Cover

BUBE, DAME, KILLER

Alfred Bekker schreibt als Neal Chadwick

zwölf Thriller aus der Serie KOMMISSAR X in einem Band

 

IN ALTER DEUTSCHER RECHTSCHREIBUNG

 

© 1991, 1992, 1994, 1996, 2004, 2012, 2015 by Alfred Bekker (Neal Chadwick)

Die vorliegenden Werke erschienen ursprünglich innerhalb der Romanserie KOMMISSAR X, einzelne Titel auch zusammengefasst in über den Versandbuchhändler Weltbild vertriebenen Hardcover- und Paperback-Ausgaben der Verlage Moewig und Zsolnay sowie im Verlag Readersplanet und in tschechischer und englischer Übersetzung. Von dem Roman DOPPELTES SPIEL erschien eine Hörbuchbearbeitung bei Nocturna Medien.

Die vorliegenden Werke erschienen auch unter anderen Titeln und in bearbeiteter und veränderter, von den Serien-Elementen gereinigten Form unter den Namen Henry Rohmer und Brian Carisi, zwei Pseudonymen desselben Autors und der Serienbezeichnung NEW YORK DETECTIVES, unter der auch Hörbuchbearbeitungen aller Romantitel veröffentlicht wurden. Eine personalisierbare Buchfassung erschien bei Personalnovel.

 

Ein CassiopeiaPress E-Book

© by Author

© 2015 der Digitalausgabe by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

 

Die Benutzung des Serientitels KOMMISSAR X erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Verlagsunion Pabel-Moewig KG, Rastatt.

Alle Rechte vorbehalten.

 

Der Umfang dieses Ebook entspricht 1247 Taschenbuchseiten.

 

Dieses Ebook beinhaltet folgende zwölf Romane:

Bube, Dame, Killer

Der Amokläufer

Der Killer-Cop

Der Tod des Predigers

Der Todeskandidat

Die namenlose Tote

Doppeltes Spiel

Duell am East River

Flammentod

In der Hölle von Belfast

Stirb, Schnüffler!

Kinder des Satans

 

 

 

Kommissar X - Bube, Dame, Killer

Als Larry Kostler sich an diesem Morgen von seinem Chauffeur ins Büro fahren ließ, war seine Laune nicht gerade besonders gut.

Es gab Ärger in seiner Firma und wie es schien, würde er mit dem eisernen Besen fegen müssen, um da wieder aufzuräumen.

Aber im Augenblick schienen seine Gedanken ganz woanders zu sein. Er blickte nachdenklich aus dem Fenster, während der Chauffeur die schwarze Limousine durch den New Yorker Stadtverkehr lenkte.

Es gab einen Punkt, an dem man sich fragte: Wozu das alles? Und vielleicht war Larry Kostler an diesem Punkt.

Zwischendurch schaute er kurz auf die Uhr.

Er war spät dran. Wenn man hinaus in den Regen sah und auf die Blechlawine schaute, die sich durch die Straßen quälte, konnte man auf die Idee kommen, daß es damit zu tun hatte, daß Larry Kostler heute zum ersten Mal seit Jahren nicht pünktlich war.

Aber daran lag es nicht.

Kostler hatte seinem Notar noch einen kurzen Besuch abgestattet. Auch eine Sache, die ihm nicht angenehm gewesen war und die er lange vor sich hergeschoben hatte.

Was soll's! dachte er. Jetzt habe ich wenigstens das hinter mir!

Und die Firma lief ihm schließlich nicht davon.

Wenn es sich einer leisten konnte, spät dran zu sein, dann er, denn er war der Boß.

Es dauerte nicht mehr lange und der Wagen hielt vor dem mächtigen Gebäude, in dessen Mauern die Kostler Holding Company ihre Büros hatte.

Der Wagen hielt; der Chauffeur stieg als erster aus, um seinem Boß die Tür zu öffnen.

Die Tür ging Sekunden später auf.

"Vielleicht brauche ich Sie in einer halben Stunde wieder!" meinte Kostler zum Chauffeur. "Halten Sie sich also bereit.

"Jawohl, Sir!"

Kostler stieg mit umständlichen, etwas ungeschickt wirkenden Bewegungen aus.

Er hatte mindestens ein Dutzend Kilo Übergewicht und das machte ihn langsam. Er keuchte erbärmlich und sein Gesicht war puterrot angelaufen, als er schließlich neben seinem Chauffeur stand.

Dann geschah es.

Kostler hörte quietschende Reifen und das Heranbrausen eines anderen Wagens.

Er drehte sich unwillkürlich dorthin um. Es war ein zweisitziger Sportwagen mit verdunkelten Scheiben, soviel sah er noch.

Alles Weitere dauerte nur Sekunden!

Eine der Scheiben ging ein Stück hinunter, etwas Längliches schob sich einige Zentimeter hindurch und dann blitzte es auf einmal.

Es war ein Mündungsfeuer ohne Schußgeräusch. Nur ein Klacken des Abzugs, das durch die Geräusche der Umgebung fast völlig verschluckt wurde.

Und trotzdem war es ein Geräusch, das Larry Kostler das Blut in den Adern gefrieren ließ, denn er kannte es nur zu gut...

Es war ein verdammt häßliches Geräusch, auch wenn es kaum zu hören war.

Larry Kostler sah eine Kugel am Lack der Limousine kratzen, direkt vor seinen Augen, oben auf dem Dach.

Und noch ehe er wirklich begriffen hatte, was vor sich ging, und daß der Fahrer des fremden Wagens es ganz offensichtlich auf sein Leben abgesehen hatte, wurde ein zweiter Schuß abgefeuert. Und ein Dritter und dann noch ein Vierter.

Kostler sah den Chauffeur mit einem kleinen, runden Loch im Kopf auf dem Pflaster liegen.

Die Augen starrten weit aufgerissen in den smogverhangenen Himmel. Er war tot.

Kostler war wie gelähmt.

Dann fühlte er einen höllischen Schmerz in der linken Schulter. Die Wucht des ersten Treffers riß ihn herum. Die zweite Kugel fuhr ihm seitlich in den Brustkorb.

Das letzte, was er fühlte, war Schwindel.

Alles begann sich drehen.

Und dann kam die Schwäche.

Seine Beine knickten ihm unter dem Körper weg, und er sackte zu Boden. Er hörte noch wie Leute zusammenliefen und aufgeregt durcheinander redeten.

Irgendjemand schrie hysterisch.

Und dann hörte Kostler die quietschenden Reifen des Sportwagens mit den verdunkelten Scheiben, der offensichtlich davonraste.

Dann wurde es auf einmal stumm in seiner Umgebung und dunkel vor seinen Augen.

Sehr, sehr dunkel...


*


Die Tür flog auf und Jo Walker kam schwungvoll herein.

Er hatte den Mantel bereits ausgezogen, knöpfte sich nun den obersten Hemdknopf auf und lockerte dann seine Krawatte etwas.

"Guten Morgen, April!" grüßte er gutgelaunt April Bondy, seine Assistentin.

"Tag, Jo!"

"Ich weiß, ich bin etwas spät dran. Aber dieser verdammte Verkehr!"

April erhob sich von ihrem Platz und trat zu Walker heran, der unterdessen seinen Mantel irgendwo abgelegt hatte.

"Du hast Glück, Jo!"

"Inwiefern?"

"Die Klientin, die seit fast einer Stunde in deinem Büro wartet und der ich bereits die dritte Tasse Kaffee aufgebrüht habe, sieht dermaßen verzweifelt aus, daß sie wahrscheinlich auch noch ein paar weitere Stunden auf sich genommen hätte!"

Jo zuckte mit den Schultern.

"Leute, die ein sorgloses Leben führen und keinerlei Probleme haben sind ja auch nicht gerade die typische Kundschaft eines Privatdetektivs, oder?"

Als Jo Walker einen Moment später sein Büro betrat, wußte er, was April gemeint hatte.

Da saß eine junge Frau vor ihm im Sessel, die wirklich alles andere als ein glückliches Gesicht machte. Sie hatte ausdrucksstarke, grün-graue Augen, ein feingeschnittenes Gesicht und das lange blonde Haar fiel ihr auf die Schultern herab.

Sie gefiel Jo.

Aber es war ihrem Gesicht anzusehen, daß sie große Sorgen haben mußte.

Jo grüßte höflich.

"Tag, Miss..."

"Geraldine Kostler!" sagte sie.

Jo gab ihr die Hand und versuchte zu lächeln.

"Angenehm."

"Sie sind Jo Walker, der Privatdetektiv?"

"Richtig."

"Eigentlich eine dumme Frage. Ich habe Ihr Bild nämlich vor ein paar Tagen in der Zeitung gesehen... Sie sollen der Beste sein, Mr. Walker!"

"Man tut was man kann!" erwiderte Jo bescheiden und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. "Aber nennen Sie mich Jo! Und dann sagen Sie mir bitte, was Sie auf dem Herzen haben, Miss!"

"Vielleicht haben Sie schon einmal den Namen meines Vaters gehört - Larry Kostler."

Jo überlegte kurz, aber dann schüttelte er den Kopf.

"Nein, tut mir leid. Jedenfalls fällt es mir im Moment nicht ein."

"Larry Kostler von der Larry Kostler Holding."

"Ich lese zwar nicht regelmäßig den Wirtschaftsteil in der Zeitung, aber den Namen der Firma habe ich schon gehört. Was ist mit Ihrem Vater?"

"Auf ihn wurde gestern ein Mordanschlag verübt. Es steht heute in den Zeitungen."

Jo sah das zusammengefaltete Exemplar der New York Times auf seinem Tisch liegen.

"Ich bin heute noch nicht dazu gekommen, in die Times zu sehen!" gab er zu.

"Ein Wagen kam vorbei. Mit verdunkelten Scheiben. Und dann wurde geschossen. Der Chauffeur ist dabei ums Leben gekommen, aber es sieht wohl ganz so aus, als hätte man es eigentlich auf Dad abgesehen gehabt... Mein Vater liegt jetzt noch immer auf der Intensivstation. Er ist noch nicht über den Berg."

"Hat die Polizei schon...?"

"Die können nicht viel machen."

"Aber..."

"Es ist nicht der erste Versuch, Dad umzubringen, Mister Walker - ich meine: Jo!"

"Ach, nein?"

"Nein. Einmal hat jemand seinen Wagen in die Luft gesprengt. Das ist drei Wochen her. Er hatte Glück, denn er ist noch mal ausgestiegen, weil er etwas vergessen hatte. Da ist der Wagen in die Luft gegangen."

"Das sieht nach der Arbeit von Profis aus!" meinte Walker.

Geraldine Kostler nickte.

"Ja, das haben die Leute von der Polizei auch gesagt."

"Haben Sie eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?"

"Ja. Die Sache ist ziemlich eindeutig."

Jo runzelte die Stirn.

So etwas hatte man selten.

"Und wer?"

"Tony Maldini. Ich denke, daß er hinter den Killern steckt!"

Jo pfiff durch die Zähne.

"Maldini?" Er atmete tief durch. "Wenn das der Maldini ist, den ich im Auge habe, dann hat Ihr Dad aber keinen besonders guten Umgang, Miss!"

"Ich weiß, Jo."

"Haben Sie Polizeischutz für Ihren Vater gefordert?"

"Nein."

"Warum nicht?"

"Er hat seine eigenen Bewacher und Sicherheitsleute!"

"Die kann Maldini mit seiner Portokasse kaufen!"

"Das könnte er auch bei einem Polizisten, oder etwa nicht?"

Da mußte Jo ihr Recht geben.

"Stimmt. Aber er ist in Gefahr. Und Sie auch."

"Ich bin nicht ängstlich!"

"Das sollten Sie in diesem Fall aber. Maldini war schon eine große Nummer in der Unterwelt, als ich noch bei der New Yorker Polizei war. Man konnte ihm allerdings nie etwas nachweisen, obwohl jedem klar war, daß seine Geschäfte faul waren. Waffen, Drogen, Prostitution, Schutzgelderpressung - der hat seine Finger überall, wo es viel zu verdienen gibt." Jo beugte sich etwas vor. "Was hatte Ihr Vater mit Tony Maldini zu tun? Wie kommt es, daß Maldini ihn tot sehen will. Vorausgesetzt es stimmt, was Sie mir da erzählt haben."

Geraldine schwieg.

Jo lehnte sich zurück und legte etwas die Stirn in Falten.

Etwas war faul an der Sache. Etwas stimmte hier nicht, vielleicht betraf das nicht die junge Frau, die vor ihm saß, aber bestimmt ihren Vater.

"Dazu möchte ich nichts sagen", meinte sie. "Und ich denke, Sie müssen das auch nicht wissen! Ich möchte einfach nur, daß Sie dafür sorgen, daß mein Vater am leben bleibt. Mehr nicht!"

"Warum können das nicht die Sicherheitsleute Ihrer Firma?"

"Sie können das schon, aber ich traue ihnen nicht."

"Aber mir trauen Sie?"

Sie zuckte mit den Schultern.

"Vielleicht. Irgendetwas muß man ja unternehmen!"

Jo sah sie einen Moment lang nachdenklich an.

Dann sagte er: "Sie sollten mir sagen, was zwischen Ihrem Vater und Maldini war und wodurch er ihm auf die Füße getreten hat!"

Einen Moment lang schien sie unschlüssig zu sein.

Dann schüttelte sie mit Entschiedenheit den Kopf.

"Nein", sagte sie. "Das kommt nicht in Frage!"

"Dann kann ich leider nichts für Sie tun!"

"Aber..."

"Ich muß wissen, worum es geht, wenn ich Ihren Vater schützen soll! Jedenfalls ungefähr! Wenn Sie nur einen Mann brauchen, der mit einer Kanone umzugehen versteht, sollten Sie sich jemand anderen suchen!"

Jo hatte sich erhoben.

"So war das nicht gemeint!" beeilte sich Geraldine. "Kann ich mich auf Ihre Diskretion verlassen?"

"So, als wenn Sie zur Beichte gehen würden."

Sie schluckte.


*


Als Geraldine gegangen war und bei Miss Bondy ihre Adresse sowie die Adresse des Krankenhauses, in dem sich ihr Vater befand, hinterlassen hatte, wußte Jo Walker, daß sie ihm nicht alles gesagt hatte, was sie wußte.

Fest stand wohl, daß Larry Kostler nicht immer jener seriöse Geschäftsmann gewesen war, als der er heute auftrat.

Die Tatsache allein, daß Kostler mit einem Mann wie Tony Maldini in Beziehung stand, belegte das noch nicht, denn Maldinis Unternehmen teilten sich in einen legalen und einen kriminellen Zweig - sowie alles, was dazwischen denkbar war.

Geraldine hatte gesagt, es sei vor vielen Jahren um ein illegales Waffengeschäft gegangen, bei dem Kostler dann ausgestiegen sei.

Und das hätte Maldini ihm nicht verzeihen können. Aus seinem Syndikat stieg man nicht so einfach aus. Kostler - er hatte damals diesen Namen noch nicht getragen - war untergetaucht und hatte unter neuer Identität von vorne angefangen.

Aber jetzt - nach all den Jahren - schien Maldini auf ihn aufmerksam geworden zu sein...

Der Instinkt sagte Walker, daß da noch mehr war... Er konnte das nicht begründen, jedenfalls nicht logisch. Es war einfach so ein Gedanke, der ihn angeflogen hatte und sich nun hartnäckig in seinem Gehirn festsetzte.

Wie beiläufig griff Jo zum Telefon und wählte eine Nummer - eine Nummer, die er im Schlaf kannte.

"Hallo?" kam zwischen seinen Lippen hindurch, als auf der anderen Seite jemand den Hörer abnahm.

"Wer spricht dort?"

Es war eine unfreundliche, gestreßte Männerstimme, die er da auf der anderen Seite hörte. Aber sie gehörte nicht dem Mann, den er jetzt sprechen wollte.

"Hier ist Jo Walker. Ist Captain Rowland zu sprechen?"

"Nein, Sir. Ist nicht da. Vielleicht kann ich Ihnen helfen!"

"Wann kommt Rowland zurück?"

"Keine Ahnung. Könnte länger dauern. Vielleicht am Nachmittag."

Walker verzog ärgerlich das Gesicht.

"Wiederhören!" brummte er und legte auf.

Dann erhob er sich ging hinaus zu April.

"Du kannst etwas für mich tun!" meinte er.

April lächelte von einem Ohr zum anderen.

"Aber immer, Jo!"

"Bring alles in Erfahrung, was sich über Larry Kostler in herausbekommen bringen läßt! Das dürfte nicht allzu schwierig sein, schließlich ist er relativ bekannt!"

"Okay, Jo. Und wohin gehst du?"

"Kleiner Ausflug!" meinte er nur und grinste. Und dabei hatte er schon den Mantel gegriffen. Draußen regnete es Bindfäden.


*


Es war eine ziemlich heruntergekommene Bar. Dicke Rauchschwaden hingen über den einfachen Tischen. An der Theke saßen ein paar Damen des horizontalen Gewerbes herum und tranken mit verkaterten Gesichtern Kaffee. Es war noch zu früh am Tag. Zu früh, um zu arbeiten, zu früh für Kundschaft.

Ein Stockwerk höher war das, was sich offiziell ein Hotel nannte. Dort hatten die Frauen ihre Zimmer.

Der dicke Barkeeper hinter dem Schanktisch, der höchstwahrscheinlich auch sein eigener Rausschmeißer war, hatte durchgehend geöffnet. Er konnte es sich nicht leisten, auch nur einen Cent zu verschenken, den irgendein Zecher hier vertrinken wollte.

Als Jo Walker den Laden betrat, glitt sein Blick schnell durch den Raum. Dann, als er zum Billardtisch sah, hatte er gefunden, was er suchte.

Ein kleiner, fast kahlköpfiger Mann versuchte sich dort in verschiedenen Kunststößen.

Er spielte allein.

Das war der Mann, den Walker gesucht hatte!

"Tag, Brady!" meinte der Privatdetektiv knapp, als er zu ihm an den Billardtisch ging.

Brady blickte auf und runzelte zunächst die Stirn. Dann entspannte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig. Schließlich grinste er von einem Ohr bis zum anderen.

"Tag, Walker. Wie geht's?"

"Ich kann nicht klagen. Und Ihnen?"

"Die Zeiten sind hart für Leute wie mich!"

"Für Leute wie Sie gibt's doch immer ein paar Schleichwege - oder irre ich mich da etwa?"

Walker hatte damit rechnen können, Brady um diese Zeit hier anzutreffen.

Er war ein Hehler, der Geschäfte mit allem machte, was sich zu Geld machen ließ.

Roy Brady war fünf Nummern kleiner als Leute vom Schlage eines Tony Maldini, aber mit diesen hatte er gemein, daß die eine Hälfte seiner Geschäfte diesseits, die andere Hälfte jenseits der Grenze lag, die das Gesetz zog.

Brady handelte mit allem.

Auch mit Informationen und genau das war der Grund, weshalb Jo Walker ihn ab und zu aufsuchte.

Jo blickte sich nach den Mädchen an der Theke um, aber die kümmerten sich nicht um ihn oder Brady.

Und auch der Barkeeper machte sich - nach ein paar anfänglichen mißtrauischen Blicken - an seinen Gläsern zu schaffen.

Er spülte ab und schepperte dabei so laut herum, daß das allein schon einen guten Schutz gegen unliebsame Zuhörer bedeutete.

"Ich schätze, Sie sind nicht gekommen, um mir beim Billard zuzusehen!" meinte Brady.

"Nein, das ist richtig."

"Kommen Sie! Es ist langweilig, allein zu spielen!"

"Nein, danke. Ich habe es ziemlich eilig."

Brady ließ die Kugeln über den Tisch sausen, dann richtete er sich auf und stützte den Kö auf den Boden.

"Also... Zur Sache, Walker! Was wollen Sie wissen?"

"Tony Maldini...", murmelte Jo.

Brady pfiff durch die Zähne.

"Wie kommen Sie denn an den?"

"Meine Sache."

"Gut, aber Auskünfte über Maldini sind nicht billig, Walker!"

"Ich verstehe..."

Jo Walker griff in seine Manteltasche und holte ein paar Scheine heraus, von denen er Brady einige auf den Billardtisch legte.

Brady zählte nach und steckte das Geld weg. Aber sein hungriger Blick blieb bei den Scheinen, die Jo noch in den Händen hielt.

"Was wollen Sie über Maldini wissen?"

"Alles. Was macht er im Moment so?"

"Sie sind doch mal bei der Polizei gewesen, oder?"

"Ja..."

"Dann dürfte Ihnen der Name Maldini doch geläufig sein, Mister Walker!"

"Ist er mir auch. Ich möchte aber wissen, was er jetzt so treibt."

"Dasselbe wie eh und je. Aber er bemüht sich nun sehr darum, saubere Finger zu behalten. An seinen Händen klebt kein Blut, nicht einmal Dreck. Da achtet er sehr drauf. Wollen Sie genau wissen, in welchen Geschäften er im Moment drinhängt?"

"Ja, das kann nicht schaden. Hören Sie sich in der Szene um!"

"Gut, ich rufe Sie dann an, Walker. War's das?"

"Nein. Da ist noch etwas Spezielles..."

Brady zog die Augenbrauen hoch.

"Raus damit, Walker!"

"Irgendjemand hat es auf Larry Kostler von der Larry Kostler Holding abgesehen. Gestern ist auf ihn geschossen worden, jetzt liegt er in der Intensivstation..."

"Und Sie denken, daß Maldini dahintersteckt."

"Ja."

"Das ist 'ne heikle Sache!"

"Ich weiß."

"Wenn Maldini tatsächlich dahintersteckt, macht er das so, daß niemand die Sache mit ihm in Verbindung bringen kann. Profis, Sie verstehen?"

"Natürlich. Versuchen Sie trotzdem, etwas aufzuschnappen."

"Dafür reicht das aber nicht, was Sie mir gerade gegeben haben!"

Jo Walker lachte und legte Brady die restlichen Scheine hin, die er noch in der Hand hielt. Dann drehte Jo sich um und ging.


*


Draußen war das Wetter immer noch hundsmiserabel. Aber immerhin war der Platzregen von einem beständigen Nieseln abgelöst worden.

Jo Walker schlug sich den Mantelkragen hoch und beeilte sich damit, hinter das Steuer seines 500 SL zu kommen.

Eine halbe Stunde später war Jo Walker auf der Intensivstation jener Klinik, die Geraldine ihm angegeben hatte.

Als er das rotgeweinte Gesicht der jungen Frau sah, wußte er, daß etwas geschehen war. Es war nicht schwer zu erraten, was...

Jo legte ihr den Arm um die Schulter und gab ihr sein Taschentuch.

"Er ist tot", murmelte sie. "Dad ist tot! Er ist seinen Verletzungen erlegen, hat der Arzt gesagt. Sie konnten nichts mehr machen..."

"Es tut mir leid für Sie, Geraldine!"

Sie blickte auf und Jo Walker geradewegs in die Augen. "Jetzt ist ein Mordfall daraus geworden, nicht wahr?"

Jo nickte.

"Ja."

"Ich möchte, daß Sie den finden, der meinen Vater umgebracht hat. Geld spielt dabei keine Rolle!"

"Ich werde tun, was ich kann, Miss!"

"Tun Sie das, Jo!"

"Sind Sie mit dem Taxi gekommen, daß da draußen wartet?"

"Ja."

"Soll ich Sie nach Hause bringen?"

Zwei Sekunden lang schien sie unschlüssig zu sein und zu überlegen.

Aber dann nickte sie schließlich.

"Ja."

Es machte den Eindruck, als wären ihre Gedanken weit weg. Sehr weit...


*


Sie fuhren durch den dichten Stadtverkehr und den Regen. Beide schienen innerhalb der letzten halben Stunde wieder zugenommen zu haben.

Sie sprachen kaum mehr als das Nötigste.

Geraldine wohnte in der Villa ihres Vaters, draußen auf Long Island.

Und genau dorthin ging es jetzt.

Vielleicht würde es etwas bringen, sich dort etwas umzusehen, irgendetwas - und wenn es nur eine Kleinigkeit war...

Wenn es wirklich Maldini war, der hinter diesem Mord steckte, dann würde die Schwierigkeit darin bestehen, es ihm zu beweisen. Zumindest, daß er den Auftrag gegeben hatte.

Den Mann, der den Abzug der Schalldämpfer-Pistole betätigt hatte, würde man wahrscheinlich in hundert Jahren nicht in die Hände bekommen.

Der hatte sich wahrscheinlich längst abgesetzt und war über alle Berge. Und irgendwann würde er dann wieder aus dem Nichts heraus auftauchen, um einen anderen Menschen umzubringen, für einen anderen Auftraggeber...

Aber vielleicht hatten sie Glück und es handelte sich um einen Killer, der öfter für Maldini arbeitete, einen aus seinem eigenen Stall.

In dem Fall gab es vielleicht eine Fährte, die nicht schon völlig kalt war.

Und vielleicht war in Larry Kostlers Haus, in seinen Unterlagen, privaten Aufzeichnungen, irgendwo etwas zu finden, daß auf Maldini hindeutete.

Während der 500 SL über die Straße glitt, blickte Jo kurz zu Geraldine hinüber, die mit in sich gekehrtem Gesicht neben ihm auf dem Beifahrersitz saß und hinaus aus dem Fenster blickte.

Direkt in den trostlosen Regen hinein.

Und genau so sah es auch wohl in ihrem Inneren aus.

Jo hatte Verständnis dafür. Aber vielleicht war es an der Zeit, sie ein wenig abzulenken.

"Hat die Polizei Sie eigentlich schon vernommnen, Miss?" fragte er plötzlich und unterbrach damit das Schweigen.

"Ja, kurz. Gerade eben im Krankenhaus. Der Mann ist gegangen, bevor Sie kamen, Jo..."

"Und?"

"Der Kerl hat mir wenig Hoffnung gemacht. Er meinte, so etwas würde in New York jeden Tag passieren. Jemand wird auf offener Straße erschossen und es kommt nie heraus, wer das war und wer den geschickt hat, der es war. Bandenmorde, Amokschützen, Psychopathen, Profikiller... Er hat mir alles Mögliche erzählt."

"Wie hieß der Mann?"

"Ich glaube Cummings. Kennen Sie ihn, Jo?"

"Nein."

"Einen sehr aufgeweckten Eindruck machte der jedenfalls nicht."

"Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich in den Sachen Ihres Vaters herumstöbern würde, Miss?"

"Nein. Was hoffen Sie denn zu finden?"

Er zuckte mit den Schultern.

"Vorher weiß man das nie so genau!"


*


Die Villa der Kostlers war gut gesichert, das fiel Jo sofort auf. Es war das Haus eines Mannes, der in ständiger Angst davor gelebt haben mußte, daß er eines Tages unliebsamen Besuch bekommen würde.

Jedenfalls machte es ganz den Anschein.

Eine hohe Mauer umgab das Anwesen und ein Wachmann öffnete für Jo Walkers 500 SL das Tor, nachdem Geraldine sich an einem Sprechgerät zu erkennen gegeben hatte.

Ein massives, gußeisernes Tor ging zur Seite und Jo fuhr den Wagen bis vor das Haus, das von einem weiträumigen Garten umgeben wurde.

Jo blickte sich kurz um und bemerkte die Video-Anlage, die das Grundstück überwachte. Irgendwo bellte ein Hund. Es war ein aggressives Geräusch und klang ganz und gar nicht nach einem Schoßhund.

Vielleicht ein Dobermann, überlegte Jo. Irgend so etwas in der Art mußte es sein!

"Kommen Sie, Jo!" meinte Geraldine und öffnete die Tür. Sie stiegen beide aus, die Türen klappten zu.

Ein paar Stufen führten zu einem großen Portal und wenig später waren sie dann drinnen.

Ein Hausmädchen empfing sie bei der Tür.

Als sie dann in das große Wohnzimmer kamen, erstarrte Geraldine plötzlich.

Auf dem Sofa lag ein Mann.

Er lag ausgestreckt da, hatte die Schuhe ausgezogen und über den Teppich verstreut. Auf dem Tisch standen ein paar Flaschen, alles Spirituosen und ein Tropfen edler als der andere.

"Brian!" entfuhr es Geraldine Kostler völlig überrascht.

Jo Walker hob die Augenbrauen und wartete ab.

Geraldine ging auf Brian zu, der sich - offenbar mit einiger Mühe - aufsetzte. In der Rechten hatte er ein Glas.

Er rülpste ungeniert. Anscheinend hatte er ein paar Gläser zu viel zu sich genommen.

"Tag, Geraldine!" murmelte er. "Wie geht's dir?"

Sie schien alles andere als erfreut zu sein.

"Seit wann bist du hier, Brian?" erkundigte sie sich dann in einem ziemlich reservierten Tonfall.

"Ein paar Stunden schon..."

"Was willst du hier? Geld?"

"Ich habe das mit Vater gehört und da..."

"Im Krankenhaus bist jedenfalls noch nicht gewesen!"

Ihr Gesicht war eisig geworden und ihr Gegenüber mußte ihre letzten Worte wie ein Schlag ins Gesicht empfinden.

Aber Brian zuckte nur mit den Achseln, als wäre es nichts.

"Na, und? Ich dachte mir, ich komme erst einmal hier her!"

"Vater ist inzwischen gestorben!"

Zunächst verursachte diese Nachricht bei Brian keine sichtbare Reaktion.

Dann zuckte er erneut mit den Schultern.

Geraldine wandte sich zu Jo herum.

"Das ist Brian Kostler - mein ehrenwerter Herr Bruder!"

Jo nickte ihm zu und Brian hob sein Glas.

"Angenehm!" rief er und stand dann auf. Er war sichtlich unsicher auf seinen Füßen. "Vielleicht sagst du mir mal, wen du da mitgebracht hast, Schwesterherz! Ein Geliebter vielleicht?"

"Du bist geschmacklos, Brian!"

"War ja nur eine Frage!"

"Das ist Jo Walker. Er ist Privatdetektiv und soll herausfinden, wer Vater umgebracht hat!"

Brian Kostler verzog das Gesicht.

Dann brummte er: "Das liegt doch auf der Hand! Maldini hat ihn endlich erwischt! War ja letztlich auch nur eine Frage der Zeit!" Er rülpste erneut.

"Das ist eine Vermutung", erklärte Jo Walker. "Mehr nicht."

"Klar, ich verstehe!" meinte Brian. "Sie wollen auch Ihr Geld verdienen. Habe ich Verständnis für! Bestimmt! Und unser alter Herr war ja auch kein armer Mann! Da können Sie gesalzene Honorare einfordern!" Er wandte sich an Geraldine. "Du mußt wissen, was du tust, Schwester!"

"Ich weiß sehr genau, was ich tue!" versetzte Geraldine bissig.

Brian wandte sich ab, nahm eine der Flaschen vom Tisch und verließ den Raum. Irgendwo hörte man ihn eine Treppe hoch schlurfen.

"Ihren Bruder haben Sie mir bisher verschwiegen, Miss!" meinte Jo.

"Sie haben mich bisher auch nicht danach gefragt!"

"Eins zu Null für Sie, Geraldine! Ihr Verhältnis scheint nicht das Beste zu sein, habe ich Recht?"

Sie atmete tief durch.

"Brian hat ein paar Probleme." Sie deutete auf die Flaschen und Jo verstand, was sie meinte.

"Das ist nicht zu übersehen", meinte er.

"Er trinkt unmäßig, ist über dreißig und hat bisher immer nur von dem gelebt, was Dad ihm geschickt hat."

"Er lebt nicht in New York, nicht wahr?"

"Nein, in San Francisco. Dort hat er studiert - oder besser gesagt: Er hat dort das getrieben, was er so zu nennen pflegt! Es wundert mich, daß er offensichtlich genug Geld zur Hand gehabt haben muß, um sich einen Flieger von Frisco nach New York zu leisten."

"Wir sollten uns jetzt beeilen, Miss!" meinte Jo.

"Beeilen?"

"Ja, mit der Durchsicht der Sachen Ihres Vaters. Wenn die Polizei erst einmal alles in Unordnung gebracht hat."

"Sie meinen, daß die noch kommen?"

"Es ist ein Wunder, daß sie noch nicht da waren! Wahrscheinlich sehen die sich erst einmal die Büro-Räume der Larry Kostler Holding an!"


*


Die Durchsicht der Privatsachen von Larry Kostler brachte kaum neue Erkenntnisse.

Sie wollten es schon aufgeben, da tauchte ein merkwürdiger Brief auf. Geraldine fand ihn in einem der Jacketts ihres Vaters. Die Buchstaben waren aus Zeitungen und Magazinen herausgeschnitten und auf ein weißes Blatt Papier geklebt worden:

ENDLICH HABE ICH DICH GEFUNDEN, DU RATTE!

DEIN LEBEN IST KEINEN CENT MEHR WERT!

Geraldine gab Jo das Papier und dieser las mit nachdenklichem Gesicht die zwei Zeilen.

"Könnte Maldini sein, nicht wahr?" meinte Geraldine.

Jo Walker nickte.

"Ja, es paßt alles zusammen..."

Als Jo und Geraldine wieder ins Wohnzimmer zurückkehrten, klingelte es an der Tür.

Das Hausmädchen machte die Tür auf.

Wenig später geleitete das Mädchen zwei Männer ins Wohnzimmer.

Einer von ihnen trug eine Polizeiuniform, der andere war in Zivil.

Aber in was für einem Zivil!

Jo Walker mußte unwillkürlich etwas Schmunzeln.

Der Mann trug einen riesigen Stetson auf dem Kopf und eine kurze braune Jacke, dazu Blue Jeans und Cowboystiefel. Er sah aus, als wäre er einem Wildwest-Film entstiegen.

Lediglich die Rolex an seinem Arm störte diesen Eindruck ein wenig.

Er zog seine Marke hervor und hielt sie Jo und Geraldine entgegen.

"Cummings, Kriminalpolizei!" raunte er.

Er hatte einen furchtbaren Akzent.

Vielleicht Texas, vielleicht New Mexico - Jo war sich nicht ganz sicher. Vielleicht handelte es sich um eine Mischung.

Jedenfalls lag sein Geburtsort sicher sehr, sehr weit südlich.

Cummings holte ein Papier aus der Tasche und hielt es Geraldine unter die Nase.

Jo brauchte gar nicht erst hinzusehen. Er wußte auch so, worum es sich handelte. Solche Blätter hatte er oft genug gesehen!

Jo lächelte dünn, während Cummings eine überaus wichtige Miene aufsetzte und sich breitbeinig aufbaute.

Er wandte sich an Geraldine.

"Wir haben einen Durchsuchungsbefehl, Miss Kostler. Ich denke, Sie machen uns keine Schwierigkeiten!"

Sein Tonfall war ziemlich scharf und Geraldine Kostler machte einen teils überrumpelten, teils verwirrten Eindruck.

"Nein, natürlich nicht! Warum sollte ich?" meinte sie und hob dabei die Augenbrauen.

Cummings zuckte mit den Schultern.

"Hätte ja sein können." Dann wandte er sich an Jo. "Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben?"

Die burschikose Art seines Gegenübers sagte Jo nicht allzu sehr zu. Aber er sagte sich, daß dahinter vermutlich eine große Unsicherheit verborgen lag.

Jo hoffte nur, daß sich mit diesem Cowboy zusammenarbeiten ließ, denn schließlich waren sie beide hinter demjenigen her, der Larry Kostler auf dem Gewissen hatte.

Jo stellte sich vor.

"Mein Name ist Walker", sagte er. "Ich bin Privatdetektiv."

"Zeigen Sie mal ihren Ausweis!"

Jo holte ihn hervor und hielt ihn Cummings hin. Dieser nahm ihn mit einer nachlässigen Geste an sich. Cummings warf einen Blick auf das Dokument, nickte dann und gab es seinem Besitzer zurück.

"Okay. Und was tun Sie hier?"

"Miss Kostler hat mich engagiert, um den Mörder ihres Vaters zur Rechenschaft zu ziehen!"

Cummings schob sich den riesigen Stetson in den Nacken und verzog das Gesicht.

Die Anwesenheit des Privatdetektivs schien ihm nicht so recht zu schmecken.

"Sie vertrauen der Arbeit der Polizei nicht?" brummte er. "Ist ja reizend..."

"Nehmen Sie es nicht persönlich!" meinte Jo und lächelte dünn.

Cummings machte eine großspurige Geste.

"Wie käme ich dazu!" meinte er sarkastisch.

Er nahm es sehr wohl persönlich, das war ihm deutlich anzusehen.

"Dann ist ja alles in Ordnung!" murmelte Jo und dabei dachte er: Der Mann hat etwas von einem bissigen Terrier, der um jeden Preis sein Revier verteidigt!

"Ich glaube, Captain Rowland hat Ihren Namen mal erwähnt, Walker..."

"Grüßen Sie ihn von mir, wenn Sie ihn sehen!"

"Ich sehe ihn öfter, als mir lieb ist!" Er atmete tief durch. "Ich schätze, Sie haben hier schon alles durchgewühlt."

"So ist das nun einmal, wenn man zu spät dran ist, Mister Cummings!"

"Wir waren in den Büroräumen."

"Habe ich mir gedacht."

"Haben Sie irgendetwas gefunden, daß für den Fall von Interesse sein könnte? Sie wissen, daß das Zurückhalten von Beweismaterial strafbar ist, nicht wahr?"

"Mister Cummings, ich schlage vor, daß wir zusammenarbeiten!"

Cummings lachte rauh.

"Wie stellen Sie sich das konkret vor?"

"Ein Deal, Cummings! Sie sagen mir, was in den Büroräumen gefunden wurde, und ich sehe dann, was ich für Sie tun kann!"

"Oh, nein, Walker! So nicht!"

"Bitte, wie Sie wollen! Aber Sie könnten vielleicht eine Menge Zeit sparen!"

Cummings schien unsicher.

Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Dann nickte er.

"Gut. Erst Sie, Walker!"

"Nein, umgekehrt!"

"Sie sind eine harte Nuß, Walker!"

"Wollen Sie weiter lamentieren, oder Ihre Pflicht tun und etwas unternehmen, damit ein Mörder gefaßt wird!"

Cummings bleckte die Zähne. Dann seufzte er hörbar.

"Sie haben gewonnen, Walker! Aber wehe, wenn Sie dann am Ende nichts vorzuweisen haben!"

"Schießen Sie los!"

"Wir haben die Leute in der Firma vernommen und die Büroräume durchsucht. Die Kostler Holding hat nicht mehr als zwei Dutzend Angestellte, obwohl sie einen Umsatz von mehreren hundert Millionen Dollar im Jahr hat. Diese Firma besitzt ihrerseits wiederum erhebliche Beteiligungen an verschiedenen Firmen und bestimmt zum Teil auch deren Firmenpolitik."

"Was für Firmen?"

"Quer durch den Garten. Von der Seifenfabrik bis zur Elektronik. Offensichtlich gab es Ärger in der Firma. Larry Kostler war mit einigen Angestellten nicht zufrieden und hat offenbar daran gedacht, sie zu feuern. Und dann hat es den Anschein, daß einer der Angestellten in die eigene Tasche gewirtschaftet hat... Ein gewisser Arthur Dickson."

"Ja", meinte Geraldine plötzlich. "Das stimmt! Dad hat herausbekommen, daß er mit Firmengeldern spekuliert hat."

"Und warum hat Ihr Dad diesen Dickson nicht entlassen?"

"Um einen Skandal zu vermeiden. Die Kostler-Aktien wären sofort in den Keller gegangen, wenn etwas durchgesickert wäre. Dad wollte mit ihm ein Arrangement treffen..."

Cummings machte eine unbestimmte Geste mit der Hand.

"So, Walker! Jetzt sind Sie dran!"

"Ein bißchen dünn, was Sie da geboten haben, finden Sie nicht auch?" Er holte den zusammengeklebten Brief aus der Tasche und reichte ihn dem Kriminalbeamten. "Hier!"

"Was ist das?"

"Sehen Sie es sich das erst einmal genau an, bevor Sie fragen. Miss Kostler hat es in einem Jackett ihres Vaters gefunden!" Jo wandte sich an Geraldine. "Sie sollten dem Herrn jetzt sagen, was Sie wissen, Geraldine. Auch von ihrem Verdacht gegen Maldini..."

"Aber..."

"Ihr Dad ist tot und selbst wenn er sich in einem früheren Leben die Hände schmutzig gemacht hat - es kann ihm nun nicht mehr schaden, wenn es irgendjemand erfährt."

Cummings runzelte die Stirn.

"Habe ich da eben 'Maldini' gehört?"

"Haben Sie", nickte Jo.

"Ich bin noch nicht lange hier in New York, aber selbst in der kurzen Zeit ist mir dieser verdammte Name schon ein paarmal zu Ohren gekommen!"

Jo zuckte mit den Schultern.

"Das wäre kein Wunder!" meinte er.

Und dann machte Geraldine ihre Aussage und Cummings anschließend ein langes Gesicht.

"Üble Sache!" meinte er. Er hob den Brief in die Höhe und fuhr dann fort: "Scheint wirklich alles darauf hinzudeuten, daß Maldini dahintersteckt... Welchen Namen trug Ihr Vater, bevor er seine Identität wechselte?"

Sie errötete und mußte schlucken. Aber sie behielt die Fassung.

"Paul Thorrell", sagte sie dann.


*


Wenig später brachte Geraldine Jo Walker zur Tür.

"Was werden Sie jetzt unternehmen, Jo?"

Aber Jo gab ihr keine Antwort, sondern stellte seinerseits eine Frage.

"Wo wohnt Mr. Dickson?"

Geraldine hob die Augenbrauen.

"Wollen Sie seine Adresse?"

"Ja, ganz richtig..."

"Er hat ein Apartment in der 27.Straße. Aber im Moment dürften sie ihn in seinem Büro antreffen. Sie wissen ja, wo das ist..."

"Ja."

"Was wollen Sie von Dickson?"

"Mit ihm reden!" gab Jo lakonisch zurück.

"Maldini ist der Mann, den Sie sich vorknöpfen müssen!" gab sie ihrer Überzeugung Ausdruck. "Ich glaube nicht, daß Dickson etwas mit Dads Tod zu tun hat!"

"Er hatte aber ein Motiv!"

"Sie meinen die Veruntreuung? Ich sagte doch, daß Dad ein Übereinkommen mit ihm treffen wollte. Sein Tod konnte ihm höchstens Nachteile bringen!"

"Ich möchte mich trotzdem mit ihm unterhalten. Wer weiß, was dabei herauskommt..."

"Und ich sage Ihnen, Sie irren sich, Jo!"

Jo lächelte.

"Versuchen Sie nicht, mir vorzuschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe, Geraldine!"

"Die Sache ist doch klar! Kümmern Sie sich um Maldini!"

"Soll ich vielleicht in Maldinis Büro spazieren - vorausgesetzt ich komme soweit - und ihn fragen, ob er zufällig der Mörder Ihres Vaters ist? Nein, so einfach geht das nicht! Das fängt man anders an..."

"Und wie?"

"Jedenfalls nicht, indem man vorzeitig sämtliche Pferde scheu macht!"

Sie atmete tief durch. Dann begegneten sich ihre Blicke. Sie sah ihn einen Augenblick lang ruhig an und meinte dann: "Vielleicht haben Sie recht, Jo! Vielleicht sollte ich Ihnen mehr vertrauen!"

Das war auch Jos Meinung und so nickte er.

"Ja, Geraldine, das sollten Sie! Ich verstehe meinen Job!"

"So war das nicht gemeint!"

"Das weiß ich!"

"Sie sind ein toller Kerl, Jo!"

Und dann schlang sie plötzlich ihre schlanken Arme um seinen Hals und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuß.

Alles ging viel zu schnell.

Bevor Jo so recht gemerkt hatte, was hier gespielt wurde und den Zungenschlag erwidern konnte, war es auch schon vorbei.

Sie hatte sich von ihm gelöst und war etwas zurückgetreten. "Machen Sie Ihre Sache gut, Jo!"

"Das verspreche ich Ihnen hiermit!" murmelte Jo der noch immer ein wenig verwirrt war.


*


Jo Walker traf Arthur Dickson nicht in seinem Büro an, sondern in einem Restaurant in der Umgebung.

Ein kleiner, dicker Mann saß vor einem riesigen Steak und Jo dachte sich, daß dieser Mann Arthur Dickson mußte.

"Mister Dickson?"

Der Mann blickte auf, kaute seinen Bissen zu Ende und murmelte dann: "Was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht!"

Jo setzte sich zu ihm an den Tisch.

"Ich Sie auch nicht, aber die Beschreibung Ihrer Sekretärin paßt auf Sie..."

Dickson verzog das Gesicht.

"So?"

"Mein Name ist Jo Walker. Miss Kostler hat mich engagiert wegen der Sache mit ihrem Vater."

Dickson blickte auf und nahm einen Schluck aus dem Glas Rotwein, das neben seinem Teller stand. Dann wischte er sich mit der Hand den Mund ab und schob den halb abgegessenen Teller ein Stück von sich weg.

Aus irgendeinem Grund schien ihm der Appetit mit einem Mal vergangen zu sein.

"Was wollen von mir, Mister Walker? Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, und wenn Sie mir schon meine Mittagspause stehlen, dann haben Sie dafür hoffentlich einen guten Grund!"

"Ich habe ein paar Fragen", erklärte Jo sachlich. "Und diese Fragen halte ich für einen guten Grund!"

Dickson machte ein zweifelndes Gesicht.

"Ich habe eigentlich keine Lust, mich mit Ihnen zu unterhalten!"

"Sie haben Gelder der Larry Kostler Holding veruntreut, nicht wahr?"

Er runzelte die Stirn, dann löste er den obersten Hemdknopf, so daß sein Doppelkinn etwas mehr Platz bekam. Dickson schien sich sichtlich unwohl in seiner Haut zu fühlen und Jo konnte das durchaus nachvollziehen.

"Sie können es ruhig zugeben, Mister Dickson. Ich weiß es, die Polizei weiß es."

"Es hat mich niemand angeklagt."

"Weil niemand einen Skandal wollte."

"Sehr richtig. Mr. Kostler und ich waren uns einig, daß..."

"Was, wenn Kostler und Sie sich doch nicht so einig gewesen sind, wie Sie es allgemein glauben machen wollen und er Sie auf irgendeine Art und Weise ans Messer liefern wollte."

"Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Mister Walker. Ich habe aber nicht die Absicht, dieses Spiel mitzumachen!"

"Es ist kein Spiel, Dickson!"

Der dicke Mann zuckte mit den Schultern.

"Wie dem auch sei." Dann verengte er die Augen und fixierte Jo Walker mit einem ärgerlichen Blick. "Sie wollen doch nicht behaupten, daß ich in dem Wagen gesessen habe, von dem aus auf Mister Kostler geschossen wurde!"

"Sie hätten vielleicht ein Motiv!"

"Aber ich habe ein handfestes Alibi! Ich war auf einer Konferenz, als es passierte! Dafür gibt es ein halbes Dutzend Zeugen!"

"Sie könnten die Tat in Auftrag gegeben haben, Mister Dickson!"

Er wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war. Dann bleckte er wütend die Zähne.

"Guten Tag, Mister Walker! Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen!"

Walker erhob sich.

"Ich schätze, daß ich nicht der einzige bleiben werde, der Ihnen diese Fragen stellt!"

Dicksons Gelassenheit machte auf Walker einen gespielten Eindruck.

"Abwarten, Walker!"

"Auf wiedersehen, Mister Dickson. Es würde mich nicht wundern, wenn wir uns in nächster Zeit noch öfter über den Weg laufen!"

Während Walker schon in Richtung Tür unterwegs war, knurrte Arthur Dickson noch etwas Unverständliches vor sich hin. Aber es hörte sich alles andere als freundlich an.


*


Tom Rowland war nicht gerade gut gelaunt, als Jo ihn auf dem Flur abpaßte.

"Ah, Jo! Du hast mir heute noch gefehlt!" Er keuchte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Du solltest langsam mal ans Abnehmen denken, Tom! dachte Jo bei sich, aber er hütete sich davor, es auch laut auszusprechen.

"Hey, Tom! Was soll denn das heißen? Ich dachte, wir sind Freunde!"

"Klar, sind wir auch! Aber wenn du hier auftauchst, dann gibt das garantiert Arbeit für mich! Und stecke schon bis über beide Ohren drin! Bis über beide Ohren, hörst du, Jo?"

Rowland stemmte die Arme in die Hüften und baute sich breitbeinig auf.

Jo wollte nicht wissen, auf welche Werte der Blutdruck des Polizei-Captains in den letzten zwanzig Sekunden gestiegen war.

Rowland atmete tief durch und quetschte dann zwischen den Lippen hindurch: "Also schieß los! Worum geht's?"

"Es geht um den Mordfall Kostler."

"Larry Kostler?"

"Ja, welcher Kostler wohl sonst!"

"Ein Mann aus meinem Revier bearbeitet den Fall. Er heißt Cummings. Sieht ein bißchen merkwürdig aus, aber er soll ein ganz toller Hecht sein. So viele Belobigungen in einer Personalakte habe ich selten gesehen..."

"Ich habe mit Cummings bereits gesprochen. Die Sache ist die: Hinter dem Mord steckt wahrscheinlich Tony Maldini. Und ich möchte wissen, was der im Augenblick so treibt."

Rowland pustete wie ein Walroß.

"Komm mit!" meinte er. "Wozu habe ich schließlich so ein gastliches Büro?"

Wenig später saßen sie sich dann in Rowlands Büro gegenüber.

Der Captain lehnte sich zurück und kratzte sich im Genick.

"Der Name Maldini dürfte dir doch noch von früher her geläufig sein, Jo!" meinte er.

Walker nickte.

"Ist er auch. Aber das ist schließlich schon eine ganze Weile her!"

"Aber einer wie Maldini ändert sich nicht. Der steigt entweder auf oder endet vorher als Wasserleiche im East River - mit einem schönen, runden Loch in der Stirn!"

Jo Walker zog die Augenbrauen in die Höhe.

"Nach allem, was man hört ist Maldini aufgestiegen!"

"Kann man wohl sagen! Früher haben wir ja immer vermutet, daß er illegal Elektronik in den Ostblock exportiert hat. Aber das ist lange her. Heute vermutet man ihn hinter Waffenschieber- und Drogenringen. Aber wir konnten dem verflixten Hund bisher nichts nachweisen. Er ist einfach zu geschickt! Strohmänner machen die Drecksarbeit für ihn und die schweigen eisern, denn jeder von ihnen weiß, daß ein toter Mann ist, sobald er singt. Sein Arm reicht bis in die Gefängnisse hinein - vielleicht sogar bis in die Polizei und die Staatsanwaltschaft."

"Dann gibt es also im Grunde genommen nichts Neues!"

"Nein. Was Maldini angeht nicht. Es ist alles nur ein paar Nummern größer geworden."

"Nichts Konkretes?"

"Jo, wenn ich etwas Konkretes hätte, würde er nicht mehr frei herumlaufen und seine unsauberen Geschäfte machen!"

"Verstehe..."

"Dann ist da allerdings noch etwas, das dich interessieren könnte."

In Jos Augen blitzte es.

"Heraus damit, Tom!"

"In den letzten Wochen gibt es eine Art Mord-Serie. Alle begangen in der Art von professionellen Killern - so, wie es auch bei Larry Kostler der Fall zu sein scheint. Alle Opfer hatten etwas gemeinsam: Sie machten Geschäfte mit Tony Maldini!"

"Eine Säuberungsaktion?"

"Ja, so etwas in der Art muß es wohl sein."

"Ich möchte eine Liste der Opfer."

"Kannst du haben!"

Tom Rowland stand auf, holte eine Akte aus dem Schrank und knallte sie vor Walker auf den Tisch. "Schreib dir die Namen heraus, wenn es dir Spaß macht!"

"Danke!"

"Was willst du damit, Jo?"

Walker zuckte mit den Schultern.

"Mal sehen. Ich weiß es noch nicht."


*


Es war bereits ziemlich dunkel und es regnete wieder, als Roy Brady ins Freie trat und sich nach rechts und links umdrehte.

Er schlug sich den Mantelkragen hoch und schlang sich den Schal vor den Mund.

Es war hundekalt und dennoch stand Brady der Schweiß auf der Stirn, als er die Straße überquerte. Es war kalter Angstschweiß und sein Gesicht war von nackter Furcht gezeichnet.

"Oh, mein Gott!" flüsterte er kaum hörbar in seinen Schal hinein, obwohl er eine Kirche zum letzten Mal von innen gesehen hatte, als seine Mutter ihn zur Taufe getragen hatte.

Er schluckte.

Ich hätte mich nie auf diese Dinge einlassen sollen! durchfuhr es ihn.

Aber nun war es zu spät.

Einfach zu spät.

Bis zum Hals steckte er im Sumpf und er sah nicht die geringste Chance, sich selbst wieder herauszuziehen.

Brady fühlte seinen Puls bis zum Hals schlagen. Überall konnte er auf ihn lauern.

Er mußte auf der Hut sein und aufpassen.

Er mußte hinüber zur Telefonzelle auf der anderen Straßenseite.

Er wollte auf jeden Fall ungestört sein, wenn er den Hörer abnahm.

Brady atmete schwer.

Er war derart nervös, daß ihn beinahe ein Auto erwischte, das dann hupend weiterfuhr.

Oh, verdammt! schoß es ihm durch den Kopf. Ich beginne bereits die Nerven zu verlieren!

Jetzt hieß es kühlen Kopf zu bewahren. Nur dann hatte er noch eine Chance. Kühlen Kopf und stahlharte Nerven. Aber wie es schien, hatte er weder das eine noch das andere.

Schließlich hatte er die andere Straßenseite erreicht.

Noch einmal blickte er sich nach allen Seiten um. Er sah einen Stadtstreicher mit speckigem Parka, vor Dreck starrenden Jeans und einer schmuddeligen Wollmütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte.

Der Mann hob eine Zeitung vom Boden auf, die irgendjemand achtlos weggeworfen hatte und blätterte darin.

Keine Gefahr! dachte Brady bei diesem Anblick oder besser: Er versuchte, es sich einzureden. Immer wieder: Keine Gefahr!

Außer dem Stadtstreicher sah er niemanden in der Nähe.

Er öffnete die Tür des Telefonhäuschens, ließ sie dann hinter sich zuschlagen und fingerte mit zitternden Händen ein paar Münzen aus der Manteltasche heraus.

Dann begann er eine Nummer zu wählen. Wieder und wieder drehte sich die Wählscheibe vor und zurück und schließlich kam das Freizeichen.

Mach schon! rief es in ihm. Verdammt noch mal, nun nimm doch endlich ab!

Sein Stoßgebet wurde im nächsten Moment erhört. Eine weibliche Stimme meldete sich.

"Ist da das Büro von Jo Walker?"

"Ja. Wer spricht dort, bitte?"

"Hier ist Roy Brady. Ich habe Mr. Walker etwas Wichtiges mitzuteilen. Ich..."

"Kann ich Mr. Walker etwas ausrichten, Mr. Brady? Hallo... Sind sie noch dran?"

Brady war noch dran, aber ihm waren die Worte vor Entsetzen buchstäblich im Halse steckengeblieben, als er sich umgewandt und in das Gesicht des Stadtstreichers geblickt hatte, der urplötzlich vor der Telefonzelle aufgetaucht war.

Alles, was dann geschah, dauerte kaum länger als eine Sekunde.

Plötzlich war Brady klar, daß dieser Mann gar kein Stadtstreicher war, sondern sich nur so aufgemacht hatte.

Der Kerl hatte hier auf ihn gewartet, ihn wahrscheinlich schon längere Zeit beobachtet und nun war seine Chance gekommen!

Der Mann hatte ein kalt glitzerndes Augenpaar, das ihn geschäftsmäßig musterte.

Eine häßliche Narbe, die vermutlich von einer Messerstecherei herrührte, zog sich von der Stirn über das Auge und fast die gesamte rechte Wange.

Der Mann verzog das Gesicht und bleckte die Zähne.

Brady sah die Zeitung seines Gegenübers, jene Zeitung, die dieser vom Boden aufgesammelt hatte.

Die Zeitung glitt zur Seite und die Mündung einer Automatic mit Schalldämpfer wurde für den Bruchteil eines Augenblicks sichtbar.

Bradys Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.

"Nein!" flüsterte er fast tonlos, aber da hatte sein Gegenüber bereits abgedrückt.

Am Ausgang des Schalldämpfers blitzte ein Mündungsfeuer.

Es gab ein häßliches, dumpfes Geräusch.

Das Projektil durchschlug die Scheibe der Telefonzelle, ließ das Glas splittern und fuhr Brady dann direkt in die linke Brust.

Brady wurde durch die Wucht des Geschosses nach hinten gerissen, ließ den Hörer fallen und ächzte noch einmal unterdrückt.

Der Killer wollte sichergehen.

Ein zweiter Schuß traf Brady mitten in der Stirn, bevor er dann mit starren, weit aufgerissenen Augen zu Boden rutschte.

Der Killer steckte die Waffe in die weite Seitentasche seiner Parka, beugte sich nieder, hob den Hörer auf und hängte ihn die Gabel.


*


Das Autotelefon schnurrte und Jo nahm augenblicklich den Hörer ab.

Es war April.

"Was gibt es?" fragte Jo.

"Ein Mann namens Roy Brady hat angerufen. Er ist ein Informant, nicht wahr?"

"Ja, was hat er gesagt?"

"Er ist nicht mehr dazu gekommen, etwas auszupacken. Es sei sehr wichtig hat er gesagt, und dann gab es ein merkwürdiges Geräusch - wie aus einer Schalldämpferpistole. Ich fürchte, er lebt nicht mehr, Jo!"

Jo atmete tief durch.

"Das fürchte ich auch, April."

"Er hat aus einer Zelle angerufen!"

"Ich kann mir denken, wo das ist", flüsterte Jo, mehr zu sich selbst als zu seiner Gesprächpartnerin an der Strippe. "Hast du die Polizei schon benachrichtigt?"

"Nein. Ich dachte mir, ich sage erst dir bescheid."

"Okay, dann werde ich das von hier aus erledigen..."

Zwei Sekunden später hatte Jo Walker aufgelegt. Er suchte eine Seitenstraße, in der er seinen 500 SL drehen konnte.

Verdammt! dachte er.

Brady war umgelegt worden und es gab sicher ein paar Dutzend Leute, die dafür in Frage kamen. Aber einer von ihnen war Tony Maldini!

Jo Walker dachte an die Liste, die Captain Rowland ihm gegeben hatte. Brady paßte vorzüglich in diese Liste von Leuten hinein, die zwei Dinge gemeinsam hatten: Sie hatten mit Maldini zu tun und sie waren mausetot.

So viele Zufälle kann es nicht geben! dachte Walker. Brady hatte ihm etwas Wichtiges zu sagen gehabt, was nur heißen konnte, daß er etwas über Maldini herausgefunden haben mußte.

Eine andere Möglichkeit gab es kaum.

Endlich hatte Jo eine Möglichkeit zum Drehen gefunden. Es dauerte ein bißchen, bis er sich wieder in den Verkehr - diesmal in entgegengesetzte Richtung - einfädeln konnte. Dann wählte er an seinem Autotelefon die Nummer der Polizei.


*


Es war ganz so, wie Jo Walker gedacht hatte.

Brady war in der Telefonzelle ermordet worden, die der Kaschemme gegenüber lag, in der man ihn sonst immer antreffen konnte.

Wahrscheinlich hat er ungestört mit mir sprechen wollen! kam es Jo in den Sinn, als er seinen Wagen an der Seite abstellte, die Tür öffnete und die zerschossene Zelle sah.

Brady lag mit seltsam verrenkten Armen und Beinen in der Zelle. Seine Augen blickten Jo starr an, während sich mitten auf seiner Stirn ein kleines, rotes Loch befand.

Jo schluckte.

Er kannte Brady schon einige Jahre und der kleine Hehler hatte ihn immer mit wertvollen Informationen über die New Yorker Unterwelt versorgt.

Nicht alles, was Brady getan hatte, war legal, aber im Grunde war er nur ein ganz kleiner Fisch. Und ein solches Ende hatte er in keinem Fall verdient.

Niemand hatte das.

Jo Walker ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten und fühlte Grimm in sich hochsteigen.

Wer immer dahinter steckte und die Fäden zog: Es mußte sich um jemanden handeln, der buchstäblich über Leichen ging.

Jo blickte sich dann etwas nach Spuren um.

Aber da war auf den ersten Blick nichts zu sehen, daß irgendeinen Hinweis geben konnte. Mit was für einer Waffe Brady erschossen worden war, das würde später die Polizei feststellen. Doch viel würde dabei vermutlich auch nicht herauskommen.

Dies schien Jo das Werk von Profis zu sein. Man konnte Bradys Augen noch ansehen, wie überrascht er gewesen sein mußte.

Jo beugte sich nieder und drückte ihm die Lider zu. Mehr konnte er nicht mehr für ihn tun - außer vielleicht denjenigen zu finden, der dafür verantwortlich war.

Eine Weile verharrte Jo Walker so bei dem Toten, dann nahm er mit den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung in der Nähe war.

Blitzartig war seine Rechte unter den offenen Mantel und das Jackett gefahren und hatte mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit die Automatic aus dem Schulterholster gerissen und in Anschlag gebracht.

"Nicht schießen, Mister!"

Der Mann, der da zitternd vor Jo Walker stand, wirkte wie eine Jammergestalt. Er hatte die Hände gehoben, in der Rechten hielt er eine Bierflasche.

Jo blickte in ein stoppelbärtiges Gesicht mit einer roten Trinkernase.

"Bitte, nicht schießen!" wiederholte er noch einmal. Ihm schlotterten vor Angst schier die Knie und Jo ließ die Waffe sinken.

"Keine Angst!" meinte er. "Ich schieße nicht."

Der Mann drehte sich und wollte sich wohl davonmachen. Aber Jo hatte noch ein paar Fragen an ihn.

"Hey, stehen bleiben!"

Der Kerl zuckte zusammen und drehte sich vorsichtig herum. Erleichtert stellte er fest, daß Jo seine Waffe inzwischen wieder eingesteckt hatte.

"Ich tue Ihnen nichts!" versicherte Jo noch einmal, denn er sah deutliches Mißtrauen in den Augen seines Gegenübers.

Jo kam ein paar Schritte heran.

"Was ist noch? Was wollen Sie?"

"Nur ein paar Fragen!"

"Wer sind Sie?"

Jo kam noch näher heran und hielt ihm seine Lizenz unter die Nase. "Privatdetektiv!" fügte er noch als Erklärung hinzu.

Der Mann atmete auf.

"Gott sei Dank. Ich dachte schon, Sie gehörten zu ihm!"

Jo runzelte die Stirn.

"Wer ist das?"

"Schließlich tragen Sie auch eine Waffe..."

"Von wem, zum Teufel, haben Sie gerade gesprochen?"

Er deutete auf die Telefonzelle.

"Sie haben ja gesehen, was hier passiert ist, Mister..."

"Allerdings!"

"Ich spreche von dem Mann, der das getan hat!"

"Sie haben ihn gesehen?"

"Ich habe alles beobachtet!"

"Raus mit der Sprache!"

Jo hatte selbst gemerkt, daß in seiner Stimme ein Quentchen zuviel Ungeduld mitgeschwungen hatte. Und das hatte sein Gegenüber genauestens registriert.

Der Mann zögerte mit seiner Antwort, rieb sich mit der Linken die rote Nase und trank dann seine Bierdose leer. Die Büchse warf er auf den Bürgersteig und meinte: "Ich habe nichts mehr zu trinken, Mister..."

Jo begriff, worauf er hinauswollte.

Er gab ihm zwanzig Dollar.

"So!" meinte der Privatdetektiv. "Jetzt will ich aber auch eine überzeugende Story hören! Sonst hole ich mir die zwanzig Mäuse zurück!"

"Ich habe alles gesehen, Mister!"

"Das sagten Sie bereits!"

"Der Kerl ist seinem Opfer bis zur Telefonzelle gefolgt und dann hat er geschossen."

"Haben Sie den Schuß gehört?"

"Nein. Man konnte nichts hören. Aber ich habe die Waffe gesehen und ich sah es in der Dunkelheit aufblitzen..."

"Wie sah der Mann aus?"

"Er hatte eine Narbe quer über das Gesicht..." Und dabei zog er mit dem Finger eine Linie von der Stirn über das Auge und die rechte Wange.

Jo runzelte die Stirn.

"Von wo aus haben Sie das alles beobachtet?"

"Von der anderen Straßenseite aus. Als es dann passiert war, bin ich schließlich hergekommen, um..."

Er zögerte und Jo vollendete schließlich: "... um die Leiche zu fleddern, nicht wahr?"

"Unsereins muß auch leben!"

Jo warf einen kurzen Blick hinüber.

Dann meinte der Privatdetektiv ziemlich ungehalten: "Das ist unmöglich. Auf die Entfernung und bei diesen Lichtverhältnissen konnten Sie unmöglich die Narbe des Mannes sehen! Sie erzählen mir was!"

"Nein, Sir! Das war anders! Ich habe die Narbe des Mannes vorher gesehen."

"Wann vorher?"

"Als wir ein Bier zusammen getrunken haben, drüben vor der Snack Bar."

"Sie haben ein Bier zusammen getrunken?"

"Ja, er sah aus wie einer von uns. Wie einer, der auf der Straße lebt. Und dann haben wir einen zusammen gehoben. Aber in Wirklichkeit hat er wohl die ganze Zeit über nur auf den gewartet, der da jetzt mausetot in der Telefonzelle liegt..."

Jo nickte.

"Okay", murmelte er.

Wenn der Täter wirklich eine so auffällige Narbe hatte, wie dieser Mann behauptete, dann war das vielleicht eine Spur. Und wenn er bereits einschlägig in Erscheinung getreten war, dann würde man das Rätsel um seine Identität auch bald lüften können.

Das Heulen von Polizeiwagen ließ Jo Walker herumfahren und als er dann eine Sekunde später den Blick zurück zu seinem Gegenüber schnellen ließ, da hatte sich dieser bereits davongemacht.

Jo sah keine Spur mehr von ihm.

Er konnte in eine der dunklen Nischen zwischen den Häusern geflüchtet sein. Es gab hier Dutzende von Orten, an denen man sich verkriechen konnte.

Und dann wurde der Privatdetektiv durch das grelle Scheinwerferlicht der Polizei geblendet.

Der Mann war über alle Berge.

Offensichtlich legte er keinen Wert darauf, mit den Gesetzeshütern zusammenzutreffen, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht hatte er schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht, vielleicht hatte er auch selbst irgendwelche kleineren Sachen auf dem Kerbholz.

Ein paar uniformierte Beamte sprangen aus den heulenden Streifenwagen. Und dann kamen auch Männer in Zivil.

Ein paar Augenblicke nur und die Nacht schien zum Tag zu werden.

Aus den umliegenden Häusern liefen die Leute zusammen, um zu sehen, was sich dort abspielte.

Ein paar Augenblicke später sah Jo dann die massige Gestalt von Captain Rowland zum Tatort wanken.

"Hey, Tom! Was machst du denn hier? Ist das nicht eher etwas für deine Sklaven?"

Rowland verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Ein müdes, gequältes Lächeln ging über seine Züge, bevor er dann einen hörbaren Seufzer ausstieß.

"Diese Mordserie scheint inzwischen auch ein paar Etagen über mir Unruhe auszulösen! Und so, wie du es am Telefon dargestellt hast, paßt dieser Mord hier genau ins Raster!" preßte Rowland heraus. "Die Sache ist jetzt mein Job. Und zwar höchstpersönlich!"

"Armer Tom!"

"Auf dein Mitleid kann ich verzichten, Jo!" In seinen Augen blitzte es giftig. "Ich hoffe, du hast nichts angefaßt."

"Ich bin ja kein Anfänger!"

"Dann ist es ja gut. Sag mal, was könnte Brady denn über Maldini herausgefunden haben? Du hast am Telefon nicht mehr darüber gesagt..."

"Ich weiß auch nicht mehr darüber, Tom. Er wurde zuvor erschossen."

Sie gingen zur Telefonzelle, an der sich bereits ein paar Leute von der Spurensicherung zu schaffen machten. Blitzlichter von Fotoapparaten leuchteten auf.

"Sag mal, kennst du einen Mann, der eine Narbe hat, die etwa so verläuft?" Und dabei fuhr Jo sich mit dem Finger über die rechte Gesichtshälfte.

Captain Rowland runzelte die Stirn.

"Was soll das für einer sein?" murmelte er dann.

"Ein Killer!" erklärte Jo.


*


"Wir sollten uns Bradys Wohnung vorknöpfen!" meinte Jo etwas später an Rowland gewandt.

Der Captain nickte.

"Alles zu seiner Zeit. Wenn wir hier fertig sind, Jo!"

Aber Jo Walker war damit überhaupt nicht einverstanden.

"Dann kann es zu spät sein!" meinte er.

Rowland runzelte die Stirn.

"Wie kommst auf diese Idee?"

"Brady war ein Informant von mir. Er sollte sich mal umhören, was Maldini so in letzter Zeit treibt. Und kurz bevor er April am Telefon etwas sagen konnte, wurde er erschossen."

"Du meinst, daß er etwas herausgefunden hatte!"

"Warum hätte er sonst mein Büro anrufen sollen."

"Worum könnte es sich dabei handeln, Jo?"

"Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber vielleicht finden wir etwas in seiner Wohnung, daß uns Aufschluß geben könnte. Aber wenn wir zu langsam sind, dann könnte uns der zuvorkommen, der Brady umgebracht hat!"

"... und vielleicht verhindern wollte, daß er dir eine Nachricht zukommen läßt!"

Jo nickte.

"Ja, das könnte sein."

"Sieht ganz nach Maldini und seinen Leuten aus, nicht wahr?"

"Ja, scheint so."

Dann machte Jo sich endgültig davon. Bevor er in den 500 SL stieg rief er noch zu Rowland hinüber: "Falls du mit deiner Meute doch noch nachkommen willst: Brady trägt einen Führerschein bei sich, da steht seine Adresse drin!"

Rowland zog eine Grimasse.


*


Walker parkte den 500 SL am Straßenrand, wobei er wußte, daß es schon fast einer Provokation gleichkam, einen solchen Wagen in einer Gegend wie dieser abzustellen.

Aber was sollte er machen?

Sich eigens für seinen Abstecher zu Bradys Wohnung einen anderen, weniger auffälligen Wagen zulegen?

Jo öffnete die Tür und stieg aus.

Es war finster hier, die Straßenlaternen waren zerschlagen.

In einiger Entfernung sah Jo ein ausgebranntes Telefonhäuschen, an dem irgendeine der unzähligen Straßengangs wohl ihren Zorn ausgelassen hatte.

Jo verschloß sorgfältig den 500 SL, obwohl er wußte, daß das im Ernstfall wenig nützen würde.

Dann blickte er sich um.

Diese Straße hatte schon bessere Zeiten gesehen, das ließen die Fassaden der Häuser erahnen, die jetzt sämtlich herunterblätterten.

Aber das mußte schon lange her sein.

Jetzt wohnten hier vor allem jene, die es sich nicht leisten konnten, anderswo zu wohnen.

Brady wohnte in einem dreistöckigen Haus, daß seit zwanzig Jahren nicht mehr gestrichen worden war. Von irgendwoher waren Stimmen zu hören.

Jo ließ den Blick schweifen, sah aber zunächst nichts.

Dann bogen drei hochgewachsene, kräftig wirkende Kerle um die nächste Straßenecke.

Es waren Weiße. Sie trugen dunkle Lederjacken mit martialischen Totenkopfemblemen, die bei allen dreien identisch waren.

Es war kurz vor dem Haus, in dem Bradys Wohnung war, als Jo mit ihnen zusammentraf.

Sie bedachten den Privatdetektiv mit einem überheblichen Grinsen. Einer der Kerle einen Schlagring, ein anderer wedelte mit einer Eisenkette herum.

Jo begann sich darauf einzustellen, daß es Ärger geben würde.

Sie kam in breiter Front nebeneinander auf Jo zu und blieben dann vor ihm stehen.

"Vielleicht haben Sie sich in der Straße geirrt, Mister!" meinte einer von ihnen.

Es war der Mittlere, ein massiger Blondschopf mit einem gemeinen Zug um die Mundwinkel.

"Macht keinen Ärger!" warnte Jo.

Die Kerle kamen noch etwas näher heran.

Der Blondschopf machte eine unbestimmte Geste, zeigte einen Moment lang die Zähne und meinte dann: "Es war ein verdammter Fehler, in diese Straße zu kommen! Dies ist nämlich unsere Straße!"

"Der sieht aus, als hätte er Geld!" meinte der Rechte.

Der Blondschopf grinste häßlich.

"Er könnte uns ja etwas davon abgeben - und wir vergessen dafür, daß er hier nichts zu suchen hat!"

"Besser, ihr geht mir aus dem Weg!" warnte Jo, aber als er ihre Gesichter studierte, wußte er, daß das in den Wind geredet war.

Auf diesem Ohr waren sie taub.

Jo musterte sie einen nach dem anderen und versuchte sie abzuschätzen. Sie fühlten sich sehr sicher. Einer gegen drei, das schien eine klare Angelegenheit zu sein.

Für den Bruchteil eines Augenblicks hing alles noch in der Schwebe. Noch war nichts geschehen, hatte niemand einen Finger gerührt.

Dann packte der Blondschopf Jo an den Mantelkragen, um ihm die Brieftasche abzunehmen.

Jo hörte rechts das Rasseln der Kette. Und der Kerl auf der linken Seite holte nun einen kurzläufigen Revolver aus dem Hosenbund und richtete ihn auf Jo.

Jo Walker reagierte blitzschnell.

Er packte den Blondschopf beim Handgelenk und verpaßte ihm gleichzeitig einen Handkantenschlag, der ihn rückwärts, in Richtung seiner Komplizen taumeln ließ.

In der nächsten Sekunde schon sah er dann das Aufblitzen des Revolvers, aber er hatte sich rechtzeitig zu Boden geworfen und auf dem Pflaster abgerollt, so der Schuß über ihn hinwegpfiff.

Jo mußte erneut herumrollen.

Dicht neben ihm, nur Zentimeter von seinem Körper entfernt schlug ein Projektil ein und sprang dann als Querschläger weiter.

Indessen hatte Jo die Automatic herausgerissen und ballerte zurück.

Sein Gegenüber schrie und hielt sich den Arm.

Der Revolver fiel zu Boden.

"Der Kerl hat eine Waffe!" hörte Jo einen der Kerle rufen und da schwang so etwas wie Entsetzen im Tonfall mit.

"Verflucht! Das muß ein Bulle sein!" rief ein anderer.

Und dann sah Jo sie einen Augenblick später in die Dunkelheit davonrennen, auch den, den er am Arm erwischt hatte.

Jo erhob sich und steckte seine Waffe weg. Dann klopfte er sich Dreck von den Sachen und ging zu dem noch immer auf dem Pflaster liegenden Revolver, bückte sich und steckte diese Waffe ebenfalls ein.

So konnte jedenfalls niemand mehr Unfug damit machen.

Als Jo Walker sich dann umwandte sah er dort, wo Bradys Wohnung sein mußte, eine Bewegung am Fenster.

Einen Moment lang war das Licht angewesen, aber jetzt war alles dunkel.

Soweit Jo wußte, war Brady unverheiratet und lebte allein. Der Privatdetektiv ließ noch einmal den Blick über jene dunklen Fenstern schweifen, hinter denen Bradys Wohnung liegen mußte.

Nichts regte sich.

Aber Jo mochte nicht daran glauben, daß er sich so getäuscht haben sollte.

Vielleicht war er schon zu spät dran.


*


Jo hetzte die Treppe hinauf und befand sich wenig später vor der Tür von Bradys Wohnung. Auf dem Weg dorthin war ihm niemand begegnet.

Jo wußte nicht, ob es einen zweiten Ausgang gab, aber sofern sich tatsächlich jemand in Bradys Wohnung befand, so mußte davon ausgegangen werden, daß er noch dort war.

Die Tür war verschlossen, aber für Kommissar X war es kein Problem, sie mit Hilfe eines kleinen Stück Drahtes, daß er aus der Manteltasche zog, zu öffnen.

Knarrend ging die Tür auf und Jo nahm seine Automatic in die Rechte.

Drinnen herrschte gähnende Finsternis.

Jo wußte, daß er vorsichtig sein mußte.

Er lauschte angestrengt, aber es war nirgends etwas zu hören. Dann suchte er den Lichtschalter und fand ihn schließlich auch.

Jo Walker blickte sich um und sah eine halboffene Tür, die in einen dunklen Nachbarraum führte. Jo schlich sich an die Tür heran, die Automatic im Anschlag.

Es schien alles in Ordnung zu sein.

Mit der Automatic in Schußposition kam er in den Raum und riß die Tür zu Seite. Aber da lauerte niemand auf ihn. Er ließ die Waffe sinken, ging zum Fenster und blickte von dort aus hinunter auf die Straße.

Als er sich dann wieder herumdrehte, erstarrte er mitten in der Bewegung.

Jo Walker starrte direkt in die Mündung eines Revolvers Kaliber 38 Special.

Die Hand, die diese Waffe auf Jo gerichtet hielt war sehr zart, die Fingernägel lackiert.

"Waffe weg!" sagte eine weibliche Stimme, deren Tonfall es an Entschlossenheit nicht mangeln ließ und so legte Jo eine Automatic-Pistole erst einmal auf den nahen Glastisch, der in der Mitte des Zimmers stand. "Schön langsam und vorsichtig!"

Jo lächelte dünn.

"Bleibt mir wohl nichts anderes übrig!" meinte er.

"Und jetzt die Hände hoch, Mister! Schön hochhalten und oben lassen!"

Jo atmete tief durch und gehorchte.

Die Frau, die da mit der 38er vor ihm stand, mochte Mitte zwanzig sein, war ziemlich klein und grazil. Mochte der Teufel wissen was sie hier suchte, aber es sah ganz danach aus, als würde Jo zunächst keine Gelegenheit bekommen, ihr seine Fragen zu stellen.

"Wer sind Sie?" fragte sie und kam einen Schritt näher.

"Bevor wir uns unterhalten, tun Sie besser das Ding da in ihrer Hand weg!"

Sie verzog ihren Schmollmund zu einer Grimasse.

"Das hätten Sie wohl gerne! Sie dringen hier so einfach in die Wohnung ein... Was glauben Sie, was Sie hier hätten stehlen können?" Sie sah an ihm herunter. Dann meinte sie: "Sie sehen mir nicht wie einer aus, der es nötig hätte, den Leuten, die hier wohnen und schon wenig genug haben, noch etwas wegzunehmen!"

Jo nickte ihr zu.

"Gut beobachtet!" meinte er nicht ohne Ironie.

Die Frau zuckte mit den Schultern.

"Man täuscht sich eben immer wieder. Gut, daß Roy mir die Waffe dagelassen hat! Es gibt zwar jede Menge Gesindel hier, aber bis jetzt habe sie zum Glück noch nicht benutzen müssen. Es ist das erste Mal."

"Sie kennen Roy Brady?" fragte Jo Walker.

Für eine Sekunde veränderte sich ihr Gesicht und Jo schöpfte Hoffnung, sie doch zur Vernunft zu bringen. Aber dann wurden ihre Züge hart.

"Hören Sie gut zu: Versuchen Sie nicht, mich aufs Kreuz zu legen!"

"Das tue ich nicht!"

"Sie wollen mir weismachen, daß Sie Roy kennen und mich verunsichern!"

"Ich kenne Roy Brady wirklich."

"Sie könnten seinen Namen auch an seinem Briefkasten gelesen haben."

"Roy Brady ist tot!" warf Jo dann ein.

Er sah ihre großen Augen, ihr Kopfschütteln, ihr Unverständnis.

"Nein", flüsterte sie. "Sie lügen!"

"Ich bin Privatdetektiv", erklärte Jo dann weiter. "Meine Lizenz ist in der Jackettinnentasche, Sie können sich bedienen."

"Das ist nur eine Falle. Wenn ich dann bei Ihnen bin, greifen Sie nach meiner Waffe und überwältigen mich."

"Warum rufen Sie nicht die Polizei, wenn Sie überzeugt sind, daß ich ein Einbrecher bin? Die würde Ihnen übrigens alles bestätigen können, was ich bis Ihnen bis jetzt gesagt habe", erklärte Jo dann.

Wenn diese Frau - wie es Jos Vermutung war - hier mit Brady zusammen gelebt hatte, dann wußte sie wohl auch von seinen krummen Geschäften.

Daher kam das wohl kaum in Frage.

Prompt schüttelte sie den Kopf.

"Nein, ich rufe die Polizei nicht!"

"Weil Sie heiße Ware in der Wohnung haben, nicht wahr?"

"Was geht Sie das an?"

"Gar nichts. Und ich bin auch nicht dran interessiert."

Sie zog die Augenbrauen die Höhe.

"Und woran sind Sie interessiert, Mister..."

"Walker. Jo Walker."

"Ich glaube, Ihren Namen habe ich schon einmal gehört!"

"Das kann gut sein. Er steht ab und zu in der Zeitung. Außerdem hat Roy Brady für mich als Informant gearbeitet."

"Sie haben noch immer nicht gesagt, was Sie hier eigentlich suchen, Walker!"

"Den Mörder von Roy Brady - und noch ein paar anderen."

Jo sah, wie ihr auf einmal die Tränen über das Gesicht liefen.

"Dann ist Roy wirklich tot?"

Sie senkte die Waffe.

"Oh, mein Gott!"

Jo hielt seine Stunde für gekommen.

Er trat einen Schritt vor, aber sein Gegenüber schien weiterhin wild entschlossen zu sein, den Privatdetektiv in Schach zu halten.

Ihre Hände zitterten, als sie die Waffe wieder hob und auf Jo Walker richtete.

"Ich... Ich warne Sie, Walker - oder wie immer Ihr richtiger Name sein mag!"

"Es ist mein richtiger Name!" erwiderte Walker so ruhig und sachlich das in dieser Lage möglich war. "Hören Sie, ich will Ihnen nichts tun, sondern Sie nur davon überzeugen, daß ich die Wahrheit spreche!"

Und dabei machte Jo einen Schritt nach vorn.

Die Frau wurde nervös. Ihr zitternder Zeigefinger spannte sich um den Abzug.

"Ich warne Sie zum letzten Mal!" rief sie. "Ich werde schießen!"

Aber Jo Walker schüttelte den Kopf.

"Sie werden nicht schießen!" erklärte er, als wäre es eine unumstößliche Tatsache. "Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie eine kaltblütige Mörderin sind."

Sie wich etwas zurück, als Jo einen weiteren Fuß voran setzte. Dann senkte er die Arme und griff sehr langsam und behutsam in die Innentasche seines Jacketts. Er hätte auch in die Manteltasche greifen können, wo sich der Revolver befand, den er draußen den Kerlen mit den Totenkopfjacken abgenommen hatte.

Aber das tat er nicht.

Er war sich sicher, die Sache auch so zu einem guten Ende bringen zu können. Außerdem war es zu vermuten, daß aus ihrer Waffe sofort ein Schuß kam, wenn sie den Revolver in Walkers Hand sah.

Jo hatte seine Lizenz zwischen den Fingern und zog sie langsam heraus. Dann warf er ihr das Papier vor die Füße.

"Sie können sich überzeugen."

Sie zitterte erbärmlich und schluchzte plötzlich. Jo Walker sah ihr an, daß sie kurz vor einem regelrechten Nervenzusammenbruch stand.

Und dann war mit einem energischen Satz vorgeschnellt, hatte ihren Arm mit eisernem Griff gepackt und ihr die 38er entrissen.


*


Es dauerte eine Weile, bis Jo Walker mit der Frau reden konnte. Sie war völlig aufgelöst, schluchzte dauernd und war kaum, ansprechbar.

Jo setzte sich neben sie auf das Sofa und versuchte sie zu trösten, aber das stellte sich als gar nicht so einfach heraus.

Als sie sich wieder etwas gefangen hatte, erzählte ihr Jo in knappen Worten, was sich zugetragen hatte.

Er gab ihr sein Taschentuch und sie wischte sich das Gesicht ab, das dann zu einer steinernen Maske wurde.

"Sie haben Roy geliebt?" fragte Jo.

Sie nickte verhalten.

"Ja."

"Es tut mir leid für Sie."

"Danke. Aber das macht ihn nicht wieder lebendig!"

"Ich weiß. Das einzige, was wir jetzt noch für ihn tun können, ist dafür zu sorgen, daß sein Mörder nicht straffrei davonkommt!"

Beziehungsweise der, der den Killer geschickt hat! setzte Jo in Gedanken hinzu und dachte dabei an Tony Maldini.

Ihr Blick blieb starr, als sie erwiderte: "Ja, vielleicht haben Sie recht, Mister Walker!"

"Ich kannte Roy Brady schon ein paar Jahre", meinte Jo dann. "Aber er hat Sie nie erwähnt."

"Wir waren auch noch nicht lange zusammen" Sie zuckte mit den Schultern. "Ein paar Monate nur. Er hat mich in einer Bar aufgelesen, in der ich als Stripperin gearbeitet habe. Wir wollten ein neues Leben anfangen. Aber der Traum hat nicht lange gedauert!"

"Wie heißen Sie?"

"Laura Springfield."

"Der Mann, der Brady erschossen hat, hatte eine auffallende Narbe auf der rechten Gesichtshälfte. Kennen Sie jemanden, der so aussieht?"

Sie sah ihn mit ihren großen Augen an, in denen schon wieder Tränen glitzerten.

Dann schüttelte sie den Kopf.

"Nein. Aber in letzter Zeit schien er große Angst zu haben und war immer sehr vorsichtig."

Jo runzelte die Stirn.

"Wovor hatte er Angst?"

"Ich weiß es nicht, worum es ging. Es fing jedenfalls an, als er einen seltsamen Anruf bekam. Er war kreidebleich, als er den Hörer auflegte. Ich habe ihn gefragt, wer ihm denn einen solchen Schrecken eingejagt hätte."

"Und?"

"Ein Verrückter, so sagte er nur. Und nun ist Roy tot..." Sie barg ihr Gesicht in den Händen.

Jo erhob sich vom Sofa.

Nicht mehr allzulange und Rowlands Meute würde hier auftauchen und das Unterste zu oberst kehren.

Jo blickte sich in dem karg eingerichteten Wohnraum um. Zu großem Wohlstand hatten Roy Brady seine Hehlergeschäfte nicht verholfen. Aber das konnte nur jemanden wundern, der diesen Mann nicht kannte.

Er hatte nämlich eine verhängnisvolle Leidenschaft gehabt. Er spielte für sein Leben gern - und verlor meistens.

Jo Walker konnte sich nicht erinnern, ihn jemals anders angetroffen zu haben als in finanziellen Nöten.

Jos Blick blieb bei einem Photo an der Wand hängen. Es zeigte ein paar junge Kerle in Uniform. Soldaten...

"War Roy bei der Army?" fragte Jo verwundert.

Laura nickte.

"Ja, in Vietnam."


*


Brian Kostler stand nachdenklich am Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit. Er hatte etwas geschlafen, jetzt war etwas frischer. In der rechten hielt er eine Flasche Weinbrand.

Als Geraldine den Raum betrat wandte er sich nicht um.

"Wie kommt es eigentlich, daß du hier so schnell aufgetaucht bist", meinte sie dann. "Ist doch merkwürdig, Bruderherz, findest du nicht auch?"

Brian zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck aus der Flasche.

"Es stimmt, daß wir uns nicht richtig verstanden haben, Dad und ich..."

"Das ist noch sehr harmlos ausgedrückt!"

"Über den Anschlag wurde doch in allen Zeitungen berichtet. Da habe ich gleich den nächsten Flieger genommen!"

"Und das Geld dafür hattest du einfach so übrig, Brian?"

Jetzt endlich wandte er sich zu ihr herum. Er verzog den Mund zu einer zynischen Maske.

"Warum nicht?" meinte er.

"Es wäre wohl das erste Mal in deinem Leben gewesen, daß du keine Geldschwierigkeiten gehabt hättest, nicht wahr, Brian?"

"Irgendwann ist immer das erste Mal, Schwester. Das solltest du inzwischen wissen."

Dann veränderte sich sein Gesicht.

Er versuchte mit der Linken eine versöhnliche Geste und stellte schließlich die Flasche ab. Er kam ein paar Schritte näher, aber Geraldine wich zurück.

Er ist mein Bruder! dachte sie. Aber im Grunde weiß ich kaum etwas über ihn!

Seit Jahren hatte es keinerlei Kontakte zwischen ihr und Dad auf der einen und ihm auf der anderen Seite gegeben. Zunächst war noch regelmäßig mit der Forderung nach mehr Geld bei Larry Kostler vorstellig geworden. Aber der hatte schließlich die Geduld verloren und bei irgendeiner nichtigen Gelegenheit war es dann zum endgültigen Bruch gekommen.

Kostler hatte weiterhin regelmäßig Beträge an Brian überwiesen, aber sie hatten seit damals kein Wort mehr miteinander gesprochen.

All die langen Jahre hindurch.

Und nun, da Larry Kostler tot war, da tauchte er wieder aus der Versenkung auf.

"Wir haben verschiedene Ansichten, Geraldine, aber das sollte uns doch nicht daran hindern, miteinander auszukommen!"

"Nein, Brian. Das geht viel tiefer."

"Und wenn schon! Schließen wir Waffenstillstand!"

Geraldine überlegte kurz.

"Okay...", murmelte sie dann.

"Sieh mal, ich werde nicht lange hier bleiben. Die Beerdigung ist morgen, nicht wahr?"

"Ja."

"Okay..."

"Ich hoffe, du hast etwas Anständiges anzuziehen."

"Keine Sorge, ich habe dran gedacht."

"Wenigstens etwas!"

"Und das Testament?"

"Was soll damit sein?"

"Na, wann die Testamentseröffnung ist? Dad war ja schließlich keine arme Kirchenmaus."

Geraldines Blick wurde sehr ernst. Sie musterte ihren Bruder kühl.

"Du bist einzig und allein deswegen gekommen, nicht wahr, Brian?"

Er wich ihrem Blick aus und schien sich in diesem Moment nicht allzu wohl in seiner Haut zu fühlen. Dann meinte er bissig: "Und wenn schon!"

"Ich habe so etwas in der Art gedacht, Brian."

"Was ist schon dabei! Ich nehme meinen Teil und verschwinde. Du siehst mich nie wieder, Geraldine, das ist versprochen!"

Geraldine verzog den Mund.

"Dir paßt Dads Tod gut in den Kram, nicht wahr, Brian?"

Brian runzelte die Stirn.

"Was soll das?"

"Gib es zu!"

"Ja, gut, ich gebe es zu! Etwas Besseres hätte mir gar nicht passieren können, als daß jemand daherkommt und ihn niederschießt! Wer weiß, wie lange ich sonst noch auf mein Geld hätte warten müssen!"

Geraldine lachte freudlos.

"'Mein Geld!' - Eine feine Art hast du, das auszudrücken!"

"Was soll das ganze eigentlich? Soll das eine Art Verhör sein? Denkst du vielleicht, ich hätte Dad auf dem Gewissen."

"Ein Motiv hättest du doch, oder etwa nicht? Du hast es vorhin ja selbst zugegeben!" Sie musterte ihn kurz, sah wie er mit zitterigen Fingern nach der Flasche griff und sie zum Mund führte.

Dann schüttelte sie energisch den Kopf.

"Nein, Brian, ich denke, es ist ziemlich ausgeschlossen, daß du es warst. Schau dir nur deine Hände an... Du bist doch gar nicht in der Lage, eine Waffe ruhig genug zu halten, um damit jemanden zu treffen."

Brian lief puterrot an und knurrte ärgerlich vor sich hin.

"Man muß stets versuchen, aus den Dingen seinen Nutzen zu ziehen, ganz gleich in welche Richtung sie laufen", meinte Brian dann, nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte. "Ich habe gewußt, daß es irgendwann soweit sein würde. Und jetzt ist es eben soweit. Jetzt hat er die Kugel im Schädel, die schon vor langer Zeit für ihn bestimmt gewesen ist."

"Gute Nacht, Brian. Ich hoffe, du verschwindest hier möglichst schnell wieder."

"Gute Nacht Schwester! Sobald ich mein Geld habe, kann ich mir jedes Hotel leisten!"


*


Es war eine üble Absteige, rund um die Uhr geöffnet und im Drei-Schicht-System mit jeweils wechselnden Portiers besetzt.

Aber für den Mann, der in diesem Augenblick durch die Tür trat war es genau das Richtige.

Der Mann war hochgewachsen und schlecht gekleidet und trat mit bedächtigen Schritten auf den Tresen zu, hinter dem der Nachtportier saß.

Dieser schreckte von seiner Illustrierten hoch, in der er Kreuzworträtsel gelöst hatte.

Der Portier mußte schlucken, als er das Gesicht seines Gegenübers sah. Im Schein der Neon-Röhre war die Narbe gut sichtbar, die die rechte Gesichtshälfte verunstaltete.

"Was wollen Sie?" fragte der Portier.

"Ich wohne hier."

Der Portier runzelte die Stirn, während der Mann mit der Narbe mit der flachen Hand auf den Tresen schlug. Seine Augen waren kaum mehr als schmale Schlitze, sein Mund ein dünner Strich.

Der Portier hatte diesen Mann noch nie gesehen, aber bei dem schichtweise wechselnden Personal war das auch kein Wunder.

"Welche Nummer?"

"Dreiundzwanzig."

Der Portier drehte sich herum und ging zu dem Nagelbrett, an dem die Schlüssel hingen. Schließlich hatte er den richtigen gefunden und knallte ihn eine Sekunde später auf den Tresen.

"Hier, Mister..."

Der Narbige hob den Kopf und unterzog sein Gegenüber einer kurzen Musterung.

"Bridger!" flüsterte er dann.

Es war der Name, unter dem er sich eingetragen hatte, aber es war nicht sein wirklicher.

"Wollen Sie Frühstück, Mister Bridger?"

"Nein."

Der Portier zuckte mit den Schultern.

"Wie Sie wollen..."

"Noch was?"

"Nein."

"Das ist gut. Sie quatschen nämlich zuviel, Mister!"

"Ich dachte nur..."

"Gute Nacht!"

Der Mann, der sich Bridger nannte, drehte sich um und ging die Treppe hinauf, um zu seinem Zimmer zu gelangen.

Die Stufen knarrten entsetzlich...

Es hat mich niemand gesehen! dachte er und fühlte die Schalldämpfer-Pistole in der Tasche seiner Parka. Verdammt, es ist alles in Ordnung! Alles läuft wie am Schnürchen!

Aber Bridger war unruhig.

Er fühlte seinen Puls schlagen, obwohl es dafür doch eigentlich keinen Anlaß gab. Brady war tot und die Gefahr, die er dargestellt hatte vorüber.

Bridger öffnete die Tür zu seinem Zimmer und verschloß sie sogleich sorgfältig hinter sich.

Dann atmete er tief durch.

Es war noch nicht zu Ende!

Roy Brady war nicht der Letzte auf seiner Liste!


*


Als Jo Walker am nächsten Morgen ins Büro kam, schlug ihm gleich Aprils helle Stimme entgegen.

"Jo! Du kommst gerade richtig!"

"Was ist denn?"

"Telefon!"

Sie hielt den Hörer in der Hand.

Jo behielt den Mantel an. Er hatte es so im Gefühl, daß es sich vielleicht nicht lohnte, ihn auszuziehen.

"Wer ist es?"

"Captain Rowland."

Jo pfiff kurz durch die Zähne und den Hörer.

"Tom?"

"Ja, ich bin's!"

"Sag bloß, die Polizei arbeitet schon zu dieser frühen Stunde!"

"Jetzt ist keine Zeit für Witze, Jo! Wir wollen Maldini einen Besuch abstatten! Und da dachte ich, daß du vielleicht gerne dabei sein möchtest!"

Jo mußte unwillkürlich grinsen.

"Schön, daß du an mich gedacht hast...", meinte er mit einem deutlich sarkastischen Unterton.

In Wahrheit konnte das nur heißen, daß Rowland bei seinen Ermittlungen gegen Maldini auf der Stelle trat und er von oben Druck bekommen hatte.

Nun, es war Jo einerlei worin die großzügige Kooperationsbereitschaft letztlich begründet lag.

"Wir sind schon auf dem Weg!" meinte Rowland. "Halte dich bereit! Wir kommen bei dir vorbei und laden dich ein!"

"Okay!"

Jo legte auf.

Er würde Maldini einige Fragen zu stellen haben. Und es konnte sicher nicht schaden, den Antworten genau zuzuhören.

Vielleicht kam ja etwas dabei heraus.

Jo stand einen Augenblicklang nachdenklich da, dann holte er einen zerknitterten Zettel aus seiner Tasche, auf dem ein paar Namen standen, die er sich am Vortag in Rowlands Büro aufgeschrieben hatte.

"Was ist das?" fragte April.

"Eine Liste", murmelte Jo lakonisch. "Eine Liste von Männern , die allesamt zu Maldinis Organisation gehören oder mit ihm zu tun hatten - und nun mausetot sind."

April warf einen Blick darauf.

"Joel Gardener...", entzifferte sie.

"Ein Barbesitzer", meinte Jo. "Aber das war vermutlich nur Tarnung."

"Was machte er wirklich?"

"Er handelte mit Crack und anderen synthetischen Drogen. Und zwar im großen Stil. Leider wird man es ihm jetzt wohl kaum noch nachweisen können."

"Und wer ist das? Perry Crawford?"

"Ein Hehler."

"Für was?"

"Alles, was sich denken läßt."

"Genau wie Roy Brady, dein Informant!"

"Ja, aber Crawford war ein paar Nummern größer."

In Gedanken setzte Jo die Namen Brady und Kostler hinzu.

Aber sie schienen irgendwie nicht zu passen. Brady nicht, weil er ein zu kleiner Fisch gewesen war und Kostler nicht, weil er seit Jahrzehnten ein seriöser Geschäftsmann war, der mit Maldini und seiner Organisation nichts zu tun gehabt hatte...

Irgendetwas stimmt hier nicht! dachte Jo unwillkürlich.

Er schob April die Liste hinüber.

"Hier!" meinte er. "Ich habe sie mir schon dutzendfach angeschaut - alle Daten, die mir wichtig erschienen, habe ich mir aus Rowlands Akten herausgeschrieben..."

Vier Namen standen dort.

Außer Crawford und Gardener noch der von Jack McCarthy, der ein Inkasso-Büro betrieb und unter anderem für Maldini Schulden eintrieb sowie Ray Gregor, der ein Büro betrieb, daß unter anderem Söldner vermittelte.

Vermutlich hatte Gregor seine Finger aber auch im internationalen Waffenhandel und vermittelte Mordaufträge an professionelle Killer.

Einmal war er deswegen schon festgenommen worden.

Man hatte sein Büro abgehört und ihn dabei erwischt, wie er sich gerade um die Belange eines kümmerte, der einen unliebsamen Konkurrenten aus dem Weg geräumt haben wollte.

Aber man hatte Ray Gregor wieder freilassen müssen, weil den Beamten ein schwerwiegender Formfehler passiert war, die dazu geführt hatten, daß das gesamte Beweismaterial nicht berücksichtigt werden konnte.

In den letzten Jahren Gregor sich besser vorgesehen und alles vermieden, um mit der Polizei in Konflikt zu kommen. Aber niemand, der ich in der Szene auskannte, zweifelte daran, daß er nach war aktiv war.

"Rechnet man Kostler und Brady hinzu, dann haben alle gemeinsam, daß sie etwa zwischen vierzig und fünfzig sind!" meinte April nachdenklich.

Jo nickte.

"Genau wie Maldini. Und sie sind auch alle zusammen großgeworden in der Unterwelt. Einer hat den anderen abgestützt. Nur Kostler ist da irgendwann ausgestiegen."

"Wenn Maldini es ist, der sie alle - einer nach dem anderen - von einem Profi killen läßt - dann verstehe ich nicht, warum er das tun sollte!"

Er zuckte die Achseln.

"Mal sehen, was Maldini so ausspuckt!" meinte er dann.


*


Eine Viertelstunde später saß Walker neben Captain Rowland auf dem Rücksitz eines Streifenwagens.

"Wohin geht es jetzt?" fragte Jo.

"In Maldinis Büro. Dort sind wir mit ihm verabredet!"

"Oh, ihr habt euch richtig schön brav angemeldet!"

"Und wenn schon..."

"Ich habe ja nichts gesagt, Tom!"

"Dann will ich auch nichts gehört haben."

"Ihr sitzt fest, nicht wahr? Gegen Maldini kommt ihr nicht weiter, da beißt ihr auf Granit!"

"Jo, du weißt doch selbst, was das für einer ist..."

"Natürlich weiß ich das!"

"Okay, du hast Recht! Es ist genau so, wie du vermutet hast: Wir stecken fest! Alles sieht nach einer Säuberungsaktion Maldinis in den eigenen Reihen aus... Alle Opfer wurden mit derselben Waffe erschossen."

"Das steht inzwischen fest?"

"Ja. Felsenfest. Übrigens wurden mit dieser Waffe auch Larry Kostler und Roy Brady erschossen!"

"Dann wird es auch derselbe Kerl gewesen sein, der sie abgedrückt hat, nicht wahr?"

"Sieht so aus, Jo."

"Sollte man von einem wirklichen Profi nicht erwarten, daß er nach jedem Mord die Waffe verschwinden läßt und sich eine andere besorgt - schon allein, um es unmöglich zu machen, irgendwelche Verbindungslinien zu ziehen..."

Rowland zuckte mit den Schultern.

"Wahrscheinlich hat jeder Killer seine eigenen Methoden, Jo!"

"War ja nur so ein Gedanke."

Jo machte eine unbestimmte Geste mit der Hand und zuckte mit den Schultern.

Dann fuhr er nachdenklich fort: "Trotzdem scheinen mir Kostler und Brady nicht so ganz in die Serie hineinzupassen... Aber warten wir erst einmal ab, was Maldini uns zu erzählen hat."

"Am Telefon schien er mir ganz zugänglich", meinte Rowland. "Machte ganz einen auf seriösen Geschäftsmann."

"Das war ja schon immer seine Tour."

"Richtig, Jo. Entweder er hat wirklich nichts mit den Morden zu tun - was ich nicht glaube - oder..."

"Oder?"

"Oder aber er fühlt sich verdammt sicher!"

"Und das wahrscheinlich mit Recht! Er war ja schließlich immer sehr vorsichtig."

Tom Rowland verzog das Gesicht.

"Dieser verdammte Hund tanzt uns schon viel zu lange ungestraft auf der Nase herum!" Rowland schnappte nach Luft und ächzte.

"Was ist mit dem Killer?" fragte Jo unvermittelt.

"Du meinst den mit der Narbe!"

"Ja."

"Fehlanzeige!"

"Was?"

"Ja, in den Polizeiarchiven gibt es nichts über einen Killer mit einer solchen Narbe!"

"Das ist seltsam..."

"Tut mir leid, aber es ist so! Ich habe ihn in die Fahndung gegeben. Ein Phantombild ist an die Presse gegangen. Vielleicht kommt ja etwas dabei heraus."

"Hoffentlich! Dieser Mann ist schließlich nicht gerade unauffällig, was seine äußere Erscheinung angeht. Irgendjemand muß ihn ja sonst noch gesehen haben! Schließlich muß der Kerl irgendwo schlafen, er muß sich ernähren..."

"Täusch dich da nicht, Jo! Auch mitten in New York kann man wie ein Eremit leben! Ich hoffe nur, daß dieser Stadtstreicher dir nicht einen Bären aufgebunden hat!"

Jo schüttelte energisch den Kopf.

"Nein, daran glaube ich nicht."

Jo seufzte.

Daß der Killer mit der Narbe nicht in den Archiven zu finden war konnte einerseits bedeuten, daß dieser Mann bisher noch nicht einschlägig in Erscheinung getreten war. Und das würde die Suche nach ihm nicht gerade erleichtern.

Die andere Möglichkeit war, daß er seine Narbe noch nicht allzulange hatte...


*


Tony Maldini residierte im Johnston Building, einem gigantischen Büroturm, den ein Versicherungskonzern hatte bauen lassen.

Drei Etagen hatte Maldini gemietet - und um das bezahlen zu können, mußte schon einiges auf den Tisch blättern. Seinen Geschäften konnte es also nicht allzu schlecht gehen.

Als Walker und Rowland mit dem Aufzug in den zwanzigsten Stock gekommen waren, versperrten ihnen zwei bärenhafte Gorillas den Weg, die nicht die Absicht zu haben schienen, sie weiter vor zu lassen.

Rowland zeigte seine Marke, aber das beeindruckte sie wohl nicht allzu sehr.

Der eine bleckte nur angrifflustig die Zähne und blickte verächtlich auf den Captain herab.

"Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl, Mister?"

"Wir sind mit Mister Maldini verabredet!"

"Davon wissen wir nichts!"

"Dann schlage ich vor, Sie fragen mal eben kurz Ihren Boss!" mischte Jo sich ein. "Schätze, dann ersparen Sie uns und Ihnen einigen Ärger!"

Die Kerle wechselten einen Blick und schienen einen Augenblick nachdenken zu müssen. Dem äußeren Anschein nach schienen sie über jede Menge Muskeln zu verfügen, aber um ihre geistigen Gaben schien es nicht ganz so gut bestellt zu sein.

Dann kam ein kleiner, hagerer Mann mit einer unwahrscheinlich dicken Hornbrille.

"Wer ist das?" fragte er die beiden Gorillas.

"Polizei. Die wollen zum Chef."

Die Hornbrille kam näher und wandte sich an Walker.

"Rowland?"

Jo deutete neben sich.

"Nein, das hier ist Rowland! Ich begleite ihn nur."

Die Hornbrille nickte den Gorillas zu. "Das geht schon in Ordnung, Leute. Der Boss erwartet diese Gentlemen bereits!"

"Na endlich!" brummte Rowland.

"Läßt du dich eigentlich immer so behandeln, Tom?" zischte Jo dem Captain zu, woraufhin dieser nur etwas Unverständliches vor sich hin knurrte.

"Wenn sie mir bitte folgen würden, Gentlemen!" meinte die Hornbrille.

Der kleine Mann rückte sich die Krawatte zurecht und ging dann vorne weg.

"Ein paar nette Mitarbeiter haben Sie da aber!" meinte Jo sarkastisch.

"Sie müssen schon entschuldigen!" erwiderte die Hornbrille eilfertig. "Sie sind etwas ungehobelt, aber sie verstehen ihr Fach..."

Jo grinste.

"Das glaube ich Ihnen aufs Wort."

Sie gingen durch eine Tür, dann eine weitere, kamen durch ein Vorzimmer mit zwei Sekretärinnen und dann standen sie schließlich vor jener Tür, die zum Büro des großen Tony Maldini führte.

Die Hornbrille drücke auf den Knopf an der Sprechanlage.

"Mr. Maldini? Rowland ist da!"

Keine Antwort.

"Sollen wir hereinkommen, Mister Maldini?"

Immer noch keine Antwort.

Die Hornbrille schien ratlos zu sein und runzelte die Stirn.

"Mister Maldini..."

"Ist er auch bestimmt in diesem Büro?" fragte Jo eine der Sekretärinnen.

"Aber sicher doch!" beeilte diese sich. "Und wenn er herausgekommen wäre, dann hätten Lucy und ich ihn ja wohl sehen müssen, oder?"

Jo zuckte mit den Schultern.

"Einen zweiten Ausgang gibt es nicht?"

"Nein."

"Da stimmt etwas nicht!" meinte die Hornbrille.

"Sehen wir mal nach!" murmelte Jo entschlossen.


*


Sie traten durch die Tür und Jos Rechte ging instinktiv zum Schulterholster, als er Maldini mit einem kleinen, runden Loch mitten in der Stirn hinter dem protzigen Schreibtisch sitzen sah.

Jos Blick ging durch den Raum, aber es war ihm schon nach wenigen Augenblicken klar, daß hier schon alles gelaufen war.

So ließ er dann die Waffe wieder sinken.

"Scheint, als kämen wir zu spät!" murmelte Jo.

Langsam näherten sie sich dem Schreibtisch. Maldini blickte ihnen mit starren, toten Augen entgegen.

"Oh, mein Gott!" stöhnte die Hornbrille.

Und dann waren auch die beiden Sekretärinnen hereingekommen und stießen jeder einen Laut der Verwunderung und des Schreckens aus.

"Verflucht!" schimpfte Rowland.

Und er hatte allen Grund dazu.

Es war sicher nicht Trauer um einen Verbrecher, auf dessen Konto vermutlich auch der eine oder andere bezahlte Mordauftrag ging. Es war wohl eher die Tatsache, daß er jetzt völlig von vorne anfangen mußte.

Mit der Linken wischte Rowland sich den Schweiß von der Stirn. Dann wandte er sich an die Hornbrille.

"Schätze, daß ist jetzt unser Job, Mister!"

Der kleine, dünne Mann nickte.

"Natürlich, Sir!"

Rowland ging zum Telefon auf dem Schreibtisch und wählte die Nummer der Polizei.

Sollte die Spurensicherung das Büro mal richtig unter die Lupe nehmen...


*


Als sich der erste Schrecken bei den Anwesenden gelegt hatte, nahm sich Jo die beiden Sekretärinnen zur Brust.

Die eine war klein und brünett, die andere hochgewachsen, schlank und rothaarig.

"Ist irgendjemand hier heraus- oder hereingekommen! Bitte überlegen Sie gut!"

Die Brünette schüttelte energisch den Kopf.

"Nein, ich habe niemanden gesehen!" meinte sie.

Ihr Gesicht, das wenige Augenblicke zuvor noch eine frische, rosige Farbe gehabt hatte, war indessen bleich geworden.

"Aber irgendjemand muß hier gewesen sein!" beharrte Jo. "Wann ist Mister Maldini denn heute ins Büro gekommen?"

"Etwa eine halbe Stunde, bevor Sie hier aufgekreuzt sind."

"Ist das seine übliche Zeit?"

"Ja. Meistens kommt er sogar noch früher. Er ist ein sehr hart arbeitender, fleißiger Mann. Ich meine, er war..."

Mir kommen gleich die Tränen! dachte Jo bei sich, aber konnte sich zurückhalten und ließ es nicht über die Lippen kommen.

"Moment mal!" meinte dann die Rothaarige.

Jo horchte auf und sah ihr direkt in die Augen, in denen es jetzt verheißungsvoll blitzte.

"Ja?"

"Da war doch jemand in Mister Maldinis Büro!"

"Was Sie nicht sagen..."

"Ja. Ein Heizungsmonteur. An der Zentralheizung ist gearbeitet worden und es sollte jemand kommen, um zu überprüfen, ob sich Luft in den Heizkörpern gestaut hat. Das ist im Grunde etwas ganz normales. Wissen Sie, wir haben nämlich Probleme mit der Heizung im Haus und deswegen war schon ein paar Mal jemand hier."

"Es war ein Mann?"

"Ja. Und er kam bevor Mister Maldini sein Büro betrat und verließ es wieder ein paar Sekunden, nachdem der Chef eingetreten war."

"Hat jemand von Ihnen Maldini danach noch einmal lebend gesehen?"

"Nein!" sagte die Rothaarige.

Und auch die Brünette schüttelte den Kopf. "Nein" meinte sie. "Er hat auch nicht die Sprechanlage benutzt. Jetzt erinnere ich mich auch. Hatte der Man nicht so eine häßliche Narbe - mitten über das Gesicht?"


*


Eine halbe Stunde später war das Büro von Tony Maldini von einem halben Dutzend Polizisten bevölkert, die nach jeder noch so kleinen Spur suchten.

Rowland hatte indessen die Hornbrille verhört, die auf den Namen Ed Rolston hörte.

Aber Rolston hatte sich ziemlich zugeknöpft gegeben.

Es war nicht viel bei der Sache heraus gekommen.

Jetzt stand Rowland mit einer Kaffeetasse in der Hand da und nippte unlustig an dem Gebräu, das ihm die Rothaarige aufgesetzt hatte.

Jo klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

"Nimm's nicht so tragisch, Tom!"

"Ah, du hast gut reden!"

"Ich weiß gar nicht was du hast, Tom! Immerhin kannst du hier jetzt endlich mal das unterste zu oberst kehren! Das wolltest du immer schon, nicht wahr? Einmal in Maldinis Heiligstem herumwühlen..."

"Ja, schon..."

"Na, also! Wenn das nichts ist! Und nun kann dir niemand Steine in den Weg legen! Mord ist ein Offizialdelikt, das in jedem Fall verfolgt werden muß! Es wird also keine Schwierigkeit mehr sein, jeden Durchsuchungsbefehl in dieser Sache zu bekommen, den du brauchst."

"So habe ich das noch nicht gesehen. Aber andererseits tappen wir jetzt völlig im Dunkeln, was hinter diesen Morden steckt. Eine Säuberungsaktion Maldinis in seiner Organisation scheidet jetzt wohl endgültig aus..."

"Ja, schließlich ist nicht anzunehmen, daß Maldini sich selbst liquidieren ließ."

"Wie dem auch sei, Jo. Einen Unschuldigen hat es jedenfalls nicht getroffen."

"Es wird jetzt wohl eine Reihe von Kämpfen um die Thronfolge in der Organisation geben."

"Ja, das ist zu befürchten", stimmte Jo zu.

Als der Privatdetektiv sich dann zum Gehen wandte, runzelte Rowland die Stirn. "Was hast du jetzt vor?"

"Ich werde mir ein Taxi nehmen und zu Kostlers Beerdigung fahren", meinte er.

"Versprichst du dir davon etwas?"

Jo zuckte mit den Schultern.

"Kann ich noch nicht sagen. Aber da muß irgendein entscheidender Faktor sein, den wir noch nicht kennen. Irgendeine Gemeinsamkeit zwischen den Opfern. Und Kostler hat eine Schlüsselstellung auf der Liste."

"Wieso?"

"Weil er offensichtlich herausfällt. Alle außer ihm waren vermutlich auf die eine oder andere Weise in der Unterwelt aktiv. Nur Kostler nicht. Seine zweifelhafte Zeit liegt schon sehr lange zurück."

"Cummings hat mir gesagt, daß es da einen geklebten Brief gab..."

"Ja, Tom. Und das ist auch so einer Merkwürdigkeit. ENDLICH HABE ICH DICH GEFUNDEN, DU RATTE. Könnte nach Maldini klingen, so dachte ich mir erst. Schließlich hat Kostler ihm in grauer Vorzeit mal kräftig auf die Füße getreten, so kräftig, daß kein Syndikatsboß der ganzen Welt so etwas durchgehen lassen könnte, ohne seine eigene Position zu gefährden. Aber wenn der Kerl mit der Narbe sowohl Kostler wie Maldini umgebracht hat, muß etwas anderes dahinterstecken!"


*


Jo Walker ließ sich von einem Taxi zurück zu seinem Büro in der 5th Avenue bringen. Von dort fuhr er dann mit seinem eigenen Wagen hinaus in Richtung Long Island, wo auf einem Methodistenfriedhof Larry Kostler zur letzten Ruhe gebettet wurde.

Er würde nicht mehr pünktlich kommen, aber das störte Jo nicht besonders. Die Predigt interessierte ihn ohnehin nicht sonderlich, eher schon, wer sich auf dieser Beerdigung alles einfand.

Vielleicht konnte das irgendwelchen Aufschluß geben, auch wenn er da nicht allzu zuversichtlich war.

Und dann mußte er unbedingt mit Geraldine Kostler sprechen.

Nach wie vor hatte er das dumpfe Gefühl, daß sie ihm etwas Entscheidendes vorenthielt.

Als Jo den richtigen Friedhof erreicht hatte, war es bereits früher Nachmittag und alles schien schon annähernd vorbei zu sein.

Der Sarg war längst in der Erde versenkt, der Geistliche hatte seine salbungsvollen Worte gesprochen und dann gingen sie einer nach dem anderen zum Grab.

Jo stellte seinen 500 SL irgendwo in der Nähe ab und wartete am Ausgang des Friedhofs.

Es lag nicht in seiner Absicht irgendjemanden in seiner Trauer zu stören.

Er rieb sich die Hände und beobachtete die kleine Ansammlung von Menschen, die Larry Kostlers Sarg gefolgt war. Es waren nicht viele - nicht, wenn man bedachte, daß Larry Kostler kein ganz unwichtiger Mann war.

Geraldine war da, mit einem dunklen Schleier vor dem Gesicht - und natürlich Brian Kostler, ihr zwielichtiger Bruder.

Brian hatte eine rote Nase und Jo war sich nicht schlüssig darüber, ob die von der Kälte herrührte...

"Na, wie geht's, Schnüffler?"

Jo wirbelte herum und sah einen Cowboyhut und ein freches Grinsen.

Es war Cummings, der Polizist.

Offensichtlich hatte er dieselbe Idee gehabt wie Jo und sich die Trauergesellschaft einmal aus sicherer Entfernung angesehen.

"Schon weitergekommen?" fragte Jo, nicht ohne eine Portion Spott in der Stimme.

Er schüttelte den Kopf.

"Alles deutete auf Maldini..."

"Und der ist jetzt tot!"

Cummings nickte.

"Ja."

Jo runzelte die Stirn.

"Woher wissen Sie das so schnell?"

"Captain Rowland hat es mir durchgegeben!" Er machte ein nicht besonders glückliches Gesicht. Seine Mundwinkel wirkten irgendwie verkniffen. "Diese Mordserie ist ja jetzt Chefangelegenheit!" zischte er.

Jo lächelte dünn.

"Sie wollen sich die Sporen lieber allein verdienen, was, Cummings?"

Cummings machte eine wegwerfende Geste.

"Was dagegen?"

"Nein."

"Man muß ja schließlich vorwärtskommen!"

"Mir geht es in erster Linie darum, einen kaltblütigen Killer aufzuspüren!"

Die Blicke der beiden Männer begegneten sich kurz, dann zuckte Cummings mit den Schultern.

"Spielt doch eigentlich keine Rolle, warum jemand etwas tut, finden Sie nicht auch?"

"Ich weiß nicht, ob ich mich da Ihrer Meinung anschließen kann..."

"Die Hauptsache ist und bleibt, was am Schluß dabei herauskommt, Walker! Nichts anderes!"

Jo hatte keine Lust, die Diskussion zu vertiefen.

Er deutete zu den Trauernden.

"Vielleicht können Sie mir weiterhelfen, Cummings."

Der Polizist verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

"Wenn's sein muß."

"Ich kenne Miss Geraldine und ihren Bruder Brian..."

"Den Säufer..."

"Ja, genau den. Vielleicht können Sie mir bei den anderen weiterhelfen."

"Es sind Leute der Larry Kostler Holding", meinte Cummings. "Buchhalter, Börsenmakler und solche Leute."

"Dort sehe ich ja auch unseren Freund Dickson. Haben Sie dem eigentlich mal richtig auf den Zahn gefühlt, Cummings?"

Cummings Augen wurden zu schmalen Schlitzen. "Was ist mit diesem Dickson?"

"Ich bin nach wie vor der Ansicht, daß er ein Motiv haben könnte..."

"Ich habe mit ihm gesprochen."

Walker zog die Augenbrauen hoch.

"Und?"

"Er war nicht sehr auskunftsfreudig. Meinen Sie, daß er Kostler auf dem Gewissen haben könnte?"

Jo zuckte mit den Schultern.

"Normalerweise ja. Aber es fehlt die Verbindung zu Maldini..."

Die Trauergesellschaft löste sich nun langsam auf.

Jo wartete, bis Geraldine in der Gesellschaft ihres Bruders herankam. Brian machte ein mißmutiges Gesicht, während von Geraldines hübschem Antlitz auf Grund des dunklen Schleiers nicht viel zu sehen war.

"Herzliches Beileid, Geraldine...", murmelte Jo und nahm ihre Hand.

"Danke", war die knappe Erwiderung.

"Geraldine, ich muß unbedingt mit Ihnen reden."

"Jetzt?"

"Ja. Jetzt sofort. Drüben steht mein Wagen..."

Aus irgendeinem Grund schien sie davon nicht allzu sehr begeistert zu sein.

Sie war heute auffällig kühl und abweisend.

"Ich bin selbst mit dem Wagen hier, Jo!"

Brian Kostler unterzog Jo Walker einer kritischen Musterung. In seinen Zügen stand deutlich so etwas wie Verachtung, vielleicht auch ein bißchen Unbehagen.

"Ist irgendetwas geschehen?" fragte Brian.

Jo nickte.

"Allerdings..."

Brian zog die Augenbrauen hoch. Und dann konnte Cummings sich nicht mehr zurückhalten und meinte: "Maldini ist erschossen worden!"

Es dauerte eine Sekunde, bis einer der beiden Geschwister dazu etwas sagte.

Zu schade! durchfuhr es Jo. Geraldine hatte noch immer in den Schleier vor ihrem Gesicht, aber gerade in diesem Augenblick hätte er gerne ihre Reaktion auf diese Nachricht gesehen.

Brian machte jedenfalls keinen besonders überraschten Eindruck.

"Das ist doch der Kerl, der Dad auf dem Gewissen hat, nicht wahr?" wandte er sich an seine Schwester.

"Ja", murmelte Geraldine fast tonlos. Und dann setzte sie noch hinzu: "Das kommt sehr überraschend, Jo!"

Jo nickte.

"Nicht nur für Sie, Geraldine."

"Erwarten Sie nicht, daß ich ein Wort des Bedauerns oder des Mitgefühls für Tony Maldini hätte."

"Nein, das erwarte ich nicht."

"Wer immer ihn umgebracht hat, ich würde ihm von Herzen danken, wenn er hier vor mir stünde. Maldini hat Dad umgebracht und dafür hat er zahlen müssen. So sehe ich das. Es mag hart klingen, aber ich empfinde nun einmal so."

Jo zuckte mit den Schultern.

Dann setzte er noch einmal an.

"Sie irren sich, Geraldine."

"Inwiefern, Jo?" Sie schüttelte energisch den Kopf und ehe Jo etwas sagen konnte, war sie bereits fortgefahren. "Sie haben keine Ahnung, wie es in meinem Inneren aussieht, Jo! Was wissen Sie schon!"

Ihre Stimme klang bitter. Jo wartete erst einmal ab und hörte ihr zu.

Dann begann er: "Nun..."

"Jo, Sie haben sich wunderbar für meine Angelegenheiten einsetzt. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Ich bin vollauf mit Ihnen zufrieden."

Jo Walker begann zu spüren, daß der Wind jetzt mit einem Mal aus einer anderen Richtung blies. Und so überraschte ihn das, was dann über die Lippen der schönen Geraldine kam auch nicht mehr sonderlich - wenn er es auch noch nicht vollständig begriff.

"Ihr Job ist beendet, Jo Walker!"

Jo verzog das Gesicht.

"Beendet?"

"Ja. Der Mann, der meinen Vater jahrelang in Angst leben und ihn dann umbringen ließ, hat seine gerechte Strafe bekommen. Ob es der elektrische Stuhl oder irgendein dahergelaufener Killer war, der ihn über den Jordan geschickt hat - das spielt vielleicht für einen Juristen eine gewisse Rolle. Aber nicht für mich!"

Ein mattes Lächeln begann um Jos Lippen zu spielen.

"Ich wußte gar nicht, daß Sie so hart sein können!"

"Oh, Jo! Vielleicht ist das alles etwas zuviel für mich. Der Tod meines Vaters, dieser feige Mord. Wir standen uns wirklich sehr nahe, Jo!"

"Schon gut, Geraldine! Aber wie dem auch immer sei: Sie irren sich gewaltig!"

"Inwiefern?"

"Diese Sache ist keineswegs zu Ende, Miss!"

"Und warum nicht?"

"Der Mörder von Maldini ist auch der Mörder Ihres Vaters gewesen."

Geraldines Gesicht erstarrte und ihre Stirn legte sich in Falten. Bei Brian, ihrem Bruder, traten die Augen vor Verwunderung stark aus ihren Höhlen hervor.

"Ist das sicher?" fragte Geraldine dann.

Jo nickte.

"Ja."

Sie machte eine Geste der Hilflosigkeit.

"Aber wo ist da ein Zusammenhang? Wo eine Verbindung? Der Gedanke, daß mein Vater und Maldini einen gemeinsamen Feind haben - das ist doch absurd!"

"Es scheint aber so zu sein!"

Jo Walker rieb sich nachdenklich das Kinn und dann sah er mit den Augenwinkeln einen Sportwagen heranbrausen, dessen Scheiben verdunkelt waren.

In der nächsten Sekunde brach die Hölle los...


*


Die Seitenscheibe des Wagens war an der Fahrerseite ein Stück nach unten geglitten und etwas Dunkles ragte ein paar Zentimeter hinaus.

Es ging alles sehr schnell und dauerte kaum länger als einen Augenaufschlag.

"Achtung!" rief Jo, der als erster begriffen hatte, was hier gespielt hatte - noch bevor die anderen den dunklen Sportwagen überhaupt zur Kenntnis genommen hatten.

Fast lautlos pfiffen die Projektile durch die Luft. Manche schlugen gegen die Sandsteinmauer, die den Friedhof umgrenzte und wurden als gefährliche Querschläger weiter auf die Reise geschickt.

Cummings griff nach seiner Dienstwaffe, die er in einem Schulterholster trug, aber noch ehe er sie in Anschlag gebracht hatte, war er bereits getroffen worden. Ein paar Zentimeter unterhalb der Brust wurde es rot bei ihm, er ächzte, krümmte sich und klappte dann zusammen wie ein Taschenmesser.

Auch Brian Kostler hatte es offensichtlich erwischt. Eine Mischung aus Fluch und Schmerzensschrei ging über seine Lippen, als ihn die Wucht eines Geschosses erwischte und nach hinten gegen die Sandsteinmauer riß, an der er dann zu Boden rutschte.

Jo warf sich blitzschnell auf die neben ihm stehende Geraldine und nahm sie mit sich zu Boden, während ein paar Geschosse über sie beide hinweggingen.

Die kleine Menschenansammlung, die sich am Ausgang des Friedhofs gebildet hatte, stob auseinander. Menschen schrieen laut um Hilfe, obwohl nur die wenigsten begriffen hatten, was wirklich vor sich ging.

Panik griff um sich.

Unterdessen rollte Jo Walker sich am Boden herum, brachte seine Automatic in Anschlag und feuerte ein paarmal in Richtung des Angreifers.

Eine der dunklen Fensterscheiben des Wagens ging zu Bruch, aber es war unmöglich für Jo zu beurteilen, ob er jemanden getroffen hatte oder nicht.

Von dem Fahrer sah er nichts.

Der geheimnisvolle Killer trat auf das Gaspedal. Reifen quietschten und er brauste davon.

Jo Walker sprang auf und legte die Automatic erneut an.

Aber er feuerte nicht.

Ein paar der in Panik geratenen Leute waren ihm in den Weg gelaufen.

Diese Narren! durchzuckte es Jo.

Aber da war wohl nichts mehr zu machen.

Es war zu gefährlich jetzt weiterzuschießen und so senkte er die Waffe.

Die in Panik Geratenen achteten nur auf Walker, denn die Schüsse seiner Automatic waren weithin zu hören.

Daß die Gefahr in Wahrheit aus dem dunklen Sportwagen gekommen war, der jetzt mit heulendem Motor davonraste und hinter der nächsten Ecke verschwand, davon hatten die meisten nichts gemerkt...

"Verdammt!" flüsterte Jo und steckte dann die Waffe wieder ein. Er wandte sich um.

"Ist Ihnen etwas passiert, Geraldine?" fragte er.

Aber sie schüttelte den Kopf und stand auf. Den dunklen Schleier, der bis dahin ihr Gesicht bedeckt hatte, hatte sie verloren und ihre Kleidung hatte ziemlich gelitten. Aber sonst schien alles okay.

"Mir geht's gut!" meinte sie erstaunlich gelassen.

Von Cummings konnte man das nicht sagen.

Der Polizist lag zusammengekrümmt auf dem Pflaster und rührte sich nicht mehr.

Jo beugte sich nieder und drehte den Polizisten ein Stück herum. Aber da war nichts mehr zu machen.

Er war tot.

Jo stand wieder auf und ging zu Brian Kostler, der am Boden saß und stöhnte. Aber er lebte offensichtlich noch.

"Lassen Sie mal sehen!" meinte Jo und sah sich die Wunde an. Es war ein Schuß in den Oberarm.

"Es wird ein bißchen wehtun, aber es ist nicht weiter schlimm!" meinte Jo. "Sie werden es überleben!"

"Sie können gut reden, Sie verdammter Bastard!" brachte er unterdrückt heraus.

"Brian!" fuhr Geraldine dazwischen. "Er hat uns wahrscheinlich das Leben gerettet!"

Brian verzog das Gesicht.

"Zu gütig!" zischte er.

"Brian, du bist unmöglich!"

Er spuckte aus.

"So, bin ich das?"

Und dabei blitzte es in seinen Augen giftig.

Geraldine wandte sich an Walker.

"Er ist jetzt wütend auf die ganze Welt, obwohl er froh sein sollte mit dem Leben davongekommen zu sein. Aber so ist er nun einmal. Ich hoffe, Sie nehmen es ihm nicht übel."

Jo schüttelte den Kopf.

"Natürlich nicht."

"Dann ist es ja gut."

"Ich werde jetzt zum Wagen gehen und einen Arzt rufen."


*


Es dauerte nicht lange bis der Notarzt zur Stelle war - und wenig später tauchte auch Rowland mit seinen Leuten auf.

Einige von ihnen schwärmten aus, um nach verschossenen Projektilen zu suchen, die der Killer aus seiner Schalldämpfer-Pistole verschossen hatte.

Brian war ins nächste Hospital gebracht worden. Die Kugel steckte noch und mußte herausgeschnitten werden.

Aber er würde bald wieder auf den Beinen sein, vielleicht würde man ihn heute nicht wieder entlassen.

Geraldine wirkte sehr ruhig. Erstaunlich ruhig, wenn man bedachte, was soeben geschehen war. Sie stand da und rauchte eine Zigarette.

Jo warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. Dann trat Rowland zu ihm heran.

Der Captain machte ein ratloses Gesicht und kratzte sich hinter den Ohren.

Jo hatte ihm in knappen Worten berichtet, was sich zugetragen hatte.

"Auf wen hatte der Kerl es abgesehen?" fragte Rowland.

Jo zuckte mit den Schultern.

"Jedenfalls wohl kaum auf den, den es letztendlich erwischt hat!"

"Sie sprechen von Cummings, nicht wahr?"

"Ja."

"Schlimme Sache. Er hatte seine Macken, aber er war ein prima Kerl, Jo! Und verdammt noch mal, so wahr ich hier stehe: Ich will den Kerl in die Finger kriegen, der Cummings auf dem Gewissen hat!"

"Cummings hatte Pech!" meinte Jo. "Als der Wagen auftauchte, griff er zur Waffe, und da hat der Kerl ihn niedergestreckt. Dann ging eine wilde Schießerei los, bevor er sich dann davonmachte."

"Was glauben Sie, wem die Sache gegolten hat? Brian Kostler vielleicht?"

"Schwer zu sagen, bevor wir nicht wissen, welches Motiv hinter dieser Serie steckt. Es muß einen Schlüssel zu allem geben, aber wir haben ihn noch nicht, Tom!"

Rowland wandte sich zu Geraldine.

"Was ist mit Ihnen, Miss Kostler?"

Sie blickte auf und schluckte.

Ihre Augen wirkten groß und traurig - und auch ein wenig in sich gekehrt.

"Warum sollte mich jemand umbringen wollen?" fragte Geraldine und machte dann eine hilflose Geste.

Rowland fuhr sich mit einer nervösen Geste über das Gesicht.

"Darüber sollten Sie mal etwas intensiver nachdenken, Miss!"

Geraldine hob den Kopf.

Ihr Gesicht war in diesem Augenblick fast bewegungslos. Der Blick ihrer großen Augen ging von Rowland zu Jo Walker.

"Ich glaube, Sie machen sich umsonst Sorgen, meine Herren!"

"Warum sind Sie sich da so sicher?" fragte Jo.

"Es gibt niemanden, der es auf mich abgesehen haben könnte. Ich habe keine Feinde, ich..."

Sie stockte und sah die Blicke beider Männer auf sich gerichtet. "Was ist?" fragte sie.

"Ich denke, daß Sie in Gefahr sind!" meinte Jo.

"Und ich denke, daß Sie sich irren, Walker! Ich werde Ihnen in den nächsten Tagen Ihr Honorar überweisen und dann ist diese Sache für Sie erledigt!"

Ihre Stimme klang eisig.

Und in Jos Kopf machte es klick!

Geraldine hatte gerade einen Mordanschlag überlebt, der aller Wahrscheinlichkeit nach ihr und sonst niemandem gegolten hatte.

Und genau in diesem Moment rückte sie von Walker ab, lehnte Hilfe ab, obwohl noch so gut wie nichts, was den Tod ihres Vaters betraf, wirklich aufgeklärt war.

Das ließ Jo zumindest stutzen, aber er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn jetzt legte Captain Rowland los.

"Wie steht es mit Ihrem Bruder, Miss Kostler..."

"Brian?"

"Ja, mein Kollege Cummings hat über ihn recherchiert. Er ist pleite und außerdem sind ein paar üble Schuldeneintreiber von der Westküste hinter ihm her. Er braucht also dringend Geld."

"Wer braucht das nicht!" versetzte Geraldine reserviert.

Geraldine ließ ihre Zigarette auf den Boden fallen und zertrat sie.

Anschließend blies sie den restlichen Rauch hinaus in die naßkalte Luft.

Dann meinte sie: "Brian war schon immer knapp bei Kasse. Er konnte eben nie mit Geld umgehen - aber bis jetzt hat er deshalb noch niemanden umgebracht... Darauf wollen Sie doch hinaus, oder? Vergessen Sie nicht, daß Brian selbst etwas abbekommen hat!"

Rowland nickte.

"Ja, aber das kann ein 'Unfall' gewesen sein."

"Aber..."

"Ihr Bruder könnte den Auftrag gegeben haben, oder etwa nicht?"

"Er hätte nie genug Geld gehabt, um einen Killer zu bezahlen."

"Vielleicht handelt es sich nicht um einen Profikiller, sondern um jemanden, dem er gewissermaßen eine Provision versprochen hat."

Geraldine wirkte nachdenklich.

"Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, Sir!"

Rowland zeigte Verständnis.

"Wir dürfen keine Möglichkeit außer Acht lassen. Brian Kostler könnte Ihren Vater umgebracht haben, um an sein Erbe heranzukommen. Aber vielleicht hat er keine Lust, es sich mit Ihnen zu teilen..."

Geraldine atmete tief durch.

"Um ehrlich zu sein, ich habe auch schon an diese Möglichkeit gedacht. Ich habe es kaum zu denken gewagt..." Sie schlug die Hände vor das Gesicht.

Jo konnte sich nicht helfen. Irgendwie erschien ihm diese Geste ein wenig übertrieben. Aber es war nur so ein unbestimmtes Gefühl, nicht mehr.

"Aber wie passen die anderen Morde da hinein, die doch offensichtlich von dem selben Killer durchgeführt wurden. Was hat Brian Kostler mit einem New Yorker Barbesitzer zu schaffen, der in großem Stil mit Crack dealt? Was könnte er mit Roy Brady zu tun haben? Ganz zu schweigen von Tony Maldini!" Jo Walker schüttelte energisch den Kopf. "Nein, vergiß es, Tom! Brian Kostler ist nicht unser Mann!"

"Da wäre ich mir nicht so sicher, Jo! Immerhin hatte er ein Motiv..."

Jo nickte.

"Ein Motiv für Larry Kostler, ja. Und auch für Geraldine. Aber was ist mit den anderen?"


*


Bridger trat das Gaspedal durch und brauste über die Straße. Er hörte das Hupen der anderen Autos nur am Rande. Was er tat, war gefährlich, aber es mußte sein.

Ein Wagen mit zerschossener Scheibe fiel auf.

Er mußte ihn so schnell wie möglich loswerden. Der Wagen war gestohlen, das Nummernschild gefälscht. Bridger hätte ihn ohnehin bald abstoßen müssen.

Er fuhr in eine Seitenstraße, stellte ihn ab, stieg aus und ließ ihn zurück.

Er blickte sich um.

Im Geiste hörte er bereits die Sirenen der Polizeiwagen, aber da kam niemand um die Ecke gefahren.

Innerlich verfluchte er sich dafür, daß er den Falschen getroffen hatte. Er würde es noch einmal probieren müssen. Daran führte kein Weg vorbei.

Aber da war dieser seltsam aussehende Mann mit dem Cowboyhut gewesen, der plötzlich eine Waffe hervorgeholt hatte...

In Bridgers Kopf arbeitete es.

Das konnte bedeuten, daß es sich um einen Polizisten handelte. Er ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Wenn dem wirklich so war, dann konnte es gefährlich für ihn werden.

Jeden Tag geschahen in einer Stadt wie New York Morde, die nie aufgeklärt wurden und irgendwann unter dem Aktenberg verschwanden.

Bandenmorde, Auftragstaten und so weiter...

Aber wenn es einen der Cops erwischte, das wußte Bridger, dann setzten die Kollegen alles daran, den Schuldigen zu finden!

Bridger hetzte voran, bog in eine weitere Nebenstraße ein, dann in noch eine und kam schließlich nach einer Viertelstunde in eine belebtere Gegend.

Plötzlich fühlte er ein Augenpaar auf sich gerichtet. Bridger hob den Kopf und sah eine Frau in den mittleren Jahren, die ihn intensiv anstarrte.

In den Händen hatte sie eine Einkaufstasche und als Bridger ihren angespannten Blick erwiderte, schluckte sie und blickte zur Seite.

Was glotzt die so? dachte Bridger und ging weiter.

Schließlich kam an eine U-Bahn-Station. Bridger fuhr wahllos ein paar Stationen und stieg wiederholt um. Wenn ihm doch jemand auf den Fersen war, dann sollte er es so schwer wie möglich haben.

Der Parka-Tasche fühlte er nach dem Griff der Pistole, die sich dort befand. Das gab ihm ein Gefühl der Sicherheit - wenn dieses Gefühl auch nicht sehr stark war.

Nicht den Kopf verlieren! hämmerte es in ihm. Nur nicht den Kopf verlieren.

Er war jetzt so weit gegangen, er würde auch noch das letzte Stück dieses Weges hinter sich bringen.

Bis er am Ziel war.

Am Ziel...

Es schien zum Greifen nahe!


*


Als Bridger in sein Hotel zurückkehrte und vom Portier den Schlüssel forderte, erwartete ihn eine unangenehme Überraschung.

Der Portier hatte wieder einmal gewechselt. Diesmal stand ein junger Mann mit fast schulterlangem Haar hinter dem Tresen. Er war es auch gewesen, der Bridger bedient hatte, als dieser sich vor ein paar Tagen hier einquartierte.

Der Langhaarige ging zum Schlüsselbrett.

Aber der Schlüssel mit Bridgers Nummer war nicht da.

"Vielleicht haben Sie ihn gar nicht abgegeben!" meinte der Langhaarige. Er hatte einen hispanischen Akzent, wie es Bridger schien.

"Ich habe ihn abgegeben. Ihrem Vorgänger."

Er zuckte mit den Schultern.

"Meine Schicht hat gerade erst begonnen, ich kann dazu nichts sagen."

Bridger wurde wütend.

Er war ohnehin schon gereizt genug. Seine Nerven waren fast zum Zerreißen gespannt.

Er packte den jungen Kerl am Kragen, der sich schon wieder herumgedreht hatte, um sich seiner Lektüre zuzuwenden und zog ihn halb über den Tresen.

"Hey, was soll das?"

"Ich bin schon ein paar Tage hier, mein Junge und ich weiß, daß deine Schicht bereits mehr als zwei Stunden geht!"

"Ich..."

"Hör zu! Ich will jetzt von dir wissen, ob es so ist, wie ich vermute!"

Ein unterdrückter, gurgelnder Laut kam aus dem Langhaarigen heraus, sein Gesicht verlor zusehend die Farbe, aber Bridger ließ nicht locker.

"Okay, okay..."

"Jemand hat dir ein paar Dollar gegeben und du hast ihm dafür den Schlüssel ausgehändigt. So ist es doch, oder?"

"Ja... Er sagte, sein Name sei Bridger..."

"...und jetzt wartet der Kerl dort oben auf mich, nicht wahr?"

Der Portier nickte leicht.

"Ja..."

Bridger ließ ihn los und stieß ihn zurück, so daß er gegen die Wand in seinem Rücken taumelte und ein paar Ordner vom Regal riß.

Bridger fühlte nach der Waffe in seiner Parkatasche und entsicherte sie. Ohne sich noch einmal nach dem Portier umzudrehen, ging er dann die Treppe hoch.

"Er sagte, er sei ein Freund von Ihnen, Mister!" krächzte der Portier.

Hoffentlich stimmt das auch! dachte Bridger.

Er blieb auf dem Absatz stehen und drehte sich dann um, nachdem er eine Sekunde lang gar nichts getan hatte.

"Schon gut!" brummte er. "Vergessen Sie's!"

"Okay, Sir!"

Ein paar Augenblicke danach stand Bridger dann vor der Tür seines Zimmers. Er zog die Waffe aus der Parka.

Wer zum Teufel konnte ihn hier aufgestöbert haben?

Es gab nur zwei Menschen, die wissen konnten, wo er sich befand. Und mit denen hatte er ausgemacht, daß sie ihn hier niemals aufsuchen würden!

Wenn es aber jemand anders war...

Bridger stieß die Tür auf und hatte seine Pistole schußbereit im Anschlag.

Im Zimmer war kaum Licht.

Es war sparsam eingerichtet und hatte außer dem großen Bett und dem Nachttisch keinerlei Einrichtungsgegenstände. Das Bad war auf dem Flur.

Bridgers Blick ging blitzartig durch den Raum und blieb dann bei der Gestalt hängen, die am Fenster im Halbdunkel stand.

Es war ein kleiner, etwas dicklicher Mann.

Bridger senkte seine Waffe, sein Gegenüber blieb völlig ruhig, gerade so als schien er kaum überrascht darüber zu sein, plötzlich einen Kerl mit Pistole im Anschlag durch die Tür stürmen zu sehen.

Der dicke Mann rauchte Zigarette und diese nahm er jetzt aus dem Mund.

"Tun Sie endlich das Ding weg!"

Bridger senkte die Waffe und schloß die Tür hinter sich. Dann machte er Licht.

"Ein effektvoller Auftritt, Mister Dickson! Aber was soll das Theater! Sie gefährden damit nur alles!"

"Hören Sie...", wollte der Mann am Fenster beginnen, aber Bridger schnitt ihm das Wort ab. Er versetzte der Tür einen wütenden Schlag mit der flachen Hand.

"Verdammt noch mal, was soll das, Dickson! Wir hatten doch abgemacht, daß es keinerlei Treffen zwischen uns geben soll! Und schon gar nicht, daß Sie mich hier aufsuchen!"

Dicksons blasses, aufgedunsenes Gesicht blieb fast völlig unbewegt.

Er kam einen Schritt vor und zuckte mit den Schultern.

"Wo wir schon bei effektvollen Auftritten sind, Follet... Sie stehen mir in dieser Hinsicht ja wohl nicht nach! Glauben Sie vielleicht, ich käme ohne Grund?"

Bridger runzelte die Stirn.

"Was soll das heißen?"

Arthur Dickson holte eine Zeitung unter dem Arm hervor und warf sie auf das Bett.

Bridger holte tief Luft.

"Vielleicht erklären Sie mir mal...

"Heute schon Zeitung gelesen?"

"Nein."

"Es ist ein schönes Bild von Ihnen drin!"

"Was?"

"Ja. Eine Phantomzeichnung. In der Regel ist auf solchen Dingern ja nicht allzuviel zu sehen, aber wegen Ihrer Narbe ist das in diesem Fall etwas anderes..."

"Aber...", Bridger stockte und schüttelte energisch den Kopf. "Das ist doch völlig unmöglich!"

"Jemand muß Sie gesehen haben, als Sie Brady erschossen haben!"

"Nein!"

"Stecken Sie nicht den Kopf in den Sand, Mann!"

Bridger dachte an die Frau, die ihn so angestarrt hatte. Es war ihm unmöglich gewesen, das richtig zu deuten, aber jetzt verstand er...

Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen!

Und er begriff auch, daß ihn bald noch mehr Menschen anstarren würden, wenn er sich auf der Straße zeigte.

"Wie ist es übrigens heute gelaufen?" hörte er dann Dickson fragen.

Bridger nahm es kaum wahr.


*


Sie hatten eine ganze Weile lang geschwiegen. Dickson wollte seinem Gegenüber etwas Zeit geben, um die neue Lage zu verarbeiten. Blieb nur zu hoffen, daß der Mann mit der Narbe auch die richtigen Konsequenzen zog.

"Wie geht es jetzt weiter?" fragte Dickson.

"Es war nicht meine Idee, auch den jungen Mister Kostler auszuschalten, Mister Dickson!"

"Ja, das stimmt. Und? Sie sind gescheitert!"

"Ja, so kann man es nennen. Da war jemand, der plötzlich eine Pistole herausriß. Was sollte ich machen?"

Dickson zuckte mit den Schultern.

"Jedenfalls steht fest, daß es jetzt noch mehr Stories in den Zeitungen über Sie geben wird, Narbengesicht! Die Sache mit Mr. Kostler werde ich erledigen müssen, auch wenn das für mich nicht ohne Risiko ist. Aber ich denke, aus der Rechnung der Polizei und dieses Privatdetektivs Walker bin längst heraus...

"Tun Sie, was Sie für richtig halten, Dickson!"

Dickson lachte freudlos.

"Nein, nicht, was ich für richtig halte, sondern was ich tun muß, um meine Zukunft zu sichern. Seit dieser Veruntreuungssache hat Miss Kostler mich quasi in der Hand und kann von mir verlangen, was sie will..."

"...und das wollen Sie nicht ewig mitmachen, nicht wahr?" Der Narbige nickte verständnisvoll. "Leuchtet mir ein. Es ist mir im Übrigen auch lieber, wenn ich um diese Sache nicht mehr zu kümmern brauche. Einer steht noch auf meiner Liste: O'Malley. Und wenn ich den erwischt habe, tauche ich endgültig unter."

Aber damit schien Dickson ganz und gar nicht einverstanden zu sein.

"Vergessen Sie O'Malley!"

"Was?"

Der Mann der sich Bridger nannte, runzelte die Stirn und starrte Arthur Dickson ungläubig an. Dann meinte er: "Ich kann O'Malley nicht vergessen! Ich kann ihn ebensowenig vergessen, wie ich die anderen vergessen konnte!" Er deutete auf seine Narbe und sein Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Maske. "Das hier wird mich mein Leben lang an diese Männer erinnern, Dickson! Bis ans Ende meiner Tage! Haben Sie mich verstanden!"

Dickson blieb ruhig, seine Stimme hatte einen eiskalten Klang, als er antwortete.

"Ich hoffe, Sie haben mich verstanden!"

"Ich werde die Sache zu Ende bringen, davon hält mich niemand ab!"

"Unter den gegebenen Umständen ist das zu gefährlich!" meinte Dickson. "Ihr Phantombild steht in den Zeitungen und wenn man Sie schnappt, dann hänge ich auch mit drin!"

"Das ist Ihr Problem, Dickson!"

"Ist das wirklich Ihr letztes Wort?"

"Ja."

"Bedenken Sie, wer Sie aus der psychiatrischen Anstalt geholt hat, wer Sie versorgt hat, bis Sie wieder in der Lage waren, einigermaßen klar zu denken, wer für Sie ausgekundschaftet hat, wo sich die Männer befinden, die Ihnen soviel angetan haben."

Bridger verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln.

"Ganz ohne Eigeninteresse war das ja schließlich nicht, Mister Dickson! Sie sind kein barmherziger Samariter!"

"Gewiß nicht! Aber das gilt nur für Larry Kostler!"

"Und bei Miss Geraldine Kostler! Sie stand schließlich nicht auf meiner Liste!"

"Sie wäre Ihnen aber früher oder später ebenso gefährlich geworden wie mir! Nicht nur wegen des Privatdetektivs, den sie engagiert hat..." Dickson machte eine Pause und musterte sein Gegenüber abschätzig. "Was ist nun, tauchen Sie unter?"

"Ich habe Ihnen bereits geantwortet. Ich tauche unter, wenn O'Malley tot ist."

Dickson zuckte mit den Schultern.

"Wie Sie wollen! Dann gibt es wohl keine andere Lösung. Tut mir Leid, aber ich muß zuerst an meine eigene Sicherheit denken!"

Dickson machte eine schnelle Bewegung.

Bridger begriff nicht gleich. Im letzten Moment sah er dann die Schalldämpfer-Pistole in der Hand seines Gegenübers.

Den Bruchteil einer Sekunde später blitzte ein grelles Mündungsfeuer. Ein dumpfes, häßliches Geräusch war zu hören, ein Geräusch, das Bridger nur zu gut kannte.

Bridger hatte nicht im Traum damit gerechnet, daß Dickson eine Waffe herausreißen und auf ihn schießen würde... Aber nun war es geschehen und so mußte sich Bridger blitzschnell zur Seite werfen.

Arthur Dickson war kein besonders guter Schütze, selbst auf diese kurze Entfernung nicht.

Der Schuß verfehlte Bridger knapp und schlug hinter ihm in die Wand, wo das Projektil ein Loch riß.

Bridger rollte sich am Boden herum, während eine weitere Kugel dich neben ihm in den Boden ging.

Dann hatte er seine eigene Waffe hochgerissen und augenblicklich abgefeuert... Arthur Dickson stieß einen unterdrückten Schrei aus und wurde nach hinten gerissen, so daß er gegen das Fenster prallte. Bridger hatte ihn mitten in der Brust erwischt und gab nun noch einen zweiten Schuß ab, der Dickson genau zwischen den Augen traf. Dickson war tot. Bridger atmete tief durch. Er hatte keine andere Wahl gehabt, aber nun fragte er sich, wie es weitergehen sollte. Zunächst einmal verschwinden! dachte er. Er konnte hier möglich bleiben, nachdem dies hier geschehen war.


*


Als Jo Walker das Chez nous betrat, herrschte dort Dämmerlicht. Es war nichts los in jener Bar, die Joel Gardener gehört hatte - einem der Namen, die zu der Liste von Mordopfern gehörten, die der Killer mit der Narbe offenbar auf dem Gewissen hatte.

"Hey, ist da jemand?" rief Jo.

Es mußte jemand da sein, denn die Tür war offen gewesen.

"Que quisiera, Senor?" war eine kehlige Frauenstimme zu hören.

Und dann bemerkte Jo eine schwarzhaarige junge Frau, die aus einer Nebentür trat, in der einen Hand einen Eimer mit Wasser, in der anderen einen Mob.

Hier war wohl Großreinemachen!

Die mexikanische Putzfrau sah ihn mißtrauisch an und dann kam auch noch ein Mann.

Es war ein riesiger, bärenhafter Kerl, der Jo mindestens um einen Kopf überragte. In seinem grausam wirkenden Gesicht stand ein struppiger, ungepflegter Schurrbart, das Doppelkinn war von Bartstoppeln übersäht.

Er zog die Ärmel seines Sweaters hoch, so daß seine muskulösen Unterarme mit allerlei martialischen Tätowierungen sichtbar wurden.

"Was wollen Sie, Mister!"

Es war im Grunde kaum noch eine Frage, die der Kerl da an Jo richtete, es war im Grunde schon ein halber Rausschmiß.

"Wie wär's mit einem Drink?" meinte Jo und stellte sich an den Schanktisch.

Sein Gegenüber rührte sich nicht, behielt Jo aber im Auge. Jede Bewegung des Privatdetektivs schien er genauestens zu registrieren.

Der Mann sah aus wie ein Rausschmeißer und vermutlich war das auch seine Hauptfunktion hier.

Jo hatte keine Lust, mit ihm aneinander zu geraten, aber wenn es doch dazu kam, mußte er auf alles gefaßt sein. In den Augen des Bären blitzte es angriffslustig.

Er verzog höhnisch den Mund.

"So.. einen Drink wollen Sie!"

"Ja, wenn' recht ist!"

"Es ist nicht recht!" zischte der Bär und das ließ Jo aufhorchen. "Sehen Sie nicht, daß hier kein Betrieb mehr ist?"

Jo ließ kurz den Blick durch den Raum schweifen und nickte dann.

"Ist doch ein ganz netter Laden, warum läuft er nicht mehr?"

"Sie stellen eine Menge Fragen, Mister..."

"Walker ist mein Name!"

"Wie immer Sie auch heißen mögen! Ich mag solche Neugier nicht! Da Sie nun ja gesehen haben, daß hier nichts mehr läuft, wäre es wohl das Beste, wenn Sie durch die Tür gehen und verschwinden!"

Aber Jo Walker blieb ungerührt und machte auch nicht die leisesten Anstalten, sich in Richtung Tür zu bewegen.

"Ihr Boss ist erschossen worden, nicht wahr? Und das ist auch der Grund, weshalb der Laden hier dichtmacht!" erklärte Walker ruhig und sachlich, während sein Gegenüber die Stirn in Falten legte.

Dann kniff der Bär die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und fixierte Jo mit einem feindseligen Blick.

"Was haben Sie damit zu tun, Mister?"

Er trat näher heran, seine Hände waren zu Fäusten geballt und seine Nasenflügel bebten. Walker wußte, daß es nun ernst werden konnte.

Er mußte auf der Hut sein.

"Sind Sie von der Polizei,...Walker?"

"Nein, ich bin Privatdetektiv."

"Ein schmieriger Schnüffler also..."

"Sie sollten Ihre Vorurteile mal ein bißchen überdenken..."

"Ich mag keine Schnüffler!" zischte der Bär. "Weder die mit einer Metallmarke noch die, die auf eigene Rechnung auf die Jagd gehen!"

Der Bär trat jetzt nahe an Jo heran und sah auf ihn herab.

Er roch unangenehm nach Schweiß, aber das war bei weitem nicht das Schlimmste an ihm.

Um seine Lippen spielte ein gemeines Lächeln...

"Was Sie jetzt vorhaben, sollten Sie lieber lassen! Sie werden es sonst bereuen", meinte Jo kühl.

Der Bär grinste.

Für den Bruchteil einer Sekunde hing alles in der Schwebe, aber dann ging es Schlag auf Schlag.

Der Kerl packte Walker brutal am Kragen und Jo sah bereits die geballte Faust auf sich zu rasen.

Ein Treffer mit einem solchen Hammer - und er würde eine ganze Weile nicht mehr bei Sinnen sein, vielleicht auch Schlimmeres.

Der Bär bleckte die Zähne wie ein Raubtier und seine Faust raste auf Walkers Gesicht zu...

Jo konnte im letzten Moment zur Seite weichen, obwohl sein Gegner ihn immer noch am Kragen hielt. Die Faust knallte gegen den Schanktisch. Der Bär stieß einen wütenden Schrei aus.

Für den Bruchteil eines Augenblicks war Jo Walkers Gegner handlungsunfähig und das nutzte der Privatdetektiv. Er setzte den Fuß neben das rechte Bein des Bären und hebelte ihn aus. Und ehe sich der Kerl versah, lag er dann auch schon auf den Brettern.

Jo sprang einen Schritt zur Seite, während er die Mexikanerin im Hintergrund einen Laut des Erschreckens ausstoßen hörte.

Der Bär kam wieder auf die Beine. Von seinen Augen konnte Jo in diesem Moment fast das Weiße sehen.

Er knurrte wie ein getretener Hund und schien noch nicht aufgeben zu wollen.

"Lassen Sie's gut sein Mann!" versuchte Jo zu beschwichtigen, aber dafür hatte sein Gegner jetzt keine offenen Ohren.

Jo wich einen weiteren Schritt zurück, während sein Gegenüber sich bückte und in den mittelhohen Schaft seiner Cowboy-Stiefel griff.

Eine Sekunde später hatte er ein Springmesser in der Rechten. Wie die Zunge einer giftigen Klapperschlange zuckte die Klinge heraus, als der Kerl mit einem bösen Grinsen auf den Lippen näher an Jo herankam.

Jo erwog, seine Automatic zu ziehen, aber das konnte auch ins Auge gehen...

Wenn er nicht schnell genug war, würde sein Gegner das Messer vielleicht schleudern. Und je nachdem wie gut er darin war, steckte es dann einen Sekundenbruchteil später in Jos Körper.

Jo wollte es dennoch versuchen.

Dieser unsinnige Kampf mußte so schnell wie möglich beendet werden!

Aber als er zum Schulterholster greifen wollte, schnellte der Bär vor und Jo mußte der scharfen Klinge erst einmal ausweichen. Es pfiff, als der Bär damit wie wild in der Luft herumschnitt und dann auf Jo zustieß.

Es war ein mörderischer Stoß, aber Jo war auf der Hut. Er packte den Messerarm seines Gegenübers und hebelte ihn herum.

Der Bär stieß einen markerschütternden Schrei aus, während das Messer auf den Boden fiel.

Jo ließ seinem Gegner diesmal keine Sekunde, um zu verschnaufen, sondern verpaßte ihm einen Augenaufschlag später einen wohlplatzierten Haken, der den Bären noch hinten torkeln ließ.

Der Bär taumelte gegen den Schanktisch und rutschte dann an diesem zu Boden.

Als er dann hochblickte, sah und die erste Benommenheit abgeschüttelt hatte, blickte er direkt in den Lauf von Jo Walkers Automatic.


*


"Schön ruhig!" warnte Jo, während er die Automatic noch immer auf sein Gegenüber gerichtet hielt.

Der Bär fletschte die Zähne, aber es erschien ihm im Moment wohl nicht ratsam, etwas zu unternehmen.

"Was wollen Sie?" keuchte er, während er sich die rechte Schulter hielt.

"Antworten auf ein paar Fragen, das sagte ich doch bereits!"

"Ich brauche einen Arzt!"

"Erst unterhalten wir uns!"

"Sie haben mir den Arm ausgekugelt!"

Jo konnte da nur müde lächeln.

"Wenn Sie mich mit Ihrem Messer aufgeschlitzt hätten, wäre wohl jeder Arzt zu spät gekommen!" murmelte der Privatdetektiv, währen der Bär schluckte.

Jo bewegte den Lauf der Automatic hin und her.

"Kommen Sie hoch! Und dann schlage ich vor, daß wir uns einen Drink genehmigen!"

Der Bär kam wieder auf die Beine und stützte sich am Schanktisch auf.

"Es ist nichts mehr da!" meinte er. "Sämtliche Getränkevorräte wurden bereits abgeholt!"

"Dieser Laden hat wohl nie besonders viel Gewinn abgeworfen, was?" meinte Jo. Er deutete mit einer Handbewegung durch den Raum. "Die Einrichtung ist doch schon mindestens zwanzig Jahre alt! Und wenn ich die uralten Music-Boxen dahinten sehe, dann kommen mir die Tränen... Ich glaube nicht, daß man damit genug Leute hinter dem Ofen hervorlocken kann."

"Glauben Sie, was Sie wollen!" schimpfte der Bär.

"Ein Laden, der keinen Gewinn abwirft. Sieht ganz nach einer Art Tarnung aus! Eine Tarnung für andere Geschäfte..."

"Was soll das? Wovon sprechen Sie?"

"Von Crack zum Beispiel!"

Trotz seines ausgekugelten Armes wollte der Bär nach vorne springen, aber im letzten Moment besann er sich.

"Was wollen Sie, Mister Walker? Für wen arbeiten Sie?"

Jo steckte seine Automatic ein.

"Der Mann, der Ihren Boss umgebracht hat, hat auch noch ein paar andere auf dem Gewissen. Perry Crawford, Jack McCarthy, Ray Gregor, Tony Maldini, Roy Brady und Larry Kostler. Ein paar dieser Namen dürften Ihnen wohl auch ein Begriff sein!"

"Ich habe in der Zeitung davon gelesen!" wich der Bär aus.

"Sie werden noch einiges gehört haben! Sie waren hier Rausschmeißer, nicht wahr?"

Er hob die Augenbrauen und grinste häßlich.

"Wie kommen Sie darauf, Walker?"

"Man sieht es Ihnen irgendwie an!"

"So?"

"Sie sind einer von der Sorte, der es Spaß machen, wenn Sie ihre Faust in der Magengrube eines anderen spüren..."

"Jedem das seine, Walker!"

"Es geht auch nicht um Sie! Ich bin hinter diesem Killer her. Er hat eine Narbe auf der rechten Gesichtshälfte, die nicht zu übersehen ist."

Jo sah sein Gegenüber tief durchatmen.

"Ich kenne niemanden, der so aussieht, wenn Sie darauf hinauswollen, Walker!"

Er sagte das sehr schnell dahin, so daß es auf Jo den Eindruck machte, als hätte er seinen Widerstand noch immer nicht völlig aufgegeben.

Jo wandte sich an die Mexikanerin, was der Bär mit einem mißtrauischen Blick quittierte.

"Verstehen Sie mich?" fragte Jo.

Die Mexikanerin nickte etwas zögernd warf dann einen unsicheren Blick zu dem Bären hin, so als wollte sie in seinem Gesicht ablesen, wie sie reagieren sollte.

"Comprendo", sagte sie dann. "Ich verstehe... ein bißchen. Nicht sehr gut verstehen, Senor! Noch nicht lange hier..." Sie wich noch einen Schritt zurück.

"Policia?" fragte sie.

Jo begriff sofort.

Sie war illegal in den Staaten.

Und sie hatte verständlicherweise keine Lust, in irgendeiner Form mit den Behörden zusammenzutreffen - wegen welcher Angelegenheit auch immer. Und wenn es nur wegen einer Zeugenaussage vor Gericht war.

Jo schüttelte also den Kopf.

"Nein", sagte er. "Keine Policia."

"Du hältst deine Klappe, Teresa!" fauchte der Bär. "Kapiert?"

"Halten Sie lieber die Ihre, wenn Sie nicht wollen, daß ich Sie Ihnen poliere!" versetzte Jo, wobei er den Kopf nur zur Hälfte zu dem Bären hinwandte. Der Kerl schien die Abreibung noch nicht so recht verdaut zu haben, die er vor wenigen Augenblicken hatte einstecken müssen.

Dann machte Jo noch zwei Schritte auf die Mexikanerin zu.

"Kennen Sie einen Mann mit einer solchen Narbe?" Und dabei fuhr Jo sich mit dem Zeigefinger in entsprechender Weise über das Gesicht. Selbst wenn sie kein Wort Englisch verstanden hätte, wäre so wohl klargeworden, was gemeint war.

Sie schluckte und schwieg.

Und dabei griff ihre Hand an den Hals und spielte mit einem kleinen vergoldeten Kreuz herum.

In ihren dunklen Augen lag Furcht.

Sie schien noch nicht entschieden zu haben, ob sie Jo helfen sollte oder nicht.

"Ich habe zugehört, was Sie eben gesagt haben", sagte sie dann akzentbeladen und bedächtig nach jedem Wort suchend. "Ist dieser Mann wirklich ein Mörder?"

"Sehr wahrscheinlich, ja. Er hat sechs Menschen getötet und wird vielleicht noch weitere umbringen!"

Sie schluckte erneut.

Jo sah, wie es in ihrem Inneren arbeitete und er war sich jetzt ziemlich sicher, daß sie irgendetwas wußte, was mit dieser Sache in Zusammenhang stand.

Jo trat zu ihr hin und faßte sie bei den Schultern. Sie hatte eine Gänsehaut.

"Sie brauchen keine Angst zu haben!" erklärte Jo, obwohl er sich da gar nicht so sicher.

Als die Mexikanerin dann zu ihm aufblickte, sagte sie mit fester Stimme: "Ich habe ihn gesehen!"

Jo horchte auf.

"Den Kerl mit der Narbe?" vergewisserte er sich.

Sie nickte.

"Ja."

"Wann?"

"Er kam hierher", begann sie. "Es ist vielleicht eine Woche her und es war so wie heute. Noch nichts los. Ich war am Putzen."

"Was wollte er?"

"Ich weiß es nicht. Er hat sich umgesehen."

"Das ist alles?"

"Dann hat er sich nach Mr. Gardener erkundigt."

"Und?"

"Er war nicht da. Er ist dann wieder gegangen."

"Gut", meinte Jo und drehte sich um. Mehr war hier wohl nicht herauszuholen.

Jo sah das Messer auf dem Boden liegen und er sah auch, daß der Rausschmeißer wie gebannt dorthin starrte. Er hatte es bis jetzt nicht gewagt, danach zu greifen, weil er wußte, daß er nicht schnell genug sein würde...

Aber wenn Jo am Ausgang angekommen war, würde das eine andere Situation sein...

Und genau das schien auch in seinem Kopf herumzuspuken.

Jo blieb bei dem Messer stehen und kickte es dann über den glattgebohnerten Boden in die andere Ecke des Raumes. Es verschwand irgendwo zwischen Tischbeinen.

Dann ging Jo weiter in Richtung Ausgang.


*


Etwas mußte es doch geben! dachte Jo mit einem Anflug von Verzweifelung. Etwas, daß alle Ermordeten miteinander verband - und das diesem geheimnisvollen Killer ein Motiv gab, einen nach dem anderen von ihnen umzubringen.

Jos nächstes Ziel war das Penthouse von Mrs. Gregor, der Witwe des ermordeten Söldnervermittlers und Waffenhändlers.

Zunächst war sie mißtrauisch und ließ ihn draußen vor der Tür an der Sprechanlage warten.

Aber Jo konnte sie davon überzeugen, daß es vielleicht auch in ihrem Sinne war, den Mann zu fassen, der Ray Gregor umgebracht hatte.

"Gut", meinte Mrs Gregor. "Ich werde Sie hereinlassen."

Wenig später stand ihm eine etwa vierzigjährige, kräftig gebaute Frau gegenüber, die ihn freundlich hereinbat. Der Wohnungseinrichtung nach konnten Ray Gregors dunkle Geschäfte nicht allzu schlecht gegangen sein.

"Ich habe von Ihnen gehört, Mister Walker!" meinte Mrs. Gregor und bot Jo einen Sessel im Wohnzimmer an, den der Privatdetektiv gerne annahm.

"Ich hoffe, Sie haben nur Gutes gehört, Mrs. Gregor!" gab Jo zurück.

"Sie sollen gut sein, vielleicht sogar der Beste. Jedenfalls haben Sie einen guten Ruf, was Ihren Job angeht!"

"Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, wer hinter dem Mord an Ihrem Mann stecken könnte?" fragte Jo.

Sie schüttelte den Kopf.

"Die Polizei kommt nicht recht voran. Aber Sie können ja auch Ihr Glück versuchen, Walker. Und vielleicht haben Sie mehr davon."

"Ich werde es dringend brauchen..."

Und dann fiel Jo Walkers Blick auf ein Foto an der Wand und er stutzte.

"Was ist los, Mister Walker?"

"Das Foto dort..."

Jo war sich sicher, daß es das gleiche Foto war, das er bereits in der Wohnung von Brady gesehen hatte.

"Mein Mann war in der Army..."

"In Vietnam?"

"Ja. Wie kommen Sie darauf?"

Jo zuckte mit den Schultern.

"Nur so. Es könnte von seinem Alter her zutreffen."

"Er kam damals mit einem kleinen Vermögen zurück. Das war sein Startkapital... Ich habe ihn kurz danach kennen gelernt."

Jo runzelte die Stirn.

"Ich kenne eine Menge Leute, die etwas dagelassen haben ", meinte Jo dann. "Arme und Beine zum Beispiel. Aber das einer mit einem Haufen Geld zurückkommt... Das ist schon bemerkenswert, oder?" Jo deutete auf das Bild. "Kann ich es mal sehen?"

"Ja, natürlich."

Sie nahm es von der Wand und reichte es Jo, der es sich zum ersten Mal mit wirklicher Aufmerksamkeit ansah.

Und dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag!

"Kann ich mal telefonieren?" fragte er.


*


Als Jo in sein Büro in der 5th Avenue zurückkehrte, wartete April mit einer Neuigkeit auf.

"Rowland hat angerufen."

"Und?"

"Arthur Dickson wurde tot in einem Hotelzimmer aufgefunden. Nach Angaben des Portiers trug der Mann, der das Zimmer gemietet hatte, den Namen Bridger und hatte eine Narbe auf der rechten Gesichtshälfte..."

"Wo ist dieser Bridger jetzt?"

"Untergetaucht. Rowland meinte, es hätte ausgesehen, wie nach einem Kampf. Die beiden scheinen sich über irgendetwas uneins gewesen zu sein. Dickson hatte auch eine Waffe dabei - und hat ebenfalls geschossen..."

"...aber allem Anschein nach wohl nicht getroffen, was?"

"Nein, so sieht es aus. Was kann das zu bedeuten haben, Jo?"

Walker zuckte mit den Schultern und meinte dann: "Vielleicht steckten dieses Narbengesicht und Dickson irgendwie unter einer Decke... Und dann kam es zu Meinungsverschiedenheiten. Vielleicht wollte einer von ihnen aus dem Spiel aussteigen, das da im Gange ist..."

"Rowland meinte, ob du dir den Tatort mal ansehen möchtest, Jo!"

Aber Walker schüttelte den Kopf.

"Nein, im Moment gibt es Wichtigeres?"

"Wichtigeres? Was meinst du damit?"

"Vielleicht können wir ein Menschenleben retten, April! Wenn wir schnell genug sind und uns unsere grauen Zellen nicht im Stich lassen!"

April wirkte verwirrt.

"Ich begreife kein Wort, Jo!" meinte sie und zog einen Schmollmund.

"Einen Augenblick!"

Er legte seinen Mantel zur Seite und wandte sich dann wieder an April. Dann griff Jo in die Innentasche seines Jacketts und hielt ihr dann ein Foto unter die Nase. Es war schwarzweiß und machte den Eindruck, schon uralt zu sein.

"Hier!" meinte Jo. "Es gibt jede Menge Arbeit!"


*


April hatte noch immer nichts verstanden, aber das war auch nicht weiter verwunderlich. Jo erklärte ihr knapp, worum es ging.

"Schau dir die Männer auf dem Foto mal genau an..."

"Ein paar Soldaten... Sieht schon etwas älter aus? Vietnam?"

"Richtig, Vietnam. Erkennst du keinen der Kerle wieder?"

Sie starrte noch einmal hin und schüttelte dann den Kopf.

"Nein."

"Dann dreh das Bild mal um. Da sind die Namen derer notiert, die hier zu sehen sind."

"'Von links nach rechts: Tony Maldini, Roy Brady, Joel Gardner, Paul Thorrell, Jack McCarthy, Ray Gregor, Luke O'Malley und Sam Berringer.'", murmelte April. "Aber das sind doch..."

Jo nickte.

"Genau. Alle Opfer haben gemeinsam, daß sie offensichtlich in Vietnam in derselben Einheit gedient haben. Nur zwei von ihnen sind noch am Leben."

"Berringer und O'Malley!"

"Ja. Es würde mich nicht wundern, wenn einer von ihnen das nächste Opfer werden würde..."

"Aber, was sollte dahinterstecken?"

Jo zuckte mit den Schultern.

"Vielleicht Rache? Möglicherweise ist dort damals etwas geschehen, von dem wir bis jetzt noch keine Ahnung haben... Ich weiß es nicht. Und ich habe auch keine Ahnung wie Dickson und der mißglückte Anschlag am Friedhof in diese Sache hineinpassen."

April Bondy atmete tief durch.

"Okay, Jo! Dann verrate mir mal, wie es jetzt weitergehen soll!"

"Wir werden ein bißchen telefonieren müssen!" meinte er. "Wenn sich O'Malley oder Berringer auftreiben lassen, können die uns vielleicht ein paar wertvolle Antworten geben!"


*


Zwei Stunden später saß Jo Walker wieder hinter dem Steuer seines 500 SL und befand sich auf dem Weg nach Newark.

In Newark wohnte Luke O'Malley.

Von Sam Berringer war nicht viel in Erfahrung zu bringen gewesen. Ein fester Wohnsitz war von ihm nicht bekannt, aber vielleicht hatte er aus irgendeinem Grund seine Identität ebenso ändern müssen wie Larry Kostler, der ja als Paul Thorrell geboren worden war...

Luke O'Malley wohnte in einem schmucken Bungalow in den Außenbezirken von Newark. Im Telefonbuch stand er als Inhaber einer Schule für Sportschützen verzeichnet.

Für nähere Erkundigungen war keine Zeit geblieben. April kümmerte sich weiter darum. Aber bis jetzt gab es keinerlei Anzeichen, die darauf hindeuteten, daß Berringer aus dem Dunstkreis um den toten Maldini stammte.

Als Jo Walker O’Malleys Haus erreichte, stellte er den Wagen ab, sprang über den kniehohen Gartenzaun und lief zur Haustür.

Als er sah, daß die Haustüre aufgebrochen war und Spalt offen stand, ging Jos Rechte zur Automatic. Er nahm die Waffe in die Hand und lud sie durch.

Vielleicht bin ich schon zu spät! durchfuhr es ihn.

Mit dem Lauf der Automatic stieß Jo sehr vorsichtig die Tür ein wenig weiter auf.

Nichts bewegte sich.

Er ging hinein, sicherte sich sorgfältig ab und kam auf diese Weise durch den Flur.

Irgendwo in einem der Nachbarräume hörte Jo dann ein Geräusch...

Jo stürmte vorwärts, trat eine Tür ein und war dann in einer geräumigen Küche. Aber dort war niemand. Jo lief zurück, erreichte das Wohnzimmer und blickte schon in der nächsten Sekunde in die Mündung eines Schalldämpfers.

Ein Mündungsfeuer blitzte auf.

Jo Walker warf sich blitzschnell zur Seite und feuerte noch im Fallen einen Schuß zurück, bevor er dann hinter einem dicken Ledersessel zu Boden kam.

Zwei, drei Schüsse peitschten dicht hintereinander in den Sessel hinein und zerfetzten das dicke Leder. Jo mußte den Kopf einziehen.

Als er dann wieder aus seiner notdürftigen Deckung hervortauchen konnte, sah er, wie sich sein Gegenüber durch die Glastür stürzte, die hinaus in den Garten führte. Sein Gesicht schützte der Mann mit den Händen, aber er verletzte sich dennoch.

Dann war er hinaus und Jo sprang auf und folgte ihm augenblicklich.

"Stehen bleiben!" rief der Privatdetektiv. Aber dafür erntete er nur einen gezielten Schuß, den der Flüchtende abgefeuert hatte.

Das Projektil pfiff Jo unangenehm um die Ohren und dann kam gleich noch ein zweiter Schuß.

Jo warf sich auf den gepflegten Rasen, rollte sich ab und ließ dann seine Automatic krachen. Der Flüchtende stieß einen unterdrückten Laut aus, der halb Schmerzensschrei, halb Ausdruck unbändiger Wut war.

Er griff sich ans Bein, versuchte weiter davonzulaufen und humpelte noch ein paar Schritte in Richtung des Nachbargrundstücks.

Dann strauchelte er.

Er fluchte lautstark, aber bevor er seine Waffe hochreißen und abfeuern konnte, war Jo Walker bei ihm und hielt ihm die Automatic unter die Nase.

"Schön fallen lassen!" befahl Jo.

Sein Gegenüber atmete tief durch.

Jo blickte in ein Gesicht, dessen rechte Seite von einer Narbe entstellt war. Kein Zweifel, dies war jener Killer, der Kostler, Maldini und all die anderen auf dem Foto auf dem Gewissen hatte.

In den Augen des Narbengesichts loderte ein gefährliches Feuer. Noch hatte er den Griff um seine Waffe nicht gelockert, noch hing alles in einer unangenehmen Schwebe...

Der Mann war wie zur Salzsäule erstarrt und blickte Jo mit großen Augen an.

Für einen quälend langen Augenblick geschah überhaupt nichts, dann erschlaffte sein rechter Arm und er ließ die Waffe sinken, bevor er sie dann auf den Rasen legte.

"Okay!" preßte er zwischen den dünnen Lippen hindurch. "Sie haben gewonnen..."

Jo Walkers Blick klebte förmlich am Gesicht des Killers.

"Was gaffen Sie so, Mister? Noch nie einen Mann mit Narbe gesehen?"

Jo schüttelte den Kopf.

"Darum geht es nicht..."

"Worum dann!"

"Wegen der Narbe habe ich Sie nicht sofort erkannt. Außerdem sind Sie mehr als zwei Jahrzehnte älter geworden."

"Was soll das? Wir haben uns nie gesehen..."

"Ich Sie schon! Auf einem Foto! Nicht besonders gut und auch schon ziemlich angegilbt! Sie sind Sam Berringer, nicht wahr?"

Einen Moment lang zögerte er, aber dann nickte er doch.

"Ja", sagte er gepreßt und faßte sich dabei an den Unterschenkel, an dem Jos Schuß ihn getroffen hatte. "Ja, ich bin Sam Berringer!"

Jo bückte sich und hob Berringers Schalldämpferpistole auf, indem er den Finger durch den Abzugbügel steckte. Die Waffe war schließlich ein Beweisstück und da wollte er keine Fingerabdrücke verwischen.

"Wo ist Luke O'Malley?"

Berringers Gesicht bekam etwas Stures, Verbissenes. Er wirkte wie versteinert und so fragte Jo. "Ist er tot?"

Berringer nickte leicht.

Und nach einem Augenblick des Schweigens fügte er dann hinzu: "Ich habe ihn ins Badezimmer gebracht!"


*


Nachdem Jo Walker den verletzten Berringer zurück in O'Malleys Wohnzimmer gebracht hatte, griff er zum Telefon, um die Polizei und einen Arzt zu rufen.

Es würde etwas dauern, bis die Beamten eintreffen würden. So blieb Jo etwas Zeit, um sich mit Sam Berringer zu unterhalten.

"Warum?" fragte Walker. "Warum all die Morde? Maldini, Gardner, McCarthy, Brady, Gregor, Kostler..."

"Thorrell!" korrigierte Berringer. "Sein wirklicher Name ist Paul Thorrell."

Jo nickte.

"Ich weiß."

So etwas wie ein Lächeln ging dann plötzlich über sein Gesicht.

"Was wissen Sie noch?" fragte er.

"Daß Sie alle in Uniform auf einem Foto zu sehen sind... in Vietnam!"

Berringer nickte.

"Ja, dort hat alles angefangen..." Er zuckte mit den Schultern und wirkte jetzt in sich gekehrt und gelöst. "Und jetzt ist es zu Ende. "Ich kann Ihnen also ruhig alles erzählen. All die Jahre habe ich meine Rache gelebt! Der Gedanke an Rache war es, der mich überhaupt am Leben hielt, so scheint es mir jetzt manchmal..."


*


Es war am nächsten Morgen, als Jo Walker Geraldine Kostler aufsuchte.

Geraldine sah ihn zunächst etwas erstaunt an, dann begann sie sich ein paarmal zu entschuldigen und führte ihn ins Wohnzimmer.

"Ich habe mich unmöglich benommen!" meinte sie. "Verstehen Sie mich nicht falsch, aber... Da auf dem Friedhof... ich war so durcheinander, so verrückt vor Schmerz. Ich wollte einfach, daß diese Geschichte zu einem Ende kommt und deshalb habe ich Sie gebeten, die Sache nicht weiter zu verfolgen... Es war dumm von mir..."

"Schon gut", meinte Jo. "Ist Brian nicht da?"

"Doch. Aber er schläft noch. Er hat wieder unmäßig getrunken. Vor dem Mittag wird ihn nichts aufwecken können. Wollen Sie mit ihm sprechen?"

"Nein. Ich bin hier, weil ich meinen Job jetzt erledigt habe..."

Sie runzelte die Stirn.

"Sie meinen..."

"Sie haben mir den Auftrag gegeben, den Mörder Ihres Vaters zu finden. Das ist geschehen. Sein Name ist Sam Berringer und er war sehr redselig. Er hat alles gestanden und ist hinter Schloß und Riegel."

Jo entging die Veränderung nicht, die in Geraldines Gesicht vor sich ging, als der Name Berringer fiel.

"So...", meinte sie und atmete tief durch. "Dann hat dieser ganze Spuk ja endlich ein Ende."

"Sie scheinen nicht gerade sehr erfreut darüber zu sein, daß Berringer gefaßt ist..."

Sie errötete und schluckte.

Und dann machte sie eine hilflose Geste mit der Hand.

"Sie täuschen sich, Mister Walker!" Sie schwieg einen Augenblick, setzte einmal vergeblich an und fragte schließlich: "Warum hat dieser Berringer meinen Vater umgebracht?"

Jo holte das Foto aus der Innentasche seiner Jacke, das Ray Gregors Witwe ihm überlassen hatte und zeigte es ihr.

"Vor vielen Jahren war Ihr Vater bei einer Einheit in Vietnam, zu der auch alle übrigen Ermordeten gehörten. Maldini, Brady, McCarthy und so weiter. Diejenigen von ihnen, denen Sie schon begegnet sind, werden Sie leicht auf dem Bild identifizieren können. Sam Berringer war auch bei dieser Einheit. Die Narbe hatte er damals noch nicht... Alle, die hier zu sehen sind - unter ihnen Ihr Vater Paul Thorrell alias Larry Kostler bildeten eine Gruppe, die ein illegales Geschäft mit Armeezubehör betrieben, das sie vorwiegend an die Unterwelt von Saigon verscherbelten. Vornehmlich dürfte es um Munition und leichte Handfeuerwaffen gegangen sein. Sam Berringer wollte dann irgendwann aus der Sache aussteigen, aber das wollten seine Komplizen nicht zulassen. Sie brachten ihn in den Dschungel und schossen ihn mit einem halben Dutzend Kugeln nieder und machten sich dann davon."

"Das glaube ich nicht!" entfuhr es Geraldine. Aber ihre Aufregung schien irgendwie gespielt.

"Ach, nein?" meinte Jo. "Ich bin überzeugt davon, daß Sie davon gewußt haben, Geraldine!"

"Das stimmt nicht!"

Jo zuckte die Achseln.

"Dann wollen Sie sicher wissen, wie die Sache weiterging..."

Jo erntete von Geraldine einen eisigen Blick, aber der Privatdetektiv ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern fuhr ungerührt fort: "Es grenzt an ein Wunder, aber Berringer überlebte. Sie sehen die Narbe an seinem Kopf. Sie stammt von einer der Kugeln, die man ihm damals verpaßt hat. Er wurde von Bauern gefunden und ins nächste Dorf gebracht. Sie haben ihn eine Weile gepflegt, dann kamen die Vietcong und er hat Jahre in verschiedenen Lagern zugebracht... Als er dann endlich zurück in die Staaten kam, war sein Inneres ebenso zerstört wie sein Gesicht. Er wurde in eine Heilanstalt eingewiesen, bis ein gewisser Mister Dickson auftauchte... Aber das ist Ihnen ja bekannt, Geraldine, nicht wahr?"

Sie verzog das Gesicht und ging unruhig im Wohnzimmer hin und her.

"Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Mister Walker!"

"Das glaube ich schon, Miss Kostler! Schließlich haben Sie Dickson damit beauftragt, Berringer aus der Heilanstalt zu bekommen, was ihm schließlich ja auch gelungen ist."

Sie zeigte ihre strahlend weißen Zähne und machte auf Jo einmal einen gefährlichen Eindruck. Wie eine Raubkatze wirkte sie in diesem Moment - eine Raubkatze, die in die Enge getrieben worden war...

"Warum sollte ich so etwas tun?" fragte sie dann plötzlich. "Was hätte das für einen Sinn?"

"Sie hatten den Plan, Ihren Vater zu ermorden, um endlich an sein Vermögen zu kommen... Aber dabei wollten Sie sich nicht die Hände schmutzig machen. Also brauchten Sie ein paar willfährige Werkzeuge. Dickson war Ihr Werkzeug, weil Sie ihn wegen seiner Veruntreuung in der Hand hatten. Berringer wurde Ihr Werkzeug, weil Sie und Dickson ihm die Möglichkeit boten, seine Rache zu vollenden... Ihren Vater hätte er zum Beispiel schon allein auf Grund seiner geänderten Identität nie gefunden. Darüber hinaus sollte Berringer noch einen Batzen Geld dafür bekommen, jemandem umzubringen, an dem er sich nicht rächen wollte."

"Wer sollte das gewesen sein, Walker?"

Ihre Stimme klang bereits ein wenig resigniert.

Wie eine Katze bewegte Geraldine sich auf einen dunklen Mahagonischrank zu.

"Niemand anderes als Ihr Bruder Brian! Der Anschlag am Friedhof galt nämlich nicht Ihnen, sondern ihm. Sie hatten keine Lust, Ihre Erbschaft mit einem notorischen Taugenichts zu teilen, Geraldine!"

"Was Sie nicht sagen, Jo!"

"Fragt sich nur, weshalb Sie mich engagiert haben! Wahrscheinlich, um sich gänzlich außer Verdacht zu bringen und den Anschein zu erwecken, als liege Ihnen etwas daran, den Mörder Ihres Vaters zu fassen! Als ich der Sache dann tatsächlich - wider Erwarten - auf die Spur kam, wollten Sie mich dann billig abspeisen..."

"Eine tolle Geschichte haben Sie sich da zusammengereimt, Jo Walker!"

"Es tut mir leid, aber es ist keine Geschichte, Geraldine! Es ist die Wahrheit, sie wird sich auch beweisen lassen. Das Personal des Sanatoriums wird sich an Dickson erinnern und Sie..."

"Hören Sie auf, Walker!" rief sie dann und hatte mit einer blitzschnellen Bewegung eine Schublade aufgerissen.

In der nächsten Sekunde befand sich ein Revolver in ihren schlanken Fingern.

Jo blieb ruhig und machte einen Schritt auf sie zu.

"Stehen bleiben! Keinen Schritt weiter!"

"Wollen Sie mich jetzt erschießen, Geraldine?"

Sie zuckte mit den Schultern.

"Warum nicht? Oder wissen Sie einen anderen Weg, um zu verhindern, daß Sie mit Ihrem Wissen hausieren gehen? Unglücklicherweise sind Sie mir auf die Schliche gekommen. Sie lassen mir keine andere Wahl!"

"Überlegen Sie gut, was Sie tun, Geraldine!"

Sie grinste.

"Ich könnte Ihnen Geld anbieten."

"Ich bin nicht käuflich!"

"Das sagen alle! Die Wahrheit ist, daß die Summe hoch genug sein muß! Aber es würde nie aufhören! Ich wäre bis an mein Lebensende in der Hand eines anderen..."

"So, wie Dickson in Ihrer Hand war!"

"Richtig."

Jo kam etwas näher an sie heran, aber dann erstarrte er mitten in der Bewegung.

Sie hob die Waffe und spannte den Hahn.

"Sie werden nicht weit kommen, Geraldine!"

Ihr Mund verzog sich höhnisch, während Jo sehen konnte, wie sich ihr Zeigefinger anspannte.

"Sagen Sie mir einen vernünftigen Grund, weshalb das so sein sollte, Walker!"

"Weil draußen Captain Rowland mit seinen Männern wartet."

Für den Bruchteil einer Sekunde schien sie verunsichert und diese kurze Zeit nutzte Jo Walker, indem er nach vorne schnellte, ihren Unterarm packte und in die Höhe riß.

Ein Schuß löste sich aus dem Revolver und ging in die Decke.

Dann hatte Jo ihr die Waffe entrissen.

"Ihr Spiel ist aus, Geraldine!" erklärte er.


*


Es dauerte nicht lange und Rowland tauchte mit seinen Leuten auf.

"Der Schuß war draußen zu hören!" meinte der Captain und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Da habe ich mir Sorgen gemacht, Jo!"

Jo lächelte dünn.

"Das ist aber nett von dir, Tom!"

Mit den Augenwinkeln bemerkte Jo, wie Geraldine Kostler abgeführt wurde und ihm dabei einen vernichtenden Blick zuwarf.

Dann drang plötzlich Rowlands Stimme wieder in sein Bewußtsein.

"Ich hatte dich gewarnt, Jo!" Er schüttelte energisch den Kopf und machte eine hilflose Geste. "Aber du wolltest ja unbedingt noch vorher mit ihr allein sprechen und dieses Risiko eingehen!"

Jo holte ein kleines Diktiergerät aus seiner Jackentasche, nahm die winzige Kassette heraus und reichte sie Rowland.

"Hier!" meinte er. "Der Aufwand hat sich gelohnt! Ich schätze, um die Beweislage braucht ihr euch keine Sorgen mehr zu machen, Tom!"

Rowland nahm die Kassette und nickte.

"Da wirst du wohl Recht behalten..."


ENDE



Kommissar X - Der Amokläufer

Vielleicht wußte der Mann nicht wirklich, was er tat. Aber das machte die Sache nicht weniger schlimm. Brannigan hielt die automatische Pistole in seiner Rechten krampfhaft umklammert. Sein Blick war starr, sein Gesicht rot angelaufen und seltsam verkrampft. Die Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. Der Arm mit der Pistole hob sich und als dann der erste Schuß krachte, stoben die Passanten schreiend auseinander. Panik griff um sich, während jemand getroffen zu Boden sank. Der Mann preßte die Hände gegen die Brust, aber das Blut rann ihm zwischen den Fingern hindurch. Der Mann blickte ungläubig zu Brannigan auf, der für einen Augenblick innehielt. Dann brach der Mann zusammen, schlug hart auf den Asphalt und regte sich nicht mehr. Brannigan wirbelte herum. Er hörte die Schreie. Die Stimmen drohten, ihn halb wahnsinnig zu machen.

"Ein Verrückter!" rief jemand. "Ein Irrer!"

Dann taumelte Brannigan vorwärts. Ein zweiter Schuß löste sich aus seiner Pistole und dann ein dritter. Nur am Rande nahm Brannigan war, wie jemand getroffen nach hinten gerissen und durch die Wucht des Projektils gegen ein Schaufenster geschleudert wurde. Das Glas ging klirrend entzwei. Brannigan beschleunigte seine Schritte. Er wirbelte herum. Er wußte nicht, wohin er eigentlich wollte. Dunkel erinnerte er sich, gerade noch hinter dem Steuer seines Wagens gesessen zu haben.

Und jetzt war er in dieser belebten Einkaufsstraße, umgeben von Menschen, die versuchten, sich vor ihm in Sicherheit zu bringen. Brannigan fühlte seinen Puls bis zum Hals schlagen. Er hatte Angst. Namenloses Entsetzen kroch ihm wie eine kalte, glitschige Hand den Rücken hinauf.

Er hörte eine Stimme, schnellte herum, sah eine Gestalt und feuerte sofort, ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern. Immer wieder betätigte er den Abzug. Die Gestalt, die er gesehen hatte, gehörte einem Mann in den Fünfzigern, der gerade in seinen Wagen hatte einsteigen wollen. Schützend hatte der Mann seinen Aktenkoffer hochgerissen, aber das hatte ihm nichts genützt. Die erste Pistolenkugel war glatt durch das harte Kunststoffmaterial hindurchgeschlagen und in seinen Oberkörper eingedrungen. Der Mann war längst tot, aber Brannigan feuerte noch immer. Er war wie besessen und konnte einfach nicht aufhören. Auch nicht, als zwei weitere Passanten getroffen aufschrieen. Als Brannigan sich dann herumdrehte, sah er in ein schreckensbleiches Gesicht, das nur stumm den Kopf schüttelte. Ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge in Jeans und Turnschuhen, der unwillkürlich erstarrt war, als er in die Pistolenmündung blickte.

"Nein", flüsterte der Junge und schien dabei unfähig zu sein, sich zu bewegen. Brannigan drückte sofort ab. Glücklicherweise traf er nicht richtig. Die Kugel fuhr dem Jungen in die Schulter.

"Stehen bleiben! Keine Bewegung!" rief eine Stimme, die wie ein Messer in Brannigans Bewußtsein drang und ihn sich erneut herumdrehen ließ. Der Junge nutzte das. Die Lähmung, die ihn noch eine Sekunde zuvor gefangen gehalten hatte, schien wie weggeblasen zu sein. Er rannte um sein Leben und flüchtete in einen Kaufhauseingang. Brannigan sah indessen die dunkelblaue Uniform eines Polizisten, der seine Dienstwaffe aus dem Holster gerissen und auf den Amokläufer gerichtet hatte.

"Ich sagte, Sie sollen die Waffe fallen lassen!" rief der Polizist, der sichtlich nervös war. "Ich will Sie nicht erschießen, aber ich werde es tun, wenn Sie mich dazu zwingen!"

Es war Brannigan nicht anzusehen, ob er sein Gegenüber überhaupt verstanden hatte.

Eine volle Sekunde lang geschah überhaupt nichts. Brannigan stand einfach nur da, aber er warf seine Waffe nicht weg.

Niemand wird mich kriegen! durchzuckte es ihn heiß. Niemand! Nicht noch einmal!

Dieser Gedanke hämmerte immer wieder in seinem Kopf. Brannigan schluckte. Er dachte an damals. Aber es würde sich nicht wiederholen. Nie wieder. Dafür würde er sorgen.

Und dann riß er urplötzlich seine Waffe hoch und feuerte.

Der Polizist schoß annähernd gleichzeitig und traf Brannigan im Oberkörper. Brannigan wurde nach hinten gerissen, ein weiterer Schuß löste sich aus seiner Waffe und traf einen Passanten in den Rücken, der sich gerade in Sicherheit bringen wollte.

Brannigan taumelte, schaffte es aber bis zu einer Parkuhr, an der er sich aufstützte. Den Polizisten hatte es am Bein erwischt und so lag dieser mit grimmig verzerrtem Gesicht auf dem Asphalt, den 38er Revolver immer noch in der Rechten. Brannigan ächzte. Er fühlte den Schmerz an seiner Seite und preßte die Linke dagegen. Er blickte nicht hinab. Stattdessen hob er erneut die Pistole und ließ seinem uniformierten Gegenüber keine andere Wahl.

Bevor Brannigan abdrücken konnte, hatte eine weitere Kugel ihn getroffen und dann noch eine. Er schlug rückwärts gegen einen parkenden Wagen und rutschte an dem glatten Blech zu Boden. Die Pistole hielt er immer noch fest umklammert, auch dann noch, als seine Augen schon erstarrt ins Nichts blickten.


*


Jo Walker war ziemlich guter Laune, als er die Räume seiner Agentur betrat, die in einer Traumetage am nördlichen Ende der Seventh Avenue gelegen war. Walker, dem man den respektvollen Beinamen Kommissar X gegeben hatte - war so etwas wie die Nummer eins unter den New Yorker Privatdetektiven. Und so war er bei der Erstellung eines neuen Sicherheitskonzepts hinzugezogen worden, das eine Kette von Juweliergeschäften für ihre an der gesamten Ostküste verstreuten Filialen einführen wollte. Keine aufregende Tätigkeit, dafür ziemlich zeitraubend und arbeitsintensiv. Doch dafür stimmte das Honorar. Jo hatte den Scheck in der Jackett-Innentasche.

Als seine blondmähnige Assistentin April Bondy ihn begrüßte, zog er das Papier grinsend hervor und zeigte es ihr.

"Na, der Streß scheint sich ja gelohnt zu haben!" meinte April dazu und fügte dann noch lächelnd hinzu: "Über eine Erhöhung meiner Bezüge mit dir zu reden dürfte jetzt wohl reine Formsache sein, nehme ich an..."

Jo hob die Augenbrauen.

"Nach diesem dicken Fisch kannst du von Glück sagen, wenn ich mich nicht plötzlich dazu entschließe, die Agentur einfach dicht zu machen, um..."

"...dich zur Ruhe zu setzen?" April stemmte ihre schlanken Arme in die wohlgeformten Hüften und lache dann laut los.

"Warum nicht?" fragte Jo. "Was ist so abwegig daran?"

"Nichts als leere Drohungen! Wir wissen beide, daß du das nie tun würdest!"

Jo zuckte die Achseln. "Vermutlich hast du recht."

"Natürlich habe ich das!"

"Aber für heute finde ich, sollten wir Schluß machen."

Doch April schüttelte entschieden den Kopf. "Ich fürchte, daraus wird nichts, Jo."

"Und warum nicht? Soweit ich weiß, habe ich heute keine Termine mehr. Es gibt auch keinen Fall, an dem..."

"Vielleicht doch, Jo."

Jo runzelte die Stirn. Er löste den ersten Hemdknopf und lockerte den Krawattenknoten ein Stück. "Was soll das heißen?" fragte er gleichzeitig.

"In deinem Büro sitzt eine Frau, die ganz so aussieht, als würde sie unsere nächste Klientin. Sie wartet schon eine halbe Stunde..."

"Du hättest ihr einen anderen Termin geben können."

"Natürlich, Jo. Aber sie machte mir einen so niedergeschlagenen Eindruck, daß ich mir dachte, daß ihre Sache wohl nicht länger warten kann."

Jo seufzte. Wann hatte es schon je einen Klienten gegeben, der freudestrahlend im Büro eines Privatdetektivs saß und mit sich und der Welt zufrieden war?

"Hat die Dame dir schon gesagt, worum es geht?"

"Nur, daß ihr Lebensgefährte erschossen wurde. Aber nichts weiter. Sie brach gleich in Tränen aus. Sei also nett zu ihr."

"Sicher."

Als Jo dann einen Moment später sein Büro betrat, saß dort eine gutaussehende Dunkelhaarige, deren verlaufenes Make-up für sich sprach. Jo reichte ihr die Hand und sie nickte. Sie brauchte eine Sekunde, um etwas herauszubringen. Ein Kloß schien ihr im Hals zu sitzen.

"Sie sind Walker?"

"Ja."

"Geld spielt keine Rolle", sagte sie und zuckte dann ihre schmalen Schultern. "Oder besser gesagt: fast keine. Ich habe einiges auf der hohen Kante und..."

"Vielleicht sagen Sie mir erst einmal, wer Sie sind und worum es geht, Miss..."

"Carter, Joanne Carter."

Jo nahm in dem Sessel hinter dem Schreibtisch Platz und lehnte sich etwas zurück, während er sein Gegenüber einer knappen Musterung unterzog. Diese Frau schien noch ganz unter einer Art Schock zu stehen und war deshalb wohl etwas durcheinander. Was immer es auch gewesen war, das ihr so zugesetzt hatte - es konnte keine Kleinigkeit sein.

"Meine Mitarbeiterin hat mir gesagt, daß man Ihren Lebensgefährten erschossen hat", begann Jo, nachdem er bemerkte, daß es Joanne Carter schwer fiel, über die Sache zu sprechen und den richtigen Anfang zu finden.

Sie nickte. "So ist es", meinte sie. "Sein Name ist Walt Brannigan. Und der Mann, der ihn erschossen hat, war Polizist und hat selbst eine Kugel ins Bein gekriegt..." Sie atmete tief durch und Jo begann zu dämmern, um welche Sache es sich hier drehte. Indessen hob Joanne den Kopf und sah den Privatdetektiv offen an. "Vielleicht haben Sie in der Zeitung von der Sache gelesen. Walt hat in einer belebten Geschäftspassage wild um sich geschossen und dabei insgesamt fünf Menschen erschossen..."

Jo beugte sich etwas nach vorne.

"Sie meinen..."

"Er ist Amok gelaufen, daß wollten Sie doch sagen, nicht wahr? Ein Verrückter, der wild um sich ballert, der in seiner Verzweifelung oder seinem Wahn oder aus welchen Gründen auch immer so viele Menschen wie möglich mit sich in den Tod zu reißen sucht!" Sie wischte die Träne hastig beiseite, die sich unmerklich auf ihre Wange gestohlen hatte.

"Ich habe von der Sache tatsächlich gehört", meinte Jo. "Und soweit ich weiß, hatte der Polizist wohl keine andere Wahl..."

Sie nickte. "Ja, so denken alle darüber. Polizei, Staatsanwaltschaft, Presse und so weiter."

"Und was ist falsch daran?"

Sie schluckte. "Vielleicht nichts", murmelte sie dann. "Ich weiß selbst schon nicht mehr, was ich darüber denken soll. Ich weiß nur eins: Es gibt keinen Grund, weshalb Walt auf die Straße gehen und wahllos Menschen erschießen sollte!"

Jo zuckte die Achseln. "Aber er hat es doch getan, oder? Aus welchem Grund auch immer..."

Sie hob den Kopf und schien sich ihrer Sache auf einmal sehr sicher zu sein. "Walt und ich leben zusammen. Wahrscheinlich kennt ihn niemand besser als ich. Und ich sage Ihnen, die Vorstellung ist völlig absurd."

Jo musterte sie. Was sollte er dazu sagen? Es schien ihm, als wollte die Frau einfach die Realitäten nicht anerkennen. Walt Brannigan wäre nicht der erste Amokschütze gewesen, der seiner engsten Umgebung als völlig normal erschienen war. Bis zu dem bestimmten Tag, an dem es geschah.

"Sehen Sie, Miss Carter, man kann in den Kopf eines Menschen nicht hineinschauen. Und in den eines Toten schon gar nicht. Ich weiß nicht, warum Ihr Freund das getan hat - und wahrscheinlich wird es man es auch nie mehr erfahren."

"Er war Mitarbeiter eines erfolgreichen Ingenieurbüros. Ein erfolgreicher, dynamischer Mann. Er war gesund, er hatte eine glückliche Kindheit auf dem Lande und mit uns beiden lief es auch sehr gut. Sagen Sie mir, weshalb ein Mann durchdreht, in dessen Leben doch wirklich alles zu funktionieren scheint! Selbst sein Ferrari war abbezahlt!"

Jo überlegte. So, wie sie das sagte, klang das tatsächlich ein bißchen merkwürdig. Aber wahrscheinlich lag es einfach nur daran, daß sie beide zu wenig über Brannigan wußten. Jo fragte sich, wie er ihr schonend beibringen konnte, daß er wahrscheinlich nicht der richtige Mann für ihre Angelegenheit war. Vermutlich wandte sie sich besser an einen Psychologen.

Aber als er sie da so sitzen sah, brachte er es nicht über sich. Und so fragte er: "Vielleicht sagen Sie mir einfach mal, was ich für Sie tun soll und ich sage Ihnen dann, ob es im Bereich meiner Möglichkeiten liegt!"

Sie nickte. "Okay", meinte sie und versuchte ein Lächeln, das ihr aber gründlich mißlang. Die innere Anspannung war ihr nach wie vor deutlich anzusehen. "Ich will, daß Sie herausfinden, was wirklich geschehen ist."

"Das steht doch sicher im Polizeibericht - und in etwas öffentlichkeitswirksamerer Form in den Zeitungsartikeln. Ich weiß nicht, was meine Nachforschungen da noch sollen."

"Ich möchte wissen, was wirklich geschehen ist, Mister Walker. Das Ende der Geschichte, das steht im Polizeibericht, aber so etwas geschieht nicht aus heiterem Himmel! Das kann mir niemand erzählen!" Sie hielt einen Moment lang inne und der Blick ihrer dunklen Augen ruhte auf Jos Gesicht. "Werden Sie die Sache übernehmen? Wie gesagt: Ich bin bereit, tief in die Tasche zu greifen! Aber das ist es mir wert!"

"Ich kann Ihnen nichts versprechen, Miss Carter."

"Das weiß ich. Trotzdem, versuchen Sie etwas herauszufinden."

Jo nickte. Und damit hatte er sich entschieden. Er war sich nicht sicher, ob er diese Entscheidung nicht bald schon wieder bereuen würde. Jedenfalls hatte ein flaues Gefühl dabei.

"Hat Walt Brannigan vielleicht Drogen genommen?"

"Nein."

"Niemals?"

"Niemals. Ich hätte das gemerkt."

"Auch nicht irgend welche Aufputscher, um mehr Leistung zu bringen? Sie sagten, er war sehr erfolgreich. Manchmal..."

"Nicht Walt!" schnitt sie Kommissar X das Wort ab.

"Haben Sie sonst irgendeinen Verdacht? Dann sagen Sie ihn mir am besten gleich."

"Nein."

"Ich nehme an, die Leiche ist obduziert worden?"

"Ja, aber was sollte man außer den Kugeln, die Walt getötet haben, noch finden?"

Jo zuckte die Schultern. "Das hängt immer ein bißchen davon ab, wonach man sucht!"

"Davon verstehe ich nichts."

"Wenn Sie mir noch Ihre eigene Adresse und die des Ingenieurbüros geben könnten, bei dem Walt Brannigan beschäftigt war."

"Natürlich."

Jo reichte ihr Zettel und Kugelschreiber. Während sie schrieb, fragte er dann: "Woher kam die Waffe, mit der Ihr Freund herumgeballert hat?"

"Er hatte sie immer im Handschuhfach."

"Weswegen? Wurde er bedroht?"

Sie zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht. Aber ist das heut' zu Tage so ungewöhnlich? Die einen haben abgezählte dreißig Dollar in der Tasche, um bei einem Überfall nicht die ganze Brieftasche abliefern zu müssen, andere tragen Reizgas bei sich oder besuchen Kurse in Selbstverteidigung."

"Und Walt Brannigan hatte eben eine Pistole, meinen Sie."

"Ja."

"Hat er sie zuvor schon einmal gebraucht?"

"Nein, nie."

"Sind Sie sicher?"

"Ich bin sicher. Sie lag immer nur im Handschuhfach. Ich habe sie einmal per Zufall dort gesehen. Das war noch ganz zu Anfang, als wir uns kennenlernten."

"Die Waffe war immer geladen?"

"Das weiß ich nicht."

Jo nickte. "Gut", meinte er. "Ich werde versuchen, etwas herauszufinden. Vielleicht überlegen Sie sich noch einmal, ob Sie Ihr Geld wirklich zum Fenster herausschmeißen wollen oder..."

"Glauben Sie mir, ich weiß, was ich tue!" erwiderte sie bestimmt.

"Okay."

Sie erhob sich. "Ich werde mich bei Ihnen melden, Mister Walker!"


*


"Besonders aufschlußreich ist der Untersuchungsbefund von Brannigans Leiche ja nicht gerade..." meinte Jo an Captain Tom Rowland gewandt, während er die entsprechende Mappe auf den Tisch legte. "Warum hat man keine weitergehenden Analysen angestellt?"

Der korpulente Rowland war Leiter der Mordkommission Manhattan C/II und seit vielen Jahren Walkers Freund.

Rowland verschluckte sich fast an seinem Kaffee und blickte Kommissar X stirnrunzelnd an.

"Soll das etwa Kritik sein?"

"Nur eine Frage unter Freunden, Tom!"

Der Captain atmete tief durch und meinte dann: "Der Arzt meinte, daß das nicht notwendig sei. Und der Staatsanwalt war derselben Meinung. Die Sache liegt doch so glasklar auf der Hand, wie nur irgendetwas!"

"Erzähl mal."

"Er hatte keinen Alkohol im Blut und es gibt keine Indizien, die dafür sprechen, daß er drogensüchtig war. Warum sollte man ihn dann auseinanderschneiden?"

"Mag sein, Tom."

"Was soll der ganze Aufstand eigentlich, Jo? Ein Mann ist durchgedreht, das kommt öfter vor!"

"Seine Lebensgefährtin glaubt nicht daran."

"Wundert dich das?"

"Ein Mann, für den alles gut läuft, der erfolgreich im Beruf ist und in einer harmonischen Zweierbeziehung lebt - weshalb geht der auf die Straße und schießt wild um sich? Findest du das nicht ein bißchen seltsam?"

Rowland lachte heiser. "Ich bin zu lange in dem Job, um so etwas noch seltsam zu finden, Jo!"

"Du könntest veranlassen, daß Brannigans Leiche noch einmal untersucht wird."

"Und wonach soll man suchen?"

Job hob die Schultern. "Bin ich Arzt?"

Rowland erhob sich und kam auf die andere Seite seines Schreibtischs. "Hör zu, Jo, ich will dir mal ein paar Dinge über Brannigan erzählen!"

"Ich bin gespannt!"

"Sein Leben war keineswegs so glatt, wie diese Joanne Carter dir vielleicht glauben machen wollte." Der Captain zuckte mit den breiten Schultern. "Wahrscheinlich wußte sie es auch nicht besser. Sie kannte ihn ja kaum anderthalb Jahre..."

Jo hob die Augenbrauen. "Und was zum Beispiel wußte sie nicht?"

"Zum Beispiel, daß es vielleicht nicht das erste Mal war, daß Walt Brannigan durchdrehte."

"Wovon sprichst du, Tom?"

"Von einer Vergewaltigungsgeschichte, ist gut zweieinhalb Jahre her. Es war wohl nur ein Versuch, die Frau konnte sich in Sicherheit bringen."

"Wer war die Frau?"

"Nora Gaynor, eine Kollegin aus dem Ingenieurbüro, in dem Walt Brannigan tätig war." Rowland hob die Schultern. "Die Sache ist im Sand verlaufen. Du weißt ja, wie das ist, wenn Aussage gegen Aussage steht und nichts Handfestes vorhanden ist, das irgendetwas beweisen könnte."

Jo machte eine hilflose Geste. "Vielleicht hast du recht und ich jage einer Fata Morgana hinterher."

"Bestimmt. Und da ist übrigens noch etwas! Brannigan nahm seit einem halben Jahr Therapiestunden bei einem Psychologen."

"Weswegen?"

"Anfänge von Paranoia, Jo. Verfolgungswahn."

"Deshalb die Pistole!"

"So ist es. Er hatte sie immer im Handschuhfach liegen."

"Nahm er Medikamente?"

"Ja, Beruhigungsmittel. Aber nur in den Mengen, die ihm der Arzt verschrieben hat." Rowland seufzte. "Die Sache ist abgeschlossen, Jo. Und ich habe nicht die Absicht, den Aktendeckel noch einmal zu öffnen."

"Und eine weitere Untersuchung?"

"Wird es nicht geben. Die Leiche ist frei!"

"Liegt sie noch im Leichenschauhaus?"

"Ja, und wartet darauf, daß sie jemand abholt, um sie zu beerdigen. Warum bohrst du so hartnäckig in der Sache herum, Jo? Was glaubst du, könnte eine weitere Untersuchung bringen?"

Jo zuckte die Achseln. "Was weiß ich! Hinterher ist man immer schlauer! Aber stell dir mal vor, jemand hätte Brannigan etwas eingeflößt..."

"Etwas, daß ihn so wild macht, daß er um sich schießt? Brannigan war so gut wie abstinent! Die einzige Droge, die er in großen Mengen konsumierte, war Kaffee!"

"Und wenn es etwas war, wonach man nicht gesucht hat?"

Rowland machte eine wegwerfende Handbewegung. "Komm schon, jetzt fängst du an, dich lächerlich zu machen Jo! Bei aller Freundschaft!"

Jo lächelte dünn. "Ich weiß, Tom. Aber will diese Möglichkeit zumindest sicher ausschließen können, verstehst du?"

Rowland stellte geräuschvoll die Kaffeetasse auf den Tisch und schüttelte dann energisch den Kopf. "Ich kann die Sache nicht noch mal aufrollen und für eine Obduktion sorgen, nur weil eine Klientin von dir irgendeinen vagen Verdacht hat oder sich nicht erklären kann, wie aus dem netten, dynamischen Mann an ihrer Seite plötzlich ein Monster wird! Das ist ihr Problem und damit muß sie - fürchte ich - auch ganz allein fertig werden!"


*


Joanne Carter bewohnte eine sicher nicht billige Wohnung in Midtown Manhattan. An der Tür war noch immer auch Walt Brannigans Name zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie es einfach noch nicht übers Herz gebracht, das Schild abzunehmen.

Als sie Jo Walker die Tür öffnete, schien sie im ersten Moment ein wenig verwundert zu sein.

"Sie, Mister Walker?"

"Ich dachte, ich schau mir mal, wie Walt Brannigan gelebt hat!"

"Kommen Sie herein!"

Jo nickte und trat in eine sachlich und sehr modern eingerichtete Wohnung.

"Was machen Sie eigentlich beruflich?"

"Ich habe einen Job in einem Makler-Büro."

"Immobilien?"

"Ja."

Jo sah sie an und meinte dann: "Ich will ganz offen sein: Bis jetzt habe noch nicht viel herausfinden können."

Sie zuckte mit den Schultern. "Das wäre wohl auch etwas zuviel verlangt."

"Die Leiche ist freigegeben. Wenn Sie wollen, dann gebe ich Ihnen die Adresse eines Bekannten, der früher bei der Gerichtsmedizin war und sich dann selbstständig gemacht hat." Jo zuckte die Achseln. "Ich habe schon ab und zu mit ihm zusammengearbeitet. Wenn wirklich etwas medizinisch Greifbares übersehen wurde, das die plötzliche Wandlung Ihres Freundes erklären könnte, dann wird er es finden! Von Polizei und Staatsanwaltschaft ist in der Hinsicht wohl nichts mehr zu erwarten. Der Fall gilt als abgeschlossen, und solange nicht neue Indizien vorgelegt werden, kann auch mein Freund Rowland von der Mordkommission da nichts machen."

Sie nickte. "Gut", meinte sie.

"Hat Brannigan noch Angehörige?"

"Nur seine Mutter, soweit ich weiß. Sie wohnt in Queens."

"Das ist ja sozusagen gleich um die Ecke. Kennen Sie sie?"

"Ja, wir verstehen uns großartig."

"Das ist gut. Reden Sie mit ihr, denn sie wird ein Wörtchen mitzureden haben, was die Leiche Ihres Freundes angeht. Wenn Sie beide verheiratet gewesen wären, wäre das etwas unkomplizierter."

"Das wird schon klappen", meinte sie zuversichtlich.

"Ich würde gerne Brannigans persönliche Sachen ansehen. Er wohnte hier zusammen mit Ihnen, nicht wahr?"

"Ja." Sie bewegte den Kopf ein wenig zur Seite. "Kommen Sie mit, Mister Walker. Das meiste, was Sie hier sehen, stammt von ihm. Er hat hier zuvor allein gelebt. Ich bin zu ihm gezogen, verstehen Sie?" Sie führte Jo zu Brannigans Schreibtisch. "Ich habe alles so gelassen", meinte sie.

"Hat sich die Polizei das angesehen?"

"Ja."

"Ist etwas mitgenommen worden?"

"Nein. Mit Ausnahme einer Packung Beruhigungspillen und dem dazugehörigen Rezept."

"Die Schublade hier ist abgeschlossen", stellte Jo fest. "Haben Sie den Schlüssel?"

Sie nickte. Dann drehte sie sich um und ging. Währenddessen wandte sich Jo dem Büroschrank zu, der nicht abgeschlossen war. Er bestand aus metallenen Laden, in denen jeweils Dutzende von Hängemappen zu finden waren. Es schien sich dabei vorwiegend um technische Zeichnungen und Entwürfe zu handeln. Dazu Notizen und Berechnungen. Für jemanden, der nichts davon verstand, wirkte das wie Chinesisch.

Jo öffnete die nächste Lade und schaute flüchtig in die Hängemappen. Eine war voll mit Quittungen, die Brannigan vermutlich für die Steuer gesammelt hatte, eine andere enthielt aus Zeitschriften herausgerissene Kochrezepte. Mitten dazwischen lag ein aufgeschlagenes Buch, in dem Brannigan offenbar sehr intensiv gelesen hatte. Jedenfalls waren Passagen mit einem grellgrünen Textmarker gekennzeichnet. Jo nahm das Buch heraus und warf einen Blick auf den nach hinten geknickten Umschlag. Angstneurosen - Ursachen, Diagnose und Therapie lautete der Titel. Offenbar ein populärwissenschaftlicher Taschenbuch-Ratgeber.

Indessen war Joanne mit dem Schlüssel zurück und gab ihn Jo. Der Privatdetektiv gab ihr dafür das Buch. "Walt Brannigan hatte psychische Probleme, nicht wahr?"

Sie sagte nichts. Sie nahm das Buch an sich, ohne einen Blick darauf zu werfen und nickte dann.

"Ja."

"Er war in Therapie. Ich nehme an, Sie wußten das."

"Wenn ich es Ihnen gesagt hätte, hätten Sie den Fall nicht übernommen, Mister Walker! Dann wäre die Sache für Sie genauso klar gewesen, wie für die Polizei!"

Jo zuckte die Achseln. "Wahrscheinlich haben Sie recht! Und vielleicht ist es noch nicht zu spät, um die Sache aufzugeben!"

"Mister Walker! Nur, weil jemand ein paar Probleme hat, muß er noch lange nicht zu einem Killer werden, der ohne jeden Grund auf irgendwelche Menschen schießt!"

"Paranoia ist nicht irgendein kleines Problem, Miss Carter!"

"Ich weiß. Aber Walt war nicht verrückt!" Sie seufzte. "Wie soll ich es Ihnen nur erklären?" stieß sie dann hervor. Unterdessen öffnete Jo die Schublade. "Walts Ängste hatten einen realen Hintergrund", erklärte Joanne Carter dann.

Kommissar X zog die Augenbrauen in die Höhe. "Ach, ja?"

"Vor acht Jahren ist Walt auf offener Straße überfallen worden. Er war zusammen mit einem Freund unterwegs, der dabei ums Leben kam. Die Mugger glaubten wohl, daß er irgendeinen Trick versuchen wollte und haben drauflos geschossen."

"Sie kennen die Geschichte nur aus Brannigans Erzählung, nehme ich an..."

"Was wollen Sie damit sagen? Es war ein traumatisches Erlebnis und seitdem hatte er auch die Waffe bei sich." Sie zuckte die Achseln. "Wir haben nicht oft darüber gesprochen. Es war Walt unangenehm und ich wollte nicht in der Wunde herumbohren."

"Bei wem war er in Therapie?"

"Bei einem gewissen Dr. Stanley. Aaron Stanley, glaube ich."

"Wenn Sie noch etwas wissen, erzählen Sie es mir besser. Von diesem Dr. Stanley werde ich es kaum erfahren. Der wird sich auf seine Schweigepflicht berufen!"

Sie nickte.

Jo sah sich den Inhalt der Schublade an. Er fand eine Straßenkarte von Vermont und einige zusammengerollte Bilder. Aquarelle und Kohlezeichnungen in verschiedenen Formaten.

Jo zeigte Miss Carter die Blätter. "Kennen Sie die?"

"Nein. Ich wußte gar nicht, daß er sich künstlerisch betätigte."

"Die Sachen sind datiert... Ungefähr jede Woche eins."

"Ich schätze, daß er sie während seiner wöchentlichen Therapie-Sitzungen gemalt hat", meldete sich nun Joanne zu Wort.

"Haben Sie nie mit ihm darüber gesprochen, was dort ablief?"

"Nein. Und das ist jetzt die Wahrheit. Er meinte, daß das allein seine Sache sei und er damit fertig werden müßte."

Einige der Bilder zeigten offenbar die Szene des Überfalls. Der tote Freund, die Mugger. Es war alles deutlich zu sehen.

Dann nahm sich Jo die Karte von Vermont vor. Eine Stelle war markiert.

"Was könnte das zu bedeuten haben?" fragte Jo.

"Keine Ahnung", kam die Antwort. "Vor ein paar Wochen war Walt mal in Vermont. Ich glaube, das muß etwas mit seiner Arbeit zu tun haben. Aber über den Job haben wir nie gesprochen. Das eine feste Regel in unserer Beziehung."

Zum Teufel mit dieser Regel! dachte Jo. Ohne sie wäre es vielleicht einfacher gewesen, in der Sache voranzukommen.


*


Das Ingenieur-Büro P. McGreedy war eine hervorragende Adresse im Brückenbau, wenn man den Informationen glauben schenken konnte, die Walkers Assistentin April über diese Firma eingeholt hatte.

Als Jo am nächsten Tag dort auftauchte und die Büros im fünfzehnten Stock eines an der Third Avenue gelegenen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: Steve Mayer
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7842-6

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /