Götter sind neutral, sie wollen es den Stämmen und Völkern selbst überlassen, wie sie miteinander auskommen. Sie akzeptieren den Frieden, verdammen aber auch nicht den Krieg.“

„Du wolltest vorher etwas anderes sagen, Godwin“, sagte die junge, hübsche Frau und musterte sein Gesicht aufmerksam von der Seite.

„Ich darf und will die Götter nicht erzürnen“, knurrte er. „Außerdem werde ich auf ihre Hilfe angewiesen sein. Man hat mir den Namen Godwin gegeben – das heißt ‚Freund der Götter’. Sie haben nach dem Kampf in der Schlucht durch einen Boten mit mir gesprochen. Ich habe nicht das Recht, ihre Entscheidungen anzuzweifeln.“

Hadwingas Blick schien sich sekundenlang nach innen zu verkehren, dann erschien ein Grübeln und Forschen in ihren Augen und sie fragte: „Was hast du vor, Godwin?“

„Ich muss mit meinem Vater, dem Fürsten darüber sprechen, Hadwinga“, erklärte Godwin ausweichend. „Nur so viel: Die Heboniter wollen den großen Fluss überqueren und in unser Land einfallen. Es wird zwar viele Monate dauern, bis sie das Land der Harier erreichen, aber sie werden kommen und uns unterwerfen. Das bedeutet Tod und Verderben, unsere Männer und die alten Weiber werden sie erschlagen, die Kinder und ihre Mütter aber werden sie versklaven.“

Erschreckt hielt Hadwinga kurze Zeit den Atem an, auf dem Grund ihrer Augen wob für einen Augenblick lang maßloses Entsetzen, dann stieß sie die verbrauchte Luft aus und sagte: „Du willst das verhindern, nicht wahr?“

„Ja, unter allen Umständen. Ich bin es müde, ständig unser Land gegen die eigene Rasse verteidigen zu müssen, ich habe es satt, in den Kampf zu ziehen und Männer zu massakrieren, die meine Brüder sein könnten. Seit langer Zeit rühren sich in mir schon die Zweifel, doch so richtig bewusst ist es mir erst geworden, als ich einen Ansibarii nach dem anderen abschlachtete. Ich habe mit Degenar darüber gesprochen. Schließlich war es Degenar selbst, der auf diesem Altar von Hass, Habgier, Missgunst und Verichtungswillen geopfert wurde. Wir arbeiten den Hebonitern regelrecht in die Hände, Hadwinga. Wenn wir uns gegenseitig zerfleischen, gehen sie kaum ein Risiko ein, wenn sie über den großen Fluss kommen, um unser Land zu übernehmen und es zu unterjochen. Denn es wird niemand mehr geben, der sich ihnen entgegenstellt.“

„Wie stellst du dir das vor?“ Hadwinga schmiegte sich eng an ihn.

„Die Stämme müssen ihre gegenseitige Feindschaft begraben, sie müssen sich verbünden und unter einer gemeinsamen Führung die Heboniter vernichtend schlagen, sie über den großen Fluss zurücktreiben und ihnen das wiederkommen für alle Zeit verleiden.“

„Die Boten, die die verschiedenen Stämme aufsuchen und ihre Fürsten und Führer zu Friedensverhandlungen überreden sollen, würden wochen- und monatelang unterwegs sein. Und für den Fall, dass Bereitschaft besteht, sich zu einem großen Heer zusammenzuschließen, würde es noch einmal viele Monate dauern, bis es aufgestellt und kampfbereit ist.“

„Ich weiß“, versetzte Godwin. „Aber auch die Heboniter benötigen noch viele Wochen, um Brücken über den großen Fluss zu schlagen. Jene Stämme, die innerhalb weniger Tage zu erreichen wären und kampfbereit sein könnten, müssten versuchen, sie so lange aufzuhalten, bis ich ihnen mit einem großen Heer entgegenmarschiere und sie zum Kampf zwinge.“

„Ein großer Plan, Godwin, aber kaum durchführbar. Die Stammesführer werden dich verdächtigen, ein Großreich und die Königsherrschaft über ein solches anzustreben, und schon im Hinblick darauf werden sie nicht bereit sein, die alten Feindschaften so mir nichts dir nichts zu begraben. Im Gegenteil, sie werden deine Boten erschlagen und …“

„Ich muss das alles erst mit meinem Vater, dem Fürsten, besprechen.“

„Vergiss über allem nicht, Godwin, dass du auch mit meinem Vater etwas zu besprechen hast“, sagte Hadwinga und lächelte.

Godwin presste sekundenlang die Lippen zusammen, sodass sie nur noch einen dünnen, blutleeren Strich in seinem hohlwangigen, eingefallenen Gesicht darstellten. „Ich werde mit deinem Vater sprechen, Hadwinga“, sagte er schließlich, „aber nicht jetzt, da die Bedrohung durch die Heboniter derart groß ist und ich andere Pläne habe.“

Hadwingas Lächeln war erloschen, tiefe Enttäuschung sprach aus ihren Augen und prägte jeden Zug ihres ebenmäßigen Gesichts, um ihren Mund lag plötzlich ein herber Zug. Mit einem Ruck erhob sie sich, sein Arm rutschte von ihren Schultern und fiel schlaff nach unten. „Du forderst also, dass ich noch wochen- vielleicht sogar monatelang darauf warte, dass du mit meinem Vater sprichst und ihn bittest, mich dir zur Frau zu geben?“ Ihre Augen versprühten jetzt zornige Blitze. „Nein, Godwin, nein! Andere Frauen in meinem Alter haben längst Kinder. Ich will eine Familie gründen – und wir beide waren uns einig, dass du nach deiner Rückkehr mit meinem Vater sprichst. Nun fordere ich von dir, dass du zu deinem Wort stehst.“

Auch Godwin erhob sich, vermied es dabei aber, sie anzusehen. „Ich darf keine Zeit verlieren, Hadwinga“, murmelte er. „Zeit aber würde es erfordern, mich mit deinem Vater über die Höhe des Preises zu einigen, die Hochzeit vorzubereiten und die Ehe zu vollziehen. Du willst doch nicht, dass ich dich schon am Tag nach der Hochzeit alleine lasse, um …“

„Du kannst Boten zu den Stämmen schicken!“, unterbrach sie ihn hart. „Oder hast du etwa vor, selbst …“ Sie brach ab und musterte ihn mit einer Mischung aus Ungläubigkeit, Betroffenheit und Fassungslosigkeit. „Das – das hast du doch nicht vor, Godwin?“

„Doch. Aldemar, den Führer der Ansibarii, möchte ich selbst aufsuchen und mit ihm über einen dauerhaften Frieden verhandeln. Nachdem ich seine Truppen vernichtend geschlagen habe, wird sein Hass auf die Harier monströs sein. Er würde meinen Boten erst gar nicht zu Wort kommen lassen. Mich aber, den Sohn des Fürsten Arnold, wird er nicht wagen, einfach zu töten.“

„Gerade dich wird er hassen, und einen größeren Gefallen, als sich freiwillig in seine Hände zu begeben, kannst du ihm gar nicht erweisen. Aber ich sehe es deinem Gesichtsausdruck an, Godwin – ich kann dich nicht von deinem verrückten Entschluss abbringen, du bist meinen Worten nicht zugänglich. Ich …“

Ihre Stimme erstickte und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Godwin wollte nach ihr greifen, aber sie warf sich herum und lief schnell davon. Sekundenlang hielt der Fürstensohn die Arme noch ausgestreckt, dann sanken sie nach unten und Godwin setzte sich in Bewegung, um Hadwinga zu folgen.



5

Als er ins Dorf zurückkam, waren die meisten der Kämpfer, die mit ihm von der Schlacht gegen die Ansibarii zurückgekehrt waren, schon weitergezogen, um sich auf ihre weit verstreut liegenden Gehöfte zu begeben. Nur noch wenige der Krieger hockten herum und beobachteten ihn. Godwin ging zu ihnen hin, hielt an und fragte laut: „Wer von euch tapferen Männern wäre bereit, mit mir zu den Ansibarii zu reiten, um mit Aldemar Friedens- und Bündnisverhandlungen zu führen?“

Die meisten der jungen Krieger ließen die Köpfe sinken und wichen dem Blick des Fürstensohnes aus. Sie waren erschöpft und ausgebrannt und kaum in der Lage, von hier aus zu ihren Höfen zu marschieren – und nun stellte Godwin diese Frage.

„Zu den Ansibarii“, rief einer mit verstaubter Stimme. „Dann können wir uns gleich selbst die Kehlen durchschneiden.“

„Das könnt ihr auch, wenn die Heboniter zu uns kommen und wir ihnen nichts entgegenzusetzen haben“, konterte Godwin. Hinter sich hörte er das Mahlen von Sand unter schnellen Schritten, er drehte sich aber nicht um, sondern fixierte mit zwingendem Blick einen der Krieger nach dem anderen. Er wollte Druck ausüben und sie bewegen, sich ihm freiwillig anzuschließen. Da legte sich eine Hand mit hartem Druck auf seine Schulter und eine grollende Stimme erklang: „Meine Tochter ist weinend nach Hause gekommen, Godwin, und nun sitzt sie heulend im Haus und will weder mir noch ihrer Mutter sagen, was sie so sehr aus der Fassung gebracht hat. Sie ist mit dir gegangen, und du wirst wissen, was geschehen ist. Sag es mir!“

Zuletzt hatte die Stimme Egmonts fordernd und scharf geklungen. Er gehörte zum Rat der Harier, war im Stamm respektiert, sein Wort hatte Gewicht, seiner Autorität war außer dem Fürsten Arnold kaum jemand gewachsen.

„Nicht hier und nicht jetzt, Egmont“, stieß Godwin hervor, ohne sich umzudrehen.

„Du wirst es mir sagen!“

Jetzt wandte sich Godwin dem grauhaarigen Mann, der ungefähr doppelt so alt war wie er selbst, zu. Die Hand Egmonts rutschte von seiner Schulter. Godwins Blick kreuzte sich mit dem Egmonts, der Fürstensohn fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen, dann sagte er: „Es geht um das Eheversprechen. Sie verlangt, dass ich mit dir rede und die Modalitäten aushandle. Ich aber habe mich entschlossen, ein großes Heer aufzustellen, mit dem ich die Heboniter über den großen Fluss zurückjagen kann.“

Die Brauen Egmonts hatten sich finster zusammengeschoben. „Du hast Hadwinga versprochen, mit mir zu verhandeln, sobald du von der Schlacht mit den Ansibarii zurückgekehrt bist.“

„Es geht um unser aller Zukunft“, murmelte Godwin. „Und ich fühle mich verpflichtet, das Schicksal unseres Stammes über persönliche Interessen zu stellen. Eines Tages werde ich die Nachfolge des Fürsten antreten.“

Egmont starrte ihn noch kurze Zeit durchdringend, fast drohend an, dann drehte er sich abrupt um und schritt in Richtung seines Hofes davon. Godwin wandte sich wieder den Männern zu. Einige waren dabei, sich zu erheben. Sie ächzten und stöhnten. Einige standen schon, zwei entfernten sich bereits. Es sah aus wie eine Flucht. „Wenn keiner mit mir kommt, dann reite ich eben alleine!“, rief er trotzig.

Einer schaute ihn an und sagte: „Ich begleite dich, Godwin. Degenar war mein Bruder, und ich denke, ich bin es ihm schuldig, seinen Freund nicht blindlings ins Verderben ziehen zu lassen.“

„Danke, Landogar.“

„Auch ich bin bereit, dir zu folgen, Godwin“, stieß ein anderer hervor. „Doch du musst mir einen oder zwei Tage Zeit geben …“

„Ich denke, da habe ich auch noch ein Wort mitzureden!“, erklang es klirrend vom Hof des Fürsten her.

Godwins Kopf zuckte herum und er sah Fürst Arnold, der im Hoftor stand und dessen Blick sich regelrecht an ihm verkrallt hatte. „Komm sofort ins Haus, Sohn. Wir müssen sprechen.“

Godwin setzte sich in Bewegung.

Zwei Minuten später saßen sie sich am Tisch gegenüber.

Godwin erstattete ausführlich Bericht und sprach danach von seinem Plan, die anderen Stämme zu einem Bündnis zu bewegen zu wollen und mit ihnen geschlossen den Hebonitern entgegenzumarschieren. Der Fürst hörte schweigend zu, aber in seinem Gesicht arbeitete es und es begann sich mehr und mehr zu verschließen. Als Godwin geendet hatte, stieß er hervor:

„Das schlag dir aus dem Kopf, Verblendeter!“ Arnold sprang auf und begann eine unruhige Wanderung. Drei Schritte hin, drei zurück, seine Hände hatte er auf den Rücken gelegt, sie waren ineinander verkrampft, weiß traten die Knöchel unter der gebräunten Haut hervor.

„Aber …“

„Schweig! Kein Harier geht zu den Ansibarii, den Aduatukern, den Burgodionern oder irgendeinem anderen der Stämme, um um Frieden zu betteln und sich selbst zu demütigen. Hast du denn keinen Stolz im Leib, Godwin? Willst du die Ehre deines Vaters und deiner Vorväter in den Schmutz treten? Woher nimmst du dieses Recht?“

„Ich will nicht um den Frieden betteln, Vater. Ich will ihn und ein Bündnis lediglich anbieten in der Hoffnung, dass die Führer und Räte der Stämme meinen Vorschlag annehmen, weil wir andernfalls alle zugrunde gehen, wenn die Heboniter den großen Fluss überqueren und ins Land einmarschieren. Es ist eine Frage der Vernunft, nicht der Demütigung.“

Der Fürst hielt abrupt an, fixierte seinen Sohn scharf und presste zwischen den Zähnen hervor: „Was rechnest du dir aus, Sohn? Was ist, gesetzt den Fall, wenn die anderen Fürsten und Führer zustimmen? Willst du dich zum Heerführer aufschwingen, geht es dir um den Ruhm, den du vielleicht erringen kannst? Oder steht hinter deinem Plan noch viel mehr? Willst du dir die Stämme untertan machen?“

„Nein. Ich will die Harier vor der Habgier und dem Vernichtungswillen der Heboniter bewahren – und das gelingt mir nur mit Hilfe der anderen Stämme.“

„Noch nie bedurften die Harier fremder Hilfe!“, blaffte der Fürst und nahm seine unruhige Wanderung wieder auf.

„Sie hatten es auch noch nicht mit drei oder vier Legionen der Heboniter zu tun“, gab Godwin zu bedenken.

Geraume Zeit herrschte Schweigen zwischen Vater und Sohn. In Fürst Arnold stritten sich die Gefühle. Den Hariern war vor einiger Zeit schon die Kunde zugetragen worden, dass sich die Heboniter, nachdem sie das Land jenseits des großen Flusses erobert und die Völker sowie Stämme unterworfen hatten, anschickten, den Fluss zu überqueren, um ihren Eroberungsfeldzug bis zum Gebirge im Osten fortzusetzen.

Er, Fürst Arnold, wollte nicht so recht daran glauben. Einige Gründe sprachen dagegen. Das Land vom großen Fluss bis zum Gebirge am Ende der Welt bot nicht viel. Die Menschen waren arm und lebten von dem, was sie selbst anbauten. Es gab keinen Handel, denn die Stämme waren miteinander verfeindet, und wenn sie sich gegenseitig abschlachteten, dann ging es nur um Land, das Getreide, Gemüse und Obst hervorbrachte oder um die wenigen Erzvorkommen, die ertragreich genug waren, um einen Stamm von einigen hundert Menschen mit dem nötigen Eisen für Waffen und Pflüge zu versorgen, für die sich aber kaum ein Volk wie die Heboniter interessierten.

„Es ist nicht sicher, dass die Heboniter über den Fluss kommen“, wandte der Fürst ein. „Warum auch? Sie brauchen weder unser Land, noch brauchen sie …“

„Sie sind Machtbesessen, Vater, und es darf kein Volk auf der Welt geben, das nicht unter ihrem Befehl steht. Die Männer, die sich nicht auf ihre Sache einschwören lassen, töten sie. Die jungen Frauen lassen sie am Leben, um sie zu versklaven, und die Kinder, die das alles noch nicht verstehen, erziehen sie zu Hebonitern.“

„Ihr habt das Heer der Ansibarii bis auf den letzten Mann ausgelöscht, Godwin. Du selbst willst dich zu Aldemar, ihrem Fürsten begeben, um ihm ein Bündnis anzubieten. Bist du lebensmüde, mein Sohn?“

„Wenn ich es wäre, würde ich die Hände in den Schoss legen und warten, bis die Heboniter zu uns kommen.“

Fürst Arnold verzog das Gesicht, dann sagte er: „Ich glaube nicht, dass die Heboniter den großen Fluss überqueren, doch kann ich es auch nicht völlig ausschließen.“

„Die Anzeichen sprechen dafür, Vater.“

„Ich will es aber auch nicht alleine entscheiden, ob die Harier an ihre Feinde herantreten sollen, um ihnen ein Bündnis anzubieten. Daher werde ich für Morgen den Rat einberufen. Zuerst aber werden wir den Göttern ein Opfer darbringen, das sie freundlich stimmen wird. Du musst dich bis Morgen gedulden, mein Sohn.“

„Jeder Augenblick, der nutzlos verstreicht, ist vergeudete Zeit und kann über Leben oder Tod entscheiden“, erklärte Godwin. „Berufe noch heute den Rat ein, Vater, und lass mich zu den Räten sprechen.“

„Keiner wird auf dich hören, Sohn.“

„Dann sprich du zu den Ältesten in meinem Sinne.“

„Das kann ich nicht, denn du hast mich nicht überzeugt. Aber ich verspreche dir, dass ich dein Anliegen vollkommen neutral vortrage. Und dann sollen die Mitglieder des Rates abstimmen, und dem Ergebnis musst du dich beugen.“

„Dann weiß ich jetzt schon, wie sich der Rat entscheiden wird“, murmelte Godwin und stemmte sich am Tisch in die Höhe. „Sei versichert, Vater, dass der Beschluss des Rates die Harier ins Unglück stürzen wird. Ich bin ein Harier, und darauf bin ich stolz. Darum schaue ich nicht tatenlos zu, wie mein Stamm untergeht, nur weil einige alte Männer die Zeichen der Zeit nicht zu deuten wissen.“

„Was höre ich aus deinen Worten?“

„Dass ich nicht abwarten werde, bis der Rat es ablehnt, wenigstens den Versuch zu unternehmen, die anderen Stämme zu einem Bündnis zu bewegen, um eine starke Gemeinschaft gegen die Heboniter zu bilden.“

„Du willst deinem Fürsten den Gehorsam verweigern?“, donnerte Arnolds Stimme. „Muss ich dich in Ketten legen lassen, damit du lernst zu gehorchen?“

„Verzeih mir, mein Fürst“, murmelte Godwin, legte die Hand flach vor den Leib und verbeugte sich leicht. „Es würde mir niemals einfallen, dir den Gehorsam zu verweigern. Darum werde ich abwarten, wie der Rat morgen entscheidet.“

Arnold musterte seinen Sohn misstrauisch. „Ich weiß nicht, ob ich dir glauben kann“, knurrte er. „Ich warne dich, mein Sohn. Solltest du dich mit Hintergedanken tragen und sie in die Tat umsetzen, werde ich dir unsere besten Männer hinterher schicken, damit sie dich – wenn es sein muss -, an den Haaren zurückschleppen. Du weißt, was auf Gehorsamsverweigerung steht. Und es wird keine Rolle spielen, dass ich dein Vater bin.“

„Darf ich gehen, mein Fürst?“

„Geh, aber enttäusche mich nicht.“

Rückwärts gehend verließ Godwin das Haus. Und nur ein Gedanke beschäftigte ihn – der Gedanke, dass er ungehorsam sein musste, wenn er die Harier retten wollte. Er musste die Nacht abwarten. Den zweiten Gedanken an die Strafe, die ihn erwartete, wenn sie ihn erwischten, verdrängte er mit aller Macht. Ungeduld begann ihn zu erfüllen – Godwin sehnte die Nacht herbei.


E N D E (Teil 1)

wird fortgesetzt...



Godwins Pakt mit den Göttern – Teil 2

Godwin stand am Fenster und starrte versonnen in die beginnende Dunkelheit hinein. Im Dorf war es still, doch aus einigen Fenstern fiel rötliches Licht; es stammte von den Feuern in den offenen Öfen aus Feldsteinen, die zumeist den Mittelpunkt der Häuser der Harier darstellten. Andere Lichtquellen gab es nicht. Die Menschen begaben sich an den Abenden bald zur Ruhe, weil sie am Morgen früh aufzustehen mussten, um ihr Tagwerk zu schaffen.

Rastlose Ungeduld erfüllte den Fürstensohn. Er wollte nicht warten bis zum nächsten Tag, bis der Ältestenrat darüber entschieden haben würde, ob es ihm gestattet wurde, Boten zu den anderen Stämmen zu senden, um die Fürsten und Anführer aufzurufen, ein Bündnis einzugehen und mit einem großen Heer gegen die Heboniter zu ziehen, die sich anschickten, den großen Fluss zu überqueren, um das Land bis zum Ende der Welt weit im Osten zu erobern.

Wenn der Rat sein Ansinnen ablehnte, war er an die Entscheidung gebunden. Ungehorsam wurde hart bestraft, und auch die Tatsache, dass er der Sohn des Fürsten der Harier war, konnte ihn im Falle des Falles vor irgendeiner drakonischen Strafe nicht bewahren.

Godwins Entschluss stand fest. Er hatte sich mit den Göttern ausgesöhnt und bat sie voller Inbrunst, ihm hilfreich zur Seite zu stehen.

Und die Götter schienen sein Vorhaben zu unterstützen. Denn weit im Westen, über den zerklüfteten Felsmassiven, ballten sich dunkle Wolken und türmten sich zu einem bedrohlichen Horizont auf, schoben sich zu brodelnden und formlosen, fast schwarzen Wolkenbergen zusammen und wurden von einem ungeheuren Sturm herangetrieben.

In den vergangenen Wochen, vor allem nach der Schlacht mit den Ansibarii, hatte er, Godwin, an den Göttern gezweifelt, und er hatte aus seinen Zweifeln auch kein Hehl gemacht. Sein toter Freund Degenar, der zu ihm im Schlaf gesprochen hatte, hatte ihm seinen Glauben zurückgegeben. Godwin war sich der freundlichen Gesinnung der Götter, die in Valaskjalf die gefallenen Krieger um sich scharten, sicher.

Der Wind strich klagend durch die Wälder, peitschte die schwarzgrauen Wolken nach Osten und bald fielen die ersten Regentropfen. Grelle Blitze zerrissen den aufgewühlten Himmel, dröhnender Donner folgte und sein Echo rollte durch die Ebene. Die Dunkelheit nahm schnell zu, der Mond Auriycume, der mit der Dämmerung aufgegangen war, war hinter der dichten Wolkendecke verschwunden, ebenso wie die am Firmament flimmernden Sterne. Der Sturm nahm an Vehemenz zu, und ein bretterharter Wind trieb die peitschenden Regenschauer schräg über das Land. Schon nach zwei Schritten schien die Welt in diesen grauen Regenwänden zu enden.

Godwins Stunde war gekommen. Zögern oder gar ein Zurück gab es nicht. Er vertraute auf die Götter. Er hatte einen Pakt mit ihnen geschlossen – und die Götter würden ihn nicht im Stich lassen. Denn wenn das Volk zwischen dem großen Fluss und dem Gebirge am Ende der Welt unterjocht wurde und eines Tages ausstarb, würden auch die Götter in Vergessenheit geraten und schon die übernächste Generation würde nicht einmal mehr ihre Namen kennen.

Darum, ihr Götter, steht mir bei!

Der Fürstensohn nahm sein Schwert und stieg aus dem Fenster der kleinen Kammer, in der sein Bett stand. Der Sturm nahm ihm fast den Atem, packte ihn wie mit zornigen Klauen, drohte ihn umzuwerfen und fegte heulend und jaulend wie ein wildes Ungeheuer durch das Dorf. Aus den Wolken zuckte ein blauweißer Blitz und tauchte alles in gespenstisches Licht. Godwin setzte sich in Bewegung, stemmte sich gegen den Wind, kämpfte gegen ihn an wie gegen einen leibhaftigen Feind, erreichte den Stall, zog das Tor auf und schlüpfte hinein. Nachdem er das Tor wieder geschlossen hatte, sank das Heulen und Jaulen etwas herab. Obwohl er nur eine kurze Distanz zu überwinden gehabt hatte, war Godwin nass bis auf die Haut und aus seinen Haaren tropfte das Wasser.

Im Stall war es finster wie im Schlund der Unterwelt. Der Geruch von Heu und Stroh sowie Pferdeausdünstung stieg Godwin in die Nase, und er konnte trotz des orgelnden Sturms draußen die Pferde stampfen und prusten hören. Die gewaltigen Donnerschläge, unter denen die Erde zu bersten schien, versetzten die Tiere in Angst und machten sie nervös.

Die dichte Finsternis störte Godwin nicht, er hätte sich hier im Stall auch blind zurechtgefunden. Er ertastete seinen Sattel aus Leder auf einem Baum aus Holz mit Bronzebeschlägen, holte eines der Pferde aus der Box und legte dem Tier den Sattel auf, dann zäumte er es und schließlich ließ er sein Langschwert in die Scheide, die am Sattel befestigt war, gleiten.

Der Fürstensohn führte das Pferd aus dem Stall, und sofort fiel der Sturm wieder wie ein entfesseltes, wildes Tier über ihn her, schwere Regentropfen peitschten sein Gesicht, tief versanken seine Füße im Morast, in den der Regen den knöcheltiefen Staub verwandelt hatte. Das Heulen und Orgeln des Windes und das Rauschen des Regens in den Ohren stieg Godwin aufs Pferd und trieb es an.

Immer neue Regenschauer jagte der Sturm über die Ebene. Die Regenwände waren so dicht, dass Godwin fast die Hand vor den Augen nicht mehr erkennen konnte. Ächzend und knarrend bogen sich die Bäume im Wüten der Elemente. Und immer fuhren Blitze aus den Wolken und lichteten für Bruchteile von Sekunden die Nacht.

Habt Dank, ihr Götter, durchfuhr es Godwin. Das Opfer, das ich euch versprochen habe, kann ich morgen leider nicht darbringen. Aber ich habe es nicht vergessen …

Berstender Donner antwortete ihm.

Der Sturm war in dieser Nacht sein Verbündeter. Der junge Fürstensohn ritt in die Nacht hinein, wohl wissend, dass er damit den Zorn seines Vaters, des Fürsten, auf sich zog. Der Gedanke daran verursachte in ihm geradezu körperliches Unbehagen, doch er beruhigte sich damit, dass die Situation, der das Land entgegentrieb, außergewöhnliche Maßnahmen erforderte.

Godwin hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Er wollte zu Aldemar, dem Fürsten der Ansibarii, deren Heer er vor wenigen Tagen bis auf den letzten Mann vernichtet hatte. Der Hass zwischen den Stämmen war tief verwurzelt, und Godwin konnte nicht abschätzen, wie Aldemar reagierte, wenn er sich ihm gewissermaßen freiwillig auslieferte.

Vorher aber …

Godwin hatte lange nachgedacht, er durfte nichts außer Acht lassen, vor allem aber brauchte er Verbündete. Landogar, der Bruder seines Freundes Degenar, hatte sich bereit erklärt, sich ihm anzuschließen. Und auch Trautwin, ein kräftiger Bursche, der mit seiner Familie weiter nördlich in den Bergen lebte, hatte sich dahingehend geäußert, dass er mit ihm, Godwin, zu Aldemar reisen wollte.

Aber das war nicht alles. Es galt, die Heboniter solange daran zu hindern, den Fluss zu überschreiten, bis ein großes Heer bereit stand, das den Kampf mit den Eindringlingen wagen konnte.

Das Pferd trug Godwin durch Sturm und Regen. Eine mit den Augen nicht zu durchdringende Finsternis umgab ihn wie eine schwarze Mauer. In immer neuen Böen peitschte der Sturm vernichtende Wogen von Regen heran, die Wildnis hatte sich in einen tosenden Hexenkessel verwandelt, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien.

Unbeirrt ritt Godwin. Seine Ohren waren taub von dem Heulen und Prasseln ringsum und die Kleidung klebte wie eine zweite Haut an seinem Körper. Ab und zu hielt er an, um hinter sich zu lauschen. Aber das entfesselte Element verschluckte alle anderen Geräusche, sodass Godwin nicht feststellen konnte, ob er schon verfolgt wurde. Er glaubte nicht daran.

Und dennoch hatte er das ständige Empfinden, nicht alleine zu sein. Hin und wieder glaubte er eine huschende Gestalt auszumachen, schattenhaft und völlig lautlos, einmal linker, dann wieder rechter Hand von sich. Das eine oder andere Mal war er sich sogar gewiss, dass ihn grünlich leuchtende, phosphoreszierende Punkte anstarrten – und es konnte sich nur um die Augen von Wölfen handeln.

Er verspürte Beklemmung, unwillkürlich griff er nach dem Schwert, doch er ließ es in der Scheide stecken. Solange die Biester nicht angriffen …

Godwin ritt an Gehöften vorüber, die in völliger Dunkelheit lagen, und irgendwann zog er zwischen die Hügel. Bald musste er den Hof erreichen, auf dem Landogar mit seiner Familie und den Knechten und Mägden lebte. Der Himmel schien sämtliche Schleusen geöffnet zu haben. Spuren, die das Pferd hinterließ, wurden im nächsten Moment weggeschwemmt. Und dann schälten sich die Konturen der Gebäude aus der Finsternis und den Regenschleiern. Nirgendwo war Licht zu sehen, das Feuer im Wohnhaus war längst erloschen.

Ein Hund begann zu bellen, eine Kette rasselte. Das Pferd unter Godwin warf den Kopf hoch und wieherte. Die Umrisse der Gebäude wurden etwas deutlicher. Vor dem großen Blockhaus, das der Familie Landogars gehörte, hielt Godwin das Pferd an und sprang ab, trat vor die aus groben Bohlen gefertigte Haustür und schlug mit der Faust dagegen. Im Haus jedoch rührte sich nichts, nur der Hund gebärdete sich wie von Sinnen, knurrte drohend und aggressiv, bellte dazwischen und zerrte an der Kette. Der Sturm trug die Geräusche mit sich fort und die Menschen, die im Haus oder in einer der umliegenden Hütten schliefen, konnte sie nicht vernehmen.

Godwin holte sein Schwert vom Sattel und pochte mit dem Griff einige Male gegen die Tür. Nun waren die Schläge viel härter und deutlicher vernehmbar, und tatsächlich wurde gleich neben der Tür ein Fensterladen aufgestoßen und eine schlaftrunkene Stimme rief: „Wer wagt es, meine Nachtruhe zu stören?“

„Ich bin es, Godwin, der Sohn des Fürsten Arnold.“

„Beim Gott des Donners! Was treibt dich bei diesem Wetter zu uns? Erst vor wenigen Stunden ist Landogar heimgekehrt. Er hat schlechte Kunde mitgebracht. Die Ansibarii haben meinen Sohn Degenar erschlagen.“

„Viele unserer Männer sind gestorben, Bernulf. Aber sei beruhigt; sie haben Aufnahme in Valaskjalf gefunden, und eines Tages werden wir mit ihnen im Palast der Götter an einem Tisch sitzen und mit ihnen essen und trinken.“

Ein schauerliches Heulen übertönte den Sturm, ein lang gezogener, durchdringender Laut, der schließlich im Jaulen der entfesselten Elemente versank.

„Wölfe!“, knirschte Bernulf. „Sie reißen mein Vieh. Die Bestien sind die Luft nicht wert, die sie atmen. - Was willst du, Godwin? Es muss ein schwerwiegender Grund sein, der dich bei diesem Wetter zu uns in die Berge getrieben hat.“

„Ich muss mit Landogar sprechen.“

Der Fensterladen wurde geschlossen, kurze Zeit verstrich, dann wurde die Haustür entriegelt und aufgezogen. „Komm herein.“

Godwin drängte sich an Bernulf vorbei durch die Tür und eine mit den Augen nicht zu durchdringende Finsternis empfing ihn. Er hörte die schlurfenden Schritte Bernulfs und dann sah er den roten Glutpunkt im Ofen und vernahm, wie Bernulf in diese Glut blies. Kleine Flammen zuckten, es knisterte und knackte, als das Reisig, das Bernulf auf die Glut gelegt hatte, Feuer fing und rötliches Licht kroch in dem Raum auseinander, jedoch nicht genug, um ihn bis in die Ecken auszuleuchten. Es zerrte jedoch die beiden Männer und einige Einrichtungsgegenstände aus der Finsternis und spiegelte sich in den Augen wider.

Es war die Halle des großen Blockhauses, in dem sie sich befanden und in der sich das eigentliche Leben der Familien abspielte. An den Wänden, am Rand der Lichtgrenze, standen mit Fell bedeckte Schlafstätten und Kisten, in denen die Familie ihre Habseligkeiten aufbewahrte. Die meisten der Schläfer waren nicht aufgewacht. Eine ältere Frau jedoch mit offenen, grauen Haaren, hatte den Oberkörper aufgerichtet und beobachtete die beiden Männer beim Ofen. Aber auch Landogar war wach, und nun, da er den späten Besucher erkannte, entrang sich ihm ein Laut der Verblüffung und er stand schnell auf. „Godwin – du!“

„Mir schwant wenig Erfreuliches“, murmelte Bernulf.

Landogar zog seine Sandalen an, richtete sich auf und sagte: „Es ist so weit, Godwin, nicht wahr?“

„Ich erinnere dich an dein Versprechen, mein Freund““, antwortete der Fürstensohn.

„Das musst du nicht, denn ich stehe dazu.“

Die grauhaarige Frau kämpfte sich auf die Beine. Sie war mit einem knöchellangen, weißen Leinenhemd bekleidet, trat nun neben Bernulf und sagte: „Willst du mir auch noch den zweiten Sohn nehmen, Godwin?“

„Ich habe dir keinen Sohn genommen“, versetzte der Fürstensohn. „Es waren die Ansibarii, und es war der Wille der Götter, in deren Welt dein Sohn nun weilt. Deine Freude darüber, dass sie ihn in Valaskjalf aufgenommen haben, sollte deine Trauer überwiegen.“

„Es ist schlimm, zu wissen, dass unser Sohn niemals mehr wieder durch die Tür dort kommen wird“, murmelte Bernulf. „Aber es ist tröstlich, zu wissen, dass er in der Welt der Götter Aufnahme gefunden hat.“ Bernulf heftete den Blick auf Landogar. „Was für ein Versprechen, mein Sohn?“

„Das Versprechen, mit ihm zu Aldemar, dem Fürsten der Ansibarii zu reisen, um mit diesem wegen eines Bündnisses zu verhandeln.“

„Wenn ihr das tut, dann könnt ihr euch gleich den wilden Tieren zum Fraß vorwerfen!“, keuchte Bernulf. „Warum ein Bündnis? Es wird niemals Frieden geben zwischen den Hariern und den Ansibarii.“

„Das Bündnis soll sich nicht nur auf die beiden Stämme beschränken“, erklärte Godwin und dann sprach er von seinem Plan, eine große Streitmacht auf die Beine zu stellen, mit der er verhindern wollte, dass die Heboniter ins Land einfielen, um zu töten, zu plündern und zu unterjochen.

Als Godwin geendet hatte, knurrte Bernulf: „Dein Vater, der Fürst, heißt deinen Plan nicht gut und du hast dich gegen seinen Willen auf den Weg gemacht. Du hast für deine Flucht den Sturm ausgenutzt.“ Als Godwin etwas erwidern wollte, hob er schnell die rechte Hand und gebot ihm mit dieser Geste zu schweigen. „Dein Vater wird dir einige Krieger hinterher schicken, um dich zurückholen zu lassen. Du weißt, wie hart Ungehorsam bestraft wird. Und in deinem Fall hast du nicht nur deinem Vater den gebotenen Respekt und den Gehorsam verweigert, sondern auch deinem Fürsten. Deine Absicht, zu den Ansibarii zu reisen, kann sogar als Verrat ausgelegt werden.“

„Es geht darum, unser Land zu retten“, gab Godwin zu verstehen. „Auch wir Harier sollten einmal über unseren Schatten springen und die Initiative ergreifen, um unser Land vor der Unterwerfung durch die Heboniter zu bewahren.“

Bernulf nickte. „Du riskierst eine harte Strafe.“

„Ich bin bereit, für meine Überzeugung dieses Risiko einzugehen“, erwiderte Godwin und fügte sogleich hinzu: „Wenn ein Krieger nicht bereit ist, für seine Überzeugungen Risiken einzugehen, dann taugen entweder seine Überzeugungen oder er selbst nichts.“

„Eine weise

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: Steve Mayer
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8213-3

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