Zwei frühe Fantasy-Romane des Gorian-Autors Alfred Bekker
Die Gefährten von Elfénia / Die magische Klinge
©1978, 1980, 1982, 2001, 2009, 2010 und 2015 by Alfred Bekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
www.alfredbekker.de
postmaster@alfredbekker.de
Der Umfang dieses Ebooks entspricht 822 Taschenbuchseiten.
Fantasy-Roman von Alfred Bekker
© 1978, 2001, 2002, 2010 und 2015 by Alfred Bekker
Zum Teil abweichende Fassungen erschienen einzeln unter den Titeln „Sehnsucht nach Caberia“, „Auf der Suche nach Dhum – das Buch Edro“ und „Die Gefährten von Elfénia“, auch unter Pseudonym.
Es waren die unerträglichen Träume, die Edro von Dakor dazu veranlassten, die Inseln des Nordens zu verlassen, alles hinter sich zu lassen und zu einem Vagabunden auf der Suche zu werden. Er musste jenes Land finden, das er in seinen Träumen gesehen hatte. Jenes Land, das auf keiner Karte verzeichnet zu sein schien, von dem aber Reisende und Seefahrer berichtet hatten. Dhum, Muhd, Caberia - es trug viele Namen. Das LAND DER SEELEN war einer davon. Ein anderer lautete Elfénia, da es einer Legende zufolge Angehörige des uralten Elfenvolkes gewesen waren, die jenes verwunschene Reich der erfüllten Hoffnung zuerst entdeckt hatten...
Das Buch Edro
Und Edro hatte Gefährten gefunden. Suchende wie er. Spielbälle des Wahnsinns und der Götter wie er.
Die Chronik von Elfénia
Die Nacht brach über Arana herein, jene große und mächtige Stadt an der wilden Küste des westlichen Ozeans. Irgendwo im Meer war die Sonne versunken und hatte dem Mond Platz gemacht.
Edro band sein Pferd vor einer Taverne an, aus der lautes Stimmengewirr drang. Um diese Jahreszeit war es abends oft schon sehr kühl und so zog der hochgewachsene Mann sich den Umhang enger um die Schultern.
Als er dann die Taverne betrat, ließ er zunächst nachdenklich den Blick schweifen. Seine meergrünen Augen wirkten nachdenklich. Nach einigem Zögern ging er dann zum Schanktisch und bat den Wirt zu sich.
"Was wünscht Ihr, Herr?", fragte der Wirt.
"Habt Ihr ein Zimmer für mich und einen Stall für mein Pferd?"
In den Augen des Wirtes glitzerte es gierig.
Er nickte eilfertig.
"Aber ja! Selbstverständlich ist ein Zimmer für Euch da! Und um Euer Pferd wird sich Urkurö, mein Gehilfe, gleich kümmern. Ist es draußen angebunden?"
"Ja. Es ist ein Rappen."
Der Wirt rief nicht gerade freundlich einen seiner Gehilfen herbei.
Urkurö nickte wortlos und ging.
Als der Wirt sich wieder Edro zuwandte, zeigte sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht.
"Wünscht Ihr sonst noch etwas, Herr?"
Edro nickte.
"Ja, ich bin hungrig und wäre Euch dankbar, wenn Ihr mir ein Mahl bereiten könntet."
"Das will ich gerne tun, aber Ihr müsst Euch noch etwas gedulden!"
"Das macht nichts."
Mit diesen Worten wandte Edro sich um und nahm an einem der groben Tische Platz.
Eine Weile hörte er den Unterhaltungen der anderen Gäste zu, aber das langweilte ihn bald. Von draußen vernahm er das Wiehern eines Pferdes. Urkurö schien Schwierigkeiten zu haben.
Einen Moment lang überlegte Edro, ob er nach draußen gehen sollte, um ihm zu helfen. Aber er unterließ es dann doch.
Die Tür öffnete sich und für einige Augenblicke bohrte sich der eisige Wind seinen Weg durch Edros Kleidung.
Dann schlug jemand die Tür wieder zu.
Eine düstere Gestalt war eingetreten und sofort hörten die Männer auf zu reden. Es wurde totenstill in der Taverne. Unter dem schwarzen Umhang des Düsteren schaute eine Schwertspitze hervor und über den unrasierten Wangen blitzten zwei unruhige Augen.
Erst jetzt bemerkte Edro das kleine schwarze Tier, das lautlos mit dem Düsteren in die Taverne gekommen war.
Es handelte sich um eine zweiköpfige Katze!
Der Düstere hob das Tier vom Boden auf und streichelte es. Dann traf sein Blick Edro.
Eine ganze Weile schaute der Düstere Edro an.
In diesem Moment kam Urkurö zurück. Als er in die Augen des Düsteren sah und die zweiköpfige Katze in seinen Armen erblickte, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen, und er stieß einen schrillen Schrei aus.
So schnell er nur konnte, floh er hinter den Schanktisch und griff nach dem erstbesten Messer.
"Kommt nicht näher!", kreischte er angsterfüllt.
"Geht und lasst uns zufrieden!", rief einer der zechenden Männer. Edro vernahm zustimmendes Gemurmel und hier und da auch leises Waffengeklirr.
Der Düstere ließ sich jedoch nicht beirren. Mit seiner Katze auf dem Arm ging er zum Schanktisch und winkte den Wirt herbei.
Dieser wurde totenblass und begann zu zittern.
Er zögerte, schüttelte stumm den Kopf. Schweißperlen glitzerten ihm auf der Stirn.
Schließlich kam er der Aufforderung aber doch nach.
"Was wollt Ihr von mir?", flüsterte er angstvoll.
"Etwas zwischen die Zähne für mich und meine Katze."
Die Stimme des Düsteren war genauso dunkel wie sein Äußeres. Aber sie klang eher melancholisch als drohend.
"Es dauert aber eine Weile, Herr", brachte der Wirt dann immer noch vor Angst bebend heraus.
"Das ist nicht weiter schlimm, Wirt. Ich werde warten."
Der Wirt bedachte die zweiköpfige Katze mit einem misstrauischen Blick. Der Düstere streichelte sie sanft und wandte sich ab, um sich zu setzen. Da nur an Edros Tisch noch Platz war, setzte er sich hier hin. Unterdessen kam im Schankraum wieder leises, verstohlenes Gemurmel auf. Edro hörte, wie die Männer tuschelten. Sie redeten von magischen Flüchen, Dämonen und Ähnlichem.
"Wer seid Ihr?", fragte Edro den Düsteren.
"Man nennt mich Lakyr - Lakyr von der zweiköpfigen Katze. Und wer seid Ihr?"
"Ich bin Edro aus Dakor. Ihr habt eine recht merkwürdige Katze auf Eurem Schoß. Ist sie der Grund dafür, dass Euch die Leute hier nicht besondere mögen?"
Lakyr nickte und strich der Katze liebkosend über das samtfarbene Fell.
"Sie sagen, in diesem Tier wohne ein Dämon."
Edro bedachte die zweiköpfige Katze mit einem kurzen Blick.
"Stimmt das denn nicht?"
"Mir ist es gleichgültig, was sie sagen. Das ist im übrigen auch nicht der einzige Grund, weshalb ich hier nicht sehr beliebt bin. Etwa vor einem Jahr hat mir ein Magier gesagt, ich sei verflucht dazu ein Land namens Elfénia zu suchen. Einige von diesen Männern hier waren dabei, so zum Beispiel Shyllting, der Wirt. Und dann munkelt man über mich, ich sei besessen und dergleichen mehr."
"Sagtet Ihr gerade 'Elfénia', Lakyr?", fragte Edro aus Dakor. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und bildeten eine Schlangenlinie.
Lakyr nickte.
"Ja. Ich habe Euch ja gesagt, dass ich verflucht bin, dieses Land zu suchen. Es ist Land, in dem die Träume der Menschen in Erfüllung gehen, ein Land ohne Götter, ohne Könige, ein Land, dessen Bewohner gelernt haben für sich selbst Verantwortung zu tragen... Es trägt viele Namen. Elfénia ist nur einer davon."
"Ja, ich weiß", murmelte Edro mit nach innen gekehrtem Blick.
Lakyr atmete tief durch. "Ich wurde von drängenden Träumen verfolgt, die mich Nacht für Nacht für Nacht heimsuchten. Und sie tun es noch - öfter, als mir lieb ist. Das Schlimme ist nur: Dieses Land scheint es nirgends zu geben. Ich habe sämtliche Landkarten unserer Zeit studiert. Auf keiner fand ich den Namen Elfénia verzeichnet."
Edro lächelte matt.
"Ich bin ebenfalls auf der Suche nach diesem Elfénia! Aber auch mir war bis jetzt kein Erfolg beschieden."
"Manche behaupten, Elfénia existiere gar nicht und sei lediglich eine Erfindung der Geschichtenerzähler", brummte Lakyr von der zweiköpfigen Katze.
Edro zuckte die Achseln.
"Ich halte das nicht für ausgeschlossen."
"Und dennoch sucht Ihr weiter, Edro?"
"Manchmal wundere ich mich selbst darüber. Einmal war ich bereits drauf und dran, nach Dakor zurückzukehren... Bereits seit vielen Monden irre ich nun umher und suche nach einer Spur..."
Lakyr setzte die Katze auf den Tisch und ihre vier Augen starrten Edro ebenso gespannt an wie es die ihres Herrn taten.
"Was wisst Ihr von diesem Land, Edro?" Diese Frage klang bittend, ja, fast flehend!
"Ich fürchte, ich weiß ebenso wenig wie Ihr. Nur eins kann ich mit Sicherheit sagen: Bevor ich Elfénia nicht gefunden habe, kann ich nicht zufrieden sein. Aber es scheint so, als würde ich es nie finden." Lakyr lehnte sich etwas zurück und die zweiköpfige Katze auf dem Tisch schnurrte leise.
"Wie wäre es, wenn wir beide uns gemeinsam auf den Weg machen?", fragte der Düstere dann nach einigen Momenten des Zauderns.
Edro zuckte mit den Schultern.
"Ich bezweifle, dass wir mehr Erfolg auf unserer Suche haben werden, wenn wir uns zusammentun. Aber es ist angenehm, jemanden in der Nähe zu wissen, der das gleiche Ziel hat. Ich hätte also nichts dagegen einzuwenden."
"Ihr müsst aber wissen, dass ich hier nicht sehr beliebt bin und dass das auch seine Gründe hat."
Edro starrte die Katze an. "Was kümmert es mich, was die Leute sagen?"
"Ihr habt keine Angst vor dem Dämon, der in dieser Katze wohnt?"
"Glaubt Ihr denn etwa selbst schon, was die Männer über Eure Katze reden?" Lakyr zuckte mit einer Augenbraue und nahm das Tier wieder in seine Arme. Gedankenverloren strich er ihm über das schwarze Fell.
"Es könnte sein, dass sie recht haben", sagte er schließlich gepresst.
Edro betrachtete das Tier jetzt misstrauisch. "Es ist kein gewöhnliches Katzentier, da habt Ihr freilich recht. Aber deshalb muss es ja nicht gleich von einem Dämon besessen sein!"
"Wir werden sehen."
In diesem Moment brachte der Wirt das Essen. Zuerst stellte er Edro sein Mal hin und dann Lakyr.
Schließlich gab er auch der zweiköpfigen Katze etwas, doch beeilte er sich sichtlich, fortzukommen.
"Werdet Ihr auch über Nacht hier unterkommen?", fragte Edro kauend.
Lakyr schüttelte den Kopf. "Ich werde draußen im Wald übernachten. Hier in der Stadt wäre mir der tödliche Dolchstoß eines Meuchelmörders sicher."
Edro tat einen kräftigen Biss und überlegte. War es wirklich Zufall, dass er hier auf Lakyr gestoßen war, der das gleiche Ziel verfolgte, wie er selbst? Oder war es Schicksal?
"Ich werde morgen wiederkehren", versprach der seltsame Mann, wobei er einen Moment lang seiner zweiköpfigen Katze beim Fressen zu sah.
"Und wohin sollen wir uns wenden, Freund Lakyr?", erkundigte sich Edro mit einer leichten Spur des Spottes in der Stimme.
Lakyr lächelte.
"Wir werden uns nach Osten wenden!"
"Warum nach Osten?"
"Warum nicht?" Edro zuckte mit den Schultern.
"Es ist gleichgültig, wohin wir uns wenden", erkannte er.
"Ja, Ihr habt recht. Es ist gleichgültig."
Heulend sang der Wind sein trauriges Lied. In der Taverne war Schweigen eingekehrt. Irgendwo draußen klapperte ein Fensterladen; ein Pferd wieherte. Der Wind fegte durch die Straßen und sein Lied wurde zunehmend lauter. Wie rasend klatschten die Wellen des Westlichen Ozeans gegen die Felsen, auf denen Arana errichtet war. Auch in der Taverne konnte man hören, wie sich die Wellen brachen.
"Eigentlich ist es noch etwas zu früh für die wilden Herbststürme", meinte einer der Männer und andere nickten zustimmend.
"Die Natur ist unberechenbar", stellte ein anderer fest.
Es entstand wieder ein allgemeines Gemurmel, bis ein Sprecher mit einer hohen, schneidenden Stimme Gehör bekam.
"Ich finde, es ist durchaus nicht verwunderlich, dass die Stürme in diesem Jahr schon so früh kommen", behauptete er und genoss sichtlich die Aufmerksamkeit, welche ihm nach seinen letzten Worten zuteil wurde. Mit einem verächtlichen und überheblichen Ausdruck im Gesicht wandte er seine Blicke Lakyr zu, der gerade seinen letzten Bissen getan hatte. Schützend nahm er seine zweiköpfige Katze unter den Arm und kraulte sie im Nacken.
"Wenn sich ein Dämon in der Stadt befindet, so ist es nicht verwunderlich, wenn wir demnächst von allen Plagen dieser Welt heimgesucht werden!", rief der Mann mit der schneidenden Stimme. Bedeutungsvolle Blicke wurden getauscht und Lakyr erhob sich.
"Es ist nicht gut, wenn ich länger hier verweile, Edro. Morgen werde ich zurückkehren."
"Ja, so soll's sein!"
Lakyr hatte mit wenigen Bewegungen den Schanktisch erreicht. Er legte behutsam drei Goldstücke darauf und schob sie dem Wirt zu.
"Das müsste reichen", brummte er und wandte sich um. Mit langen Schritten verließ er den Raum. Knarrend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Edro erhob sich nun ebenfalls, rechnete mit dem Wirt ab und verlangte schließlich danach, dass man ihm sein Zimmer zeige. Der Wirt musterte ihn jedoch misstrauisch.
"Es ist gefährlich, sich mit Lakyr einzulassen, Herr", flüsterte er. Und als er Edro die Treppe hinaufführte, meinte er: "Er bringt allen, die mit ihm zu tun haben nur Unglück!"
An Edros Schweigen merkte der Wirt, dass ihm nicht so recht geglaubt wurde. Seine Augen begannen drohend zu funkeln.
"Eines Tages werdet Ihr noch sehen, dass ich recht habe, Herr! Lakyr wird Euch nur Unglück bringen! So wie allen, die mit ihm zu tun haben..."
Er hielt inne und seufzte. "Vielleicht stürzt er diesmal die ganze Stadt ins Verderben! Was hattet Ihr eigentlich so lange mit ihm zu bereden, Herr?"
"Nichts, was Euren Schauermärchen weiteren Stoff liefern könnte, Herr Wirt", versetzte Edro schroff.
Das Zimmer, welches der Wirt Edro zuwies, war klein, aber wohnlich. Edro verzichtete darauf, ein Licht anzuzünden. Gedankenverloren stand er am Fenster und starrte in die Nacht.
Würde er jenes sagenhafte Land mit dem Namen Elfénia je finden? Er musste es finden! Wenn nicht, so würde er niemals in seinem Leben Frieden finden können.
Am nächsten Morgen kleidete Edro sich früh an und sattelte hernach sein Pferd. Er nahm noch ein dürftiges Frühstück ein, bevor Lakyr erschien.
Der Wirt bedachte sowohl Edro als auch Lakyr mit misstrauischen, manchmal sogar hasserfüllten Blicken. So schnell sie konnten, verließen sie die Stadt. Lakyr ritt einen merkwürdigen, alten Klepper, welcher sehr heruntergekommen wirkte.
Als sie das große Stadttor von Arana passiert hatten, lag eine wüste Berglandschaft vor ihnen.
Irgendwo am östlichen Horizont ging die Sonne auf und sandte ihre ersten Strahlen über die schneebedeckten Gipfel.
Bald hatten sie Arana weit hinter sich gelassen. Die Stadt lag jetzt im Rücken der Reiter - hinter Hügeln und Bergketten verborgen.
Aus dem Süden konnte man das beständige Rauschen das Meeres hören. Lakyr war wortkarg und nicht sehr zu einer Unterhaltung aufgelegt. Er trug seine zweiköpfige Katze unter seinem Umhang verborgen. Nur ihre beiden Köpfe schauten noch hervor.
Oft schauten sie Edro in einer eigentümlichen Weise an und er war sich bald ganz sicher, dass dieses Katzenwesen noch etwas beherbergte, was man normalerweise nicht bei Katzen vorfand.
Nicht nur, dass sie zwei Köpfe besaß; auch andere Dinge beunruhigten Edro an dem Tier.
So zum Beispiel die Art und Weise, wie die Katze ihn anschaute. Wie Pfeile bohrten sich ihre Blicke in seine Augen und manchmal gelang es ihr sogar, ihn regelrecht mit ihnen zu fesseln. Eine beinahe hypnotische Wirkung.
Hatte der Wirt vielleicht doch recht? Gab es einen Dämon, der in diesem Tier wohnte? Edro beschloss, nicht weiter über diese Sache nachzudenken und der Katze nicht mehr in die Augen zu sehen. Das war das Beste, so schien es ihm. Gegen Mittag machten sie Rast an einem kleinen Bach. Gierig sogen die beiden Männer das Wasser in sich auf und ihre Pferde taten es ihnen gleich. Dann holte Edro seinen Proviantbeutel hervor und reichte Lakyr ein paar Früchte.
Dieser betrachtete sie mit jener instinktiven Abneigung, die man man allem Unbekannten zunächst entgegenbringt. Schließlich konnte er sich aber doch dazu überwinden, von den Früchten zu essen.
"Nie habe ich solche Früchte irgendwo gesehen", meinte er dann und Edro lächelte.
"Ich ebenfalls nicht. Ich kaufte sie von einem aranischen Händler, der behauptete, dass dergleichen Beeren hier in dieser Gegend wachsen. Ich kann nichts dazu sagen, schließlich bin ich das erste Mal in Arana gewesen und kenne diese Gegend nicht."
Lakyr setzte sich auf einen größeren Felsbrocken und schob sich eine weitere Frucht in den Mund.
"Woher kommt Ihr, Edro?" fragte er schließlich, wobei er seine Katze auf den Boden setzte.
"Meine Heimat ist Dakor, das Land auf der Nordinsel. Und woher kommt Ihr, Herr Lakyr?"
"Ich komme aus Thorkyr - jener Stadt an der Küste des Nordmeeres. Ihr werdet sicherlich von ihr gehört haben."
Edro nickte.
"Soweit ich weiß, befindet sich Thorkyr zur Zeit mit dem Barbaren von der Wolfsinsel im Krieg."
"Ja, das stimmt."
Eigentlich hatte Lakyr beabsichtigt, noch mehr zu sagen, aber in diesem Augenblick ließ die zweiköpfige Katze ein drohendes Fauchen hören. Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt und ihre Augen funkelten wie glühende Kohlen! Instinktiv glitt Lakyrs Hand zum Schwertgriff und Edro tat es ihm etwas irritiert gleich.
"Was ist los?", fragte er dann.
"Gefahr droht", war Lakyrs knappe Antwort.
"Gefahr? Woher wisst Ihr das?"
"Die Katze! Sie hat uns gewarnt!"
"Wovor?"
"Seid still!"
Es raschelte. Aber das musste nicht unbedingt ein heimtückischer Feind sein. Vielleicht war es der Wind...
Wieder fauchte die Katze. Nein, es war nicht der Wind! Ein Pfeil schoss dicht an Edro vorbei und blieb hinter ihm in einem Baum stecken.
Blitzschnell hatte Edro dann sein Schwert gezogen, aber das nützte ihm jetzt nichts, denn er konnte seinen Gegner nicht sehen.
"In Deckung!", hörte er Lakyr rufen, der sich hinter den knorrigen Wurzeln eines riesigen Baumes verschanzt hatte.
Mit einer raschen Bewegung hatte sich auch Edro hinter einem Baum Deckung genommen - gerade noch rechtzeitig, um dem unbekannten Gegner zuvor zu kommen. Schon schwirrte erneut ein Pfeil durch die Luft und bohrte sich tief in das Holz eines Baumes.
Da bemerkte Lakyr die zweiköpfige Katze!
Sie stand fauchend da und machte keinerlei Anstalten, Deckung zu nehmen. In ihren vier Augen loderte ein dämonisches Feuer.
"Komm zurück!", rief der Mann aus Thorkyr. Er war in großer Sorge um das Leben seiner Katze, die das einzige Wesen dieser Welt zu sein schien, das ihn vorbehaltlos akzeptierte.
"Komm zurück!", rief er nochmals. Aber es war schon zu spät. Ein Pfeil pfiff durch die Luft und traf das seltsame Tier.
Aber was war das?
Der Pfeil prallte wirkungslos von der zweiköpfigen Katze ab, die nun triumphierend fauchte. Ein entsetzter Aufschrei war von irgendwoher zu hören. Ein weiterer Pfeil traf das Tier, aber auch dieser prallte wirkungslos an dem weichen Fell ab.
Dieses Tier muss ein Fell aus Stahl haben!, dachte Edro.
In diesem Moment schnellte die Katze vor und lief geschwind auf ein bestimmtes Gebüsch zu. Was dann geschah, konnten weder Edro noch Lakyr aus ihrer Deckung heraus beobachten. Ein verzweifelter Todesschrei gellte.
Edro und Lakyr fuhren aus ihrer Deckung auf.
Vorsichtig gingen sie auf das Gebüsch zu, wo die Katze verschwunden war. Eine unheilvolle Ahnung beschlich Lakyr. Doch er wagte es nicht, etwas zu sagen.
Hinter dem Gebüsch fanden sie die Zweiköpfige. Sie saß triumphierend auf der Brust eines Toten. Neben ihm im Gras lagen ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen. Die Kehle des Toten aber war von den messerscharfen, bluttriefenden Katzenkrallen zerrissen. Kein Zweifel, die Katze hatte Edro und Lakyr das Leben gerettet. Aber dennoch schaute Lakyr sie mit einer deutlichen Spur von Entsetzen an. Dann nahm er sie wortlos von der Brust des Toten herunter und wischte das Blut von ihrem Körper.
"Ich glaube fast, die dummen Schwätzer von Arana haben doch recht gehabt: In dir wohnt ein Dämon, meine Katze!", stieß er hervor und setzte das Tier wieder auf den Boden. Die vier Augen sahen Lakyr nun traurig an. Es brannte kein Feuer mehr in ihnen.
"Warum wollte dieser Mann uns umbringen?", fragte Edro, wobei er mit der Hand auf den Toten deutete. Doch Lakyr zuckte nur mit den Schultern, wobei er seine Katze liebevoll kraulte.
Wie war es möglich, dass die Pfeile dieses Mannes das weiche Fell der Katze nicht zu durchdringen vermocht hatten?
"Ich kann mir nicht erklären, wieso der Kerl uns nach dem Leben trachtete", sagte Lakyr. Dann wandte er sich um und ging zu den Pferden.
Die zweiköpfige Katze folgte ihm.
Edros Blicke streiften nochmals über den Toten.
Als sie weiter ritten, waren sie wesentlich vorsichtiger und wachsamer als zuvor.
Es konnte gut sein, dass noch an weiteren Stellen Männer im Hinterhalt auf sie lauerten, um ihrem Leben ein rasches Ende zu bereiten.
Edro beobachtete die zweiköpfigen Katze jetzt mit einer Spur von Grauen. Was, wenn das Tier seine unheimlichen Kräfte gegen ihn oder Lakyr einsetzte?
Es gibt keinen stichhaltigen Grund, der das ausschließen könnte!, ging es Edro durch den Kopf.
Nichts und niemand konnte den beiden Mäulern der Zweiköpfigen offenbar widerstehen!
Auch in Lakyrs Zügen stand Besorgnis geschrieben.
Seine Katze hatte ihm zwar das Leben gerettet. Dennoch begannen sich zwiespältige Empfindungen diesem eigenartigen Wesen gegenüber in ihm breitzumachen.
Gegen Abend sahen die Männer in der Ferne eine Gruppe von Bewaffneten. Stimmengewirr eilte ihnen voraus.
Edro aus Dakor und Lakyr von der zweiköpfigen Katze zügelten ihre Pferde.
Als die bewaffneten Reiter näher herangekommen waren, hob Edro die Hand zum Gruß, aber keiner der Bewaffneten erwiderte diese Geste. Ihre Blicke waren finster und voller Angst. Im Angesicht der zweiköpfigen Katze weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen! Lakyr aber achtete nicht darauf, sondern fragte: "Was wollt Ihr von uns, meine Herren?" Die Männer vor ihm wandten sich einander zu und wechselten bedeutungsvolle Blicke.
"Wir wollen, dass Ihr dieses Land verlasst, Ritter von der zweiköpfigen Katze", brummte dann der offensichtliche Anführer der Gruppe.
"Ich bin auf der Durchreise", gab Lakyr zur Antwort.
"Was kümmert's mich, Herr? Ihr könnt hier jedenfalls nicht her! Kehrt um! Wir wollen nicht, dass der Dämon auf Eurem Schoß unser Land verflucht und uns den Tod bringt. Ihr müsst unser Anliegen verstehen! Schließlich sollen sich auch die Kinder unserer Kinder noch von diesem Land ernähren können. Wie können sie dies aber, wenn der Fluch eines Dämons auf ihm liegt!"
"Was redet Ihr da für einen Unsinn, Mann! An dieser Katze hier ist nichts weiter ungewöhnlich, als dass sie zwei Köpfe besitzt! Kein Dämon wohnt in ihr und es ist ihr auch unmöglich, einen Fluch über dieses Land zu senden!"
Der Anführer der Gruppe lachte höhnisch. Sein Gesicht verzog sich zu einer angsterfüllten Grimasse.
"So? Glaubt Ihr das wirklich?", fragte er dann. Lakyr hielt die Zweiköpfige krampfhaft fest und streichelte sie sanft. Nein, er glaubte nicht einmal selbst an das, was er da sagte. Diese Katze war doch außergewöhnlicher, als er je angenommen hätte. Ein Fauchen ging jetzt von dem Tier aus. Seine zwei Paar Augen glühten gefährlich. Lakyr bemerkte dies und er versuchte verzweifelt mit seinem Streicheln die Katze zu beruhigen.
"Seht, wie ihre Augen funkeln! Ist es nicht wie das Funkeln der Augen eines Dämonen?" fragte jemand.
"Tötet sie, bevor sie uns behext!" rief jemand anderes. Noch ehe Lakyr oder Edro irgendetwas hätten tun können, hatten raue Hände dem Mann aus Thorkyr die Katze entrissen. Ein markerschütterndes Fauchen war zu hören, als man die Zweiköpfige mit voller Wucht zu Boden warf. Sie rollte und wandt sich und stand schließlich wieder auf allen Vieren. Ein grausames Feuer loderte in ihren Augen, aber das in den Augen ihrer Gegner war nicht weniger grausam. Lakyr wollte schon eingreifen, da hielt ihn Edro am Arm.
"Lasst es sein, Lakyr! Pfeile haben der Zweiköpfigen nichts anhaben können, dann werden es Schwerter auch nicht!" Mit einem Ruck löste Lakyr sich aus Edros Umklammerung.
"Da bin ich mir nicht sicher." Er sah zu, wie ein riesenhafter Mann eine schwere, monströse Streitaxt hob, um sie auf das kleine Tier herniedersausen zu lassen. Die Waffe traf das kleine Wesen mit voller Wucht auf den gekrümmten Rücken - aber die Axt prallte wirkungslos von ihm ab. Erschrocken ließ der Mann die Axt fallen und trat einige Schritte rückwärts.
Wütend näherte sich Lakyrs Katze ein wenig dem Riesen. Dann sprang sie ihm mit einem ungewöhnlich weiten Satz an die Kehle. Blut spritzte und Lakyr wandte sein Haupt zur Seite. Erschrecktes und entsetztes Murmeln war nun von allen Seiten zu hören.
"Was habe ich gesagt? Ein Dämon wohnt in diesem Tier!", rief ein Sprecher. Fauchend saß die zweiköpfige Katze auf der Brust des Toten. So schnell die anderen konnten, machten sie sich aus dem Staub. Die Leiche ihres Gefährten konnten sie nicht mitnehmen, darauf saß die Katze.
"Eure Katze wird mir langsam etwas zu blutdurstig", bekannte Edro, den ein leichtes Grauen gepackt hatte.
"Zwei Tote in so kurzer Zeit. War das wirklich notwendig, Herr Lakyr?" Lakyr schüttelte stumm den Kopf. Edro hätte eigentlich noch etwas hinzusetzen wollen, aber als er die Verzweiflung und die seelische Pein sah, die in Lakyrs Zügen geschrieben stand, unterließ er es. Lakyr stieg ab und beugte sich zu der Katze hinunter, die noch immer auf der Brust des Toten hockte. Behutsam nahm er sie in seine Arme und wischte ihr das Blut ab.
"Vielleicht... vielleicht sollten wir wirklich das Land dieser Leute umreiten, um zu verhindern, dass wir einen Fluch dieses Dämons auf sie legen."
"Ihr redet bereits wie die Schwätzer aus Arana!"
Lakyr erwiderte zunächst nichts, sondern setzte sich wieder auf den Rücken seines Kleppers. "Edro, Eure Gesellschaft ist mir zwar lieb, aber wenn Ihr nach diesen Vorfällen nun nicht mehr mit mir reiten wollt, so habe ich dafür volles Verständnis. Schließlich kann ich von niemandem erwarten, dass er mit einem Dämon zusammen reist! Wenn Ihr also wollt, so trennen sich unsere Wege hier."
Als Edro Lakyr ansehen wollte, wich dieser seinen Blicken aus. Ein tiefer Ausdruck von Schmerz stand nun auch in Edros Gesicht. "Wir haben ein und dasselbe Ziel, Freund Lakyr: Wir suchen beide nach jenem Land mit dem Namen Elfénia. Warum sollten wir nicht weiter zusammenreiten?"
Lakyr strich der Katze übers Fell. "Euer Entschluss, weiter mit mir zu reisen, kann Euch Euer Leben kosten, Edro. Bedenkt dies!"
Edro antwortete nicht.
Die Nacht verbrachten sie in einem einsamen Dorf, das aus nicht mehr als vielleicht zwanzig Häusern bestand. Auch ein Gasthaus war darunter. Lakyr war jedoch so klug und versteckte seine Katze im Proviantbeutel. Dem Tier gefiel dies zwar nicht besonders, aber so waren sie wenigstens vor Anfeindungen durch die Bewohner sicher. Die Bewohner dieses Dorfes waren zum größten Teil Fischer und der Aberglauben war tief in ihnen verwurzelt. Am nächsten Morgen ging es schon in aller Frühe weiter und nach einem halben Tag lagen bereits die Türme von Paramon vor ihnen. Stolz und mächtig stand diese Stadt vor ihnen.
"Wir sollten hier Erkundigungen über Elfénia einziehen", schlug Edro vor.
Lakyr lachte jedoch nur. "Ihr meint doch nicht wirklich, dass wir hier eine heiße Spur finden werden! Ich möchte wetten, dass keiner der Paramonier jemals den Namen Elfénia gehört hat!" Sie passierten das Stadttor und gelangten in die völlig überfüllten Straßen. Überall waren Händler mit ihren Karren und boten billiges Zeug feil. Zänkisches Stimmengewirr und das Klimpern von Geld waren allgegenwärtig. Schließlich gelangten die beiden Suchenden vor eine Taverne, die ihnen gastlich erschien.
"Ich denke, wir werden hier übernachten können", meinte Lakyr, wobei er sein Pferd an einem Pflock festmachte. Edro folgte seinem Beispiel. Dann betraten sie die Taverne. Eine ganze Reihe merkwürdiger Menschen waren im Schankraum versammelt. Zum Teil waren sie finster und verwegen, zum Teil äußerst fremdartig. In dieser Gesellschaft fiel selbst Lakyrs zweiköpfige Katze in keiner Weise auf.
"Ist es möglich, dass wir hier übernachten können?" fragte Edro dann den Wirt.
Der Wirt nickte freundlich. "Habt Ihr noch Pferde oder ähnliches, das der Fürsorge bedarf"? fragte er dann hilfsbereit.
"Ja, dass haben wir. Draußen stehen unsere Pferde", gab Edro zur Antwort.
"Um die werde ich mich später kümmern, wenn es Euch beliebt. Wünscht Ihr etwas zu essen?"
"Ja, wir sind sehr hungrig", meinte Lakyr.
In diesem Moment trat ein völlig in Pelz gekleideter Mann ein. An der Seite trug er ein breites Schwert und über dem Rücken ein kleines Bündel. Sein Blick war finster und seine blauen Augen musterten die Männer im Schankraum mit deutlichem Misstrauen. Aber irgendwie machte er auf Edro einen sympathischen Eindruck. Er stellte sich neben ihn an den Schanktisch.
"Herr Wirt, habt Ihr je von einem Land mit Namen Elfénia gehört? Wir sind nämlich auf der Reise dorthin, aber es scheint wohl so, als wären wir noch weit davon entfernt", murmelte Edro.
Der Wirt lachte dröhnend. "Das scheint mir auch, Herr! Ich habe jedenfalls noch von keinem Land gehört, das diesen seltsamen Namen trägt! Und ich habe mit vielen Reisenden zu tun, mit Seeleuten und Kaufleuten, die bereits die ganze Welt besegelt haben. Aber nie erzählte mir einer etwas von Elfénia." Der Wirt blickte Edro nachdenklich an und schüttelte dann energisch den Kopf. Dann schlug er mit der flachen Hand auf den Schanktisch.
"Glaubt mir Herr, wenn es Elfénia gäbe, so hätte ich mit Sicherheit davon gehört. Ihr sucht wohl vergebens,Herr."
Der Pelzgekleidete neben Edro setzte nun sein Bündel auf den Schanktisch. "Ihr irrt, Herr Wirt! Es gibt dieses Land. Es gibt Elfénia", sagte seine dunkle Stimme.
Tiefe Falten legten sich auf des Wirtes Stirn. "Wie wollt Ihr das wissen, Mann?", fragte er etwas ungehalten.
"Ich war bereits dort - vor vielen Jahren schon. Man sagte mir, es sei ein sagenhaftes, wunderschönes Land. Aber das ist nicht wahr. Elfénia ist der schrecklichste Flecken Erde, den ich je betreten habe!" Der Bepelzte lächelte matt und traurig. "Aber das ist nicht weiter wichtig. Ich möchte diese Nacht hier bleiben, Herr Wirt. Ist das möglich?"
"Es ist für jeden möglich, der mit gutem Geld zu zahlen vermag!", war die Antwort des Wirtes.
"Wer seid Ihr?", fragte Edro den in Pelz Gekleideten.
"Mein Name ist Mergun. Mergun von der Wolfsinsel! Und wer seid Ihr?"
"Ich bin Edro aus Dakor."
"Mein Name ist Lakyr aus Thorkyr." Er streichelte liebevoll seine Katze, die leise schnurrte.
"Die Männer der Wolfsinsel führen Krieg gegen Thorkyr, aber das soll uns nicht daran hindern, Freunde zu werden", rief Mergun aus.
"Erzählt mir von Elfénia, Mergun", forderte Edro, wobei er dem Wirt bedeutete, ihm etwas zu Trinken zu geben. Mergun nahm die haarige Pelzmütze von seinem Haupt und knetete sie mit den Händen.
"Da gibt es nicht viel Erfreuliches zu erzählen, Freunde. Glaubt mir, es ist kein schönes Land und ich kann jedem, der es sucht nur dazu raten, diese Suche abzubrechen. Früher, da glaubte ich, ich würde dort die Erfüllung meiner Träume und den Sinn meines Lebens finden die Träume, die dort in Erfüllung gingen, waren Alpträume, und der Sinn den die dort lebenden Menschen in ihrem Leben sehen ist nicht der, den ich meinem Leben geben will!"
"Aber, seid Ihr jetzt glücklich, Herr Mergun?", fragte Edro.
Mergun schüttelte betrübt den Kopf. "Mir scheint es so, als wäre ich mein ganzes Leben lang nur traurig gewesen. Nachdem ich Elfénia wieder verlassen hatte, irrte ich durch die Welt. Ich war auf der Suche nach etwas, was ich selbst nicht richtig erklären kann. Vielleicht war ich auf der Suche nach all dem, was ich hoffte, in Elfénia finden zu können. Ich weiß es nicht."
Gedankenverloren blickte Edro das Glas an welches ihm der Wirt hingestellt hatte. "Habt Ihr von der Theorie gehört, dass es unendlich viele Länder mit dem Namen Elfénia gibt?"
Mergun nickte. "Aber ich halte sie für unwahrscheinlich."
Edro zuckte nur mit den Schultern. "Ich jedenfalls werde Elfénia suchen, solange mir Kraft und Leben dazu bleibt, denn ich weiß, dass ich erst Frieden finden werde, wenn ich dieses Land gefunden habe. Ich weiß, dass es eine lange Odyssee werden wird."
Mergun blickte an Edro vorbei zum Fenster hin. "Ich habe die Hoffnung längst aufgegeben, irgendwann einmal Frieden zu finden", sagte er schwermütig.
"Wollt Ihr Euch nicht uns anschließen, Mergun?", fragte jetzt Lakyr. Mergun zuckte mit den Schultern. Mit der Hand fuhr er sich über die unrasierten Wangen.
"Was würde es mir bringen, außer, dass ich Elfénia zum zweitenmal finden würde und wieder feststellen müsste, dass Elfénia nicht das Land ist, das ich suche?"
"Aber wenn Ihr so weitermacht wie bisher, werdet Ihr Euer Leben lang umherirren, ohne Ziel. Ist das vielleicht eine bessere Aussicht?", fragte Edro.
"Vielleicht. Ich weiß nicht viel über solche Dinge." Mit der Hand stützte er seinen ungepflegten Kopf.
"Vielleicht ist es wirklich das Beste, wenn ich mich Euch anschließe", brummte er dann.
Lakyr streichelte seine Katze. "Ich will Euch nichts einreden, Mergun, aber Ihr könntet uns auf unserer Suche sicherlich gut helfen, schließlich wisst Ihr von uns allen hier am meisten über Elfénia. Ihr wart ja bereits da", murmelte er.
"Wenn Ihr schon nicht mit uns ziehen wollt, so sagt uns wenigstens, wo Elfénia liegt", bat Edro, doch Mergun schüttelte den Kopf.
"Ich habe vergessen, wo Elfénia liegt. Ich wollte es vergessen. Ich wollte nie wieder in dieses schreckliche Land."
Auf Edros Gesicht spiegelte sich Enttäuschung wieder. "Schade", sagte er. "Schade, dass Ihr uns nicht einmal das sagen könnt."
Mergun sah Edro in die Augen. "Ich werde Euch auf Eurer Suche begleiten. Vielleicht werde auch ich das finden, was ich nun schon so lange Jahre suche. Es könnte sein, dass es doch mehrere Länder mit dem Namen Elfénia gibt und das ich lediglich das Falsche erwischt habe. Vielleicht ist es nur ein anderes Elfénia, nach dem ich suche. Wer weiß?"
Edro nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas.
"Ja, wer weiß? Wir wissen überhaupt so wenig von der Welt und den Mächten, die sie lenken", sagte er träumerisch.
Lakyrs Klepper brauchte dringend etwas Ruhe und so blieben sie noch einige Tage in Paramon.
Während dieser Zeit erstand Mergun bei einem alten, listig aussehenden Händler einen Apfelschimmel.
Zwar war er weder so zäh und widerstandsfähig, wie die Streitrösser der Ritter von Arana, noch so stämmig und ausdauernd wie die Pferde der Wolfsinsel. Aber das störte Mergun alles recht wenig.
Unterdessen fragte Edro überall in der Stadt nach Elfénia.
Dabei traf er auf die merkwürdigsten Leute. Er kam unter anderem mit einer Hellseherin, einer Hexe und einem Magier zusammen. Aber sie alle konnten oder wollten ihm nichts über Elfénia erzählen.
Von einer geschwätzigen Marktfrau erfuhr er schließlich, dass in Paramon ein gewisser Druas lebe, der Karten von unbekannten Ländern besitze. Sie konnte ihm auch den Weg zu Druas` Villa sagen.
Sie lag in einem relativ unzugänglichen Viertel der Stadt, an einer Straße, die man hier die Straße der steinernen Götzen nannte. Und tatsächlich sah man hier und da Götzenstandbilder, die einen mit gierigen Blicken betrachteten und grimmig ihre riesenhaften Zähne fletschten. Als Edro die Straße der steinernen Götzen betrat, bemerkte er hin und wieder Leute, die den hungrigen Standbildern Opfer darbrachten. Schon nach kurzem stand er vor Druas` Haus. Es war ein wahrer Prachtbau und so schloss Edro, dass der Mann, dem er einen Besuch abstatten wollte, wohl recht vermögend war.
Er sah an sich herab und fragte sich, ob man ihn in seinen verbrauchten Sachen überhaupt zu Druas vorlassen würde. Ach was!, sagte er sich aber dann. Druas ist weder der Princeps von Arana, noch der König von Paramon! Er wird mich schon anhören!
Wohlgemut klopfte Edro nun also an das schwere Tor, welches aus edlem Holz war und wenig später öffnete ihm ein riesiger Thyrnese das Tor. dass es sich um einen Thyrnesen handelte, sah Edro sofort, denn nur die Menschen von den Thyrn-Inseln besaßen eine grüne Hautfarbe. Seine Augen waren grau und kalt und Edro zweifelte keinen Moment daran, dass dieser Mann ihn ohne mit der Wimper zu zucken umbringen würde, wenn er den Befehl dazu erhielte. Der Thyrnese grinste.
"Was wollt Ihr von meinem Herren?"
"Ich muss mit ihm sprechen."
"Seid Ihr bei ihm angemeldet?"
"Nein, aber.. ,
"Ich fürchte, dann werdet Ihr wohl kaum Aussicht haben, ihn zu Gesicht zu bekommen. In welcher Angelegenheit wollt Ihr ihn denn sprechen?"
"Es geht um die alten Karten, die Druas besitzt." Der Thyrnese funkelte Edro böse an.
"Mein Herr verkauft sie nicht", zischte er und schlug das hölzerne Tor wieder zu.
Edro sollte gerade noch rufen, dass er auch gar nicht die Absicht und das Geld habe, etwas zu kaufen, aber es war bereits zu spät.
Er wandte sich ab und überlegte. Was konnte er nun tun? Sollte er vielleicht gewaltsam in Druas` Anwesen eindringen? Die Mauer, welche sein Haus umgab, war nicht besonders hoch und Edro hätte sie sicherlich mit Leichtigkeit überwinden können, aber er zögerte.
Sollte er jetzt über die Mauer klettern, wo ihn jeder sehen konnte?
Nein. Er musste zumindest so lange warten, bis es dunkel war.
Er ging also davon, aber schon kurz nach Sonnenuntergang war er wieder da. Mit einigen raschen, geschickten Bewegungen hatte er die Mauer erklommen und starrte auf den Thyrnesen, der unruhig im Garten herumpatrouillierte.
Edro glitt von der Mauer herunter und versteckte sich hinter einem dichten Gebüsch. Der Thyrnese wandte zwar misstrauisch den Blick, doch schien er nichts bemerkt zu haben.
In einem günstigen Augenblick schlich sich Edro an ihn heran und versetzte ihn mit einem Schlag ins Land der Träume. Nur ein dumpfes Stöhnen ging noch von ihm aus, bevor er bewusstlos zu Boden sackte.
Edro schleifte den leblosen Körper hinter ein Gebüsch und sah sich dann misstrauisch im Garten um.
Außer dem Thyrnesen schien es hier keine Wächter zu geben. Rasch hatte Edro mit Hilfe seines Dolches das Schloss der Tür aufgebrochen. Vorsichtig öffnete er sie und trat ein.
Es war ein großes, saalartiges Zimmer, das sich ihm offenbarte. Es war fast stockdunkel - nur durch ein winziges Fenster fiel etwas Licht.
Edro steckte seinen Dolch weg und zog dafür sein Schwert. Wer wusste schon, was in einem Haus wie diesem für Gefahren lauern konnten?
Von der Marktfrau, die ihm von Druas und seinen Karten erzählt hatte, war ihm gesagt worden, dass in der Straße der steinernen Götzen die verrücktesten und extravagantesten der Paramonier lebten. Nicht selten, so hatte die Marktfrau berichtet, hielten sie sich seltsame Monstren als Haustiere oder engagierten Magier zu ihrer Bewachung.
Edro hatte nicht recht gewusst, ob er der Marktfrau glauben sollte oder nicht.
Vorsicht war auf jeden Fall das Beste.
Edro ließ zwar äußerste Wachsamkeit walten, aber dennoch bemerkte er nichts Verdächtiges.
Ich muss mich beeilen!, wurde es dem Dakorier klar. Bevor der Thyrnese wieder zu sich kommt, muss ich fertig sein!
Gewand wie eine Katze schlich er eine Treppe hinauf.
Behutsam öffnete er eine Tür und gelangte in ein mit Büchern und Bildern vollgestopftes Zimmer.
Ob Druas hier seine Karten aufbewahrte? Edro suchte zwischen den Büchern herum, aber nirgends fand er eine Landkarte. Am liebsten hätte er wütend die Bücher zu Boden geworfen, aber das hätte sicherlich den Herrn des Hauses aufgeweckt.
"Was macht Ihr da?", hörte er da plötzlich eine erstaunte Stimme.
Edro blickte sich blitzschnell um und sah in das fette Gesicht eines Mannes,der sicherlich nicht an Unterernährung litt.
Er war in ein weißes Nachthemd gekleidet und in der Hand hielt er eine Lampe.
"Wer seid Ihr?", fragte Edro, der ebenso erstaunt wie der Mann vor ihm war.
"Ich bin Druas. Und Ihr?"
"Mein Name ist Edro."
"Und was sucht Ihr hier - mitten in der Nacht?"
"Ich wäre ja auch am Tag gekommen, hätte Euch Euer thyrnesischer Wächter eingelassen. Ich suche nach alten Landkarten."
"Wo ist Saurin jetzt?"
"Saurin?"
"Der Thyrnese."
"Er ist bewusstlos und liegt im Garten hinter einem Strauch." Druas nickte düster und stellte die Lampe auf einem kleineren Tisch ab.
"Urkivrykä!", rief er dann. Und aus dem Nichts entstand ein weißes, leuchtendes, formloses Etwas. Edro erschrak.
"Das ist Urkivrykä, mein Leibwächter. Er versteht wenig Spaß, besonders bei Dieben!"
"Ich wollte nicht stehlen."
Druas lachte schallend.
"So? Was wolltet Ihr denn?"
"Ich bin auf der Suche nach einem Land mit dem Namen Elfénia. Aber es ist auf keiner mir bekannten Karte verzeichnet. Als ich von Euch und Euren Karten erfuhr, dachte ich, dass dieses Land vielleicht auf ihnen verzeichnet sein könnte. Und um dieses festzustellen bin ich hier."
Druas betrachtete Edro nachdenklich. Seine braunen Augen musterten ihn einige Augenblicke lang durchdringend.
Währenddessen verhielt sich Urkivrykä, der Dämon, den Druas zum Leibwächter hatte, völlig ruhig.
"Soll ich Euch nun glauben, Herr, oder nicht?", fragte er dann, wobei er heftig mit den Schultern zuckte.
"Von einem Land mit dem seltsamen Namen Elfénia habe ich jedenfalls noch nichts gehört. Ich glaube auch nicht, dass es auf dieser Welt ein Land mit diesem Namen gibt!"
"Und auf Euren Karten? Sind dort nicht doch irgendwelche Hinweise?", fragte Edro enttäuscht. Aber Druas schüttelte den Kopf.
Das weiße, formlose Etwas, das Urkivrykä war, schwebte langsam auf Edro zu. Dieser zog daraufhin sein Schwert.
Druas lachte hässlich.
"Das hilft Euch gegen diesen Dämon nicht!", stellte er höhnisch fest, und Edro ahnte, dass er recht behalten sollte.
Da spürte er einen ungeheuren Druck in seinem Kopf, der allmählich auch schmerzhaft wurde.
Verzweifelt ließ er sein Schwert fallen und fasste mit beiden Händen nach seinem Kopf.
Um ihn herum sah er nur noch weißen Nebel - Urkivrykä! Der Schmerz wurde bald so brennend, dass er nichts mehr um ihn herum wahrnehmen konnte. Er merkte noch, wie er zu Boden sank.
Und dann ward es Nacht um ihn.
Als Edro erwachte, war das erste, was er spürte, die Pfote einer Katze.
Als er sich aufrichtete, erblickte er sie!
Die Zweiköpfige.
Sie stand da und schaute ihn mit ihren vier Augen nachdenklich an.
Auf dem Boden lag weißer Staub!
Was hatte die Katze nur mit Urkivrykä angestellt?
Hatte sie eine Art magisches Duell mit ihm ausgetragen? Und wie war sie hier her gelangt?
Niemand würde Edro auf diese Fragen Antworten geben können, mit Ausnahme der Katze, und die konnte nun einmal nicht sprechen. Und wo war Druas? Eine unheilvolle Ahnung beschlich Edro!
Er stand auf und steckte sein Schwert in die Scheide. Schließlich fand er Druas in einer Ecke des Raumes - mit zerbissener Kehle.
Nein, den Tod hatte Edro dem reichen Mann nicht gewünscht! Dann suchte Edro in den angrenzenden Räumen nach Druas` Landkarten.
Schließlich fand er sie auch.
Geduldig studierte er sie eine nach der anderen. Aber auf keiner fand er den Namen Elfénia.
Schließlich gab er es auf und verließ zusammen mit der Zweiköpfigen das Haus.
Im Garten fand er dann auch die Leiche des Thyrnesen. Sie ließ keinen Zweifel daran, wer für ihren Tod verantwortlich war.
Stumm schlich Edro durch die nächtlichen Straßen Paramons. Dicht folgte ihm die dämonische Katze. Auch als er die Straße der steinernen Götzen endlich verlassen hatte, war in ihm noch keine Ruhe eingekehrt. Sein Inneres war aufgewühlt wie schon seit langem nicht mehr. In dieser Nacht hatte es zwei Tote gegeben. Zwar war er am Tod Druas` und des Thyrnesen nicht schuld, aber er fühlte sich in gewissem Sinne mitverantwortlich. Was war diese Zweiköpfige doch für ein dämonisches Wesen! Aber hatte sie das alles nicht nur seinetwegen getan? Hatte sie die beiden Männer denn nicht nur deshalb umgebracht, um ihn vor Urkivrykä zu retten?
Nach einer Weile hatte er wieder die Taverne erreicht, in der er, Lakyr und Mergun übernachteten. Knarrend machte er die Tür auf und ging hinein. Die Katze miaute leise. Es war zwar schon lange nach Mitternacht, aber in der Taverne herrschte noch immer Betrieb.
Einige der Zecher waren bereits über ihren vollen Gläsern eingeschlafen - und auch der Wirt schien nicht mehr hellwach zu sein. Jemand ging die Treppe hinunter und betrat leise den Schankraum. Es war Lakyr.
"Ich war in Sorge um Euch - so schickte ich meine Katze, um Euch zu suchen", erklärte er.
"Sie hat mir in der Tat des Leben gerettet, aber dafür das zweier anderer genommen!"
Lakyr antwortete nicht. Bei dem schläfrigen Wirt bestellte er ein Glas und trank es mit einem Schluck aus. Dann ging er ans Fenster und starrte nachdenklich hinaus. Auf leisen Sohlen folgte ihm seine Katze und er nahm sie auf den Arm und streichelte sie behutsam.
"Wo ist Mergun?", fragte Edro dann.
"Er schläft." Edro nickte leicht.
"Ich werde mich jetzt auch zur Ruhe legen!", erklärte er, wobei er lautstark gähnte. Aber bevor Edro die Treppe hinaufzusteigen vermochte, trat ihm Lakyr in den Weg.
"Wart Ihr erfolgreich?"
"Nein." Mit knappen Sätzen erklärte der Dakorier Lakyr seine nächtlichen Erlebnisse.
"Es ist wie verhext! Niemand scheint dieses Land zu kennen!", rief er dann wütend aus. Lakyr jedoch sagte nichts. Stumm wandte er sich um und ging wieder ans Fenster. Seine zweiköpfige Katze schnurrte leise.
Nach ein paar weiteren Tagen, die sie in Paramon verbrachten, ging die Reise weiter. Edro, Lakyr und Mergun waren schon einige Stunden geritten, da trafen sie auf einen Zwerg. Er saß am Wegrand und sprang auf, als er Mergun und die anderen kommen sah. Freundlich hob er die Hand zum Gruß.
"Hallo!", rief Edro und zügelte sein Pferd. "Wer seid Ihr, kleiner Mann und wohin wollt Ihr?"
"Ich bin Gialbeth, der Zwerg. Und ich suche ein Land. Es soll Elfénia heißen, aber ich habe auch schon andere Namen gehört. Deshalb sitze ich hier und warte! Man hat mir gesagt, dass Leute diesen Weg nähmen, die ebenfalls Elfénia suchen. Aber nun sitze ich hier schon den ganzen Tag und döse vor mich hin, aber niemand, der hier vorbeikommt, kennt Elfénia. Kennt Ihr dieses Land?"
"Wir sind ebenso wie Ihr auf der Suche nach ihm", gab Lakyr zur Antwort.
"Wollt auch Ihr Euch uns anschließen, Herr Gialbeth?", fragte Mergun. Der Zwerg nickte heftig.
"Ja, das wäre zur Zeit mein einziger Wunsch. Wohin reitet Ihr? Wo gedenkt Ihr, Elfénia zu finden?"
Mergun von der Wolfsinsel wechselte mit Edro einen bedeutungsvollen Blick und dieser wandte sich schließlich an Lakyr.
"Wir haben kein bestimmtes Ziel - zur Zeit reiten wir nach Nordosten", sagte schließlich Edro.
"Das ist mir recht."
"So setzt Euch mit auf mein Pferd, Gialbeth!", bot Mergun an. Mit einigen geschickten Bewegungen hatte der Zwerg des Pferd erklommen und saß hinter dem Nordländer im Sattel. In diesem Moment erblickte er Lakyrs zweiköpfige Katze, die sich unter dem Mantel ihres Herrn versteckt gehalten hatte. Nun aber kam sie hervor.
"Was habt Ihr da für eine merkwürdige Katze, Herr...äh, wie heißt Ihr eigentlich?"
"Lakyr." Und auch die anderen hielten es nun für angebracht, sich ebenfalls vorzustellen.
"Ja, es ist zweifellos ein besonderes Tier." Und bei diesen Worten streichelte Lakyr sie zärtlich. Fast so, als hätte er ein Kind auf dem Arm.
"Wisst Ihr, ich fand sie in Arana. Sie streunte herrenlos umher und schloss sich mir an. Ich weiß es nicht, aber vielleicht ist sie auch auf der Suche nach Elfénia!"
In des Zwerges Gesicht traten Angst und Abscheu.
"Die Leute dieser Gegend wissen viel über eine zweiköpfige Katze zu berichten", sagte Gialbeth vorsichtig, sichtlich darum bemüht, Lakyr nicht zu erzürnen. Das Gesicht des Thorkyraners verfinsterte sich.
"Was die Leute reden, interessiert mich nicht."
"Aus dem Westen sind Leute gekommen, die haben die hiesige Landbevölkerung vor Euch und Eurer Katze gewarnt. Sie werden Euch sicherlich irgendwo auflauern. Und die verworrenen Schluchten dieser Gegend eignen sich besonders gut für einen Hinterhalt", meinte der Zwerg. Lakyr zuckte lediglich mit den Schultern.
"Und wie ist es mit Euch, Gialbeth? Glaubt Ihr diesen abergläubischen Unsinn?" fragte er dann.
"Ich weiß nicht", antwortete der Zwerg unsicher. Anscheinend konnte Gialbeth sich eines Unbehagens nicht erwehren.
Es schien Edro so, als würden die Felswände, die sich vor oder neben ihnen erhoben immer steiler und schroffer. Irgendwo in der Ferne konnten die Reisenden schneebedeckte Gipfel erkennen. Dörfer und dichter besiedelte Gebiete mieden sie.
"Sagt mir, Gialbeth, wer war es, der Euch sagte, dass wir den Weg gehen würden, den wir gegangen sind?", fragte Mergun den Zwerg.
"Es war ein etwas sonderbarer Mann, vielleicht ein Magier oder Adept, ich weiß es nicht. Von seinem Gesicht habe ich nichts sehen können. Er war in eine schwere Kutte gehüllt, und der Schatten, welchen seine Kapuze warf, verdeckte sein Antlitz."
"Ihr wisst nichts Näheres über diesen Mann?"
"Nein."
"Aber Ihr habt ihm geglaubt!"
"Ja."
"Aber warum?", fragte Mergun.
"Warum nicht?" Der Mann von der Wolfsinsel seufzte und Lakyrs Katze miaute.
"Wisst Ihr, Herr Mergun, wenn man auf der Suche nach Elfénia ist, dann folgt man jeder noch so kleinen Fährte."
Am Himmel stand ein wüstes Gemälde aus Wolken und Sonnenstrahlen.
Lag Elfénia vielleicht dort oben in den Wolken? Es konnte dann auch nicht sein, dass dieses Land auf einer Landkarte eingezeichnet war! Gegen Nachmittag machten die vier Reiter auf einem Felsplateau Rast und aßen von ihrem mitgebrachten Proviant. Ein Raubvogel kreischte und ein leichter Wind wehte. Als Mergun Gialbeth etwas von seinem Proviant reichte, wehrte dieser lächelnd ab.
"Lasst nur, Herr Mergun. Nehmt Ihr das Essen - Ihr habt es eher nötig als ich", meinte er dann rätselhaft. Mergun zuckte unschlüssig mit den Schultern.
"Ihr müsst es wissen, Gialbeth. Aber klagt mir nachher nicht Euren Hunger!"
"Ihr werdet es mir vielleicht nicht zutrauen, aber ich verstehe mich ein wenig auf die Zauberei!" Nicht selten sagte man den Zwergen magische Fähigkeiten nach. Aber dennoch waren die anderen alle sehr erstaunt. Vielleicht lag es daran, dass es zu jener Zeit schon nicht mehr allzu viele Zwerge auf der Welt gab. Gialbeth verschränkte nun Arme und Beine und schloss dabei die Augen (so wie es die Priester am Fuße des Uytrirran, des Berges, auf dem die Götter der Menschen wohnten, manchmal taten, wenn sie meditierten). Man sah seinen Zügen die Anstrengung wohl an, denn sie verzogen sich grimassenhaft. Seine Hautfarbe wechselte in ein giftiges Grün. Schwarze Nebelschwaden erschienen aus dem Nichts und hüllten den Zwerg für einen Moment ganz ein. Als sie sich erhoben, stand eine Holzplatte mit frisch zubereitetem, dampfenden Fleisch vor Gialbeth, der stolz auf das Werk seiner Zauberkraft blickte.
"Meine Hochachtung!", meinte Mergun anerkennend und der Zwerg lächelte bescheiden.
"Hier! Nehmt Euch!", sagte er und reichte die Platte herum. Zuerst zögerten Edro und Lakyr, aber dann griffen auch sie zu. Nachdem sie die ersten Bissen verschlungen hatten, sagte Edro: "Ihr scheint ja ein großer Magier zu sein, Gialbeth!" Der Zwerg schob sich lächelnd ein Stück Fleisch in den Mund.
"Ja, ich kann eine Platte mit Fleisch herzaubern, aber das ist schon anstrengend genug. Für Größeres reicht meine Macht nicht!"
Um Merguns Pferd zu entlasten, nahm Edro Gialbeth für die weitere Reise in seinen Sattel. Es war schon dunkel, da erreichten sie Whanur, eine andere Hafenstadt an der Küste des Ghormallischen Meeres. Aber hier fanden sie nirgends eine Herberge, und so mussten sie in einem Pferdestall übernachten. Zu dieser Zeit feierte man in Whanur nämlich das Naco-Fest. Naco hatte vor mehr als 200 Jahren gelebt und damals mit Hilfe von Magie seine Stadt vor der Übermacht der aus dem Norden kommenden Brenen gerettet - und seit dem gedachte man jedes Jahr dem Sieg des Naco. Aus der ganzen Umgebung waren die Menschen in die Stadt geströmt, um die Feierlichkeiten mitzuerleben. Aber es waren auch viele Ausländer (vor allem Händler aus Arana, Ylland oder Ghormall) gekommen. Sie alle zusammen überfüllten die Stadt hoffnungslos. Auf jeden "echten" Whanurier kamen mindestens drei Fremde!
"Zu dumm, dass wir gerade jetzt hier aufkreuzen mussten!", schimpfte Gialbeth verdrossen, dem es offenbar am schwersten fiel, sich an sein Lager aus Stroh zu gewöhnen. Mergun brummte etwas, was jedoch niemand recht zu deuten vermochte. Er hatte auf der barbarischen Wolfsinsel ohnehin nie großen Luxus kennengelernt und so störte ihn das Lager im Heu auch wenig. Er glaubte sogar, schon in weniger bequemen Betten geschlafen zu haben, als in diesem Bett aus Heu und Stroh.
"Etwas besseres, als zum Naco-Fest hier einzutreffen, konnte uns gar nicht passieren, Freunde! Das Fest dauert vier Tage und zieht eine Unmenge von Menschen nach Whanur. Viele kommen von weit her! Es wäre zumindest möglich, dass einer von ihnen etwas über Elfénia weiß", erklärte Edro gut gelaunt.
"Vielleicht kann uns Freund Gialbeth ein bequemeres Lager herzaubern!", knurrte Lakyr - und seine Katze bekräftigte ihn mit einem lautstarken Fauchen, das alle erschreckte. Wie loyal ist dieses Dämonenwesen?, fragte sich Edro unwillkürlich. Aber dann musste er daran denken, dass die Zweiköpfige ihm schließlich das Leben gerettet hatte. Gialbeth schüttelte betrübt den Kopf.
"Um Euch ein weicheres Lager herzuzaubern, Herr Lakyr, reicht meine bescheidene Kraft leider nicht aus!" Lakyr fluchte leise vor sich hin.
"Wer mag bloß Euer Zaubermeister gewesen sein?", fragte er wenig taktvoll.
Gialbeth errötete. "Es war der berühmte Hulkin, falls Euch dieser Name etwas sagt! Er war der berühmteste Zauberer des ganzen Mondlandes!", rief der Zwerg zornig.
"Er war?", fragte der Thorkyraner bissig.
"Piraten von der Adlerinsel erschlugen ihn." Lakyr sagte nun nichts mehr. Er schien eingesehen zu haben, dass er Gialbeth gekränkt hatte. Misstrauisch schaute der Zwerg die zweiköpfige Katze auf des Thorkyraners Schoß an und sie erwiderte seinen Blick. Irgendwo in seinen Erinnerungen war etwas, was mit einer zweiköpfigen Katze zu tun hatte .Aber er wusste es nicht mehr recht. So sehr er konnte strengte Gialbeth sich an, um sich zu erinnern. Nachdenklich kratzte er sich an seinem kurzen Spitzbart. Hatte ihm nicht Hulkin einst von einer zweiköpfigen Katze erzählt? Er wusste es nicht mehr. Es schien ihm fast so, als würde die Katze ihn durch ihren Blick daran hindern, sich zu erinnern. Ihre zwei Paar Augen hielten den Zwerg gefangen. Es war eine tiefe Sehnsucht, die aus diesen Augen sprach. Ja, auch diese Katze war nach etwas auf der Suche. Suchte auch sie Elfénia? Oder war es etwas anderes, wonach sie sich sehnte?
Am nächsten Morgen zauberte Gialbeth zunächst einmal eine Platte mit allerlei Köstlichkeiten herbei, an der sie sich satt essen konnten. Als Edro sich zufrieden mit einem Ärmel den Mund abwischte, blickte er in der Runde umher und musterte jeden eingehend. "Wir werden heute intensiv nach Elfénia forschen. Es ist am besten, wenn wir uns zu diesem Zwecke aufteilen", meinte er dann. Gialbeth nickte heftig. "Ich werde mit Mergun gehen!", kündigte er an.
"Das soll mir recht sein. So werde ich mit Lakyr auf die Suche gehen!", erwiderte Edro. Gialbeth war froh, nicht mit Lakyr gehen zu müssen. Aus irgendeinem unbekannten Grund graute ihm vor dessen dämonischer Katze. Und so trennten sich die Gefährten dann und jede der beiden Gruppen ging ihre eigenen Wege. Als Edro und Lakyr gerade über den großen Marktplatz gingen, zeigte sich der König dem Volk. In einer Sänfte wurde Grusin II. durch die Menge getragen. Matt lächelnd wedelte der bleiche König mit der Hand und die Whanurier winkten zurück. Aber er konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nur ein Schatten des großen Naco war, der Whanur einst vor den Brenen gerettet hatte! Es mochte nur noch eine Frage der Zeit sein,wann Grusin II. einer der vielen Hofintrigen zum Opfer fiel. Bereits jetzt ging das Gerücht um, dass einige ehrgeizige Generäle dementsprechende Pläne gefasst hatten. Kenner der Situation gaben Grusin höchstens noch ein Jahr. Aber wenn es schlimm kam, dann konnte der Machtwechsel auch schon in den nächsten Tagen stattfinden. Irgendwo in einer der vielen Seitenstraßen verschwand die Sänfte mit dem bleichen König.
"Habt Ihr gesehen, wie bleich der König ist?", hörte Edro einen der Händler zu einem Ghormallier sagen.
"Ja, er sieht krank aus", stimmte der Angeredete zu.
"Man sagt, unser König Grusin sei verhext!" Der Ghormallier zuckte mit den Schultern.
"Egal, was mit ihm ist! Jedenfalls wird er die Herrschaft wohl nicht mehr lange ausüben können!" Edro und Lakyr ließen sich von der Menge treiben und trafen eine Vielzahl sonderbarer Leute. Viele von ihnen stammten aus fernen Ländern und waren schon viel in der Welt herumgekommen. Aber keiner von ihnen kannte ein Land mit dem Namen Elfénia. In einer dunklen Nebenstraße aber sollten sie einen Hinweis finden! Eine sonderbare Frau trat ihnen in den Weg. Ihre blinden Augen starrten zuerst Edro und dann Lakyr stumm an.
"Ihr seid auf der Suche nach Elfénia, nicht wahr?", fragte sie mit blassen Lippen. Ihre weißen Haare wurden durch den frischen Wind, der sich seinen Weg zwischen den Häusern suchte, in Bewegung gehalten. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Ihr dreckiges, altes, ausgebleichtes Kleid hing ihr in Fetzen vom Leib. Sie war blind - und doch schien sie Edro und Lakyr genau wahrzunehmen. "Ja, Frau, wir suchen Elfénia", antwortete Edro auf ihre Frage. Die blinde Frau nickte leicht.
"Ich habe Euch gesucht, Edro aus Dakor! Und auch Euch habe ich gesucht, Lakyr von der zweiköpfigen Katze!"
"Ihr kennt uns?", war Lakyrs erstaunte Frage.
"Ja."
Sie wandte sich um.
"Folgt mir! Ich werde Euch zu jemandem führen, der Euch sagen kann, wie Ihr Elfénia erreichen könnt." Wortlos folgten sie der Frau, die sie in ein altes, halb verfallenes Haus führte. Auf einem Tisch saß ein in eine schwarze Kutte gehüllter Mann. Es war finster in diesem Raum und da er seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte, konnten weder Lakyr noch Edro etwas vom Gesicht dieses Mannes (oder vielleicht war es auch eine Frau?) erkennen.
"Hier sind sie!", sagte die in Fetzen gekleidete, blinde Frau. Mit einer Handbewegung strich sie sich die weißen Haare aus dem Gesicht. Eine dunkle Stimme brummte im Schatten der Kapuze etwas Unverständliches.
"Ich bin Duran, der Weise aus Nomara!", stellte sich der Düstere vor. Er bewegte sich dabei in keiner Weise.
"Ich will Euch den Weg nach Elfénia zeigen! Wann werdet Ihr Whanur verlassen?"
"Wir haben keine festen Pläne", erklärte Edro.
"Gut. Aber wenn Ihr aufbrecht, so lasst es mich wissen!"
"Das werden wir."
"Ich werde euch dann nach Elfénia bringen."
"Ist es eine lange Reise?", erkundigte sich Lakyr, wobei er seine Katze kraulte.
"Das hängt jeweils von den Reisenden ab", erwiderte Duran rätselhaft. "Und jetzt geht! Und wenn Ihr aufbrecht und die Stadt verlasst, so kommt vorher hier her und nehmt mich mit!"
Mergun von der Wolfsinsel und Gialbeth dem Zwerg war es seltsamerweise sehr ähnlich ergangen.
"Bleibt stehen!", rief ihnen eine Frauenstimme zu, als sie eine der Nebenstraßen passierten.
"Was wollt Ihr von uns, Frau?", fragte Mergun die Frau etwas mürrisch. Sie war von unbestimmtem Alter. Schwarzes, wellendes Haar umrahmte ihr Angesicht. Aber sie war blind. Mit einem Stock ertastete sie sich den Weg, bis sie vor Mergun und dem Zwerg stand.
"Ich bin Dremia, die Wissende! Ihr beide sucht nach Elfénia, nicht wahr?" Mergun wechselte mit Gialbeth einen erstaunten Blick.
"Ja, das ist wahr. Aber woher wisst Ihr das?", erwiderte der Mann von der Wolfsinsel.
"Das ist nicht wichtig, Herr! Wichtig ist lediglich, dass ich dazu im Stande bin, Euch nach Elfénia zu bringen."
"Wart Ihr denn bereits da, Lady Dremia? Habt Ihr Elfénia bereits einmal erreicht?", fragte Gialbeth. Dremia lachte humorlos.
"Nein! Warum auch?"
"Aber wie könnt Ihr andere nach Elfénia bringen wollen, wo Ihr dieses Land doch offenbar auch nicht kennt", gab Mergun zu bedenken. Dremias Gesicht wurde ernst.
"Es spielt keine Rolle, ob ich Elfénia kenne oder nicht! Hauptsache, ich kenne den Weg! Ich bin noch nie in Elfénia gewesen und ich will dieses Land auch niemals sehen! Aber ich werde Euch nach Elfénia bringen. Wann wollt Ihr aufbrechen?"
"Wir haben keine festen Pläne", erklärte Mergun.
"Auch gut. Wenn Ihr aufbrecht, Herr, so kommt bei mir vorbei und nehmt mich mit. Ich werde Euch den Weg zeigen!"
"Ihr seid blind, Lady Dremia!", erinnerte Gialbeth, doch die Frau zuckte nur mit den Schultern.
"Ich habe andere Mittel, um meinen Weg zu finden! Und den Weg nach Elfénia bin ich nun schon so oft gegangen,dass ich ihn mit Sicherheit finden werde." Der Zwerg musterte Dremia kritisch. Er wusste nicht so recht, was er von dieser Frau halten sollte.
"Ihr kommt also bei mir vorbei, wenn Ihr aufbrecht?", fragte sie dann leise.
"Wo wohnst du?", wollte Mergun wissen. Sie deutete mit ihrem Stock auf ein brüchiges, abbruchreifes Haus.
Erstaunlich, dass sie so sicher auf das Haus zeigen kann!, durchfuhr es Mergun.
"Wenn Ihr an die Holztür klopft, so werde ich kommen", versprach die Wissende, wobei sie sich umdrehte und ging. Als sich die vier Gefährten wiedertrafen, berichteten sie einander von ihren Erlebnissen und waren sehr erstaunt.
"Es stellt sich uns nun die Frage, von wem wir uns nach Elfénia führen lassen. Von der wissenden Dremia oder dem weisen Duran?"
"Ich bin für Duran!", erklärte Lakyr. Seine Katze miaute, gerade so, als wollte sie ihrem Herrn damit zustimmen.
"Ich glaube, es ist das Beste, wenn wir beide mitnehmen. Es könnte sich ja bei einem der beiden um einen Scharlatan handeln oder vielleicht irrt sich einer auch ganz einfach mal", schlug Mergun nach einigem Überlegen vor und Gialbeth stimmte ihm lauthals zu.
"Wenn es Elfénia überhaupt gibt, dann gibt es auch nur einen Weg dorthin! Spätestens dann, wenn sie sich über den weiteren Weg nicht mehr einig sind, wissen wir, dass einer von ihnen entweder ein Betrüger ist, oder aber sich ganz einfach geirrt hat!"
"Ihr vergesst, dass es nicht nur ein Land mit dem Namen Elfénia gibt, ehrenwerter Freund Gialbeth", gab Edro zu bedenken. Der Zwerg lachte jedoch.
"Seid Ihr Euch dessen wirklich sicher? Es ist eine Theorie - durch nichts bewiesen!"
"Mag sein, aber es ist mindestens ebenso wahrscheinlich, dass es nicht nur ein Elfénia gibt, wie die Theorie, nach der es nur ein Elfénia gibt - und deshalb auch nur einen Weg."
"Streiten wir uns nicht über Dinge, die im Augenblick uninteressant sind, sondern fassen wir jetzt endlich einen Beschluss!", schimpfte Mergun, womit er die anderen zum Schweigen brachte. Schließlich einigten sie sich darauf, doch alle beide mitzunehmen.
"Und wann brechen wir auf?", fragte Edro.
"So bald wie möglich! Ich habe jedenfalls keine Lust, länger als unbedingt nötig in einem Pferdestall zu schlafen!", erklärte Gialbeth mit Entschlossenheit. Die anderen stimmten ihm zu. Nun sollte Ihr Traum endlich in Erfüllung gehen! Sie sollten nach Elfénia gelangen! Die Mühe des langen Suchens hatte sich ohne Zweifel gelohnt!
Schon am nächsten Morgen wurde alles für die weitere Reise vorbereitet. Gialbeth und Mergun ritten zu der wissenden Dremia. Wie sie mit der blinden Frau abgemacht hatten, klopfte Mergun an die Holztür des halb verfallenen Hauses. Zunächst tat sich nichts und der Mann von der Wolfsinsel versuchte es ein zweites Mal. Nun endlich ging die Tür auf und die wissende Dremia trat heraus. Mit erhobener Hand grüßte sie die beiden Suchenden und zerrte dann aus einem benachbarten Schuppen einen alten Esel, den sie ohne Mühe bestieg.
"Wir sind fertig, Dremia. Wenn Ihr es ebenfalls seid, so können wir aufbrechen!" Aber die Wissende zögerte.
"Da ist noch etwas, was ich mit euch beiden zu regeln hätte", sagte sie. Mergun zog erstaunt seine Brauen hoch und der Zwerg warf ihm einen bezeichnenden Blick zu.
"Was ist es, was du mit uns zu regeln vor hast?", fragte Gialbeth dann. Eine unheilvolle Ahnung verschaffte sich in Merguns Innerem Platz. Er strich sich mit der Hand über die unrasierten Wangen.
"Ich kann euch nicht umsonst nach Elfénia bringen. Das werdet auch ihr beide wohl verstehen." Sie wirkte etwas verkrampft, aber dahinter verbarg sich kalte Berechnung und Geschäftssinn.
"Wie viel wollt Ihr haben, Dremia?", fragte Mergun vorsichtig.
"Hundert Goldstücke pro Kopf!" Erschrocken fuhr der Nordländer zusammen. Hundert Goldstücke! Das war mehr, als er bisher in seinem ganzen Leben schon verbraucht hatte! Es war ein Vermögen!
"Ihr verlangt viel, Lady", stellte er dann bekümmert fest.
"Ist die Erfüllung Eurer Träume nicht viel wert? Der Sinn des Lebens, wie Euresgleichen ihn nennt und wie man ihn angeblich in Elfénia finden kann - meintet ihr vielleicht, man bekäme dies alles umsonst? Ihr müsst selbst wissen, ob euch die Reise nach Elfénia wirklich hundert Goldstücke wert ist, ob es nicht auch andere Dinge gibt, für die es sich lohnt zu leben. Elfénia ist nicht die Welt!"
"Aber Elfénia ist die Erfüllung unserer Träume", erwiderte der Zwerg . Doch die wissende Dremie lachte ihn nur aus.
"Was sind schon Träume? Könnt Ihr von Träumen leben, ehrenwerter Zwerg Gialbeth? Ich kann es jedenfalls nicht und ich glaube, Ihr ebenfalls nicht." Gialbeth warf Mergun einen traurigen Blick zu. Der Nordländer schluckte.
"Hundert Goldstücke pro Kopf können wir nicht zahlen", stieß er schließlich hervor. Die wissende Dremia nickte.
"Es tut mir leid für euch! Aber die Erfüllung der Träume hat ihren Preis, und wer ihn nicht zahlt, kann ihrer nicht habhaft werden!" Während Mergun und Gialbeth von dannen zogen, stieg Dremia von ihrem Esel herunter und scheuchte ihn wieder in seinen Stall.
"Der Erfolg! Er schien so nah zu sein!", rief der Zwerg verbittert aus und Mergun versuchte ihn zu beruhigen.
"Wer auf der Suche nach Elfénia ist, dünkt sich oft schon fast am Ziel und ist enttäuscht, wenn er sieht, wie weit er noch von jenem Lande entfernt ist. Aber am schlimmsten ist es, wenn man Elfénia bereits erreicht hat und dann erkennen muss, dass es nicht das Land ist, was man sucht!" Mit düsteren Gedanken ließen sich die beiden Freunde von ihren Pferden zum abgemachten Treffpunkt tragen.
Unterdessen waren Edro und Lakyr mit Duran dem Weisen zusammengetroffen. Wieder saß er in dem verfallenen Haus auf einem Tisch. Der Raum war unheimlich und finster. Irgendwo im Hintergrund stand die in Lumpen gekleidete, bleiche Frau.
"Wir sind fertig zum Aufbruch, Duran. Wenn Ihr es auch seid, so können wir losziehen", eröffnete Edro. Der in eine schwere Kutte gehüllte Weise nickte.
"Es soll mir recht sein", sagte er und sprang von seinem Tisch herunter. "Aber da ist noch etwas, was ich mit euch gerne besprochen hätte." Edro nickte.
"Worum geht es?"
"Um den Preis. Um den Preis, den ihr beide mir zahlt, wenn ich euch nach Elfénia bringe."
"Von einem Preis war bei unserem ersten Treffen nicht die Rede", erklärte Lakyr und seine zweiköpfige Katze stieß ein furchterregendes Fauchen aus. Aber der weise Duran ließ sich von alledem nicht beeindrucken.
"Ich weiß. Ich habe vergessen, es euch zu sagen. Aber dachtet ihr denn wirklich, ich würde euch umsonst in dieses Land bringen?" Edro und Lakyr schwiegen.
"Ich verlange nicht besonders viel, meine Herren. Ihr müsst mir 150 Goldstücke geben, dann bin ich zufrieden."
"150 Goldstücke! Das ist je fast so viel, wie ich in meinem ganzen Leben brauchen werde!", stieß Lakyr entsetzt hervor.
"Findet Ihr nicht auch, Herr Duran, dass Ihr etwas zu viel verlangt?", fragte Edro.
"In Elfénia wollt ihr die Erfüllung eurer Träume finden, nicht wahr? Und sind euch eure Träume nicht einmal 150 Goldstücke wert? Überlegt euch, wie viel euch Elfénia wert ist!"
"Wir können so viel nicht zahlen - selbst wenn wir ein ganzes Leben 24 Stunden am Tag arbeiten würden!" Duran der Weise zuckte nur mit den Schultern.
"Schade", sagte er und setzte sich wieder auf den Tisch.
"Schade, dass euch beiden die Erfüllung eurer Träume nicht einmal 150 Goldstücke wert sind ist." Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließen Edro und Lakyr das Haus. Draußen warteten ihre Pferde auf sie. Als die Freunde sich bei ihrem Treffpunkt trafen waren sie jeweils sehr erstaunt, dass auch die andere Gruppe allein kam.
"Die wissende Dremia verlangte hundert Goldstücke", erklärte Mergun.
"Hundert? Das ist noch nichts gegen den weisen Duran! Er verlangte gar 150 Goldstücke", erwiderte Edro. Mit finsterem Gesicht streichelte Lakyr seine Katze.
"Es scheint so, als müssten wir allein weitersuchen. Ich glaube, wir werden unser ganzes Leben lang umherirren, ohne Elfénia am Ende gefunden zu haben", murmelte er. Gialbeths Blick schweifte in diesem Augenblick über die zweiköpfige Katze auf Lakyrs Arm, und er fragte sich, ob er sich einst wieder an das erinnern würde, was der große Hulkin über sie gesagt hatte.
Seit der Zeit, da Edro aus Dakor, Lakyr von der zweiköpfigen Katze, Mergun von der Wolfsinsel und Gialbeth der Zwerg einander fanden, um gemeinsam nach jenem geheimnisvollem und sagenumwobenen Land Elfénia zu suchen, das dem, der es erreicht, die Erfüllung seiner Träume schenkt, waren einige Monate vergangen. Nachdem die Vier die Stadt Whanur verließen, wandten sie sich zunächst nach Norden und erreichten die Stadt Bren.
Dann zogen sie durch die tiefen Wälder und steilen Gebirge; zwischen dem Kigurra-Fluss und dem Ghorrap-Fluss. Es gab zwar mancherlei Gerüchte, denen zufolge in diesen Wäldern sonderbare Geschöpfe hausen sollten, wie Zentauren und Dryaden. Aber es war den vier Reisenden kein solches Geschöpf begegnet. Nach einem langen und beschwerlichen Weg erreichten sie dann endlich Ghormall, jene große und mächtige Stadt, die dem Ghormallischen Meer ihren Namen lieh. Einst hatte diese Stadt eine Stadtmauer besessen (so wie eigentlich alle wichtigen Städte jener Zeit), aber das war schon Jahrhunderte her. Jetzt waren nur noch die Überreste jener Mauer zu sehen, die vor langer Zeit diese Stadt geschützt hatte.
Ghormall wucherte unkontrolliert und dehnte sich vor allem nach Norden und Süden hin aus (im Westen war das Meer und im Osten die Berge). Nun war es aber nicht so, dass sich die Ghormallier selbst so rasend vermehrt hätten. Vielmehr war die arme Landbevölkerung am Bevölkerungszuwachs der Stadt schuld. Mond für Mond, Jahr für Jahr strömten weitere Massen von ehemaligen Bauern nach Ghormall, um hier Arbeit und Brot zu suchen. Oft waren ihre Felder durch Stürme und Regen verwüstet oder ihre Ernte durch eine unbarmherzig scheinende Sonne verbrannt.
Aber in der Stadt waren sie meistens noch ärmer dran, denn weder Arbeit noch Brot konnte sie in ausreichendem Maße bieten.
Sie kamen mit viel Hoffnung - doch ihre Hoffnung musste fast immer bitter enttäuscht werden. Auch die vier Reisenden kamen mit Hoffnung nach Ghormall, allerdings mit einer Hoffnung anderer Art. Sie hatten gehört, dass es in Ghormall einen Mann namens Dasiquol gaben; er war ein Magier oder Weiser (sie hatten darüber verschiedene Auffassungen gehört, so sprachen manche sogar von einem Propheten) und kannte angeblich alle Geheimnisse der Welt! Es hieß auch, dass Tag für Tag viele ratsuchende Menschen zu Dasiquol pilgerten, auf das er ihre Probleme löse.
Magier, Adepten, Geisterbeschwörer und ähnliche Leute gab es zu jener Zeit genügend auf der Welt (und vor allem in Ghormall), aber es war keiner da, dessen Ruf so weit schallte, wie der Dasiquols. Bereits in Bren hatte eine geschwätzige Marktfrau Edro von des "Propheten" (so nannte ihn die Marktfrau) Wundertaten berichtet. Sicherlich hätten die Vier nicht viel auf die Erzählung dieser Frau gegeben, wenn ihnen der Name Dasiquol nicht immer wieder begegnet wäre. Und bald waren alle vier der Ansicht, dass es sich bei diesem Manne (ob Prophet, Magier oder Geisterbeschwörer: ein Mann war er auf jeden Fall) um eine außergewöhnliche Persönlichkeit handeln musste. Als sie Ghormall erreichten, war es schon lange nach Sonnenuntergang. Sie übernachteten vor der Stadt in einem kleinen Wald, um ihr knappes Geld nicht in eine Taverne tragen zu müssen. Auf knorrigen Baumwurzeln und faulendem Geäst zu schlafen war zwar nicht gerade bequem, aber dafür war des Essen, welches Gialbeth mit seinen Zauberkräften herzauberte, um so besser. Der Zwerg, der einst so sehr über ihr Lager im Heu in Whanur geschimpft hatte, sehnte sich jetzt förmlich nach einem warmen Pferdestall, in dem er bitte übernachten können! Und so kam es, dass er die halbe Nacht lang herumprobierte, um ein weiches Bett herzaubern zu können. Aber leider war dem kleinen Zwerg kein großer Erfolg beschieden. Und all sein Sehnen und Wünschen nach einer weichen Matratze half ihm nichts - schließlich musste sich auch Gialbeth zufrieden geben.
Am nächsten Tag gingen sie dann in die Stadt und erkundigten sich nach Dasiquol. Der Prophet (oder Magier) lebte in der nach ihm benannten "Straße des Propheten" in einem von seinen Anhängern erbauten Tempel. In Ghormall gab es unzählige Kulte und Religionen, von denen manche recht sonderbar waren - und daher existierte auch eine Unzahl von Göttern, Propheten, Heiligen und Tempeln. So konnte niemand mit Sicherheit sagen, nach welchem Propheten die Straße des Propheten benannt war - aber die Anhänger des Dasiquol bezogen den Namen dieser Straße natürlich auf ihren Propheten. Es gab allerdings auch eine Unzahl von Propheten anderer Kulte (von denen mindestens ein halbes Dutzend ebenfalls in der Straße des Propheten beheimatet war) so dass es nicht selten zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der einzelnen Kulte kam.(Oft ging es dabei um die Frage, auf welchen Propheten sich der Straßenname nun bezog. Ein Priester des sogenannten Hlullhkllongh-Kults hatte einmal den Vorschlag gemacht, die Straße in 'Straße der Propheten' umzubenennen, was der Realität auch wesentlich näher gekommen wäre als der bestehende Name, aber niemand unterstützte den Vorschlag des Priesters). Bei den Straßenschlachten, die sich die Anhänger der einzelnen Propheten und Heiligen lieferten, waren Dasiquols Leute meistens erfolgreich, denn sie verfügten über die beste Ausrüstung und waren auch zahlenmäßig den meisten anderen Kampfverbänden weit überlegen. Nun müsste man meinen, dass hier doch irgendeine Ordnungsmacht hätte eingreifen müssen. In jeder anderen Stadt der Welt wäre dies wahrscheinlich auch geschehen, aber Ghormall war eben einzigartig! Ein feines Gewebe aus Korruption sicherte den verschiedenen Kulten eine fast völlige Handlungsfreiheit (die eigentlich nur durch die Schlägertrupps des gegnerischen Kulte etwas beeinträchtigt wurde).
Als Edro und die anderen in die Straße des Propheten kamen, tobte dort gerade wieder einer jenen berühmten Straßenschlachten. Einige Leichen lagen bereits mit seltsam verrenkten Extremitäten im Staub und es würden sicherlich noch einige mehr in den Staub sinken. Edro und Mergun wechselten einen entsetzten Blick. In den Städten des Nordens gab es derartiges nicht. Einige Augenblicke lang starrte der Dakorier auf das Kampfgetümmel, da wurde er plötzlich von einem berittenen Krieger angegriffen. Er trug eine merkwürdige Maske, die einem Geierkopf nicht unähnlich war - sie wies ihn als Angehörigen der sogenannten Tranxun-Religion aus (aber das alles wusste Edro zu diesem Zeitpunkt noch nicht). Er bemerkte die scharfe Axt über sich und riss mit letzter Kraft sein Schwert blitzschnell heraus. Gerade noch im rechten Augenblick vermochte er es, den mörderischen Hieb seines Gegners zu stoppen und abzulenken.
Einen lauten Fluch stieß eine tiefe Stimme unter der Maske hervor. Der Tranxun-Mann holte zu einem erneuten Hieb aus, aber diesmal war Edro schneller und besser vorbereitet. Er parierte den Hieb mühelos und beförderte seinen Gegner mit einem Fußtritt in den Staub.
"Man scheint uns mit jemandem zu verwechseln!", brummte Mergun. Inzwischen hatte Lakyrs Katze lautstark zu fauchen begonnen.
Der Kampf war zu Ende. Eine der beiden Parteien musste sich zurückziehen und die andere triumphierte lauthals. Es waren offensichtlich die Männer mit den Geiermasken, die sich zurückziehen mussten. Auch der Mann, den Edro in den Staub getreten hatte, machte sich so schnell er konnte davon. Edro ließ ihn ziehen, obwohl er ihn mit Leichtigkeit hätte von hinten mit einem geschickt geworfenen Dolch töten können. Nachdem die Sieger ihr lautes Triumphgeheul eingestellt hatten, wandten sie sich Edro und seinen Freunden zu. Lakyr spürte, wie die Katze in seiner Hand immer unruhiger wurde. Nur mit Mühe konnte er sie noch auf seinem Arm halten. Mergun bemerkte, wie Gialbeth hinter seinem Rücken seinen Bogen hervorkramte und einen Pfeil bereithielt. Die finster aussehenden Krieger musterten sie mit Abscheu.
"Wer seid Ihr?", fragte ihr offensichtlicher Anführer.
"Wir wollen zu Dasiquol", antwortete Lakyr schlicht.
"Zu Dasiquol wollt ihr also, Leute!", rief der Mann lachend aus und die anderen fielen in sein Gelächter mit ein.
"Was findet Ihr daran zum lachen, guter Mann?", fragte Mergun.
"Gar nichts, gar nichts, Herr!", sagte er, aber sein Kichern widersprach ihm. Er wechselte einen verschmitzten Blick mit seinen Getreuen.
"Wir werden euch zu Dasiquol bringen", erklärte er schließlich.
Merkwürdigerweise führten sie die Männer an dem Tempel vorbei, den man ihnen als Dasiquols Tempel beschrieben hatte.
"Weilt Dasiquol nicht in seinem Tempel?", erkundigte sich Gialbeth, der seinen Bogen inzwischen wieder weggesteckt hatte.
"Nein", war die kurze Antwort. Es ging eine ganze Weile die Straße des Propheten entlang, bis sie an einen anderen, kleineren Tempel kamen. Es war ein Kuppelbau mit einigen Türmen. Ein goldener Löwenkopf befand sich über dem Eingang und schaute jeden Neuankömmling grimmig an.
"Wir sind da!", sagte der Anführer des Schlägertrupps.
"Hier ist Dasiquol zu finden?", fragte Mergun verwundert, wobei er von seinem Pferd stieg. Etwas zögernd stiegen auch die anderen ab und folgten dann dem Anführer durch das Tempeltor mit dem furchterregenden Löwenkopf. Zwei grinsende Wächter machten ihnen Platz und dann befanden sie sich im Tempel! Es war ein seltsames, düsteres Gemäuer. In der Mitte stand ein schier riesenhafter Felsblock, der wahrscheinlich eine Art Altar darstellte. Auf dem Boden krochen Ratten umher, die von einem dürren Priester gefüttert wurden. Als er Edro und seine Freunde bemerkte, sah er auf und lächelte triumphierend. Aber außer dem dürren Priester, dem Anführer des Schlägertrupps, den Ratten und den vier Freunden befand sich niemand in dem Tempel.
"Wo ist Dasiquol?", fragte Edro, wobei eine unheilvolle Ahnung in ihm aufstieg.
"Dasiquol ist nicht hier", stellte der dürre Priester fest. Mit seiner Rechten holte er kleine Nahrungsstücke aus einem Krug, den er in der anderen Hand hielt und warf sie den Ratten zum Fraß vor. Diese balgten sich wild um die kleinen Stücke.
"DasiquoIl ist nicht hier?", rief Gialbeth entsetzt aus, wobei er verstohlen seinen Bogen hervorkramte und einen Pfeil bereithielt. Der Anführer der Schlägertruppe kicherte und warf Mergun einen belustigten Blick zu, der den Mann von der Wolfsinsel instinktiv zum Schwert greifen ließ.
"Ihr seid im Rattentempel des Retned", verkündete der dürre Priester nun, wobei er weiter seine Schützlinge fütterte.
"Und ich bin Nielk, der oberste Priester des Retned!" Edro wandte sich an den Anführer des Schlägertrupps.
"Ihr hattet versprochen, uns zu Dasiquol zu bringen!", schimpfte er, aber sein Gegenüber zuckte nur mit den Schultern.
"Jetzt seid Ihr hier, werter Herr!", bemerkte er. Nielk, der Priester, hörte jetzt auf, die Ratten zu füttern. Er stellte den Krug mit der scheinbar so schmackhaften Nahrung auf den Steinblock in der Mitte des Tempels. Da verwandelten sich die Ratten zu düsteren, schwertschwingenden Kriegern. Edro zog sofort sein Schwert, um einem eventuellen Angriff widerstehen zu können.
"Jeder Widerstand ist zwecklos", hörte er Nielks Stimme sagen. Ohnmächtig musste Edro dem Priester rechtgeben. Es war aussichtslos gegen die ganze Horde von Rattenkriegern ankommen zu wollen.
"Was wollt Ihr von uns?", rief Mergun nun.
In diesem Moment entwand sich die zweiköpfige Katze aus Lakyrs Armen. Schon wenige Augenblicke später fraßen sich ihre spitzen Zähne in die Kehle eines der Krieger, der tot zu Boden stürzte. Ein Schrei des Entsetzens ging durch die Menge.
Die Zweiköpfige saß auf der Brust des Toten und fauchte. Ihre gelben Katzenaugen funkelten wie glühende Kohlen und niemand zweifelte daran, dass sie sich in Kürze in dem Hals eines anderen festbeißen würde. Das Blut tropfte noch von den Zähnen des einen ihrer beiden Münder. Einer der Krieger schwang sein Schwert und ließ es singend auf die kleine Katze herniedersausen. Doch diese machte sich nicht einmal die Mühe auszuweichen. Ruhig und gelassen blieb sie auf der Brust des Toten und wartete auf den Schlag - der wirkungslos abprallte.
Ein erstauntes Knurren war die Antwort des Kriegers darauf.
"Welcher Dämon wagt es hier, in den Rattentempel das Retned einzudringen?", rief Nielks gewaltige Stimme aus. Edro und die anderen wurden gepackt, entwaffnet und gefesselt. Aber die Katze sollten sie nicht bekommen! Sie huschte zwischen den Beinen der Krieger hindurch und riss so manchem in den Tod. Keine Waffe schien es gegen dieses Untier zu geben und überall verbreitete es Panik und Entsetzen, Grauen und Tod. Fauchend sprang sie umher und sprang jedem, der ihr zu nahe kam an die Kehle. Nielk hielt es schließlich für geboten, Retned, seinen Gott, anzurufen. Er stellte sich auf den Altar und rief mit erhobenen Händen:
"Retned! Retned, dein Priester ruft dich!" Er wiederholte diesen Satz mehrmals und dann rief er einen Satz in einer so fremdartigen Sprache, dass es weder die Sprache der westlichen Länder, noch die Ostsprache sein konnte! Ja, selbst die Elfensprache schien Edro ausgeschlossen. Es musste eine längst vergessene Sprache sein, die auf der Welt vor Äonen gesprochen wurde. Der Priester stand mit geschlossenen Augen da und Edro beobachtete ihn intensiv. Und da erschien Retned, einer der tausend Götter, die in Ghormall verehrt wurden. Zuerst war es nur ein schwaches Flimmern, einige Meter über dem Steinaltar des Rattentempels. Aber dann wurde diese Erscheinung immer heller und strahlte jetzt in einem leuchtenden Weiß!
"Hier ist Retned! Retned, euer Gott, zu dem ihr betet, dem ihr eure Opfer bringt, der euch hilft! Retned, dem ihr euer Leben verpflichtet habt, dem ihr immer dienen werdet! Hier ist Retned. Er ist hier, weil Nielk ihn rief." Nielk stand noch immer mit geschlossenen Augen auf dem Altar und hielt seine Arme zu der Lichterscheinung hin erhoben, die Retned war. Niemand in dem Tempel sagte jetzt ein Wort, selbst die zweiköpfige Katze war stehengeblieben und schaute wie gebannt auf die Erscheinung über dem Altar.
"Worum bittest du mich, Nielk?", donnerte dann die Stimme des Gottes.
"Vernichte diese Dämonenkatze, die es gewagt hat, deinen Tempel zu beleidigen!` Diese Worte rief der Priester ohne etwas an seiner Stellung zu verändern. Nur seine Lippen hatten sich bewegt.
"So sei es!", rief der Rattengott mit schrecklicher Endgültigkeit. Und Lakyr schloss die Augen, als sich das Lichtwesen über seine Katze senkte. Es hatte inzwischen die Farbe gewechselt: von einem strahlenden Weiß zu einem düsteren Blau. Die Zweiköpfige versuchte zu entkommen - offenbar spürte sie, dass sie ihrem jetzigen Gegner nicht gewachsen war. Sie fauchte wütend und versuchte sich zu verstecken. Aber weder ihr Fauchen, noch das Funkeln ihrer Augen vermochte, den schrecklichen Gott zu beeinFlussen oder gar zu erschrecken. Schließlich erreichte er sie und blaues Licht senkte sich über sie herab. Ein letztes Miauen war zu hören, das Lakyr wie ein Messer in die Seele fuhr. Als das blaue Licht sich dann erhob, war die Katze nirgends mehr zu sehen. Retned hatte sie verschlungen! Und dann verschwand der Gott des Rattentempels ebenso schnell, wie er gekommen war.
"Vielleicht werdet Ihr es nur schwer verstehen können, Freund Gialbeth, aber ich habe dieses Tier gemocht. Trotz der vielen Menschen und Monstren, deren Blut an seinen Zähnen klebte!", stieß Lakyr hervor und Gialbeth schwieg.
Edro und seine Gefährten wurden von den Dienern Retneds in einen düsteren Keller gesperrt. Auf die oft wiederholte Frage, was man eigentlich mit ihnen zu tun gedenke, wurde ihnen keine Antwort gegeben.
"Vielleicht will man uns auf dem Steinaltar Retneds opfern", vermutete Lakyr düster, aber die anderen erwiderten nichts. Gialbeth fragte sich, ob Nielk und die Rattenkrieger wohl ahnten, dass er Zauberkräfte besaß! Aber besonders viel konnte er auch durch Magie nicht erreichen. Seine Kräfte waren schwach und seine Kenntnisse über die Zauberei mangelhaft. Wohl konnte er eine Platte mit Fleisch oder Fisch oder auch mit Früchten herzaubern - aber zu sehr viel mehr reichte es auch nicht. Da saßen sie nun auf dem kalten Steinfußboden ihres Gefängnisses. Zwar hatte man ihnen die Fesseln abgenommen, so dass sie mit ihren Armen und Beinen tun und lassen konnten, was sie wollten, aber das half ihnen angesichts der dicken und massiven Mauern, die sie umgaben, auch nichts.
"Ich hoffe nicht, dass unsere Suche nach Elfénia bereits hier zu Ende ist", sagte Edro sorgenvoll, wobei er mit den Händen die Mauern begutachtete. Nein, diese Steinwände würden sie nicht zu überwinden vermögen! Niemand konnte das - außer vielleicht ein so großer Magier, wie Hulkin einer gewesen war. Und natürlich gottgleiche Wesen wie Ratned! Nur durch die Ritzen der Holztür drang ein wenig Licht in die Finsternis des Verlieses. Die Freunde konnten sich gegenseitig nur als Schatten warnehmen. Wo die Katze jetzt wohl sein mochte? Immer wieder kehrten Lakyrs Gedanken zu seiner pelzigen Freundin zurück, die ihm schließlich mehrmals das Leben gerettet hatte. Aber ein Gott war ein zu mächtiger Gegner, als dass sie etwas hätte gegen ihn ausrichten können. Ja, auch Lakyr wusste, dass die Zweiköpfige einige Menschen getötet hatte, deren Tod nicht unbedingt nötig gewesen wäre, aber dennoch hatte er dieses kleine Monstrum geliebt! Vielleicht mehr als jedes andere Wesen auf der Welt! Vielleicht war diese Katze des Einzige gewesen, was er je auf dieser Welt geliebt hatte. Auch die Katze war auf der Suche nach etwas gewesen. Aber nach was? Nach einem Land namens Elfénia vielleicht? Vor Lakyrs geistigem Auge erschien immer wieder dasselbe Bild: das Bild der zweiköpfigen Katze! In seinen Wachträumen sahen ihn ihre zwei Paar Augen glühend und traurig an und er spürte noch einmal ihr weiches Fell an seinem Arm. Aber sehr schnell wurde ihm jedesmal gegenwärtig, dass alles nur Traum und Einbildung war - und denn war seine Trauer doppelt groß.
Gialbeth konnte Lakyrs Trauer über die Zweiköpfige lediglich akzeptieren - aber nicht verstehen. Ihm hatte immer nur vor diesem Tier gegraut. Vielleicht lag es daran, dass sie eben doch nicht nur ein bloßes Tier war, sondern mehr. Vielleicht lag es aber auch an den Worten, die der große Hulkin einst zu ihm gesagt hatte. Doch die Worte wollten dem Zwergen einfach nicht mehr einfallen. Es blieb dunkel in seinem Gedächtnis. Nur eines wusste er: Es war nichts Gutes gewesen, was der große Hulkin über zweiköpfige Katzen gesagt hatte! Ja, er glaubte sogar, dass es etwas Bedrohliches, Gefährliches gewesen sei! Doch bis jetzt war noch keiner der Freunde von dem Tier in irgendeiner Weise bedroht worden. Es schien so, als seien alle Befürchtungen bezüglich der Loyalität dieses Dämons unbegründet gewesen. Und doch... Wenn die glühenden Augen der Katze auf den Zwerg gerichtet warten, hatte er sich eines leichten Grauens, eines kalten Schauders nie erwehren können.
Und so verbrachten sie einige Tage in dem düsteren Verlies. Von ihren Peinigern bekamen sie nur wenig zu essen, aber das war nicht weiter schlimm - schließlich konnte Gialbeth ja etwas zaubern. Es war kein angenehmes Leben in diesem Gefängnis. In der Dunkelheit konnten die Gefangenen die Schatten von Mäusen und anderem Ungeziefer über den Boden huschen sehen. Allmählich verloren sie jegliches Zeitgefühl.
Mergun glaubte, dass sie jetzt schon vier Tage hier verbracht hatten, aber Gialbeth meinte, dass es bereits fünf oder sechs waren. Wie dem auch sei, sie wurden an diesem Tag aus ihrem Verlies geholt. Nielk, der dürre Priester, öffnete die schwere Holztür und trat begleitet von drei Bewaffneten ein. Die Bewaffneten nahmen die Freunde in ihre Mitte.
Was hat man mit uns vor? fragte sich Edro. Diese Frage wurde immer bohrender in ihm. Wollte man sie am Ende gar auch dem schrecklichen Retnad opfern? Ein Schauder überkam den Dakorier bei dem Gedanken daran. Die Bewaffneten führten sie in den Raum mit dem großen Steinaltar. Überall krochen Ratten umher und Edro wusste, dass Nielk jederzeit Krieger aus ihnen zu machen vermochte. Es war dieses Gefühl der Hilflosigkeit, das Edro als so unerträglich empfand. Man packte sie und legte sie auf den Altar! Es geschah so plötzlich, dass niemand auf den Gedanken kam, Widerstand zu leisten. (Dieser wäre auch zwecklos gewesen). Edros fürchterliche Ahnung war also Wirklichkeit geworden!
"Heh! Was soll das?", hörte Edro Mergun rufen und dann merkte er, dass er nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen. Nicht einmal mit der Wimper vermochte er zu zucken. Irgendwo leierte jemand in einer uralten, längst vergessenen Sprache eine ebenso alte Litanei. Edro bemerkte, wie seine Lider schwer wurden, wie sie sich schließlich wie im Schlaf über seine Augen legten. Es war eine seltsame Kraft da, die ihm die Augen schloss, denn Edro selbst war dazu ja nicht mehr in der Lage. Ob diese Kraft, dieses Wesen Retned war? Er schließt mir die Augen wie man einem Toten die Augen schließt!, wurde es dem Dakorier schlagartig klar, aber er merkte auch, wie sein Geist begann, langsamer zu arbeiten. Vor ihm lag die Dämmerung eines tiefen Schlafs, eines Schlafs, aus dem er vielleicht nie wieder erwachen würde.
Eine Flut weißen und blauen Lichts durchdrang seine geschlossenen Lieder und schien seinen Geist zu umfluten. Der letzte Eindruck, den er warnahm, war in einem weiten, grellen Meer aus Licht zu ertrinken. Und dann war auch das blaue und weiße Licht weg. Dann umgab Edro nur noch gähnende Finsternis und erlösende Bewusstlosigkeit.
Als Edro erwachte, vermochte er nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war. Jeder Zeitsinn war ihm verloren gegangen und es schien ihm so, als habe Zeit in seiner jetzigen Umgebung nicht viel zu bedeuten. Als er die Augen geöffnet hatte, sah er zunächst nur blaue Nebel, die ihn einhüllten. Wo mochte er sich befinden und wie war er hier her gelangt? Dann bemerkte er neben sich den Körper Merguns. Der Mann von der Wolfsinsel erwachte gerade und rieb sich die Augen. Edro wandte sich einmal ganz um seine eigene Achse, aber außer ihm und Mergun war hier niemand.
"Wo sind Lakyr und Gialbeth?", fragte er Mergun. Dieser zuckte jedoch mit den Schultern.
"Woher soll ich wissen, wo sie sind? Ich bin mir ja noch nicht einmal darüber im klaren, wo ich mich befinde. Habt Ihr eine Ahnung, Edro?"
"Wir können überall auf der Welt sein."
"Oder auf einer anderen Welt!"
"Vielleicht, Mergun." Edro erhob sich und blickte auf die Erde, auf der er gelegen hatte.
"Es ist keine normale Erde!" Mergun befühlte sie mit seinen Händen.
"Ja, sie ist merkwürdig."
"Und nirgends sind Pflanzen!" Nun erhob sich auch Mergun. Die Erde in seiner Hand rann ihm zwischen den Fingern hindurch zu Boden.
"Vielleicht sind Gialbeth und Lakyr ebenfalls in dieser seltsamen Welt!", vermutete der Nordländer. Edro zuckte mit den Schultern.
"Dann frage ich mich aber, warum wir nicht zusammen auf diese Welt gelangten!" Gedankenverloren starrte er in die dichten, blauen Nebel, die von einem kalten Wind in Bewegung gehalten wurden. Hier irgendwo war Retned! Jener schreckliche Retned, der Lakyrs schwarze Katze verschlungen hatte.
"Was Retned wohl von uns will?", fragte Edro leise, so dass Mergun es kaum hören konnte.
"Still!", zischte da der Mann von der Wolfsinsel. Von irgendwoher waren Stimmen zu hören. Menschliche Stimmen! Aber Edro hörte weder Lakyr noch Gialbeth. Es waren andere Stimmen, obgleich sie auch die Sprache der Westländer sprachen.
"Hallo!", rief Edro. "Wer seid ihr?"
"Hallo!", rief Mergun. Die Stimmen hinter den blauen Nebeln verstummten für einen Moment. Aber dann antworteten sie den Rufern.
"Hallo! Wo seid ihr?", kam es.
"Hier!", war Merguns wenig sagende Antwort. Aber die Fremden konnten dem Klang der Stimme folgen. Irgendwo in den blauen Nebeln waren die schwarzen Umrisse menschlicher Gestalten zu sehen. Und dann traten sie aus dem Nebel! Sie waren etwa gleich groß und sahen sich auch sonst recht ähnlich. Beide trugen sie lange Haare, wie es in den Städten des Südens Sitte war und beide trugen ein kurzes Breitschwert an ihrer Hüfte. Nacheinander reichten sie den Freunden die Hand und stellten sich vor.
"Mein Name ist Phakl der Schlaue!"
"Mergun von der Wolfsinsel!"
"Krasi der Geisterbeschwörer werde ich gerufen."
"Und ich bin Edro aus Dekor!" Edro warf Phakl dem Schlauen einen amüsierten Blick zu.
"Einen netten Spitznamen habt Ihr, Herr Phakl", lachte er und schlug ihm auf die Schulter. Dieser lächelte.
"Meine Kameraden in Daresh gaben ihn mir nicht deshalb, weil ich vielleicht besonders schlau wäre, sondern nur, weil sie noch dümmer sind als ich!", gab Phakl zu Erklärung und alle lachten. Nur Edro nicht.
"Wahrlich", sagte er, „wer so zu antworten versteht verdient einen solchen Beinamen!"
"Wisst Ihr etwas über diese seltsame Welt, in die wir hier geraten sind?", fragte nun Krasi der Geisterbeschwörer an Mergun gewandt. Tiefe Melancholie trat in des Nordländers Augen (und vielleicht auch ein Anflug von Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit).
"Ich fürchte, ich weiß nicht mehr als Ihr, Herr Geisterbeschwörer. Wie kommt Ihr eigentlich zu Eurem Namen. Versteht Ihr Euch tatsächlich etwas auf die Magie?" Krasi lachte laut und humorlos.
"Ich bin einer der berühmtesten Zauberer von Daresh! Aber es ist wie verhext! Kein Zauberspruch hat in dieser seltsamen Nebelwelt eine Wirkung. Ich habe hier einfach keinen Erfolg mit meinen Beschwörungen. Ich kann mir das einfach nicht erklären. Wie seid Ihr hierher gelangt, Mann von der Wolfsinsel?"
"Man legte uns auf den Altar im Rattentempel des Retned in Ghormall. Wir verloren die Sinne und erwachten. Und wie war es mit Euch?"
"Ganz genauso."
"Wie lange mag das schon her sein?", erkundigte sich nun Edro. Aber Krasi der Geisterbeschwörer zuckte nur verlegen mit den Schultern.
"Ich weiß es nicht. Es können Stunden sein, seid dem wir erwacht sind. Es können aber auch Jahre oder Jahrzehnte sein. In dieser seltsamen Welt verliert man jeglichen Zeitsinn. Es scheint so, als würde die Zeit hier in einem anderen, uns ungewohnten Tempo voranschreiten, aber das ist reine Spekulation."
"Jedenfalls sind wir froh, endlich auf menschliche Wesen getroffen zu sein", warf Phakl ein und Mergun musste ihm unbedingt zustimmen.
"Uns ergeht es nicht anders." Da bemerkte Edro ein seltsames Leuchten, welches durch den blauen und von einem kalten Wind bewegten Nebel drang.
"Seht dort! Das Licht!", rief er und die anderen schauten in die Richtung, in die der Dakarier deutete. Welches Licht vermochte es, diesen dichten Nebel zu durchdringen?
Retned!, durchfuhr es Edro. Es mochte gut sein, dass der schreckliche blaue Rattengott sie jetzt aufsuchte. Kalte Schauder erfassten Edro.
"Was mag es für ein Licht sein?", fragte Phakl der Schlaue.
"Ich glaube, es ist kein natürliches Licht. Bei meinen Beschwörungen sah ich nicht selten etwas Ähnliches", erklärte Krasi der Geisterbeschwörer.
"Retned. Vielleicht ist es Retned!", befürchtete Edro.
"Es wäre denkbar", meinte Mergun nüchtern. Alle starrten auf das kleine Licht, das dort irgendwo im Nebel war. Edro überlegte kurz. Dann rief er: "Gehen wir hin zu diesem Licht!" Phakl und Mergun wechselten einen entsetzten Blick.
"Es könnte wirklich Retned sein!", warnte Krasi angstvoll, wobei seine Hand an den Griff seines Schwertes fuhr. Eine Weile noch beobachtete Edro das ferne Licht und bemerkte, dass es seinen Standort nicht änderte. Warum haben wir es vorher nicht bemerkt, wenn es doch seinen Standort nicht ändern kann oder will? fragte er sich im Inneren.
"Ich habe nichts dagegen", meinte Phakl schließlich. "Aber ich würde doch vorschlagen, dass ihr beide", er nickte Edro und Mergun zu, „euch vorher bewaffnet!"
"Woher sollten wir hier in dieser Öde Waffen bekommen?", fragte Edro verblüfft. Phakl, der Schlaue tickte mit einem überlegenen Grinsen mit dem Finger an den rubinverzierten Griff seines Schwertes.
"Ihr müsst nur ein wenig suchen, so findet Ihr alles, was Ihr als Bewaffnung für nötig und richtig haltet, Herr!" Edro sah den Schlauen ungläubig an.
"Ihr glaubt mir nicht? So seht euch etwas im Nebel um. Überall liegen dort Waffen, Gerät und Kleider herum." Edro und Mergun folgten dem Rat Phakls. Schon nach kurzem Suchen hatten sie sich eine ausreichende Bewaffnung zugelegt. Bei ihrer Suche hatten sie allerdings darauf geachtet, das seltsame, die blauen Nebelschwaden durchdringende Licht nicht aus den Augen zu verlieren. Aber es schien Edro bald so, als könne man dieses Licht gar nicht aus den Augen verlieren, als würde es einem überall hin folgen! Nun endlich machten sie sich auf und wanderten in die Richtung, aus der diese Lichterscheinung kam.
Überall lag Gerät herum und es war ihnen so, als befänden sie sich nicht in Retneds Welt, sondern auf einem riesigen, schier endlosen Schlachtfeld. Nur die Leichen fehlten. Je näher sie dem Licht kamen, desto heller wurde es. Phakls Hand war die ganze Zeit über am Schwertgriff. Er war jederzeit bereit, einem eventuellen Gegner zuvor zu kommen. Aber nirgends zeigte sich ein solcher Gegner, alles schien friedlich und öd und kalt.
Und dann war da dieses Licht, von dem keiner der vier Wanderer so recht wusste, worum es sich dabei handelte. Vielleicht war es wirklich eine Inkarnation Retneds! Vielleicht aber auch etwas anderes. Auf jeden Fall war dieses Licht zur Zeit der einzige Wegweiser, den die vier besaßen. Immer näher rückte die Quelle dieses Lichts, da tauchten Schatten im Nebel auf. Umrisse von Menschen. Edro konnte drei erkennen. Nun wurden auch Schritte hörbar. Mit einer blitzschnellen Bewegung riss Phakl sein Schwert heraus, aber Mergun packte ihn beim Arm.
"Wir wissen nicht, ob sie uns feindlich gesonnen sind", bemerkte er nur und Phakl zuckte mit den Schultern. Drei Männer traten jetzt aus den Nebelschwaden und blieben stehen. Sie waren alle bis auf die Zähne bewaffnet. Einer rief etwas in der Sprache der Ostländer und Edro antwortete.
"Was hat er gesagt?", fragte Krasi ungeduldig, der diese Sprache nicht verstand.
"Ich werde sie fragen, ob sie auch in der Westsprache bewandert sind, Herr Krasi", versprach Edro und rief etwas für die anderen (mit Ausnahme Merguns, der ebenfalls die Ostsprache beherrschte) Unverständliches zu den Fremden.
"Ich bin Garot der Starke", stellte sich der eine dann in gebrochener Westsprache vor.
"Mich nennt man Gonly vom großen Fluss!"
"Und ich bin Sorin mit der Axt. Aber die Tempelsoldaten im Rattentempel von Ghormall nahmen mir meine Axt!" Sorin grinste verlegen.
"Seht ihr ebenfalls das Licht dort?", fragte Edro die Fremden, nachdem auch er und die anderen sich vorgestellt hatten.
"Ja!", rief Garot der Starke und trat mit den Seinen einige Schritte näher.
"Diesem Licht folgen wir! Und wohin zieht ihr?"
"Wir irren durch diese wüsten Nebel - ohne Ziel, ohne Weg", gab Sorin Auskunft.
"Wollt ihr euch uns nicht anschließen und mit uns die Quelle jenes Lichtes ergründen?", lud Edro ein.
"Wir wissen nicht, was dieses Licht zu bedeuten hat. Vielleicht ist es eine Inkarnation des schrecklichen Retned! Ich habe gehört, dass dieser Gott sich in vielfältiger Gestalt und mit den verschiedensten Gesichtern zu zeigen pflegt", sagte Gonly.
"Darüber haben auch wir schon nachgedacht", erwiderte diesmal Phakl der Schlaue. Und nun waren es Edro und die Seinen, die einige Schritte vorrückten. Die beiden Gruppen trennten jetzt nur noch wenige, leicht zu überbrückende Meter. Aber Phakl konnte sich nicht dazu überwinden, seine blank gezogene Klinge wieder an ihren Ort zu stecken. Misstrauisch beäugte er die Fremden und registrierte jede auch noch so unbedeutend erscheinende Bewegung der anderen Seite.
"Wenn ihr euch uns anschließt, so zählt unsere Gruppe bereits sieben Mann. Können wir da nicht auch das Risiko eingehen, eventuell auf einen Feind zu treffen?", sagte Krasi der Geisterbeschwörer. Garot der Starke lachte schallend.
"Ja, wenn es normale Feinde wären, mit denen wir zu kämpfen hätten! Aber wenn wir hier mit jemandem kämpfen, dann mit Retned; dem schrecklichen Retned, dessen Macht sicherlich ein ganzes Heer zerschlagen kann. Gegen ihn sind wir machtlos!"
"Aber das ewige Umherirren in diesen kalten Nebeln hat auch keinen Sinn. Der einzige Punkt, an dem wir uns halbwegs zu orientieren vermögen, ist eben dieses Licht. Oder seht Ihr noch etwas anderes, Herr?", rief Mergun. Garot wechselte mit Gonly ein paar Worte in der Sprache der Ostländer und Sorin sagte auch etwas. Gonly nickte schließlich.
"Gut, wir werden uns euch anschließen", rief der starke Garot. Er und die seinen traten noch etwas vor und man gab sich die Hand.
"So langsam glaube ich nicht mehr daran, dass dieses Licht Retned ist", erklärte Mergun sinnend.
"Wir werden sehen", brummte Phakl der Schlaue. Sie setzten ihren Weg fort - dem Licht entgegen! Bald schien die Quelle des Lichtes so groß zu sein, wie eine Sonne! Ein riesiger Berg aus Licht offenbarte sich den Suchenden. Ein Berg von leuchtenden Steinen! Wie wertvoll sie sein mussten! Gebannt und ergriffen von so viel Reichtum blieben die sieben Männer stehen.
"Das ist ja ein Vermögen!", rief Gonly vom großen Fluss.
"Wenn ich diese Steine in Ghormall oder Aren verkaufen könnte", murmelte Sorin.
"Fürwahr!" So hell erstrahlen hatte Edro noch keine Edelsteine und kein Gold gesehen - wer es auch noch so blank poliert! Es mussten besondere Steine sein, wenn sie sogar diesen dicken Nebel zu durchdringen vermochten. Sie näherten sich dem Berg von Gold und Edelsteinen immer mehr, doch als sie ihn fast schon berühren konnten, verwandelten sich die glänzenden Steine vor ihren Augen zu ganz normalen Findlingen, wie sie überall am Wegrand zu finden sind. Der Glanz war weg und Phakl stöhnte laut auf.
"Was ist geschehen?", rief der Schlaue laut aus und hob die Hände. Krasi der Geisterbeschwörer nahm einige kleinere Steine in die Hand und ließ sie denn wieder fallen.
"Zweifellos das Werk von Magie", erklärte er. "Ja, es gibt da für mich keinen Grund zum Zweifeln!" Betrübt wandte sich Garot ab. Er ging einige Meter weit und drehte sich nochmals zu den anderen um. Seine Augen weiteten sich vor Schreck und Verwunderung!
"Die Steine! Sie leuchten wieder!", rief er und kehrte wieder zu Edro und den Seinen zurück. Entsetzt blickte er dann auf die Steine, die nicht leuchteten.
"Merkwürdig", murmelte er. "Als ich die Steine aus der Ferne betrachtete, sah ich, wie sie leuchteten. Aber als ich mich ihnen wieder näherte, verwandelten sie sich wieder zu einfachen Steinen!"
"Ihr phantasiert!", rief Phakl der Schlaue zornig.
"Es ist in der Tat schwer zu glauben, was Ihr sagt, Herr Garot", stimmte Mergun von der Wolfsinsel zu. Krasi der Geisterbeschwörer machte ein nachdenkliches Gesicht.
"Es könnte sein, dass unser Freund Garot recht hat", meinte er. Sie traten einige Schritte zurück und merkten selbst, wie sich die Steine verwandelten, sobald sie einen bestimmten Abstand von ihnen erreicht hatten. Sie begannen wieder hell und schön zu glänzen und zu leuchten. Trat man aber näher heran, so wurden sie wieder zu grauen, wertlosen Findlingen.
"Diese Steine faszinieren mich!", bekannte Edro und lächelte.
"Zweifellos sind es verzauberte Steine", erklärte Krasi.
"Normale Edelsteine wären mir allerdings lieber!", brummte Gonly vom großen Fluss. Edro lachte schallend.
"Was wolltet Ihr hier in Retneds Welt mit ihnen, Gonly? Seht Ihr hier irgendwo einen Händler, dem Ihr sie verkaufen könntet?" Gonly knurrte etwas Unverständliches.
"Wir sind nun hier. Die Frage ist die, ob wir hier bleiben oder nicht", behauptete Mergun souverän.
"Was sollen wir länger hier?", fragte Krasi. "Es scheint mir nicht so zu sein, als gäbe es hier noch ein Geheimnis zu ergründen!"
"Aber wohin sollten wir gehen?", fragte Mergun. Krasi zuckte mit den Schultern.
"In diesem Nebel ist jeder Weg der gleiche." Merguns Blick wurde düster.
"Es ist nicht meine Art, mich auf den Weg zu machen, ohne ein Ziel vor Augen zu haben", knurrte er.
"Mag sein, Mergun, aber sagt selbst: Bleibt uns denn etwas anderes?", warf Garot ein. Edro bemerkte Sorin, wie er sich die Taschen mit Steinen füllte.
"Warum tut Ihr das?", fragte ihn Edro. Sorin grinste den Dakorier verschlagen an.
"Falls wir jemals in unsere Heimatwelt zurückkehren werden, kann ich sie sicher dort gut verkaufen. Steine mit solch faszinierenden Eigenschaften, Herr Edro, die gibt es nicht überall!" Einige weitere kleine Steine wanderten in seine Taschen und er suchte emsig weiter. Nun kamen auch Gonly und Phakl herbeigeeilt, um sich ebenfalls die Taschen zu füllen. Garot zögerte etwas, aber dann folgte auch er den anderen.
"Wollt Ihr nicht auch sammeln, Edro? Es ist genug für alle da!", rief Sorin. Ja, es war wirklich genug für alle da - sogar mehr als genug! Aber dennoch schüttelte Edro leicht den Kopf.
"Nein, vielen Dank. Ich verspüre keine große Lust, mich mit unnötigen Gewichten abzuschleppen." Sorin sah den Dakorier etwas verstört an. Dann wandten sich seine Blick Krasi und Mergun zu, die ebenfalls nicht sammelten.
"Und Ihr?", fragte er Krasi. Lächelnd schüttelte der Geisterbeschwörer den Kopf.
"Es wird die Zeit kommen, da werden wir Retned gegenübertreten müssen, Freunde. Und wahrscheinlich wird es zum Kampf kommen! Aber wie sollen wir kämpfen, wenn unsere Taschen schwer vom Gewicht der Steine darin sind? Es kann gut sein, Herr Sorin, dass Euch Euer Reichtum einst das Leben kostet. Diese Steine mögen einen noch so großen Wert besitzen, sie mögen noch so faszinierend sein - mein Leben ist mir mehr wert", sprach Mergun, wobei er seine behaarte Hand um den Griff seines Schwertes legte. Sorin schien durch die Worte des Nordländers nachdenklich geworden zu sein, denn er ließ das Sammeln von Steinen für einen Moment sein und blickte in das Chaos der von einem kalten Wind bewegten Nebel. Doch besann er sich wieder und raffte weiter - bis seine Taschen derart gefüllt waren, dass sie bereits zu platzen drohten. Er erhob sich und schwankte unter dem Gewicht der Steine. Auch die anderen waren inzwischen fertig und standen stöhnend vom Boden auf.
"Sie sind doch schwerer als ich dachte", rief Garot der Starke aus und Gonly vom großen Fluss keuchte bereits.
"Diese verdammten Steine!", schimpfte er grimmig und seine Hand griff tief in die Taschen und holte einen Teil der Steine wieder aus ihnen heraus.
"Nun denn, lasst uns aufbrechen", schlug Phakl der Schlaue schließlich vor, wobei er sein Schwert zurecht rückte. Sie wanderten nun also ohne Weg, ohne Ziel in die Düsternis blauer Nebel hinein, die von einem kalten Wind in Bewegung gehalten wurden. Dieser Wind ließ Garot frösteln und er fragte sich, ob sie jemals wieder in ihre eigene Welt zurückkehren würden. Wenn nicht, dann war es sinnlos, die schweren Steine herumzutragen. Wenn aber doch... Nun, dann würde Garot sicherlich ein reicher Mann sein. Vielleicht würde er auch in Bälde ein toter Mann sein, denn wer konnte schon ahnen, welche Gefahren in diesen Nebeln auf die sieben Wanderer lauerten. Mergun quälte nagendes Unbehagen. Er war dagegen gewesen, wieder aufzubrechen. Aber gab es denn einen anderen Weg? Es schien so, als gäbe es keinen anderen. Der Nordländer wechselte einen raschen Blick mit Edro, und er wusste, dass der Dakorier ebenso dachte, wie er. Garot, Sorin und die anderen, die sich mit den seltsamen Steinen beladen hatten, waren mit Ihren Gedanken nur bei ihrem zukünftigen Reichtum. Aber sie vergaßen das Nächstliegende! Sie vergaßen, dass sie zunächst lebend wieder in ihre Heimatwelt gelangen mussten, wenn sie ihren Reichtum genießen wollten! In diesem kalten Nebel lauerte eine Gefahr! Der kalte Wind blies Edro wie eine Drohung ins Gesicht und ließ ihn frösteln. Seine Hand umklammerte fest den schlichten Griff seines Schwertes. Da tauchte etwas düsteres aus dem Nebel auf! Es war eine grauenhafte, vorzeitliche Flugechse. Ihre rotglühenden Augen funkelten die Wanderer böse an. Ungeschickt riss Gonly vom großen Fluss sein Schwert heraus, um sich zu verteidigen, aber die vollen Taschen hinderten ihn beträchtlich. Aber noch ehe irgendwer etwas hätte tun können, hatte das Untier bereits mit seinen mörderischen Klauen Gonlys Brust aufgerissen! Er schrie, aber ihm war nicht mehr zu helfen. Seine Augen brachen und er sank tot zu Boden. Doch Mergun war bereits heran. Mit seinem scharfen Schwert ritzte er dem Untier eine der beiden lederigen Flughäute auf. Es antwortete ihm mit einem Brüllen, welches die anderen erstarren ließ. Mit den Klauen schlug es nach dem Nordländer, aber er war gewandt und flink und schaffte es immer wieder, seinem Gegner auszuweichen, um ihm aber im nächsten Augenblick schon einen Schlag zu versetzen. Schließlich gab das Monstrum aber doch den Kampf auf. Zu tief waren die Wunden, die man ihm geschlagen hatte! Stark blutend und mit ungleichmäßigem Flügelschlag zog es von dannen und Mergun seufzte. Sorin mit der Axt beugte sich über Gonlys reglosen Körper. Aber er konnte nur noch den Tod des Gefährten feststellen. Aber was war das? Sorin sprang mit einem Aufschrei zurück. Der Tote begann vor den Augen der anderen zu Staub zu zerfallen. Zu dem gleichen Staub, aus dem der Grund war, auf dem sie liefen. Sein Tod wäre nicht nötig gewesen, dachte Edro bei sich. Hätten die Steine, wie wertvoll auch immer, in seinen Taschen ihn nicht gehindert, so hätte er sein Schwert rechtzeitig und mit mehr Geschick gegen den Angreifer einsetzen können. Aber so... Sie setzten ihren Weg fort, mit dem Wissen, dass es noch viele Gefahren in den Tiefen dieses Nebels gab. War diese Flugechse bereits ein Vorbote des großen Retned gewesen? Edros Augen versuchten die dichten Nebelschwaden zu durchdringen, aber es gelang ihm natürlich nicht. Ohne weiter zu überlegen, waren sie in die Richtung gegangen, aus der die Flugechse gekommen war und in die sie nun auch wieder geflogen war. Edro konnte deutlich ihre Blutspuren auf dem staubigen Boden sehen. Mergun musste ihr eine schwere Wunde geschlagen haben.
"Warum folgen wir eigentlich der Blutspur der Echse?", fragte Sorin und blieb stehen.
"Weil sie zur Zeit der einzige Wegweiser ist, nach dem wir uns richten können", erklärte Edro, ohne stehenzubleiben. Er ging weiter, ohne darauf zu achten, ob die anderen ihm folgten. Nach einem kurzen Zögern ging auch Sorin weiter. Die Blutspuren wurden immer deutlicher! Entweder war der Nebel dünner geworden und die Sicht besser, oder aber das Blut mehr, das aus der Wunde des Drachen zu Boden getropft war. Edro sah es mehr nach der zweiten Möglichkeit aus.
"Mich würde es nicht wundern, wenn wir bald auf den Kadaver dieses Tieres stießen", erklärte Mergun. Und Edro nickte.
"Ja, es muss in der Tat viel Blut verloren haben. Ich glaube auch nicht, dass es das noch lange aushalten kann." Und dann dachte der Dakorier an Elfénia. Würde er dieses Land je erreichen? Im Augenblick lag es in unglaublich weiter Ferne. Es schien ihm unerreichbar zu sein! Elfénia - dieser Name stimmte ihn traurig. Er war gefangen in einer anderen Welt - und hier gab es sicherlich kein Land mit jenem geheimnisvollen Namen! Nein, in einer so schrecklichen, kalten und öden Welt wie dieser konnte es kein Land geben, wo Träume in Erfüllung gehen! Um Elfénia zu erreichen musste er den Abgrund zwischen den Welten überwinden. Aber wie? Denn kehrten seine Gedenken zu Lakyr und Gialbeth. Wo mochten die beiden sich befinden? Und wo mochte sich die zweiköpfige Katze befinden? Irgendwo in diesen kalten Nebelschwaden harrten sie vermutlich ihrem ungewissen Schicksale.....
Lakyr hatte die Gefahr förmlich gespürt, als wenn sie sich wie eine schwarze Wolke über ihn gesenkt hätte! Er zog blitzartig sein Schwert (er hatte es in den blauen Nebelschwaden gefunden) und warnte Gialbeth mit einem Schrei, als ein riesiges Einhorn aus dem Nebel hervorstampfte. Die säulengleichen Beine ließen den Boden unter ihm erzittern. Trotz seiner Plumpheit und Größe, wer es in der Lage äußerst schnell zu reagieren. Lakyr blieben nur Bruchteile einer Sekunde, um dem Monstrum auszuweichen und ihm dabei auch gleich einen schweren Schlag beizubringen. Das Einhorn brüllte laut auf. Hätte Gialbeth jetzt seinen Bogen dabei gehabt, so hätte das Untier nur noch Sekunden zu leben gehabt, aber sein Bogen war nun in den Händen der Tempelsoldaten des Rattentempels von Ghormall. Aber auch so währte sein Leben nicht mehr lange! Durch seine Wunde arg geschwächt, verlor es seine Fähigkeit schnell zu reagieren. Es zögerte und das nutzte Lakyr geschickt aus. Ein schneller, tiefer Stich brachte es denn endgültig zur Strecke. Lakyr seufzte und holte das Schwert aus dem Fleisch des Tieres. An des Einhorns haarigem Fell wischte er es ab. Das Einhorn war das erste lebende Wesen, dass den beiden begegnet war, seit sie in diese seltsame Nebelwelt verschlagen wurden, von der sie annahmen, sie sei die Welt Retneds.
"Woher mag des Einhorn kommen?", fragte Gialbeth, der Zwerg. Er steckte sein Schwert beiseite und untersuchte flüchtig das Fell des Untieres.
"Vielleicht hat Retned es geschickt", vermutete Lakyr. Der Thorkyraner hatte den Verlust seiner Katze noch immer nicht verwinden können. Auf seltsame Weise hatte er sie lieb gehabt.
"Es ist alles möglich, in dieser schrecklichen, öden Welt", versicherte ihm Gialbeth. Aus der Ferne wurden plötzlich Stimmen hörbar! Es waren ohne Zweifel Menschenstimmen - und sie sprachen die Sprache der Westländer! Gestalten traten aus dem Chaos des blauen Nebels. Es waren fünf Männer und vier Frauen. Hoch erfreut und jedes Misstrauen vergessend traten Lakyr und Gialbeth ihnen entgegen.
"Ich bin Drolsthor! Habt ihr beide das Einhorn erlegt?" fragte einer der Männer. Lakyr nickte leicht. "Wir waren hinter ihm her und haben es gejagt! Aber ihr habt es erlegt, und deshalb frage ich euch nun, ob wir ebenfalls vom Fleisch dieses Tieres essen dürfen? Für euch beide ist es ohnehin zu viel und unsere Mägen sind leer und knurren nach einem Stück Fleisch." Lakyr schmunzelte.
"Dieses Einhorn bedrohte uns und wir mussten uns verteidigen. Wir dachten jedoch nicht daran, es zu essen. Wenn ihr also wollt, so stillt eure hungrigen Mägen mit diesem Fleisch."
"Ich danke Euch, Herr", erwiderte Drolsthor. Der Fremde wandte sich dem Kadaver des Einhorns zu. Aber was war das? Der tote Körper zerfiel zu Staub! Es dauerte nur wenige Sekundenbruchteile, und das tote Einhorn war nur noch Staub - der gleiche Staub übrigens, der den Boden bedeckte, auf dem sie standen. Ein lautes Stöhnen ging von Drolsthor und den Seinen aus. Fluchend traten sie auf den Staub, zu dem das Untier geworden war.
"Wir werden verhungern!", rief eine Frau. Eine andere Frau versuchte, den Staub zu essen, doch das führte nur dazu, dass sie sich übergeben musste. Nachdem sich die Fremden ein wenig von ihrem Schrecken erholt hatten, fragte Lakyr: "Seid Ihr bereits anderen Menschen begegnet, Herr Drolsthor?" Doch der Gefragte schüttelte den Kopf.
"Die einzigen lebenden Wesen, denen wir bis jetzt begegnet sind, sind dieses Einhorn und einer äußerst seltsamen Katze."~
"Eine Katze?"
"Ja."
"Was war so seltsam an ihr?" Ein wenig Hoffnung kam in Lakyr auf. Es mochte gut sein, dass die Zweiköpfige hier irgendwo im Chaos des blauen Nebels umherirrte. Jedenfalls wurde das Gesicht Drolsthors finster und sein Mund verzog sich.
"Sie hatte zwei Köpfe! Es muss ein Dämon gewesen sein!" Er schluckte.
"Sie hat Gidhalla getötet - meine Frau!", stieß er hervor und wandte sich ab.
"Wir wollten auch sie essen, aber keine Waffe vermochte etwas gegen sie auszurichten! Ich kann Euch nur vor ihr warnen!"
"Ich will nach der Katze suchen", erklärte Lakyr selbstbewusst. Drolsthor wirbelte herum.
"Seid Ihr lebensmüde?", stieß er schreckensbleich hervor.
"Die Katze wird mir nichts tun."
"Woher wollt Ihr das wissen, Herr? Warum seid Ihr Euch da so sicher?"
"Ich weiß es!" Der Anführer der Fremden wich einige Schritte zurück. Er und die Seinen zogen wieder ihres Weges und Lakyr und Gialbeth waren wieder allein in den blauen Nebelschwaden, die von einem eisigen Wind in Bewegung gehalten wurden.
"Gehen wir in die Richtung, aus der die Fremden kamen", bestimmte Lekyr.
"Aber die Katze...", sprach Gialbeth und dachte an die Worte des großen Hulkin, die ihm jetzt nicht mehr einfallen wollten.
"Habt Ihr Angst?" Gialbeth zuckte mit den Schultern.
"Jedenfalls verspüre ich kaum Lust dazu, von der Zweiköpfigen in Stücke gerissen zu werden", konterte er.
"Wenn man ihr nichts tut, so reißt sie einen auch nicht in Stücke!"
"Sie ist ein Tier, Herr Lakyr. Ein Tier, bedenkt dies..." Lakyr schwieg. Er rückte sein Schwert zurecht und sah den Zwerg scharf an.
"Wenn Ihr nicht mit mir gehen wollt, so ist das Eure Sache. Ich für mein Teil werde nach der Zweiköpfigen suchen!"
"Es könnte Euch das Leben kosten!"
"Ach was!"
"Was wisst Ihr schon davon, mit welchen Mächten und Wesenheiten sie hier Kontakt hatte, die unter Umständen dazu in der Lage wären, sie zu verändern!"
"Ich werde gehen - ohne Euch oder mit Euch, mein Zwerg, das spielt für mich lediglich eine untergeordnete Rolle!"
"Ich werde Euch begleiten, Lakyr, aber falls diese Bestie mir etwas tut, so tragt Ihr die Schuld!"
"Es war Euer freier Entschluss, mit mir zu gehen. Das Risiko ist also Euer!" Schweigend zogen sie los. Der kalte Wind blies ihnen von vorn ins Gesicht. Nach ihm vermochten sie sich ein wenig zu orientieren. Wäre er nicht gewesen, so wäre es für die beiden Wanderer schier unmöglich gewesen, eine bestimmte Richtung zu halten. Und auch so war es noch schwierig genug. Nachdem sie eine Weile durch den Nebel geirrt waren, bemerkte Lakyr auf dem Boden etwas, was ihn mit großer Freude erfüllte. Katzenspuren! Deutlich und fein waren sie auf dem staubigen Boden zu sehen, Sie mussten noch frisch sein, denn sonst hätte sie der ewige, kalte Wind längst verweht. Lakyr legte ein immer größeres Tempo vor, so dass Gialbeth Mühe hatte, mit dem Thorkyraner Schritt zu halten. Da verdüsterte ein riesenhafter Schatten den Nebel! Als die beiden weiter vordrangen, stellte sich heraus, dass es sich um eine alte, verfallene Burg handelte. Sie war schwarz und düster. Ob dies die schreckliche Burg Retneds war? Lakyr erschrak, als er sah, dass die Fußspuren der zweiköpfigen Katze durch das offene Burgtor führten!
"Ich hoffe nicht, dass Ratned in dieser Burg wohnt", sagte Gialbeth etwas ängstlich. Aber Lakyr lachte schallend.
"Ihr hofft das falsche, Freund Gialbeth! Je eher wir auf Retned treffen, desto besser! Nur durch ihn können wir wieder in unsere Heimatwelt gelangen!"
"Vielleicht wusste dies auch die Zweiköpfige!", meinte der Zwerg, wobei er auf die von dem Tier hinterlassene Fährte deutete.
"Möglich!", brummte Lakyr, wobei er seinen Weg fortsetzte. Gialbeth folgte ihm dicht auf - aber der Zwerg vergaß nicht, sein Schwert zu ziehen. Lakyr jedoch ließ dies zunächst sein, denn er wollte nicht sofort den Eindruck von Feindlichkeit vermitteln. Sie schritten nun also durch das mit seltsam fremdartigen Ornamenten verzierte Burgtor. Die Häuser der Burg waren in einem katastrophalen Zustand. Es schien einem unbefangenen Besucher so, als sei sie unbewohnt. Aber Lakyr und Gialbeth wollten dies nicht so recht glauben! Irgendetwas zog die zweiköpfige Katze zu dieser Burg! Irgendein Instinkt oder eine Eingebung. Ein Kreischen! Lakyr ließ sein Schwert hervorschnellen und bemerkte dann einen dreiköpfigen Geier, der über der düsteren Burg seine einsamen Kreise zog. Der eisige Wind hatte sein Federkleid arg zerzaust und seine drei Köpfe sahen boshaft auf Lakyr und den Zwerg hinab. Gialbeth stieß irgendeinen Fluch in der Zwergensprache aus, den der Mann aus Thorkyr nicht verstehen konnte.
"Wäre es möglich, dass dieses Geschöpf dort oben mit Eurer Katze verwandt ist, Herr Lakyr? Schließlich haben beide mehr als nur einen Kopf", murmelte der Zwerg.
Lakyr zuckte mit den Schultern.
"Ich weiß nicht viel über meine Katze. Ich weiß nicht einmal ihren Namen - geschweige denn etwas über ihre Verwandtschaft!"
"Vielleicht wäre es an Euch gewesen, Herr, dieser Katze einen Namen zu geben?"
Lakyr schwieg und sah dem Geier eine Weile zu. Seine unruhigen Flügelschläge und sein Kampf gegen den eisigen Wind, der den blauen Nebel in Bewegung hielt, faszinierten ihn auf seltsame Weise. Aber ein leises Miauen (kaum hörbar) genügte, um Lakyr von diesem Anblick loszureißen. Aus einem düsteren, verfallenen Schuppen (vor langer Zeit vielleicht einmal ein Pferdestall) kam etwas etwas Kleines, Schwarzes, Pelziges. Es huschte über den Burgplatz auf Lakyr zu und blieb dicht vor ihm stehen. Zwei Paar Augen funkelten Lakyr wie glühende Kohlen an. Lakyr war außerstande, irgendetwas zu sagen. Stumm nahm er seine Katze auf den Arm und streichelte sie sanft. Ihre Augen sahen ihn ausdrucksvoll an; gleichsam als wollten sie ihm erzählen, was sie gesehen hatten. Dann gingen Lakyr und Gialbeth weiter über den Burghof.
"Da!", rief Gialbeth und deutete auf eines der Fenster dieses ehemals vornehmen Hauses. Die Scheiben waren längst aus ihren Rahmen gefallen. Lakyr bemerkte eine Gestalt an einem dieser Fenster. Sie war in einen langen Mantel gehüllt. Graue Haare wehten im Wind. Als die seltsame Gestalt Lakyr und Gialbeth bemerkte, zog sie sich rasch zurück.
"Wer könnte das sein?", fragte Gialbeth mit gezogenem Schwert.
"Ich weiß es nicht!"
"Vielleicht ist es Retned!"
"Retned sieht anders aus!"
"Es heißt, dass Retned sich in vielerlei Gestalt und Aussehen zeigt." Die zweiköpfige Katze auf Lakyrs Arm miaute leise, aber nicht ängstlich oder aggressiv. Vielleicht wollte sie sagen, dass ihnen von dieser geisterhaften Gestalt keine Gefahr drohe. Wer weiß? Ein Kreischen durchschnitt die feuchte Luft - es war der dreiköpfige Geier. Er hörte nun damit auf, Kreise zu fliegen. Mit unregelmäßigen Schlägen gelangte er in eines der vielen Fenster des alten Herrenhauses und verschwand dort. Mit wenigen Schritten hatten auch Lakyr und Gialbeth dieses Haus erreicht. Eine Tür war gar nicht mehr vorhanden - jemand musste sie vor langer Zeit aus den Angeln gehoben haben. Lakyr hatte sein Schwert eingesteckt. Er wusste, dass wenn sie hier wahrhaftig auf den schrecklichen Retned träfen, er mit einer solchen Waffe kaum etwas gegen ihn ausrichten konnte. Nicht so Gialbeth! Fest hielt er seine Waffe umklammert. Der Zwerg war dazu bereit, jedem eventuellen (auch noch so hinterhältigen) Angriff zuvorzukommen. Wachsam streiften seine Augen über die Dinge seiner Umgebung und untersuchten sie sorgsam und mit Bedacht. Sie traten nun also in das alte Haus ein. Der erste Raum (ursprünglich wahrscheinlich ein Empfangszimmer) war dreckig und unordentlich. Zerbrochene Stühle und andere Möbelstücke lagen herum und der Putz blätterte von den Wänden. Aus Ritzen in der Decke rieselte feiner Staub - von einem eisigen Wind hier hin geweht.
"Retneds Residenz habe ich mir ein wenig anders vorgestellt", murmelte der Zwerg, wobei er sich einige Bretter aus dem Weg räumte. Vorsichtig schlichen sie dann eine knarrende Treppe hinauf. Sie gelangten in einen Raum, der etwas besser aufgeräumt war, als der `Empfangsraum`. Ein Kaminfeuer prasselte vor sich hin und durch die offenen Fenster blies ein eisiger Hauch, der Lakyr schier erstarren ließ. Lakyr setzte seine Katze auf den Boden und trat zum Kaminfeuer. Es schien ein normales Feuer zu sein, denn es wärmte. Der Mann aus Thorkyr hielt seine Hände darüber und sog die Wärme gierig in sich auf. Gialbeth trat ans Fenster und blickte auf den düsteren Burg- hof. Er sah den Brunnen, in dem aber schon seit langem kein Wasser mehr war und er sah das offene Burgtor, das langsam vor sich hin moderte.
"Wo mag nur der Besitzer dieses ganzen sein?", fragte Lakyr leise.
"Der bin ich!", antwortete eine fremdartig klingende Stimme. Lakyr und Gialbeth wirbelten fast gleichzeitig herum. Eine düstere, in einen dunklen Mantel gehüllte Gestalt war aus dem Schatten einer Nische getreten. Graue Haare wehten im eisigen Wind.
"Ihr wart es, den wir am Fenster stehen sahen, nicht wahr?", erkundigte sich Gialbeth. Der Grauhaarige nickte.
"Ja, Ihr habt recht. Was führt Euch zu mir?" Lakyr ging nicht auf die Frage des Burgherrn ein.
"Ihr seid Retned? Der schreckliche Retned, den man im Rattentempel von Ghormall verehrt?", fragte er. Aber der Grauhaarige schüttelte den Kopf.
"Nein. Wie kommt Ihr dazu, solches zu vermuten? Ich bin Trucad von Dralk, der Herr dieser Burg!" Mit einem Seufzer der Erleichterung steckte nun auch Gialbeth sein Schwert weg.
"Ihr seid der einzige, der auf dieser Burg lebt?", fragte Lakyr. Trucads Gesicht wurde noch düsterer, als es schon war. Seine Stirn bekam tiefe Falten und seine Augenbrauen (sie waren buschig und grau) zogen sich bedrohend zusammen. Seine Augen waren traurig.
"Einst hatte ich Knechte und Mägde und Ritter und Knappen und eine Frau. Wir hatten fünf Kinder - aber von ihnen allen lebt niemand mehr. Ich bin der einzige, der überlebte.`
"Wie kam das?", erkundigte sich der Zwerg.
Ein müdes Lächeln huschte über den Mund des Düsteren. "Ihr könnt es Euch nicht denken, Herr? So stammt Ihr nicht von dieser Welt, mein Zwerg?"
"Nein!" Trucad nickte und setzte sich auf einen der herumstehenden Stühle. Gedankenverloren starrte er in die Flammen im Kamin.
"Diese Welt stirbt", sagte er leise. "Ja, es ist so: Welten sterben genauso wie Menschen sterben. Jede Welt stirbt - und so stirbt auch diese Welt. Der blaue Nebel, der draußen zu sehen ist, vernichtet jedes Leben und auch ihr beide werdet sterben, wenn ihr diese Welt nicht bald verlasst!"
"Aber wie? Ein Gott namens Retned holte uns hier her, aber wir wissen nicht, wie wir zurückgelangen können!", sagte Lakyr. Und Trucad nickte bedächtig.
"Wisst ihr, warum euch Retned hier her holt. Nein, ihr könnt es nicht wissen! Ihr solltet diese Welt wieder aufbauen, vor dem Tode bewahren! Ihr alle, die ihr im Rattentempel von Ghormall geopfert wurdet! Aber Retned wusste nicht, dass es bereits zu spät ist! Die blauen Nebelschwaden sind bereits so dicht geworden, dass man kaum noch zehn Meter weit sehen kann! Das ist die beginnende Lethargie des Todes! Das Delirium hat begonnen, Freunde, glaubt es mir." Ein Husten unterbrach Trucad. Mit beiden Händen griff er nach seiner Brust. Durchsichtiger Schleim kam aus seinem Mund. Der Burgherr wurde noch düsterer.
"Das machen die blauen Nebelschwaden! Sie zerfressen die Lunge..." Erneut peinigte ihn ein Hustanfall. Er krümmte sich vor Schmerzen und hustete Schleim. Seine Augen verfärbten sich in seltsamer Weise und sein Gesicht wurde totenblass. Das Feuer des Kamins warf gespenstische Schatten auf sein Angesicht und ließ ihn noch unheimlicher, noch düsterer erscheinen. Schweiß brach ihm aus, kalter Schweiß. Er klebte in seinen Haaren und lief ihm die Stirn hinunter.
"Das Delirium hat begonnen", wiederholte er und stand auf. Wankend schritt er zum offenen Fenster. Der eiskalte Wind fuhr ihm durch die schweißnassen Haare und ließ ihn frösteln.
"Das Delirium beginnt", wiederholte er nochmals und starrte mit fiebrig glänzenden Augen in die von einem kalten Wind in Bewegung gehaltenen, blauen Nebelschwaden, denen diese Welt ihren Untergang zu verdanken haben würde.
"Aber nicht nur das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: Steve Mayer
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2015
ISBN: 978-3-7368-7377-3
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