Ostfriesland-Krimi von Alfred Bekker
© 2002 by Alfred Bekker
© der Digitalausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Der Umfang dieses Ebook entspricht 197 Taschenbuchseiten.
Ein Krimi von der Waterkant
Sämtliche Personen dieses Romans und manche
Örtlichkeiten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zwischen im Roman vorkommenden und tatsächlich existierenden Personen sind ausdrücklich nicht beabsichtigt, Bezüge zu realen Orten jedoch gewollt.
A.B.
Gretus Sluiter zuckte zusammen. Für einen kurzen Moment glaubte er, in der Finsternis eine schattenhafte Gestalt hinter dem Töpferladen hervortauchen zu sehen. Aber Sluiter war sich nicht sicher.
Jetzt mach dich nicht verrückt, da war nichts!, sagte er sich.
Er atmete tief durch und strich sich über das schüttere graue Haar.
Dann gähnte er, wandte sich in Richtung des 'Großen Meeres'. Nebel kroch über das spiegelglatte Wasser dieses etwa auf halbem Weg zwischen Emden und Aurich gelegenen Binnensees. Es war dunkel und kalt. Ein sternklarer, tiefer Himmel wölbte sich über das Wasser.
Gretus Sluiter beugte sich nieder, um die Vertäuung seines Jollenkreuzers zu überprüfen. Alles in Ordnung.
Vor einer Viertelstunde hatte ihn jemand zu Hause angerufen und behauptet, dass etwas mit dem Boot nicht stimmte.
Der Anrufer hatte sich als Meerwart ausgegeben.
Sluiter kannte den Meerwart des Großen Meeres nur flüchtig.
Er hieß Benno Folkerts und betrieb neben seiner landschaftspflegerischen Tätigkeit auch noch das sogenannte
'Meerwarthaus', ein direkt am Wasser gelegenes Restaurant.
Sluiter versuchte sich an die Stimme des Anrufers zu erinnern, ihren Klang in sein Gedächtnis zurückzurufen.
Aber letztlich kannte er Folkerts einfach nicht gut genug, um hunderprozentig sicher sein zu können, dass der Meerwart wirklich der Anrufer gewesen war.
Soon Schiet!, ging es Sluiter ärgerlich durch den Kopf. Da hat dich wohl einer auf den Arm genommen...
Sluiter atmete tief durch.
Er stieg auf das Boot, wollte jetzt ganz sicher gehen und überprüfte auch das Schloss der Kajüte. War alles dicht.
Drei Wochen bis Ostern. Sluiter war immer einer der Ersten im Jahr, die ihr Boot in den Hafen legten. Er wollte die Saison so weit wie möglich auskosten. Und jetzt, da er sich das neue Boot zugelegt hatte, galt das ganz besonders.
Sluiter ließ den Blick noch einmal über das Hafenbecken schweifen, in dessen glatter Wasseroberfläche sich die Sterne spiegelten. In der Ferne waren die Lichter von Emden zu sehen.
Im nahen Schilf quakten die Frösche. Dunkle Schatten tanzten dort.
Sluiter blickte auf die Leuchtanzeige seiner Armbanduhr.
Vielleicht konnte er im nahen Meerwarthaus noch ein Bier trinken, bevor er nach Hause fuhr. Und wenn nicht dort, dann in der zwanzig Meter entfernt gelegenen Konkurrenz mit der Bezeichnung 'Landhaus'.
Er stieg wieder an Land.
Ein übler Scherz, das war alles, dachte er.
Sluiter ging an der Uferbefestigung entlang, bog dann in Richtung des Töpferladens ab. Früher war die Hafenbucht eine Badeanstalt gewesen, deren Betrieb der Gemeinde wohl letztendlich zu teuer geworden war. Jedenfalls gab es immer noch das Gebäude mit den Toiletten und Umkleidekabinen. Ein Teil davon beherbergte nun einen Töpferladen. Um den Rest bemühte sich der Yacht-Club seit zehn Jahren vergebens. Sluiter wusste als Schriftführer davon ein Lied zu singen. Von der Gemeinde gab es zu dieser Sache immer dieselbe Auskunft: Es existierten Pläne, die Badeanstalt wieder einzurichten. Deshalb wolle man das Gebäude nicht veräußern.
Diese angeblichen Pläne würden wohl auf ewig Pläne bleiben, denn ihre Verwirklichung hätte vorausgesetzt, dass die dem Gebäude vorgelagerte, ziemlich sumpfige und nach jedem Regenguss knöchelhoch unter Wasser stehende Wiese zu einer richtigen Liegewiese hätte saniert werden müssen. Und dazu fehlte einfach das Geld.
Jetzt war die Bucht aufgeteilt zwischen dem Yacht-Club und dem Seglerverein, zwei Institutionen, die im Grunde dasselbe betrieben: Liegeplätze für Segelboote verwalten und zuteilen.
Der Seglerverein hatte darauf bestanden, dass sein Teil der Hafenbucht abgezäunt wurde und neuerdings wollte er auch Gebühren für die Benutzung der Slippanlage erheben, die in seinem Teil des Beckens lag.
Aber so ist das eben, dachte Sluiter. Die Natur ist knapp, und das bedeutet, dass um jeden Quadratzentimeter verbissen gekämpft wird: Segler, Angler, Surfer, Kanufahrer, Naturschützer... Jede Gruppe steckte ihre Claims ab und bewachte sie eifersüchtig.
Amüsiert erinnerte sich Sluiter an den Antrag eines Kanu fahrenden Ratsherren, der allen Ernstes gefordert hatte, eine Geschwindigkeitsbegrenzung für Segler und Surfer einzuführen.
Sluiter ging mit Storchenschritten über die tiefe, sumpfige Wiese, um dann hinter dem Töpferladen wieder auf einen festen Weg zu gelangen. Die Nässe machte Sluiter nichts. Er trug Gummi-Stiefel.
Sluiter erreichte die gepflasterte Fläche um den Töpferladen herum.
Er erstarrte.
Sein Blick fixierte einen Punkt an der rotgeklinkerten Mauerecke. Jetzt, im fahlen Mondlicht, wirkte das Mauerwerk fast grau.
Da war doch etwas...
Oder jemand!
Im Sommer gab es manchmal Probleme mit betrunkenen Jugendlichen, die über die Boote turnten. Aber im Moment hätten die sich nur die teuren Nike-Turnschuhe versaut.
Sluiter blieb stehen.
Er zögerte.
Der unermüdliche Meerwart, der hier nach dem Rechten sah?
Oder einer der beiden ehrenamtlichen Hafenmeister, die die Bootclubs bestellt hatten?
Wohl kaum, dachte Sluiter.
"Hallo?", fragte er laut. "Ist da jemand?"
Nur ein paar Blässhühner antworteten ihm mit ihren charakteristischen Lauten.
Du siehst schon Gespenster!, ging es ihm dann durch den Kopf. Er trat vor.
Eine nur als schattenhafter Umriss sichtbare Gestalt kam hinter der Mauerecke hervor. Dunkel hob sie sich ab.
Sluiter stutzte.
"Moin!", sagte er, weil ihm nichts besseres einfiel, und er andererseits das Gefühl hatte, mit seinem unbekannten Gegenüber irgendwie in Kontakt treten zu müssen.
Sluiter blinzelte.
Der Unbekannte trat näher. Er trug Gummistiefel, die bei jedem Schritt watschende Geräusche machten.
Sluiter selbst sorgte mit seinem Schatten dafür, dass das Mondlicht kaum etwas von dem Gesicht des Unbekannten beleuchtete. Lediglich das hervorspringende Kinn war deutlicher zu sehen. In der Mitte befand sich ein Grübchen.
Der Mann blieb stehen.
Er hielt etwas Längliches in der Hand. Eine Tasche hing ihm über der Schulter.
Was will der Kerl hier?, dachte Sluiter. Um diese Zeit!
Angeln ohne Angelschein? Soll mir egal sein, Hauptsache, er macht sich nicht an den Booten zu schaffen.
Man konnte gar nicht misstrauisch genug sein, was das anbetraf, so fand Sluiter.
Ein Segelboot war für nicht wenige Leute einfach ein Anlass, ihren Neidgefühlen hemmungslos nachzugeben. Einer, der sich ein Boot leisten konnte, war reich, so das Vorurteil. Niemand beachtete, dass der Bootsbesitzer vielleicht einen schäbigen Gebrauchtwagen fuhr, um sich sein Hobby leisten zu können.
Sluiter kam der Gedanke, dass es sich vielleicht um den Anrufer handeln konnte...
"Schöner Abend heute, was?" meinte Sluiter.
Er erhielt keine Antwort.
Ein unbehagliches Gefühl machte sich in Sluiters Magengegend breit.
Er trat einen Schritt zur Seite, um an dem Unbekannten vorbeigehen zu können. Doch dieser machte die Bewegung mit, versperrte ihm nun erneut den Weg, und Sluiter spürte plötzlich den Puls bis zum Hals schlagen.
Mit dem Blutdruck hatte er schon seit Jahren seine Probleme gehabt. Meiden Sie Stress, hatte er die Worte seines Arztes im Ohr. Treten Sie kürzer, suchen Sie sich ein beschauliches Hobby....
Hatte er getan.
Aber gegen die Art von Stress, die die Anwesenheit dieses Unbekannten verursachte, gab es kein Mittel.
"Was wollen Sie?", fragte Sluiter diesen nun. Jetzt erkannte er, dass der längliche Gegenstand in den Händen seines Gegenübers keine Angel war, sondern ein massives Ruderholz.
"Gretus Sluiter?", vergewisserte sich der Unbekannte.
Eiskalt klang die Stimme.
Ein Schauder überlief Sluiter.
"Sie haben mich angerufen, oder?", kam es zwischen seinen Lippen hindurch. Sluiter bekam dabei kaum die Zähne auseinander.
Er zermarterte sich das Hirn über eine einzige bohrende Frage: Hatte er diese Stimme irgendwann schon einmal gehört?
"Lassen Sie mich vorbei!", forderte Sluiter dann.
Ein leichtes Vibrieren klang in seinen Worten mit. Ein Vibrieren, das seine Angst verriet.
"Nein."
Die Erwiderung klang wie ein Urteil.
Der Unbekannte fasste das Ruderholz mit beiden Händen und schlug zu.
Sluiter wich zur Seite.
Der Schlag traf ihn schmerzhaft an der Schulter. Ein weiterer Hieb folgte unmittelbar darauf und traf ihn am Kopf.
Sluiter stöhnte auf, sank auf die Knie. Ihm war schwindelig.
Er fasste sich an den Kopf. Blut rann ihm zwischen den Fingern hindurch.
Undeutlich sah er den Unbekannten noch einmal ausholen.
Das Ruderholz traf ihn voller Wucht an der Stirn.
Mit einem platschenden Geräusch fiel Sluiter in das unter Wasser stehende Gras.
Dort blieb er reglos und in einer eigenartig verrenkten Haltung liegen. In seinen starr gewordenen Augen spiegelte sich das Mondlicht.
Der Mörder legte das Ruderholz auf den sumpfigen Boden.
Die Tasche, die ihm über der Schulter hing, schob er zurück.
Dann fasste er Gretus Sluiter bei den Armen und zog ihn über die Liegewiese. Einmal setzte er zwischendurch ab, ehe er sich den Rest der Strecke vornahm. Schließlich erreichte er die Stelle, an der Sluiters Boot lag.
Die Leiche legte er auf der etwa einen Meter fünfzig breiten befestigten Zone direkt am Ufer ab. Seine Tasche ebenfalls. Er löste die Vertäuung des Bootes, um es näher ans Ufer heranzuziehen. Er machte es erneut fest. Die Außenhaut schabte jetzt an der scharfen Uferkante. Aber wenn er die Leiche an Bord bringen wollte, konnte er keinen weiten Spagat-Schritt auf das Boot machen.
Der Mörder lud sich Sluiter über den Rücken und stieß ihn dann mit aller Kraft ins Boot hinein. Hart schlug Sluiters Kopf auf dem Boden auf. Blut sickerte heraus, lief über den Polyester-Boden. Ein Fuß hatte sich im Netz der Reling verfangen.
Der Mörder atmete tief durch.
Etwas fehlt noch!, dachte er.
Er wandte sich seiner Tasche zu, holte eine Boßel-Kugel aus Hartholz daraus hervor und warf sie Sluiter hinterher. Sie rollte durch die entstandene Blutlache.
Dann löste der Mörder die Taue und gab dem Jollenkreuzer einen Stoß mit dem Fuß.
Lorant tickte mit den Fingern auf dem Lenkrad seines Mitsubishi Carisma herum und folgte dabei dem Takt der swingenden Jazzmusik, die aus den Lautsprechern der Stereoanlage kam. 'Cantaloupe Island' von Herbie Hancock.
Nicht in der Rap-Fassung aus den Neunzigern, die lange als Titelmelodie einer Talkshow gedient hatte, sondern das Original des Meisters selbst. Lorant kannte das Stück in- und auswendig.
Seine Finger bewegten sich wie auf einem Piano. In Gedanken spielte er es mit. Der Jazz war Lorants große Leidenschaft. Er liebte diese freieste aller Musikformen, die zum Großteil aus der Spontaneität des Augenblicks heraus entstand. Kein Jazz-Stück wurde jemals zweimal auf dieselbe Art und Weise gespielt.
Lorant hatte selbst einmal davon geträumt, als Jazzmusiker Karriere zu machen. Immerhin war er ein passabler Pianist geworden. Der Höhepunkt seiner Karriere war ein Auftritt in Kölner 'Subway' gewesen. Auf zwei CDs, die unter einem kleinen Label herausgekommen waren, hatte Lorant mitgespielt.
Aber zum Glück hatte Lorant früh genug erkannt, dass sein Talent wohl nicht dazu ausreichte, um in die Fußstapfen von Miles Davis, John Coltrane oder Thelonius Monk zu treten und Jazzgeschichte zu schreiben. Es reichte allenfalls, um sich hin und wieder als Barpianist etwas dazu zu verdienen. Und so war Lorant den sicheren Weg gegangen.
Den vermeintlich sicheren Weg.
Zwanzig Jahre Polizeidienst hatte er hinter sich.
Schließlich hatte er frustriert den Dienst quittiert. Immer wieder hatte er mit ansehen müssen, wie leichtfertig in Mordfällen ermittelt wurde. Er hatte das auf die Dauer nicht ertragen können. Und als schließlich seine Frau unter mysteriösen Umständen verschwunden war, Umständen, die ein Tötungsdelikt sehr nahe legten, hatte dies das Fass zum Überlaufen gebracht. Er hatte den Dienst quittiert, sich als Barpianist durchgeschlagen und sich schließlich als Privatdetektiv selbstständig gemacht. Sein Spezialgebiet waren Tötungsdelikte, bei denen die Justiz längst aufgegeben hatte.
Oder solche, die zunächst gar nicht als das erkannt wurden, was sie in Wahrheit waren: Morde.
Was damals mit seiner Frau geschehen war, hatte Lorant trotz aller Bemühungen niemals vollständig herausfinden können. Ein ungelöster Fall, der an seiner Seele nagte, wann immer er daran dachte. Die Bilder würden sich wohl niemals aus seinem Gedächtnis löschen lassen. Das sonnendurchflutete Hotelzimmer, die Blutflecken auf dem Boden.
Für einen kurzen Moment kniff Lorant die Augen zu.
Es hat keinen Sinn!, ging es ihm durch den Kopf. Es hat einfach keinen Sinn!
Das Zusammenkneifen der Augen war eine Art Ritual, um diese Bilder aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Zumindest zeitweise. Tagsüber klappte das auch ganz gut. In der Nacht war das etwas anderes. Vor Albträumen gab es keinen Schutz. Das hatte Lorant in den letzten Jahren oft genug erfahren müssen.
Zwar waren sie in den letzten Jahren weniger geworden, aber sie hatten nie ganz aufgehört.
Lorant nahm die Autobahnabfahrt Emden-Nord. Sechs Stunden Fahrt lagen hinter ihm, eine davon hatte er im Stau verbracht, gleich nachdem er Köln verlassen hatte.
Jetzt musste er nur noch die Adresse seiner Auftraggeberin finden, die in Forlitz-Blaukirchen, einem kleinen Dorf in Südbrookmerland, wohnte.
Lorant nahm die B270 Richtung Aurich.
Das Land war so platt, wie man es immer behauptete. Man konnte bis zum Horizont sehen. Die Wolken türmten sich zu eigenartigen Gebilden auf. Lorant hatte den Eindruck von Weite.
Fast so, als ob man sich an der Küste befand und auf das offene Meer blickte.
Auf der rechten Seite befanden sich in regelmäßigen Abständen martialisch anmutende Warnschilder.
Eines zeigte einen Sensenmann mit grinsendem Totenschädel.
"Ich fahre mit!", stand darunter.
Ein anderes zeigte eine Reihe von nebeneinandersitzenden Geistern. Darunter stand: Tempo 140 - wir warten schon!
Offenbar wurde auf dieser, von Bäumen umsäumten Allee viel zu schnell gefahren. Hier und da machten verwitterte Holzkreuze auf die Opfer der letzten Jahre aufmerksam. Lorant fuhr vorschriftsmäßig siebzig. Ein BMW A4 drängelte von hinten, betätigte die Lichthupe und setzte schließlich ohne Rücksicht auf einen aus Auricher Richtung heranbrausenden Truck zum Überholmanöver an.
Lorants Adrenalinspiegel stieg. Er bremste ab. Der A4 scherte vor ihm ein. Der Truck donnerte vorbei, betätigte dabei seine Hupe, die den Klang einer Fußballtröte hatte. "Ich heiße Manni", stand vorne auf der Truckhaube. Damit war wohl der Fahrer und nicht der Motor gemeint. Aber offenbar hatten weder Manni noch der BMW-Fahrer sich je die Plakate mit Verstand angesehen. Und das, obwohl sie vermutlich häufiger hier vorbeifuhren, denn beide hatten Auricher Kennzeichen.
Lorant seufzte hörbar.
Shock in the Morning before breakfast!, erinnerte er sich an den Ausspruchs seines Englischlehrers, der das immer gesagt hatte, wenn er jemand ohne Hausaufgaben erwischte. Lorant hatte das ziemlich oft zu hören bekommen.
Immerhin waren jetzt seine grüblerischen Gedanken wirkungsvoll davongejagt. Lorant war wieder ganz im Hier und Jetzt. Trotzdem nahm er die Baseballkappe vom Kopf, weil er anfing zu schwitzen. Seit die Haare weniger wurden, ging er ohne das Ding nicht mehr in die Sonne.
Auf der linken Seite fiel Lorant eine Kirche auf.
Kurz nach dem Ortsschild Suurhusen.
Lorant stutzte.
Der Kirchturm hatte eine so beträchtliche Neigung, dass man eigentlich erwarten konnte, ihn innerhalb weniger Augenblicke niederstürzen zu sehen.
Lorant fuhr etwas langsamer.
Er verengte die Augen, nahm die Sonnenbrille ab.
So was gibt's doch nicht!, dachte er. Der Turm stellte ein Gebilde dar, das allen bekannten Gesetzen der Schwerkraft irgendwie völlig zu widersprechen schien. Und doch stand er.
Wie der schiefe Turm von Pisa.
Lorant schüttelte leicht den Kopf.
War sicher kein besonders angenehmes Gefühl, in unmittelbarer Umgebung dieser Kirche zu wohnen, immer in der Gefahr, dass der Turm niederging.
Die Villen, die direkt nebenan standen, waren schmuck herausgeputzt. Offenbar rechnete keiner der Besitzer damit, sein Anwesen in absehbarer Zeit auf Grund eines niederstürzenden Kirchturms in wesentlichen Teilen renovieren zu müssen.
Lorant fuhr weiter, beschleunigte wieder etwas. Fast auf hundert. Den wartenden Geiern zum Trotz.
Bevor ich den Fall hier erledigt habe, werde ich auf jeden Fall ein Foto von dieser Kirche machen!, ging es ihm durch den Kopf. Wer weiß schon, wann ich das nächste Mal hier her komme!
Lorant fuhr an der Bedekaspeler Marsch vorbei.
Schließlich erreichte er ein Hinweisschild, auf dem "Großes Meer" stand.
Auf der Wegbeschreibung, die ihm vorlag, war allerdings nicht angegeben, in welche Richtung die Abzweigung mit diesem Hinweis ging.
Lorant wunderte sich darüber, dass das Hinweisschild nach rechts zeigte. Es widersprach seinem Raumgefühl. Ganz grob gesehen hatte er Emden im Süden und Aurich im Norden.
Gleich, in welche Richtung man fuhr, man kam in Ostfriesland immer irgendwann zur Küste, es sei denn man fuhr nach Süden oder Osten.
Diese Abzweigung ging Richtung Osten.
Lorant nahm sie trotzdem.
Meine Güte, dass die hier schon auf die Küste des Jadebusens bei Wilhelmshaven hinwiesen! Das wunderte den Detektiv doch sehr.
Die Straße war schmal, hatte einen separaten Radweg und zog sich wie ein Strich durch die Landschaft. Zu beiden Seiten gab es die charakteristischen Entwässerungsgräben. Hin und wieder stand ein einsames Haus mitten in der Landschaft.
Dann erreichte er ein Ferienhausgebiet.
Tempo 30-Zone.
Lorant erinnerte sich an das Plakat mit den wartenden Geiern und hielt sich dran.
Eine sehr schmale Brücke führte über einen Kanal, dahinter befanden sich reetgedeckte Häuser und ein Parkplatz. Weiter entfernt waren die Campingwagen eines nahen Zeltplatzes und das offene Wasser zu sehen.
Lorant fuhr auf den Parkplatz, stieg aus.
Sein Hintern war ihm von der stundenlangen Sitzerei fast eingeschlafen. Der leichte Wind, der vom Wasser her wehte, wirkte erfrischend. Die beiden reetgedeckten Häuser sahen aus wie Gaststätten. Meerwarthaus nannte sich das eine, Landhaus das andere. Konkurrenz belebt das Geschäft, dachte Lorant. Er schlug die Wagentür zu, ging in Richtung Ufer. Segelboote lagen in einer Hafenbucht. Man konnte Tretboote ausleihen. Einige Surfer waren auf dem Wasser. Ihre Segel wirkten wie Schmetterlingsflügel.
Es war ein Tag mit klarer Sicht.
Und so konnte man das andere Ufer ziemlich gut sehen.
Dies war nur ein kleiner Binnensee, schätzungsweise fünf Quadratkilometer groß.
Wieso müssen die hier nur so übertreiben, wo sie doch die echte Küste vor der Haustür haben!, ging es Lorant kopfschüttelnd durch den Kopf.
Er ließ den Blick zwischen Landhaus und Meerwarthaus schweifen und entschied sich dann für das Meerwarthaus.
Bevor er zu seiner Auftraggeberin ging, beabsichtigte er noch etwas essen und eine Tasse Kaffee trinken. Schließlich wollte er einen einigermaßen wachen Eindruck machen.
Er ging zum Meerwarthaus, passierte den Eingang.
Ein großer, breitschultriger Mann mit kantigem Gesicht stand hinter dem Tresen. Das Kinn war ziemlich spitz, der untere Teil seines Gesichts hatte die Form eines Vogel-V.
"Moin", sagte der Mann hinter dem Tresen.
"Guten Tag", erwiderte Lorant und offenbarte sich dadurch gleich schon als Auswärtigen. "Eine Tasse Kaffee hätte ich gerne und irgendwas zu essen."
"Hier ist die Karte, junger Mann!"
Der Mann hinter dem Tresen reichte Lorant ein in Kunstleder gebundenes Exemplar. Junger Mann, hatte er gesagt. Lorant versuchte sich daran zu erinnern, wann zuletzt das jemand zu ihm gesagt hatte. Musste schon ziemlich lange her sein. Der gönnerhafte Unterton darin missfiel Lorant. Außerdem war der Mann hinter dem Tresen vermutlich sogar jünger als Lorant.
Zumindest, wenn man nach dem Anteil der grauen Haare ging.
Lorant entdeckte eine Urkunde an der Wand. "Hiermit wird Herr Benno Folkerts zum Meerwart des Großen Meeres bestellt", stand dort unter anderem zu lesen.
Lorant deutete mit dem Finger darauf.
"Sind Sie das?"
"Jau, dat bin ik!", bestätigte der Mann hinter dem Tresen. Er grinste dabei.
"Wieso nennt sich dieser kleine See eigentlich Großes Meer? Ist doch ein bisschen übertrieben? Da könnte sich ja jede Talsperre im Sauerland mit größerem Recht Meer nennen."
Folkerts lachte kurz auf.
"Sie sind nicht von hier, was?"
"Nein."
"Junger Mann, dann hören Sie mir mal gut zu."
"Bin gespannt."
"Hier in Ostfriesland heißt ein geschlossenes stehendes Gewässer Meer. Aber das, was die Auswärtigen unter einem Meer verstehen, das heißt bei uns die See."
"Ah ja."
"Darum heißt es ja auch Nordsee hier bei uns und nicht Nordmeer."
"Nein, das Nordmeer ist ja auch bisschen woanders."
"Eben!"
"Noch eine Frage."
"Junger Mann, es gibt hier so einen Wettbewerb für die Touristen, der nennt sich Friesen-Abitur, da können Sie dat alles lernen."
Lorant schüttelte den Kopf.
Er lächelte mild.
"Nein, es geht nur um den Weg."
"Wo wollen Sie denn hin?"
"Forlitz-Blaukirchen. Ich habe kein Schild mehr gesehen."
"Junger Mann, Forlitz-Blaukirchen ist auch keine Großstadt. Fahren Sie einfach die Straße weiter, dann können Sie es nicht verfehlen."
"Danke."
"Keine Ursache."
Lorant warf einen Blick in die Karte, entschied sich nach kurzem Überlegen für ein Schwarzbrot mit Krabben. "Bringen Sie es mir an den Tisch dahinten", wies er den Meerwart an.
"Kein Problem, junger Mann!"
Wenn du noch einmal junger Mann sagst, passiert was!, durchzuckte es Lorant, obwohl ihm natürlich insgeheim klar war, dass überhaupt nichts passieren würde. Selbst dann nicht, wenn Meerwart Folkerts noch zwanzigmal junger Mann zu ihm sagte.
Während Lorant zum Tisch ging, hörte er, wie der Meerwart seinen Essenswunsch auf Plattdeutsch in die Küche hinüberrief.
Lorant setzte sich. Der Tisch, den er sich ausgesucht hatte, stand direkt am Fenster. Man konnte auf das Meer hinausblicken.
Auf das Meer im ostfriesischen Sinn des Wortes.
Die Tür öffnete sich, und ein Mann in Gummistiefeln trat ein.
Er schien den Meerwart gut zu kennen.
"Moin!"
"Moin, moin!"
"Dat is ein moie Weer, Benno! So ein Wetter hatten wir lange nicht."
"Letztes Jahr um diese Zeit hatten wir Frost, Harm."
"Jau, ich weiß wohl."
"Nächste Woche soll schon wieder alles anders werden."
"Ach, was die im Radio so erzählen, das trifft doch für uns hier an der Küste nie zu."
Harm beugte sich jetzt etwas über den Tresen. Benno Folkert goss ihm einen Korn ein.
"Hör mal, was ist eigentlich wegen der Sache mit Gretus Sluiter noch passiert?"
"Liest du keine Zeitung, oder was?"
"War zwei Wochen in Urlaub, Benno!"
Benno Folkert sprach jetzt ebenfalls in gedämpftem Tonfall.
"Also, soweit ich weiß, ist der Fall abgeschlossen. Die Polizei war noch mal hier, hatte alle möglichen Leute gefragt."
"Aber ist wohl nix bei 'rausgekommen, wat?"
"Nee. Gretus ist wohl mit seinem Boot rausgefahren und hat den Mastbaum vor den Kopf gekriegt."
Lorant spitzte die Ohren.
Seine Auftraggeberin war Bernhardine Sluiter aus Forlitz-Blaukirchen. Die Mitinhaberin mehrerer Geschäfte in Emden hatte Zweifel daran, dass der Tod ihres Mannes tatsächlich ein Unfall gewesen war. Für die Justiz schien der Fall jedoch inzwischen mehr oder weniger den Weg auf den großen Aktenstapel gefunden zu haben.
Benno Folkerts sagte leise: "Also, was ich mich frage, ist, wieso Gretus an dem Abend überhaupt rausgefahren ist. Es war saukalt. Wirklich saukalt und außerdem gab es fast keinen Wind. Dazu stockdunkel. Niemand ist so bescheuert und fährt dann hinaus."
"Jau, da sagst du was!", stimmte Harm zu.
"Außerdem frage ich mich, wieso Gretus rausgefahren ist, ohne das Segel hochzuziehen!"
"Ja, aber wenn die Polizei das meint!"
"Man steckt da ja nicht drin!"
"Ich denke, die werden nicht gerade bei dir vorbeigekommen sein, um dir die Akten zu zeigen!"
Benno Folkerts schüttelte den Kopf, nahm sich selbst einen Korn. "Nee, das nun allerdings nicht!"
Eine weibliche Stimme schrillte aus der Küche.
Lorant konnte nicht verstehen, was sie sagte. Erstens sprach sie plattdeutsch, zweitens verhallte ihr Klang auf Grund der akustischen Gegebenheiten im Küchenbereich zu sehr. Machten wohl die gekachelten Wände.
"Ja, ich komme!", rief Benno Folkerts zurück und Lorant ahnte schon, dass es irgendwie um sein Krabbenbrot ging.
Folkerts verschwand.
Lorant bedauerte, dass das Gespräch zwischen Harm und dem Meerwart damit fürs Erste zu Ende war.
Einige Augenblicke später kehrte Folkerts in den Schankraum zurück, balancierte einen Teller auf der linken Handfläche und eine Tasse Kaffee in der Rechten. Er stellte beides schließlich vor Lorant auf den Tisch.
"Wollen Sie dazu auch noch etwas anderes trinken als Ihren Kaffee?", fragte der Meerwart dann. Man konnte die Verachtung, mit der er das Wort Kaffee aussprach, deutlich heraushören. Ein Getränk für zivilisierte Leute ist das in seinen Augen wohl nicht, überlegte Lorant.
"Nein danke", erwiderte Lorant.
"Naja, muss ja jeder selber wissen."
"So ist es."
Folkerts wollte sich schon wieder zum Gehen wenden, als Lorant ihn fragte: "Kannten Sie ihn gut, diesen Gretus Sluiter?"
Benno Folkerts Augen verengten sich etwas.
Er fixierte den auswärtigen Lorant mit einem schwer zu deutenden Blick. Verwunderung war auf jeden Fall darin zu lesen. Aber vielleicht auch noch ein paar andere, weniger freundliche Nuancen, die Lorant in diesem Augenblick nicht näher analysieren wollte. "Was is?", fragte er zurück. "Na, der Mann, von dem Sie gerade am Tresen sprachen. Gretus Sluiter."
"Was wissen Sie davon?"
"Ich habe von der Sache gehört."
Benno Folkerts zuckte die Achseln. "Wahrscheinlich ist er einfach nur unvorsichtig gewesen", sagte er. "Ich habe ihm mal geholfen, als sein Boot im Schilf feststeckte..."
"Wie kann so etwas denn passieren?"
"Da hatte er auch nicht aufgepasst."
"Ach so!"
Lorant nahm einen Happen von dem Krabbenbrot. Die Krabben waren frisch. Jedenfalls glaubte Lorant das herauszuschmecken.
Benno Folkerts blieb noch bei ihm am Tisch stehen, musterte seinen Gast mit einem nachdenklichen Blick.
"Wieso interessiert Sie das eigentlich? Sind Sie von der Presse?"
"Nein, nein. Wie gesagt, ich habe nur davon gehört."
"Sie wollen nach Forlitz-Blaukirchen?"
"Ja, und?"
"Dorthin, wo Sluiters Witwe wohnt."
"So ein Zufall!"
"Ich glaube nicht an Zufälle."
"Ihre Krabben schmecken jedenfalls gut!"
"Na, wenigstens etwas, womit ich Ihnen helfen konnte, junger Mann!"
Mit diesen Worten ging er zurück zum Tresen.
"Wer ist dat denn?", hörte man Harm leise fragen.
"Was weiß ich. Einer von der BILD-Zeitung oder so."
"Da kommt ihr hier ganz schön ins Gerede, was?"
"Ach, was soll's!"
"Aber wenn du Glück hast, Benno, dann ist dein Lokal hier in der Zeitung. Mit Bild und allem. Das ist doch 'ne Riesenwerbung."
Folkerts beugte sich etwas vor, nachdem er Harm noch einen Korn nachgeschüttet hatte. "Und wenn ich Pech habe", vollendete er Harms Äußerung, "dann ist statt dessen ein Foto vom Landhaus drin in der BILD-Zeitung!"
Lorant fuhr weiter Richtung Forlitz-Blaukirchen.
Hinter einer Biegung trat er auf die Bremse. Die Reifen des Carisma quietschten. Das ABS verhinderte das Schlimmste. Der Wagen kam zum Stehen. Ein Mann stand mitten auf der Fahrbahn, schwenkte eine Fahne.
Etwa zwei Dutzend weitere Personen standen auf der Straße.
Einige von ihnen hielten Flaschen in der Hand. Unter johlender Anteilnahme der Allgemeinheit wurden tennisballgroße Kugeln über den Asphalt gerollt.
Oh nein, das hat mir gerade noch gefehlt!, ging es Lorant durch den Kopf.
Vom Nationalsport der Friesen hatte er schon gehört.
Boßeln nannte sich das und in dem Fernsehbericht, den Lorant in grauer Vorzeit mal darüber gesehen hatte, wurde das so dargestellt, als ob es sich um eine Art norddeutsche Version des französischen Boule-Spiels handelte. Natürlich wie in Deutschland üblich in Vereinen organisiert und streng in Wettbewerbe mit Hartholz- oder Gummikugeln getrennt.
Ob es denen, die auf dieser Straße herumstanden, wirklich in erster Linie um irgendeinen sportlichen Ehrgeiz ging, bezweifelte Lorant angesichts der offenbar feucht-fröhlichen Stimmung, die unter den Teilnehmern herrschte.
Lorant hupte.
Schließlich könnten die ja mal ein bisschen Platz machen!, dachte er.
Einige der Boßel-Spieler drehten sich um. Flaschen und Pinnchen wurden gehoben und dem Auswärtigen freundlich zugeprostet. Irgendwo brandete Gelächter auf.
Der Fahnenschwenker trat von der Seite her an Lorants Wagen heran, tickte dann mit den Fingern gegen die Seitenscheibe.
Offenbar will der was von mir!, schloss Lorant und ließ per Knopfdruck die Scheibe hinunter.
"Ich will da durch!", sagte Lorant ziemlich direkt und ohne Schnörkel. Manchmal sollte man die Dinge eben auf den Punkt bringen, ging es ihm durch den Kopf.
Sein Gegenüber schien genauso zu denken.
Er antwortete trocken: "Nee, dat gait nich!"
"Ey, wie?"
Lorant war etwas irritiert und machte einen
Gesichtsausdruck, der das auch ohne weitere Worte hinreichend zum Ausdruck brachte.
Der Fahnenschwenker, ein rotgesichtiger, sommersprossiger Mann, von dem man annehmen konnte, dass er wohl auch schon einige der Schnappspinnchen hinuntergestürzt hatte, schluckte jetzt und machte ein sehr konzentriertes Gesicht. Das musste er auch, denn er versuchte jetzt hochdeutsch zu sprechen. Offenbar nicht seine Muttersprache.
"Sie können hier nicht durch."
"Wieso nicht?"
"Sieht man doch: Hier wird geboßelt."
"Und wie lange dauert das?"
"Wir ziehen hier die Straße entlang."
"Wahrscheinlich mit einem halben Stundenkilometer oder so."
"Oder so, ja."
"Können Sie den Leuten da nicht mal sagen, dass sie für'n Moment Platz machen und die Kugeln wegräumen? Ich bin ja auch schnell durch."
"Mitten im Wettbewerb?"
Lorant atmete tief durch.
Jetzt hatte er den Weg bis Forlitz-Blaukirchen beinahe gefunden und dennoch führte wohl kein Weg daran vorbei, so kurz vor dem Ziel wieder umzukehren.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: BEKKER
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7891-4
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