Albert Baeumer
Alfred Bekker
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Biographie
Albert Baeumer
geboren 1952 in Gangelt, Internatsschüler am Franziskanerkolleg in Sittard (NL), Volontariat und Ausbildung bei einem Zeitungsverlag, nebenberuflicher Redakteur, Kaufmann, Direktmarketing-Fachwirt und Videojournalist, lebt mit seiner Familie in Geilenkirchen, direkt vor den Toren des Selfkants. Als Co-Autor und Mitherausgeber zweier Heimatbücher über Gangelt hat er bereits erste Erfahrungen mit dem Schreiben und Gestalten von Büchern gesammelt.
Alfred Bekker
wurde 1964 geboren und veröffentlichte zahlreiche Spannungsromane, die auch in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Unter anderem ist er Mitautor der Krimi-Serie „Jerry Cotton” sowie einer Reihe von Thrillern und Science Fiction-Romanen. In letzter Zeit wandte er sich verstärkt dem Kinder- und Jugendbuch zu, wo es ihm gelang, zugkräftige Buchserien wie „Tatort Mittelalter” zu etablieren. Außerdem verfasste er den Fantasy-Bestseller „Das Reich der Elben”, der mit den Bänden „Die Könige der Elben” und „Der Krieg der Elben” fortgesetzt wird.
Mercator, Mord und Möhren
© 2012 der Digitalausgabe AlfredBekker/CassiopeiaPress
Ein CassiopeiaPress E-Book.
Www.AlfredBekker.de
Copyright der Print-Original-Ausgabe2007 by Selfkant-Verlag Ltd., Geilenkirchen
Umschlaggestaltung: MWD-Konzept, Geilenkirchen
Alle Rechte vorbehalten.
Die Handlungen in diesem Roman sind rein fiktiv. Zahlreiche agierende Personen sind jedoch nicht frei erfunden, haben aber ihr schriftliches Einverständnis gegeben.
Kryptographie wurde bereits durch den Einsatz von unüblichen Hieroglyphen bei den Ägyptern um 1900 v. Chr. eingesetzt. Im Mittelalter waren in ganz Europa vielfältige Geheimschriften u. a. zum Schutz des diplomatischen Briefverkehrs in Gebrauch, so etwa das Alphabetum Kaldeorum. Kryptographie und Kryptoanalyse spielen sowohl wie im vorliegenden Roman als auch während der Blütezeit von Mercators Schaffen eine wesentliche Rolle. Die Anfänge der mathematischen Kryptographie wurden in dieser Zeit mit der Erzeugung von schlüsselgestützten Zeichenaustauschalgorithmen gesetzt. Auch Kryptographiescheiben nutzte man schon im Mittelalter für den Austausch von geheimen Informationen.
Bis zum heutigen Tage ist es der Wissenschaft nicht genau gelungen zu erforschen, woher Mercator die Informationen zur Herstellung seiner winkeltreuen Karten erhalten hat. Dies wird wohl immer sein Geheimnis bleiben.
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Rumpelnd rollte der Messwagen über den von Schlaglöchern übersäten Weg. Gerhard Mercator saß hinten bei den wertvollen Messinstrumenten und es tat ihm in der Seele weh, wie sein kostbarster Besitz durchgeschüttelt wurde.
„So fahr doch etwas weniger grob!”, ereiferte sich der Kartograph. Müde schaute er auf die flache Landschaft, die sich noch weit bis zu seinem Ziel nach Gangelt streckte.
Seit zwei Jahren schon hatte er in Duisburg eine neue Heimat gefunden. Im Herzogtum Wilhelms des Reichen von Jülich-Kleve-Berg herrschte religiöse Toleranz und er musste dort nicht fürchten, noch einmal wegen „Lutherei” angeklagt zu werden. Sechs Monate Kerkerhaft, die auch nur auf Grund einflussreicher Fürsprache hatten beendet werden können, reichten ihm. Jetzt hatte er sein unbehelligtes Auskommen und konnte sich ganz dem Handwerk widmen, das ihn über die Grenzen seiner Heimat hinweg berühmt gemacht hatte – dem Zeichnen von Karten. Ihm war es gelungen, anhand von Längen- und Breitengraden die genaue Positionierung von Ländern, Orten und Flüssen graphisch im richtigen Verhältnis darzustellen, deren Winkeltreue die Länder erstmals so zueinander ordnete, wie es den tatsächlichen Verhältnissen entsprach.
Sein Grundgedanke: „Ein gerader Weg auf der Karte ist auch ein gerader Weg über Land”, war für seine Zeit eine revolutionäre Idee. Nie zuvor war das gelungen und entsprechend zahlreich waren die Aufträge, mit denen man ihn bestürmte. Die europäischen Herrschaftshäuser hatten auch schon gierig ihre Finger nach seinen maßstabsgerechten und winkelgetreuen Land- und Seekarten ausgestreckt. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit, wenn er daran dachte, dass seine Karten oft über Krieg oder Frieden entschieden.
Tag und Nacht hätte er zeichnen können und er hatte bereits eine Reihe von Hilfskräften in seiner Werkstatt beschäftigt, die dort jedoch zumeist als Kopisten tätig waren. Und auch seine Söhne könnten hier ihr Auskommen finden, sobald sie alt genug wären. Aber Grundlage des Erfolgs war die Genauigkeit und Wirklichkeitstreue. Das war es, was die Karten von Mercator von denen so vieler anderer Kartenzeichner unterschied. Und dafür war es notwendig, genaue Messungen durchzuführen.
Gegenwärtig arbeitete Gerhard Mercator an einer neuen Karte der Deutschen Lande. Besser und genauer als all ihre Vorgängerinnen sollte sie sein. Doch dazu musste erst eine recht mühselige Vorarbeit geleistet werden.
„So fahr doch etwas langsamer!”, herrschte er seinen Kutscher erneut an.
„Es sind die Pferde, Meister! Sie ziehen so!”
„Ach, so red’ doch nicht einen solchen Unsinn! Es kommt nicht darauf an, dass wir das Jülicher Land durchrasen, sondern darauf, dass alles in Ruhe geschieht und die Instrumente nicht zu Schaden kommen!”
Der Kutscher hieß Johann und war in manchen Dingen etwas ungehobelt. Aber Mercator war froh, dass er diese Hilfe hatte. Mit Pferden konnte Johann vorzüglich umgehen. Und das Wichtigste war, dass er bei den manchmal recht langwierigen Messungen nicht ungeduldig wurde. Johann ließ die beiden Pferde etwas langsamer vorangehen und drehte sich um.
„Es kann nicht mehr weit bis Gangelt sein, Meister Gerardus!”, sagte er, als sie gerade an dem Städtchen Heinsberg vorbeifuhren. Gerhard Mercator schätzte es, auch beim Vornamen mit der latinisierten Form angeredet zu werden. Die Form des Namens stellte ihn in gewisser Weise in eine Reihe mit den römischen und griechischen Geistesgrößen. Einen neuen Ptolemäus, so nannten ihn so manche seiner gelehrten Kollegen, weil er das Bild, das sich die Menschen durch die Karten des Ptolemäus von der Welt machten, erheblich korrigiert hatte. Es gefiel ihm, wenn man so von ihm redete.
„Na, erkennt Ihr die Gegend wieder, Meister Gerardus?”, fragte Johann und wandte sich erneut seinem Herrn zu.
„Und ob!”, murmelte Mercator. Ihm kam es mit einem Mal so vor, als hätte er sich auf eine Reise in die eigene Vergangenheit begeben. In dem Ort, den er nun ansteuerte, hatte er seine Kindheit verbracht.
Lange war es her …
Seine Eltern stammten aus dem kleinen Ort Gangelt, bis sie nach Rupelmonde in den Habsburgischen Niederlanden übergesiedelt waren. Aber die ersten Jahre hatte er hier gelebt.
„Es hat sich wenig in den letzten Jahren verändert”, meinte er mehr zu sich selbst als zu Johann. Ein kleiner, mit einer Mauer umgebener Ort und einem mächtigen Burgturm, die dem Herzog von Jülich als Bastion zur Verteidigung seiner Ländereien dienten. Wenige Häuser und eine erhöht stehende Kirche befanden sich innerhalb der Mauern. Ein Ort, wie es ihn zu Dutzenden im Jülicher Land gab. Mit einer Besonderheit – Gangelt besaß die Stadtrechte. Hier war also die Gerichtsbarkeit vertreten.
Gerhard Mercator hatte sich vorgenommen, seiner Heimat ein Denkmal zu setzen. Man würde noch Jahrhunderte später diesen Flecken sofort auf jeder Karte markiert finden, selbst wenn der Name Gangelt vielleicht zu unbedeutend war, um verzeichnet zu werden. Gerhard Mercator lächelte still in sich hinein. „Wer das Privileg besitzt, der Welt als Erster ein Gesicht zu geben, hat die Möglichkeit, sie zumindest im kleinen Detail nach seinem eigenen Bild zu prägen!“
„Genau hier ist der Punkt!”, stellte der Kartograph ein paar Stunden später fest. Sie befanden sich auf einem Acker nur ein paar Steinwürfe von Gangelt entfernt. Hie und da beäugten die Bauern aus der Umgebung misstrauisch, was sie dort taten. Es hatte sich herumgesprochen, dass der große Mercator wieder unterwegs war, um mit seltsamen Apparaturen Messungen durchzuführen, die zu noch seltsameren Berechnungen führten. Für die Leute war er nichts anderes als ein Magier oder Alchimist. Jemand, der eine Geheimlehre beherrschte, von der sie nichts verstanden.
Ja, sie verstanden wahrscheinlich nicht einmal, weshalb es so wichtig sein sollte, sich ein Bild von der Welt als Ganzes zu machen. Ihre Welt endete meistens schon wenige Meilen hinter dem Horizont. Auf jeden Fall aber dort, wo sich die Grenzen ihres Herzogtums befanden. Kaum einer von ihnen kam je wirklich über die Grenzen dieses Landstrichs hinaus.
Auch in dieser Hinsicht war Gerhard Mercator eine Ausnahme gewesen. Während Mercator noch im Nachdenken versunken war, sah Johann seinen Herrn und Meister verwirrt an.
„Von welchem Punkt sprecht Ihr, Herr?”, fragte er.
„Von einem Punkt, der von nun an auf jeder Karte verzeichnet sein wird – und zwar als Schnittpunkt des 51. Breitengrades und des 6. Längengrades der Erdkugel.” Er lächelte. „Große Städte mögen zu kleinen Flecken schrumpfen oder sogar ganz ausgelöscht werden, sodass niemand mehr ihre Namen auf einer Karte verzeichnet. Aber dieser Punkt lässt sich nicht auslöschen! Er ist immer da!” Von seiner eigenen Begeisterung übermannt, blickte der Kartograph zu einem der Bauern hinüber, der schon mindestens seit einer Stunde dastand, die Forke mal in der rechten und mal in der linken Hand, und Mercator bei seinen Berechnungen zusah – wie einem Jahrmarktsmagier bei seinen Kunststücken.
„Wir müssen diesen Ort markieren”, stellte Mercator sachlich fest.
„Wie wäre es mit einem Stein?”, fragte Johann.
„Am besten, du fährst mit dem Wagen los und besorgst einen! Aber das muss schon ein ziemlich großer Brocken sein, damit man ihn nicht einfach verschiebt.”
„Meister, ich …”
„Lass dir von den Leuten hier helfen! Wenn man ihnen ein paar Münzen gibt, machen sie das sicher gerne!”
Johann wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit Mercator über diese Dinge diskutieren zu wollen. Der Kartograph erwartete einfach nur, dass gemacht wurde, was er gesagt hatte. Alles andere, abgesehen von den Messungen, zählte dann ohnehin nicht.
Während Johann mit dem Wagen losfuhr, um einen Stein zu besorgen, behalf sich Mercator zunächst einmal damit, dass er eines seiner Instrumente genau dort ablegte, wo er den Schnittpunkt berechnet hatte.
Dann blickte er auf und sah sinnierend zum Gangelter Burgturm hinüber, der einen idealen Bezugspunkt für seine Peilungen bot.
Zwei Stunden später kehrte Johann mit einem veritablen Felsbrocken auf dem Wagen zurück. Ein paar Knechte hatten ihm geholfen, den Brocken auf den Wagen zu laden. Jetzt musste der Wagen so an die Stelle herangefahren werden, dass man den Stein nur noch von der Ladefläche herunterschieben musste, sodass er an der richtigen Stelle zu liegen kam.
Nachdem der Stein auf dem errechneten Schnittpunkt abgelegt war, ritzte Mercator die Zahl 51 mit einem Feuerstein in die raue Oberfläche.
„Für unsere Messungen setzen wir noch einen Holzpflock mit einer Fahne daneben”, sagte er. „Dann findet man die Stelle schneller. Und langfristig wird man hier gewiss eine deutlichere Markierung setzen!”
„Ich weiß nicht, ob der Bauer, dem dieses Feld gehört, wirklich so begeistert ist, wenn wir ihm Steine auf den Acker tragen”, meinte Johann. Doch Mercator winkte nur müde lächelnd ab und wandte sich wieder seinen Messgeräten zu.
Gerhard Mercators Messarbeiten in und um Gangelt zogen sich tagelang hin. Er hatte sich im Dorfgasthof einquartiert, während Johann in einem Stall schlief, in dem gegen ein paar Münzen auch die Pferde des Nachts untergebracht wurden.
Abends saß der Kartograph oft noch bei flackerndem Kerzenlicht vor dem Kartentisch, den er auf seinem Wagen mitführte und sich in das angemietete Gastzimmer hatte stellen lassen. Er machte dann Skizzen für seine Berechnungen, bis die Kerzen zu weit heruntergebrannt waren.
Zweiunddreißig Jahre alt war Mercator inzwischen, aber er sah durch den langen, bereits von ersten grauen Strähnen durchzogenen Bart deutlich älter aus. Schatten tanzten unruhig auf seinem Gesicht, weil es durch die Fensterläden seines Gastzimmers zog. Sich Glas einsetzen zu lassen, das konnten sich nur reiche Patrizier in Colonia oder Anwers leisten – aber nicht ein Wirt in Gangelt. Mercator seufzte, denn ihn fröstelte ein wenig, dennoch waren seine Augen vollkommen ruhig und konzentriert. Während er zeichnete und den Zirkel schwang, wirkte er in seiner Versunkenheit fast wie ein verklärter Heiliger, für den die Welt um ihn herum keine Bedeutung hatte. Nur Punkte, Winkel und Geraden zählten dann noch.
An einem der folgenden Tage befand sich Gerhard Mercator in der Nähe des Schanzberger Hügels vor den Toren Gangelts. Es war diesig, leichter Nebel schien aufzuziehen und der Himmel wirkte wie ein graues Leichentuch. Mercator hoffte, dass sich das Wetter nicht allzu sehr eintrübte und es zu regnen begänne.
In der Nähe stand der Wagen mit dem Arsenal an selbst gebauten Messinstrumenten, deren fachmännischer Gebrauch letztlich das Geheimnis seiner außerordentlichen Kartendarstellungen war. Viele sprachen von den Werken eines Genies, wenn sie seine Karten mit denen verglichen, die man andernorts erwerben konnte. Aber ihm selbst war sehr wohl bewusst, dass deren Qualität mit Genialität sehr wenig zu tun hatte. Es war Handwerk. Einfaches, solides Handwerk, mit großer Sorgfalt ausgeführt; so seine feste Überzeugung.
Während Johann die meiste Zeit geduldig herumsaß und darauf wartete, dass er Mercator bei irgendeiner Sache zur Hand gehen musste, war der Kartograph wie üblich ganz in seine Arbeit vertieft.
Vom Schanzberg aus peilte er die Spitze des Gangelter Kirchturms an. Dann suchte er einen Bezugspunkt in der Landschaft. Er ging etwas herum, ließ den Blick in die Ferne schweifen und suchte den Horizont nach auffälligen Gebäuden oder Bäumen mit hervorstechenden Merkmalen ab. Dabei fiel ihm ein knorriger Baum auf, der vom Blitz gespalten worden war und jetzt sehr verwachsen wirkte.
Einen Moment lang überlegte er, ob er den alten Baum zum Eckpunkt eines gedachten Dreiecks machen sollte, dessen Entfernungen er über Winkel abmessen konnte. Dann entschied er sich aber dagegen, denn der Baum trug jetzt schon kaum noch Blätter. Das bedeutete, er war morsch und vielleicht schon in wenigen Jahren nur noch Futter für die Borkenkäfer.
Er ließ den Blick weiter schweifen und bemerkte plötzlich durch einige Sträucher hindurch einen auffallenden roten Fleck, der sich zu bewegen schien und deshalb Mercators Aufmerksamkeit erregte.
Dieser rote Fleck war der Umhang eines Mannes, wie sich einige Zeit später herausstellte. Mercator konnte die Gestalt zunächst nur schemenhaft erkennen, wie sie im morgendlichen Nebel aus dem Gestrüpp hervortrat und vor einem halb zugewachsenen Gesteinsbrocken stehen blieb.
Allein, dass der Mann einen roten Umhang trug, sprach schon sicher dafür, dass er kein einfacher Bauer war, deren Kleidung zumeist dunkelbraun, grau oder leinenfarben blieb. Traditionellerweise war es dem einfachen Volk untersagt, farbige Kleidung zu tragen - abgesehen von den Gauklern.
Also war der Mann entweder ein Adeliger oder ein Gaukler, was Mercator jedoch nur beiläufig bedachte, schließlich war er ganz und gar auf die Suche nach einem Messpunkt konzentriert.
In der Ferne öffnete der Unbekannte seinen Umhang. Offenbar hatte er zwei Gegenstände in seinen Händen - eine Hacke und etwas, das wie eine Kiste aussah.
Mercator überlegte mittlerweile, ob er vielleicht jenen Gesteinsbrocken zum Bezugspunkt für seine Messungen nehmen sollte. Was der Mann in der Ferne tat, bemerkte er nur, wenn er ab und an von seiner Arbeit aufsah und so achtete er auch nicht weiter auf den Umstand, dass normalerweise weder Gaukler noch Adelige mit einer Grabhacke in der Hand herumliefen.
Während noch einige Nebelschwaden über das Feld waberten, legte der Unbekannte seinen Umhang ab. Auch darunter war er recht bunt gekleidet, sodass er noch immer auffiel. Er drehte sich ständig um, so als fürchtete er, beobachtet zu werden.
Dann begann er damit, ein Loch zu graben. Die Kiste, die er bei sich getragen hatte, war ebenfalls rot. Mercator schätzte trotz der großen Entfernung, dass die Kiste eine Kantenlänge von anderthalb Ellen haben müsse, was er aufgrund ihres Größenverhältnisses zu dem Mann und einem in der Nähe befindlichen Baum grob überschlug. Solche Schätzungen waren ein Sport für den Kartographen. Er freute sich dann, wenn er sie später mit der Wirklichkeit vergleichen konnte und dachte für sich, dass er den Mann gelegentlich ansprechen könnte, falls er ihn in Gangelt träfe.
Später bemerkte Mercator noch, dass der Mann die rote Kiste offenbar neben dem Gesteinsbrocken vergrub. Anschließend schüttete dieser das Loch mit Erde zu und bedeckte die Stelle mit Gestrüpp. Dann machte er sich eiligst davon. Der Fremde schien nicht bemerkt zu haben, dass er beobachtet wurde.
Mercator schüttelte verwundert den Kopf und machte sich wieder an seine Arbeit. Er hatte schon längst die Stelle, an der er den Mann im roten Umhang gesehen hatte, als Bezugspunkt ausgesucht. Ein Dreieck mit den Eckpunkten Gangelter Kirchturmspitze, der Grabungsstelle des Unbekannten und dem von ihm ermittelten Schnittpunkt zwischen 51. Breitengrad und 6. Längengrad entstand in seinem Kopf.
Mercator begann zu rechnen.
Er schrieb mit einem Stift aus Graphit auf einem Pergament, das er auf ein Brett gespannt hatte, sodass er es als tragbares Schreibpult immer mitnehmen konnte.
„51 … Meine Glückszahl!“, dachte er.
Der Gedanke war plötzlich da und ließ ihn lächeln. Beim ersten Anschein machte die Natur manchmal den Eindruck absoluter Willkür, aber dann gab es wiederum Momente, in denen sich eine so tief gehende Ordnung zu offenbaren schien, dass man es kaum glauben konnte. Man musste sie eben nur erkennen. Insofern gab es für Mercator auch keinen Widerspruch zu dem Glauben an Gott und den Erkenntnissen der Wissenschaft, der Logik und der Mathematik …
„51 …
Vor den Toren des Ortes, in dem ich aufwuchs, kreuzen sich der 51. Breitengrad und der 6. Längengrad. 2800 Schritte sind es zwischen der Kirchturmspitze und dem Schnittpunkt. Und vom Schnittpunkt aus bis zu dem Ort, wo der Kerl seine Kiste vergraben hat, sind es genau 5100 Schritte!
5100 …
51 …
Wer soll da an Zufall glauben?“
Diese Gedanken gingen Mercator durch den Kopf und seine sonst so konzentrierten Gesichtszüge wirkten jetzt plötzlich sehr viel weicher.
„Was mag das nur für eine Magie sein, die von der Ziffernfolge 51 ausgeht?“, fragte er sich.
Aber er beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken, denn er wusste genau, dass man sich in der Analyse solcher mathematischen Muster genauso verlieren konnte wie im Zählen der Sterne am Firmament. Über all diesen Gedanken, mathematischen Überlegungen und Berechnungen vergaß Mercator den Umstand, dass ein ungewöhnlich gekleideter Mann eine geheimnisvolle Kiste vergraben hatte. Es war für den Wissenschaftler in diesem für ihn so wichtigen Moment keine beachtenswerte Sache.
In dieser Nacht arbeitete Mercator wieder sehr spät. Aber zwischendurch nickte er dabei ein und lag nun vornüber gebeugt auf dem Schreibpult. Plötzlich schreckte er hoch. Stimmen hatten ihn geweckt. Seine Kerze war erloschen. Es war ziemlich dunkel.
Mercator ging zum Fenster, von wo aus er die Stimmen jetzt deutlicher hörte.
Er öffnete die Läden, um sich durch das einfallende Mondlicht wenigstens etwas orientieren zu können. Ein kalter Hauch wehte herein. Es war feucht und dunstig draußen. Nebelschwaden sanken in die engen Gassen zwischen den Häusern und vom Mond war nichts weiter zu sehen als ein blasser, verwaschener Fleck, der immer in der Gefahr stand, vom Dunst so sehr überlagert zu werden, dass man gar nichts mehr von ihm wahrnehmen konnte.
Plötzlich hastige Schritte! Gestalten rannten durch die Nacht.
Sie liefen über die Straße, die vor dem Gasthaus herführte.
Waffengeklirr war zu hören. Aufgeregte Stimmen, Wortfetzen.
„Zum Südtor!”, rief ein Mann mit heiserer Stimme.
Im Schein einer schwankenden Laterne, die einer der Männer trug, glaubte Mercator zu erkennen, dass es sich um Mitglieder der Stadtwache handelte. Augenblicke später waren sie verschwunden und die Stille legte sich wieder über das kleine Städtchen.
Als der Kartograph am nächsten Morgen den Wirt danach fragte, was sich in der Nacht wohl zugetragen haben mochte, wusste dieser von nichts.
„Aber bis heute Abend bin ich informiert, werter Herr! Darauf könnt Ihr Euch verlassen!”
Der nächste Tag verging ereignislos – sah man einmal davon ab, dass der wieder aufkommende Nebel Mercator im Zeitplan zurückwarf. Schließlich ließen sich bei Nebel manche Bezugspunkte einfach nicht erkennen, die er jedoch für seine Berechnungen brauchte. An diesem Tag hatte er sich vorgenommen, den Burgturm, der gleichzeitig auch als Stadttor genutzt wurde, zu vermessen, um weitere Koordinaten für eine Karte zur Verfügung zu haben.
„Wir können nur hoffen, dass es bald wieder klarer wird”, meinte er zu Johann gewandt, dem das alles ziemlich einerlei war.
Als Mercator am Abend zu seinem Quartier innerhalb der Stadtmauern von Gangelt zurückkehrte, hörte er, wie die Stadtwachen sich aufgeregt mit einigen Bewohnern unterhielten. Ein richtiger kleiner Auflauf aus Männern, Frauen und Kindern hatte sich gebildet.
Niemand achtete auf Mercator, obwohl er allein für die Einheimischen durch den Wagen mit den recht seltsam wirkenden Messinstrumenten schon jemand war, der normalerweise ständig angegafft wurde, wo auch immer man seiner ansichtig wurde.
Es musste also etwas geschehen sein, was das Interesse der Leute noch mehr in seinen Bann zog, als die merkwürdigen und für das gemeine Volk völlig undurchschaubaren Aktivitäten eines wunderlichen Mannes mit langem Bart.
Es interessierte Mercator, was dort wohl los sein mochte. Gleichzeitig scheute er sich aber davor, sich einfach zu der Menschenmenge zu stellen. Also wies er Johann an, dies zu tun, während er schon mit dem Wagen zur Herberge fuhr.
Der Kartograph hatte seine wertvollen Instrumente bereits eigenhändig ausgeladen, als Johann endlich erschien.
„Nun, was redet man hier in Gangelt?”, fragte ihn Mercator.
„Es ist hier in der Nähe etwas Furchtbares geschehen!”, berichtete Johann völlig außer Atem und mit hochrotem Kopf. Die Aufregung, die den ganzen Ort erfasst zu haben schien, hatte offensichtlich auch von ihm Besitz ergriffen.
Er schnappte nach Luft.
„Nun fahr schon fort und spann mich nicht so auf die Folter!”, verlangte Mercator.
„In der Nähe des Südtores wurde gestern am späten Abend ein Mann tot aufgefunden!”, erklärte Johann. „Jedenfalls berichten das die Stadtwachen. Den Schädel hatte man ihm eingeschlagen. Er trug einen roten Umhang und es soll sich um einen hohen Herrn gehandelt haben!”
„Wer sollte denn ein so abscheuliches Verbrechen begehen?”
„Darüber wird noch gerätselt und es gibt wohl allerhand Gerüchte darüber.”
Wenig später erfuhr Mercator dann von seinem Wirt weitere Einzelheiten. Der Wirt war völlig außer sich. Es kam äußerst selten vor, dass in Gangelt etwas geschah, worüber man sich so trefflich das Maul zerreißen konnte. Normalerweise mussten da schon Spekulationen über den Diebstahl eines Huhns ausreichen – oder darüber, dass eine Bettlerin mit vielen Runzeln und unappetitlichen Geschwüren vielleicht den bösen Blick hatte.
So ein Verbrechen sprengte einfach das normale Leben in den Mauern des Ortes.
„Ich weiß es aus sicherer Quelle”, begann der Wirt im Tonfall eines Verschwörers. „Der Tote ist der Adjutant des Herzogs von Jülich!”
„Nein!”, entfuhr es Mercator.
„Es ist die Wahrheit! Ihr könnt es mir glauben und ich weiß es von offizieller Stelle, aus berufenem Munde. Nur musste ich halt demjenigen versprechen, nicht darüber zu reden. Aber es spricht sich ja sowieso früher oder später alles herum.”
„Das ist allerdings wahr.” Mercator zögerte, bevor er seine nächste Frage stellte. Es lag ihm nämlich ganz und gar nicht daran, irgendwie aufzufallen.
„Trug der Adjutant einen roten Umhang?”, erkundigte er sich dann.
„Ist er Euch vorher also auch schon mal aufgefallen!”, meinte der Wirt. „Ja, Ihr habt recht, es ist der Kerl mit dem roten Umhang. Hier in meinem Gasthaus am Tisch dahinten in der Ecke hat er gesessen, seine Mahlzeit gehalten und sein Bier getrunken. So wahr ich hier vor Euch stehe! Und ein großzügiges Trinkgeld hat er mir auch noch gegeben!”
„Er muss es gewesen sein!“, überlegte Mercator und dachte an den Mann im roten Umhang, den er dabei beobachtet hatte, wie er eine Kiste vergrub.
„Ist bekannt, weshalb der Adjutant ermordet wurde?”, fragte Mercator.
„Nein. Das ist ein Rätsel. Im Moment gehen die Stadtwachen von Haus zu Haus und suchen nach Zeugen. Leute, die den Adjutanten in den letzten Tagen gesehen und vielleicht irgendetwas Verdächtiges beobachtet haben.”
Einen Moment lang erwog Mercator, sich vielleicht auch zu melden. Schließlich war es ja nicht ausgeschlossen, dass die Beobachtung, die er gemacht hatte, etwas mit dem Tod des Adjutanten zu tun hatte.
Aber dann entschied er sich dagegen. Die Zeit, da man ihn in Rupelmonde wegen „Lutherei” festgenommen und ein halbes Jahr im Kerker hatte schmachten lassen, war ihm noch zu lebhaft in Erinnerung. Besser, man hielt sich von der Obrigkeit fern – auch auf die Gefahr hin, dass dann ein feiger Mord vielleicht ungesühnt blieb.
„Eine Garantie für Gerechtigkeit sind die weltlichen Herren nun wirklich nicht!“, beruhigte er sein Gewissen. „Wer sagt schon, dass sie den Richtigen zur Rechenschaft ziehen würden?“
Nach Abschluss seiner Arbeiten in der Gegend von Gangelt zog Mercator mit seinem Messwagen weiter zur Burg Millen im gleichnamigen Ort. Auch dort quartierte er sich für ein paar Tage ein, um Messungen in der Umgebung durchzuführen.
Schon bei seiner Ankunft machten in Millen Gerüchte die Runde, die etwas mit dem Tod des Adjutanten zu tun hatten.
Johann berichtete ihm darüber, nachdem er die Pferde in einen Stall gebracht und mit den dort beschäftigten Knechten gesprochen hatte. Mercator erfuhr auch davon in der Schenke, in der er seine Mahlzeit einnahm.
„Der Adjutant des Herzogs muss ein ganz krummer Hund gewesen sein”, erzählte der Wirt so laut, dass es alle Zecher im Schankraum mithören konnten. „Er war nämlich keineswegs im herzöglichen Auftrag unterwegs, wie mir einer erzählt hat, der bei den herzöglichen Landsknechten angestellt war und letzte Woche durch die Gegend zog, um sein Glück in Antwerpen zu machen.”
„Weswegen war der Kerl denn sonst in der Gegend?”, fragte einer der Zecher, ein vierschrötiger Mann mit riesigen Händen. Mercator, der in einer Ecke der Schenke am Tisch saß und aß, hatte aus dem Gespräch erfahren, dass der Mann der Schmied von Millen war.
„Er war auf der Flucht!”, behauptete der Wirt. „Es war nämlich Anklage gegen ihn erhoben worden, weil er angeblich dem Herzog eine Kiste mit 5100 Goldgulden gestohlen hat!”
„5100 … 51 … Wieder diese Ziffernfolge!“, durchfuhr es Mercator. Er dachte an seine Beobachtungen am Gangelter Schanzberg. An die 5100 Schritte zwischen dem Schnittpunkt des 51. Breitengrades mit dem 6. Längengrad und der Stelle, an welcher der Adjutant des Herzogs offenbar einen unvorstellbar großen Schatz vergraben hatte …
Einen Schatz, den zumindest der Adjutant auf keinen Fall mehr heben konnte.
Mercator verdrängte alle Gedanken an den toten Adjudanten und das vermeintliche Diebesgut. Seine Angst, selbst des Diebstahls bezichtigt zu werden, wenn er die Kiste ausgraben und dabei entdeckt würde, war viel zu groß. Er hatte ein gutes Auskommen und war auf Gestohlenes nicht angewiesen.
Duisburg, 2. Dezember 1594
Flackerndes Kerzenlicht erhellte den Raum. Die Luft war abgestanden. Der Atem des im Bett liegenden Gerhard Mercator ging schwer. Er hatte das Gefühl, dass ihm eine schwere Last auf die Brust drückte und ahnte, dass es der Tod selbst war …
Vor zwei Jahren hatte er sich in aller Unerbittlichkeit angekündigt, als den großen Kartenzeichner ein Schlaganfall ereilte und ihn weitgehend gelähmt hatte. Glücklicherweise hatte Mercator zu diesem Zeitpunkt längst seine Söhne und zum Teil auch schon einige seiner Enkel in die Abläufe seiner Kartographenwerkstatt eingebunden, sodass er nicht mehr überall selbst Hand anlegen musste. Es reichte aus, wenn nach seinen Methoden gearbeitet wurde.
In diesen zwei Jahren hatte sich der Zustand Mercators stetig verschlechtert. Ja, sein Befinden glich gar einer abfallenden Kurve und Mercator ahnte, dass er nun die Null-Koordinate fast erreicht hatte. Es war also die Zeit gekommen, um letzte Dinge zu ordnen. Zeit, um letzte Geheimnisse zu offenbaren, wenn man nicht wollte, dass sie bis in alle Ewigkeit Geheimnisse blieben.
Die Tür knarrte und fiel wieder ins Schloss. Der entstandene Luftzug hätte beinahe die Kerzen ausgeblasen. „Mein Lebenslicht ist nur noch schwach!“, ging es Mercator durch den Kopf. „Vielleicht habe ich doch zu lange gewartet. Noch ein paar Augenblicke! Länger werde ich nicht brauchen!“
In diesem Moment hörte Mercator Schritte und sah seinen jüngsten Sohn Rumold, der in die Fußstapfen seines Vaters getreten war und sich mit Leib und Seele dem Kartographenhandwerk verschrieben hatte.
„Mein Sohn”, flüsterte er.
„Ihr habt mich rufen lassen, Vater?”
„Komm näher … Das Sprechen fällt mir schwer!”
Rumold gehorchte. Er trat an das Bett und seine Gesichtszüge vermochten das Entsetzen über den Zustand des Vaters kaum zu verbergen.
„Der Herrgott wird mich sehr bald zu sich rufen”, sagte Mercator. Er sprach sehr leise. Seine Stimme war kaum mehr als ein schwaches Wispern. Manche Worte waren kaum zu verstehen und wurden durch das Knistern des Kaminfeuers überdeckt.
Er machte eine Pause und sammelte die wenigen Kräfte, die ihm noch geblieben waren.
„Kann ich irgendetwas für Euch tun, Vater?”, fragte Rumold.
„Nein”, ächzte dieser. „Nur zuhören und jedes Wort bewahren, dass ich dir jetzt sagen werde, Rumold. Ich weiß, dass ich dich früher hätte einweihen sollen und ich hoffe, dass es jetzt noch nicht zu spät ist …”
„Worum geht es?”
Wieder folgte eine Unterbrechung. Mercator schloss die Augen und sein Atem wurde so flach, dass Rumold für einen kurzen Moment glaubte, sein Vater wäre bereits entschlafen.
Aber das war nicht der Fall.
Die Augen öffneten sich wieder. Glasig waren sie und ihr Blick schien durch Rumold hindurchzugehen und ihn gar nicht mehr richtig wahrzunehmen.
Schließlich fuhr Mercator fort: „Ich werde die Tabulae Graphica nicht mehr beenden können, mein Sohn.” Vor fünf Jahren war die vierte und bisher letzte Ausgabe dieser Kartensammlung erschienen, zu der insgesamt 22 moderne Landkarten gehörten. Karten, die die Welt endlich so zeigten, wie sie war. Eine fünfte Lieferung hatte Mercator noch selbst vollenden oder zumindest beaufsichtigen wollen. 29 Karten waren bereits fertig, aber es fehlten noch fünf. Der Gedanke an deren Fertigstellung hatte Mercator wohl in den letzten Wochen auch die Kraft gegeben, nicht der Agonie des Todes nachzugeben und einfach die Augen zu schließen. Aber nun musste er sich eingestehen, dass seine Kräfte einfach nicht mehr ausreichten. Es schmerzte ihn, vor der Vollendung dieses Ziels die Augen schließen zu müssen. Aber andererseits bedeutete es auch das Ende einer langen Qual.
„Versprich mir, dass du die Tabulae Graphica vollendest, mein Sohn! Versprich es mir!” Seine zitternde Hand griff nach Rumolds Unterarm und krallte sich regelrecht darum.
„Ich verspreche es, Vater! Ihr könnt Euch darauf verlassen. Ich verbürge mich dafür – und wenn ich es Euren Enkeln auferlegen muss, falls mir etwas zustoßen sollte.”
Mercator atmete auf. „Das ist gut”, sagte er. Er schien sehr erleichtert über diese Versicherung seines Sohnes zu sein, sein Werk abzuschließen.
Mercator hatte es von jeher gehasst, auf Grund welcher Umstände auch immer, eine unfertige Arbeit hinterlassen zu müssen.
„Da ist noch etwas, was ich dir sagen muss, Rumold …”
„Was, Vater?”
„Sieh in die Schublade der Kommode!”
Rumold gehorchte.
„Dort ist ein versiegelter Umschlag! Bring ihn mir”
Als Mercator den Umschlag in den zittrigen Händen hielt, brach er das Siegel und holte den Inhalt hervor. Eine Karte, mit der es offenbar eine besondere Bewandtnis hatte. Rumold half dabei, sie auseinander zu falten.
„Es ist eine Karte, die meine Heimat zeigt”, sagte Mercator mit brüchiger Stimme. „Das Land um Gangelt … Du siehst dort ein Kreuz!”
„Ja, Vater.”
„Das Geheimnis ist verschlüsselt. Du musst…”
„Vater!”
„Bei dem Kreuz … Dort ist … dort … ist …”
Die Stimme des großen Kartographen versagte. Das Leben war von ihm gewichen, bevor er das Geheimnis hatte preisgeben können. Rumold schossen die Tränen in die Augen. Er hatte seinen Vater sehr geliebt und verehrt. Nach einer Zeit der Andacht schloss er ihm behutsam die Augen. Als man Rumold später nach den letzten Worten fragte, die Gerhard Mercator geäußert habe, erklärte er, dass sein Vater darum gebeten habe, vom Prediger in der Kirche mit einem Gebet bedacht zu werden.
Rumold nahm die Karte an sich und betrachtete sie am Abend im Schein der niederbrennenden Kerzen genauer.
Am Rand war eine merkwürdige Kombination aus Buchstaben und Zahlen zu sehen. Das musste die Verschlüsselung sein, die sein Vater gemeint hatte.
Rumold kannte verschiedene Methoden, um Botschaften zu verschlüsseln. Er selbst hatte das auch schon verschiedentlich angewendet. Oft im Auftrag von adeligen Häusern, die auf diese Weise geheime Botschaften sicher überbringen wollten.
Rumold probierte die ihm bekannten Entschlüsselungscodes aus,
aber keiner passte. Auch die Vornamen seiner Geschwister führten zu keinem Erfolg.
Die hier angewandte Art der Verschlüsselung war ihm unbekannt.
Nachdenklich faltete Rumold die Karte wieder zusammen. Es schien fast so, als hätte der große Mercator das Geheimnis der Karte mit in den Tod genommen.
Als Georg „George” Schmitz die heiligen Hallen betrat, in denen die Redaktion seiner Zeitung untergebracht war, grinste er von einem Ohr bis zum anderen.
„Hallo George!”, grüßte ihn der Chef vom Dienst. „Man liest dauernd ´was in unserem Blatt von dir, aber man sieht dich kaum noch in der Redaktion!”
Schmitz hob die Augenbrauen.
„Das ist die Gnade des Freiberuflers”, erwiderte er vergnügt. „Außerdem muss ich meinem Ruf als ´Rasender Reporter der Region‘ doch gerecht werden, oder?”
„Sicher, George.”
Schmitz, der seinen Vornamen gerne auf die feine englische Art aussprechen ließ, war fünfzig Jahre alt, mittelgroß und hatte ein pfiffig wirkendes Gesicht mit sympathischer Ausstrahlung. Die Vorliebe für gutes Essen sah man seinem leichten Bauchansatz an. Besonders die asiatische Küche hatte es ihm angetan. Zum gesundheitlichen Ausgleich dieses Lasters verzichtete er jedoch vollkommen auf Zigaretten und Alkohol, wobei letzteres für einen Lokalreporter normalerweise das Karriere-Aus bedeutete. Wo, wenn nicht an der Biertheke, erfuhr man die Hintergründe zu den Dingen, die Menschen bewegten? Wie Schmitz es geschafft hatte, trotz seines erklärten Nicht-Biertrinkertums ein Rechercheur mit so hervorragenden Kontakten in der Bevölkerung zu werden, war vielen seiner Kollegen schlicht ein Rätsel. Vielleicht war es einfach seine gewinnende Art, mit der er Gesprächspartner für sich einzunehmen wusste, sodass sie ihm dann häufig mehr preisgaben, als sie sich eigentlich vorgenommen hatten.
Lena, eine Volontärin, rief von einem der Computertische herüber. „George, der Typ von der Gangelter Feuerwehr hat wieder angerufen!”
„Ich hoffe, du hast ihm meine Handynummer gegeben!”
„Klar! Und ich habe versucht, ihm zu erklären, dass du ein freier Mitarbeiter bist und hier nur auftauchst, wenn du mal nicht gerade draußen unterwegs bist. Aber das wollte er mir nicht glauben, weil so viel von dir in der Zeitung steht!”
„Das begreift der nie. Am besten, ich rufe ihn an. Hast du dir die Nummer geben lassen?”
„Hier!”
Sie rauschte herüber und gab George einen Zettel.
„Geht es etwa immer noch um den Brand von letzter Woche?”, fragte der Chef vom Dienst und verzog dabei das Gesicht.
„Nein, wahrscheinlich um das Jahresfest der Feuerwehr von Gangelt.”
„Und dann hat noch jemand anderes angerufen – auch ein Feuerwehrmann”, berichtete Lena. „Das war der Herr Milthaler aus Gangelt. Er dachte, du wärst zufällig mal hier, weil dein Handy wohl nicht eingeschaltet war. Wahrscheinlich wird er es dann in nächster Zeit noch mal versuchen.”
George nickte.
„Akku leer”, meinte er. „Aber inzwischen ist er wieder randvoll. Hat Herr Milthaler gesagt, worum es ging? Wenn es nämlich in Gangelt gebrannt hätte, hätte ich eigentlich davon hören müssen …”, sagte er grinsend in Richtung seines Chefs.
„Es ging um irgendein Fest.”
„Ach ja”, seufzte George. „Das Jahresfest der Freiwilligen Feuerwehr von Gangelt.”
Nun lachte auch der Chef vom Dienst. „Lange kein Mord oder etwas ähnlich Spektakuläres in der Gegend passiert, was, George? Dass du dich jetzt schon mit so einem Kleinkram wie Feuerwehrfesten abgeben musst, spricht doch Bände über die zurückgehende Kriminalitätsrate in unserer Region!”
„Warum macht ihr dann daraus nicht eine Schlagzeile?”, gab George den Ball zurück. „VERBRECHENSRATE IM SELFKANT RÜCKLÄUFIG – MORDREPORTER WIRD JETZT ARBEITSLOS!”
„Besonderer Service der Zeitung: Unser Star-Reporter schreibt jetzt auf Wunsch für Ihre Hochzeitszeitung!”, ergänzte Lena. „Das wäre doch was!”
Alle lachten.
„Aber mal ehrlich”, sagte George und strich sich dabei mit einer etwas hektisch wirkenden Geste den dunkelblonden, aber schon leicht ergrauten Schurrbart glatt. „In den nächsten zwei Wochen werde ich es wirklich mal etwas ruhiger angehen lassen.”
„Dann darf aber kein Mord, kein lokaler Polit-Skandal und kein spektakulärer Unfall dazwischenkommen, oder?”, meinte der Chef vom Dienst.
Augenzwinkernd antwortete George: „Es gibt ja noch Polizei und Feuerwehr. Ich muss ja nicht alles alleine machen!”
„Darf man fragen, was du vorhast?”, fragte der Chef vom Dienst und lehnte sich in seinem breiten Bürosessel zurück, während Lena wieder zu ihrem Platz zurückging.
Schmitz’ Vorliebe für Fernreisen war unter den Kollegen bekannt. Ab und zu konnte man daher auch vollkommen genrefremde Reiseberichte von dem rührigen Reporter lesen, in denen er seine persönlichen Eindrücke zu Papier – oder besser gesagt in seinen Laptop brachte. Besonders Asien und Afrika hatten es ihm angetan und zogen ihn immer wieder aufs Neue an. Für den rundum geerdeten, in seiner Region verwurzelten Schmitz war das wie ein Kontrastprogramm zu seinem sonstigen Leben, in dem er mindestens die Hälfte aller wichtigen lokalen Funktionsträger duzte und viele schon seit Jahren kannte. Hier in seinem Revier war ihm beinahe „jeder Bierdeckel“ vertraut und da brauchte er ab und zu die Abwechslung des Exotischen und Unvermuteten.
Aber das war es diesmal nicht. „Ich muss dich enttäuschen, es geht nur bis Gangelt”, sagte George und genoss es, die Augen seines Chefs vor Verblüffung hervortreten zu sehen.
„Bis Gangelt? Vielleicht Gangelt in Florida oder so etwas – oder meinst du wirklich unser Gangelt?”
„Unser Gangelt”, bestätigte George.
„Dann lass mich raten: Du bist doch an einer Story dran! Jemand hat den Mercator-Stein am 51. Breitengrad umgestürzt und du verrätst mir nichts davon, weil du in Ruhe an der Sache arbeiten willst!”
„Nein, es ist ganz einfach. Meine Frau macht eine Kur in Bad Pyrmont und da dachte ich mir, ich könnte es mir ja auch mal richtig gut gehen lassen. Jetzt hat doch in Gangelt dieses neue Mercator-Hotel eröffnet und ich werde mich mal ein paar Tage dort einquartieren, das Wellness-Programm testen, sehen, was die Küche zu bieten hat und so weiter. Einfach mal die Füße komplett hochlegen.”
„Nicht schlecht”, staunte sein Gegenüber und sah ihn ungläubig an.
„Unter die Hotelkritiker bist du jetzt aber nicht gegangen, oder?”
George lächelte auf seine hintergründige Weise.
„Wer weiß? Schließlich bin ich unabhängiger Journalist und da soll mir das mal jemand verbieten.”
Er gab seine Daten für die letzten Artikel per USB-Stick ab, hielt noch hier und da ein Schwätzchen mit dem einen oder anderen Zeitungskollegen, um über alles auf dem Laufenden zu bleiben, was sich in der Region so tat und verließ anschließend die Redaktion genauso gut gelaunt, wie er sie betreten hatte.
In den nächsten Tagen würden noch ein paar Artikel von ihm abgedruckt werden. Aber dann?
Anderthalb Wochen Tageszeitung ohne Georg Schmitz.
Sowohl für die Leser als auch für George selbst würde das ziemlich ungewohnt sein.
George ging zum Parkplatz und stieg in seinen blauen VW Lupo. Die Reisetasche befand sich schon gepackt im Kofferraum – der unverzichtbare Laptop und seine Kamera allerdings auch. Man konnte ja nie wissen! Und George hatte nicht die Absicht, den Albtraum eines jeden Reporters wahr werden zu lassen, der da lautete: Es passiert etwas und man hat keine Möglichkeit, darüber zu schreiben, weil man ohne Laptop und anderes Handwerkszeug dasteht.
Und falls nichts geschehen sollte, was es wert gewesen wäre, in die Laptoptasten gehackt zu werden, dann könnte er sich zumindest schon mal an das Linux-Betriebssystem gewöhnen. Das hatte er sich neu aufgespielt, weil er die Fehler und Sicherheitslücken von Windows XP und einem Bill Gates einfach satt hatte.
Elf Kilometer waren es von Geilenkirchen bis Gangelt.
Wirklich keine Weltreise!
Gemütlich schlenderte Jan van Pollak über den Lütticher Flohmarkt. Es war ein kühler, aber sonniger Sonntagmorgen. Dutzende von Sprachen klangen durcheinander.
Vom Kleintier bis zu einem großen Angebot von russischsprachigen Büchern und Videos konnte man hier alles bekommen. Trödel und Tand ebenso wie wertvolle Antiquitäten. Manchmal beides auf eine Weise gemischt, die es schwer machte, das Wertvolle vom nicht so Wertvollen zu unterscheiden.
Jan van Pollak war 42 Jahre alt. Er hatte Kunstgeschichte und Bibliothekswissenschaften in Bonn und Amsterdam studiert und sogar einen akademischen Grad erwoben. Dr. van Pollak konnte er sich nennen. Aber das hatte dem Sohn eines Belgiers und einer Deutschen nicht viel genützt. Er fuhr seit ein paar Jahren in Lüttich Taxi, nachdem er die Hoffnung, irgendwann zu habilitieren und einen Lehrstuhl zu bekommen, aufgegeben hatte. Mit einem Antiquariat für alte Bücher war er pleitegegangen und hatte einen Offenbarungseid leisten müssen. Mit dem Taxi verdiente er so viel, wie er brauchte und durfte, ohne seine Gläubiger begehrlich zu machen.
Nebenbei hatte er noch ein paar Einnahmen aus einer schwarzen Quelle. Er machte Expertisen von Kunstwerken und Antiquitäten für Leute, die am Rand der Legalität arbeiteten. In vielen Fällen war er wohl eher auf der anderen Seite der Grenze, die das Gesetz zog. Es waren Kunstwerke von zweifelhafter Herkunft, die er für ein Handgeld beurteilte. Ob sie gestohlen oder illegal eingeführt waren, das wollte van Pollak gar nicht so genau wissen.
Jedenfalls bekam er so das nötige Honorar, um auf Flohmärkten wie diesem seiner Leidenschaft für alte Bücher nachzugehen. Meistens war es nicht der Rede wert, was so angeboten wurde. Übelriechender Papiermüll, nur ein paar Cent wert. Manche der Händler boten konsequenterweise Bücher gleich als Kiloware an.
Aber hin und wieder gab es ein paar rare Schmuckstücke in all diesem billigen Zeug zu finden. Wertvolle Erstausgaben zum Beispiel oder uralte Kartensammlungen. Die Händler wussten dann zumeist gar nicht über den Wert ihrer Ware Bescheid.
Ab und zu hatte van Pollak schon das eine oder andere Schnäppchen gemacht. Da er wusste, wo man solche wertvollen Ausgaben zu einem reellen Wert an den Mann bringen konnte, war fast immer ein ganz ansehnlicher Gewinn drin.
Der Stand, an dem van Pollak jetzt stehen blieb, gehörte einem Russlanddeutschen, der schlecht Deutsch, noch schlechter Flämisch und überhaupt nicht Französisch sprach. Ein Drittel seines Angebots bestand aus russischen Romanen, der Rest aus einem Sammelsurium aus staubigen Taschenbüchern und dicken Folianten in Deutsch, Niederländisch und Französisch.
Van Pollak interessierte sich für ein paar Bände mit aufwändigen Farbtafeln, die vor dem ersten Weltkrieg herausgebracht worden waren. Sie lagen direkt neben einigen Stapeln mit Romanheftchen. Die deutschen und die niederländisch-flämischen Ausgaben von Jerry Cotton und Perry Rhodan fielen ihm auf. Van Pollak griff jedoch zu einem anderen Buch, einem Atlas aus dem Jahre 1889. Neugierig blätterte er etwas darin herum.
Die Bindung hatte sich bereits ziemlich aufgelöst.
Er legte ihn zur Seite, weil etwas anderes sein Interesse erregte.
Es war ein altes Buch mit einem schwarzen Einband. Die Goldlettern auf dem Rücken waren fast verblasst. Aber man konnte sie noch lesen: Hermann von Schlichten, ABSONDERLICHE KULTE.
Van Pollak nahm das Werk an sich, schlug es auf und sah auf das Erscheinungsjahr: 1899.
Es war die legendäre Erstausgabe eines okkulten Kompendiums, das ein im Wahnsinn endender Geisterbeschwörer im Wien der Jahrhundertwende verfasst hatte. Ein Zeitgenosse von Gustav Meyrink und vielleicht sogar mit ihm bekannt.
„Dreihundert Euro!“, dachte van Pollak. „Mindestens!“
Ihm war bekannt, dass dieses Kompendium nie wieder aufgelegt worden war, sich jedoch in der Okkultistenszene großer Beliebtheit erfreute. Mit etwas Glück glaubte van Pollak sogar das Doppelte herausholen zu können.
Er blätterte in den Seiten herum.
In erster Linie achtete er darauf, dass der Band vollständig war und nicht jemand etwas herausgerissen hatte. Ein herausgerissenes Deckblatt reichte schon, um den Wert zu halbieren.
Es fehlte jedoch nichts.
Und der Besitzer des Werkes hatte seinen Namen sehr dezent in eine Ecke des Deckblattes geschrieben: Jakob Weyden, Duisburg stand dort in Blockbuchstaben. Wann dieser Band im Besitz eines gewissen Herrn Weyden aus Duisburg gewesen war, konnte man allerdings so nicht feststellen.
Beim Durchblättern rutschte plötzlich an einer Seite etwas heraus: ein zusammengefalteter Bogen Papier. Erst wollte van Pollak ihn zurückschieben, doch neugierig geworden, zog er ihn komplett heraus. Das Papier unterschied sich in seiner Beschaffenheit und Farbe sehr stark von dem des Buches. Es war viel gröber und besaß eine mehr gelbliche Farbe.
Van Pollak faltete den Bogen auseinander.
„Eine Karte!“, stellte er überrascht fest. Ein deutliches Kreuz markierte einen bestimmten Punkt. Zwei Linien waren hervorgehoben. Der 51. Breiten- und der 6. Längengrad! Am Rand befanden sich eigenartige Kombinationen aus Zahlen und Buchstaben sowie das Namenszeichen Mercators.
Van Pollak schluckte. Sein Herzschlag beschleunigte sich.
„Mein Gott!“, durchfuhr es ihn. „Ich hätte nicht gedacht, dass es sie wirklich gibt!“
In seinem Studium der Geschichtswissenschaften hatte er einiges über Mercator gelesen und erfahren, dass dieser seinem Sohn auf dem Sterbebett eine geheimnisvolle Karte übergeben hatte. Seinem Sohn war es nicht gelungen, das Geheimnis der Karte zu entschlüsseln. Obwohl in der jetzigen Zeit noch manche Mercatorkarten erhältlich waren, blieb diese jedoch bis zum heutigen Tage verschollen.
„Du wollen kaufen?”, fragte der Russe. „Immer vorsichtig, ist alt!”
„Was wollen Sie dafür haben?”, fragte van Pollak, der die Karte wieder zusammenfaltete.
„War Zettel in Buch?”
„Ja.”
„Dann wieder reinlegen! Ist alt... und wertvoll. Gibst du fünfzig Euro?”, fragte der Russe.
„Vierzig”, bot van Pollak an.
„Fünfundvierzig.”
„Okay!”, meinte van Pollak und besiegelte damit den Handel.
Handeln war Ehrensache, fand van Pollak. Außerdem hätte er den Russen nur misstrauisch gemacht, wenn er das Buch für 50 Euro gleich gekauft hätte.
Aber auf die dreihundert Euro, die er mit Hermann von Schlichtens ABSONDERLICHEN KULTEN verdienen konnte, kam es jetzt gar nicht mehr an.
Dreihundert Euro …
Van Pollak lächelte.
Die Karte war mindestens drei Millionen wert!
Van Pollak ging zu seinem Wagen, einem gebrauchten Toyota mit reichlich Roststellen an der Karosserie. Die Ausgabe der ABSONDERLICHEN KULTE mit der Karte darin hatte er unter den Arm geklemmt und legte sie nun auf den Beifahrersitz.
Dann nahm er das Mobil-Telefon aus der abgewetzten Lederjacke, die selbst wie eine Antiquität wirkte. Ein Prepaid-Handy. Mehr konnte er sich nicht leisten. So um die zwanzig Euro hatte er noch an Guthaben. Hoffte er zumindest.
Er wählte eine Nummer aus dem Menü und sprach dann in fließendem Flämisch:
„Hör mal, du musst für meine Taxi-Schichten in der nächsten Woche jemand anderen einplanen … Nein, ich kann nicht. Nein … Ich bin die ganze Woche nicht da, tut mir leid.”
„Und wahrscheinlich werde ich nie wieder Taxi fahren müssen, wenn ich zurückkehre!“, dachte er für sich.
Dann lehnte er sich zurück.
Er schloss für einen Moment die Augen und genoss einfach nur dieses riesige Glücksgefühl, das in ihm aufstieg. Noch konnte er es gar nicht richtig fassen!
Über 5000 Goldgulden soll der Adjutant des Herzogs von Jülich im Jahre 1554 gestohlen haben, bevor ihn das Gericht des Herrn in Form eines feigen Raubmörders hinweggerafft hatte.
„Niemand weiß bis heute, wo dieser Schatz versteckt ist! Aber für jemanden, der sich im Besitz dieser Karte befindet, und gleichzeitig über mittelalterliche Verschlüsselungstechniken Bescheid weiß, sollte es doch kein Problem sein, den Ort zu finden,“ dachte van Pollak.
Dummerweise konnte er diese Sache nicht allein durchziehen. Er brauchte Hilfe. Und dabei ging es weniger darum, jemanden zu finden, der bereit war, eine Schaufel in die Hand zu nehmen, als vielmehr jemanden, der dafür sorgte, dass die Goldgulden in die richtigen Hände verkauft wurden.
Van Pollak kannte sich aus.
In Nordrhein-Westfalen sah ein Gesetz vor, dass beim Fund eines Schatzes die Hälfte dem Entdecker und die andere Hälfte dem Eigentümer des Fundortes zugesprochen wird.
Van Pollak hatte allerdings nicht die Absicht zu teilen. Im Gegenteil! Es gab vielleicht sogar Personen, die bereit waren, noch sehr viel mehr zu bezahlen als den angesetzten Schätzwert, der im Wesentlichen den Materialwert berücksichtigte.
Menschen, denen es wichtig war, etwas Einzigartiges zu besitzen und die gar nicht daran dachten, mit diesen Goldmünzen auf den Markt zu gehen.
Außerdem bestand die Möglichkeit, die Goldgulden einzeln zu verkaufen, woraus sich vielleicht ein noch wesentlich höherer Gewinn erzielen ließ.
Vorausgesetzt natürlich, man hatte die richtigen Kontakte.
Aber über diese verfügte van Pollak.
Schließlich waren das genau die Leute, die ihn ansonsten mit Expertisen beschäftigten.
Van Pollak öffnete die Augen und wählte eine weitere Nummer.
Es war eine Nummer in Deutschland.
Eine Aachener Vorwahl.
„Hier ist van Pollak. Wir müssen uns dringend treffen.”
George setzte seine Reisetasche und den kleinen Koffer mit dem Laptop auf dem Boden ab. Er atmete tief durch, ließ den Blick durch das Foyer des neu errichteten Mercator-Hotels in Gangelt schweifen und sah dann den Portier an der Rezeption an.
„Schmitz”, sagte er nur. „Ich habe reserviert.”
„Georg Schmitz”, gab der Portier zurück, ohne in seinen Unterlagen nachschauen zu müssen. „Von der Zeitung.”
„Richtig.”
„Ich habe Sie gleich wiedererkannt!”
Schmitz hatte Kolumnen geschrieben, die auch einen Schattenriss seines markanten Gesichts zeigten. Normalerweise war es ihm nicht unangenehm, wie eine lokale Persönlichkeit gleich erkannt zu werden. Allerdings war er diesmal in rein privater Sache unterwegs und da wäre es ihm eigentlich schon lieber gewesen, nicht als Reporter erkannt und angesprochen zu werden. Er hatte sogar überlegt, unter falschem Namen zu reservieren, um endlich einmal ungestört entspannen zu können. Aber das hatte sich jetzt erledigt. Außerdem wäre er mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Und das wollte er partout nicht.
„Unter diesem Aspekt gesehen war es vielleicht ein Fehler, nach Gangelt zu gehen, um sich zu erholen,“ dachte er. „Aber nur unter diesem ...“
In diesem Augenblick betrat Edmund-Josef Wolf, der Hotelmanager, das lichtdurchflutete Foyer. Er war mittelgroß. Seine aufmerksamen Augen ließ er durch den Raum schweifen. Diesen Augen entging nichts. Keine falsch gefaltete Serviette und keine Falte in einer Tischdecke. Als Manager war er letztlich für alles verantwortlich. Man sagte ihm wie den meisten seiner Kollegen Pedanterie nach, aber die konsequente Kontrolle über alle Kleinigkeiten war in Wolfs Gewerbe wahrscheinlich die Grundlage des Erfolgs – und die Fähigkeit, den eigenen Betrieb aus der Sicht des Kunden zu sehen. Dass er selbst ein Gourmet war, gestattete ihm manchmal, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.
Wolf ging mit weiten, zielstrebigen Schritten auf George zu und gab ihm lächelnd die Hand.
„Schön, wieder die Presse im Haus zu haben”, sagte er und lachte Schmitz freundlich zu.
„Diesmal bin ich rein privat hier”, antwortete der Reporter schnell.
Wolfs Blick fiel auf die Laptop-Tasche.
„Na ja, so wie jemand wie Sie eben privat ist”, meinte er augenzwinkernd. „Ich hoffe, es springt dabei ein schöner Artikel über unser Hotel heraus. Internet-Anschluss finden Sie bei uns in jedem Zimmer, aber das wissen Sie ja.”
„Eigentlich habe ich vor, ein paar Tage gar nichts zu schreiben”, sagte George.
„Glaubst du wirklich selbst daran?“, überlegte er dabei. „Das wäre doch wohl das erste Mal, dass du das auch tatsächlich durchhältst!“
„So, so”, meinte Wolf.
Er verzog keine Miene, aber irgendwie hatte George das Gefühl, dass der Hotelmanager ihm nicht recht glaubte.
Lächelnd erwiderte George: „Meine Frau lässt es sich in Bad Pyrmont bei ihrer Kur gut gehen. Da dachte ich, dass ich auch mal was für mich tue und ausprobiere, was es bei Ihnen an Wellness und Komfort so alles gibt! Sauna, Schwimmbad, Massage ... Wenn man viel sitzt, zwickt es einem nämlich immer schnell im Rücken!”
„Da kann ich Ihnen nur die Dienste unseres Physiotherapeuten Bas Horsmans empfehlen. Eine Spitzenkraft in seinem Beruf. Der wird Ihnen sicher helfen können.”
„Danke, darauf werde ich zurückkommen.”
„Davon abgesehen möchte ich besonders auf unseren exquisiten Weinkeller hinweisen. Und vielleicht fällt Ihnen ja doch noch etwas ein, was Sie über uns zu Papier bringen können. Und sei es auch nur eine lustige Glosse oder so etwas. Sie wissen, dass aller Anfang schwer ist und wir jede Zeile brauchen können, die auf uns aufmerksam macht.”
George hob abwehrend die Hände. „Diesmal ganz sicher nicht. Den Laptop habe ich nur dabei, weil ...” Er zögerte. „Na ja, falls doch irgendetwas ganz Außergewöhnliches passiert. Es ist der absolute Reporteralbtraum, dass etwas in unmittelbarer Nähe passiert und man nichts dabei hat, um darüber schreiben zu können!”
„Mit anderen Worten: Es müsste schon ein Mord im Mercator-Hotel passieren, damit man Sie an die Tasten bekommt!”, lächelte Wolf.
„Aber so etwas will ja niemand ernsthaft hoffen”, gab Schmitz leicht entsetzt zurück.
„Natürlich nicht. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall einen schönen Aufenthalt hier im Mercator-Hotel - auch wenn davon leider niemand erfahren wird.”
„Danke, danke”, meinte George artig und wollte schon zu seinem Zimmer gehen.
Auch Wolf war bereits wieder auf dem Sprung, aber der Portier wandte sich an ihn.
„Herr Wolf?”
„Ja?”
„Herr Hamacher hat vorhin angerufen. Wegen der Hochzeit heute Abend.”
„Ah, ja.”
„Er fragt, ob er seine Scheinwerfer schon heute Nachmittag in den Raum bringen kann und möchte deswegen zurückgerufen werden.”
„Sagen Sie ihm: Nicht vor 14.30 Uhr.”
„Gut.”
Wolf nickte George noch einmal freundlich zu und ging dann eilig davon.
Der Reporter blieb nun doch noch in der Halle stehen. Er wusste natürlich, wer dieser Herr Hamacher war. In gewisser Weise handelte es sich um einen Kollegen. Der Postbeamte betrieb nebenberuflich ein Pressebüro und war auch als freier Mitarbeiter für die gleiche Zeitung tätig.
Fotografieren war sein in professioneller Qualität betriebenes Hobby. Ab und zu schaute George unter www.foto-hamacher.de vorbei, um sich über Ereignisse aus der Umgebung auf dem Laufenden zu halten.
Er wandte sich an den Portier.
„Wer heiratet denn?”
„Bernd Walters, ein Industrieller aus Aachen.”
„Na, wenn so jemand hier heiratet, dann hat sich der Ruf des Mercator-Hotels aber schon weit herumgesprochen!”
Der Portier lächelte verhalten. „Dass die Hochzeit hier stattfindet, liegt wohl eher daran, dass seine Zukünftige, Samira Petzold, von hier stammt.”
George runzelte die Stirn. Der Name war ziemlich ungewöhnlich und irgendwo klingelte da etwas in seinem Kopf.
Dann schnipste er mit den Fingern. „Rote Haare, Sommersprossen, ausladende Formen, etwa ein Meter fünfundsiebzig groß?”
„Stimmt.”
„Die müsste jetzt so Ende zwanzig sein. Als 16-jährige Schülerin war sie mal in einen Unfall verwickelt, über den ich berichtet habe. Sie war mit dem Fahrrad unterwegs und ein LKW-Fahrer hatte sie übersehen und angefahren. Vom Fahrrad war nur noch ein Knäuel von Metallrohren übrig – aber ihr war nichts passiert! Man sprach damals von einem Wunder und selbst die Bildzeitung hat davon berichtet.”
„Tut mir leid, ich bin nicht von hier”, sagte der Portier. „Darüber weiß ich nichts.”
Schmitz bezog wenig später sein Zimmer. Internet-Anschluss, Fernseher, ein bequemes Bett, eine Minibar und ein gemütliches, chices Ambiente – es war für alles gesorgt, was man als Gast mit gehobenen Ansprüchen so brauchte. Aus seinem Fenster hatte er eine schöne Aussicht auf den Gangelter Burgturm und die umliegenden Felder.
Zu Mittag aß er mit Genuss Züricher Geschnetzeltes mit Spätzle.
Mit asiatischer Küche, die George normalerweise bevorzugte, konnte das Mercator-Hotel natürlich nicht dienen. Aber von dieser Vorliebe einmal abgesehen, war George vielseitig kulinarisch interessiert und gegenüber allen Genüssen sehr aufgeschlossen.
Etwas verwundert war er schon, als der Koch ihn persönlich am Tisch fragte, wie es ihm geschmeckt habe.
„Das Menü war ausgezeichnet”, entgegnete George.
„Der eigentliche Grund dafür, dass ich Sie anspreche ist, dass ich immer Ihre Artikel lese und dann meinen Namen sehe ...”
„Wie?”, fragte George irritiert.
„Ich heiße auch Schmitz. Michael Schmitz.”
Schmitz seufzte. „Ja, da teilen wir ein Schicksal: Wir sind zahlreich. Ich kenne sogar mindestens noch fünf andere Leute, die Georg Schmitz heißen. Aber da mich jeder George nennt, gibt es ja keine Verwechslungsgefahr.”
Den Nachmittag verbrachte George mit verschiedenen Wellnessanwendungen im Mercator-Hotel. Er schwitzte in den verschiedenen Saunen und zog seine Runden im Schwimmbad. Zunächst fiel es ihm schwer, sich zu entspannen. Immer wieder glaubte er, sein Handy klingeln zu hören. Aber das legte sich nach kurzer Zeit. Dass man natürlich Handys in diese Bereiche nicht mitnehmen konnte, schon der Feuchtigkeit wegen, leuchtete ihm ein. Natürlich auch um die anderen Gäste nicht zu stören.
Spätestens nachdem sich der Physiotherapeut Horsmans, ein sympathischer und sehr freundlicher Niederländer, eingehend mit ihm beschäftigt hatte, war er so entspannt wie schon seit Jahren nicht mehr. Selbst an sein Handy verschwendete er keinen Gedanken und genoss die unbeschwerte Ruhe.
Am Abend wurde im Mercator-Hotel die Hochzeit des Industriellen Bernd Walters gefeiert. George beschloss, sich nicht in der Nähe blicken zu lassen, da man vielleicht erwartete, dass er einen Artikel über dieses Ereignis schreiben würde. Und das hatte er nun wirklich nicht vor. So verbrachte er noch einige Zeit in der Hotelbar und dort traf er Karl-Heinz Hamacher, der gerade eine Pause von seinem Fotografen-Job einlegte.
„Ist hier was passiert und ich habe nichts davon mitbekommen?”, fragte Hamacher augenzwinkernd. „Oder was führt dich sonst hierher?”
„Diesmal nur die Lust zu faulenzen und sich den Rücken durchkneten zu lassen”, sagte George.
„Na, da bin ich ja froh!”
Während beide noch einen Drink bestellten, gesellte sich eine weitere Person zu ihnen an die Bar. Für beide kein Unbekannter. Dr. Martin Achten war vor seinem Ruhestand der Zahnarzt für die Gangelter Bevölkerung. Er gehörte offenbar zur näheren Verwandtschaft oder Bekanntschaft der Brautleute und war wohl deswegen eingeladen.
Dr. Achten schwitzte.
„Ich hab noch mal mit meiner Frau einen Walzer wie früher aufs Parkett gelegt, aber jetzt brauche ich eine Pause”, meinte er und bestellte ein Bier. Er sah sich neugierig um. „Hier im Mercator hat sich ja einiges getan, wenn man bedenkt, dass das Richtfest noch nicht mal ein halbes Jahr her ist.”
„Apropos Mercator”, sagte Hamacher. „Sie sind doch ein anerkannter Mercator-Spezialist, Herr Dr. Achten.”
„Na ja, das eine oder andere habe ich schon herausgefunden”, sagte er bescheiden.
„So unwesentliche Dinge wie die Tatsache, dass Mercators Eltern aus Gangelt stammen zum Beispiel”, mischte sich George augenzwinkernd ein.
„Wann war Mercator eigentlich zuletzt hier in Gangelt?”, fragte Hamacher interessiert.
„Das müsste 1554 gewesen sein”, überlegte Dr. Achten laut. „Jedenfalls hat er da einige Vermessungsfahrten durchgeführt und ich vermute, dass ihm da die Idee kam, den Schnittpunkt zwischen dem 51. Breitengrad und dem 6. Längengrad genau auf Gangelt zu legen.”
„Das hat mich nämlich vor kurzem meine Cousine gefragt. Sie betreibt ja eine Pension hier in Gangelt und sie hatte wohl einen Gast, der als Hobby private Mercator-Studien durchführte. Vielleicht kennen Sie den, aber ich komme jetzt auch nicht auf den Namen.”
Während Dr. Achten in seinen Ausführungen über Mercator weiterfuhr, musste George ständig gähnen.
„Die Sauna und die Physiotherapie haben mir wohl ziemlich zugesetzt”, meinte er nach einigen verzweifelten Versuchen, sich am Gespräch zu beteiligen. „Ich glaube, ich gehe heute mal etwas früher ins Bett.”
„Vorher sollten Sie aber doch noch die Köstlichkeiten der Abendkarte probieren!”, meinte Hamacher.
„So?”
„Die haben exquisite Sachen hier.”
„Mal sehen ...”
George verabschiedete sich und strebte müde seinem Zimmer zu.
In dieser Nacht schlief Schmitz schnell ein. Vielleicht lag es daran, dass er den Kochkünsten seines Namensvetters mit der Chefkochmütze doch nicht hatte widerstehen können und am Abend noch ein schmackhaftes Mahl genossen hatte.
Es war schon nach Mitternacht, als er auf einmal wach wurde. Um etwas frische Luft hereinzulassen, öffnete er das Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Der Mond stand wie ein verwaschener Fleck am Himmel. Nur vereinzelt waren in Gangelt jetzt noch Geräusche zu hören.
Hier und da fuhr noch ein Wagen über die Sittarder Straße, aber die Intervalle dazwischen, in denen es fast ganz still war, wurden deutlich länger. Eine ganze Weile saß George einfach nur am Fenster und blickte in die Nacht. Er dachte nach und ließ den Gedanken freien Lauf.
Das Gespräch an der Bar hing ihm noch nach. Den genauen Grund dafür konnte er auch nicht sagen.
„Wahrscheinlich war ich schon so müde, dass die Worte direkt in mein Unterbewusstsein gingen und dort jetzt herumkreisten wie ein scheinbar zielloser Schwarm Zugvögel!“, überlegte er.
Dr. Achten hatte erzählt, dass ein gewisser Gerhard Kremer aus Gangelt sich später Gerardus Mercator nannte. Dieser Name war zweifellos dem besten Globographen seiner Zeit weitaus angemessener als der Allerweltsname, den ihm seine Eltern mit ins Leben gegeben hatten.
„Und ein gewisser Georg Schmitz nennt sich „George”, dachte der Reporter lächelnd. „Zumindest in diesem Punkt gibt es eine Parallele ...“
Ein kurzer, schriller Schrei holte George schlagartig aus der Tiefe seiner Gedankenwelt heraus.
Der Schrei war durchdringend.
„Ein Verbrechen!“, war Schmitz’ erster Gedanke.
Aber als dann ein gurgelnder Laut folgte, senkte sich sein Pulsschlag bereits spürbar. „Nein, wahrscheinlich nur ein Betrunkener, der den Weg nach Hause nicht gefunden hatte!“
Als am Morgen um fünf Uhr die Sirenen von Polizei und Notarzt durch Gangelt schrillten und George aus dem Schlaf gerissen wurde, ahnte der erfahrene Reporter bereits, dass vielleicht hinter dem Schrei in der Nacht mehr steckte als er zunächst angenommen hatte.
Innerhalb weniger Sekunden saß er senkrecht im Bett. Die Reporterspürnase meldete sich. Er spurtete zum Fenster und spähte hinaus. Der Morgen dämmerte und noch ein weiterer Einsatzwagen fuhr mit quietschenden Reifen um die Kurve.
„Da Polizeifeste immer nachmittags oder abends stattfinden, kann diese Ansammlung von Dienstfahrzeugen wohl nur bedeuten, dass da etwas anderes passiert ist!“
George war im Nu angezogen. Dieser Versuchung konnte er einfach nicht widerstehen.
Er griff automatisch nach seiner Kamera und verließ eiligst das Hotel. Wenig später hatte George den Platz vor dem alten Rathaus in Gangelt erreicht. Er brauchte einfach nur dem Lärm und dem Klang der Sirenen nachzugehen, um herauszufinden, wo etwas geschehen war.
Im morgendlichen Halbdunkel blinkten überall die Lichter von Einsatzfahrzeugen. Der Rettungsdienst war da – und ebenso die Polizei mit verschiedenen Fahrzeugen.
Eine Menschentraube verdeckte die Sicht.
Vor allem Polizisten, Feuerwehrleute, Helfer des Rettungsdienstes – und natürlich Passanten, die um diese frühe Zeit schon zur Arbeit mussten.
Ein recht stattlicher Mann mit grauem Haar und normalerweise einem humorvollen ruhigen Lächeln im Gesicht kam dem Reporter aufgeregt entgegen.
Aber dieses Gesicht war jetzt vollkommen blass geworden und von Humor war auch nichts zu sehen.
George kannte ihn - wie fast jeden in der Gegend. Es handelte sich um Herrn Schütz, den Ortsvorsteher von Gangelt.
Von Beruf war er Fluglotse und wenn man ihn reden hörte, dann sprach sein saarländischer Dialekt dafür, dass hier ein Zugezogener offenbar erfolgreich integriert worden war.
Als er George sah, ging er zielstrebig auf den Reporter zu.
Herr Schütz wirkte sichtlich schockiert.
George hatte ihn noch nie so erlebt.
„Man hat einen Toten gefunden!”, brachte Herr Schütz aufgelöst heraus. „Dem hat jemand eine Möhre in den Hals gerammt!”
„Was?”
„Er hatte die Kette des alten Prangers um den Hals und hing daran – mit der Möhre im Mund!”
„Und das neben der Statue vom Muhrepenn!”, murmelte George. Damit hatte es etwas Besonderes auf sich. Vor dem alten Gangelter Rathaus stand die Statue eines Gänserichs, der eine Möhre im Schnabel hielt und an eine Legende aus der Gangelter Geschichte erinnerte. Danach hatten die Gangelter Bürger 1594 ein Fest nicht unterbrechen wollen, als Soldaten aus Brabant anrückten, um die Stadt anzugreifen. Hinter den dicken Mauern fühlte man sich schließlich sicher. Allerdings fehlte für eines der Stadttore ein Holzriegel. Einer der Wachhabenden nahm stattdessen einfach eine dicke Möhre, die diesen Zweck genauso gut erfüllen konnte. So feierten die Gangelter einfach weiter und auch die Wachen sahen nicht ein, dass sie besonders aufpassen sollten. Am Abend kehrten die Gänse zurück. Ein Gänserich entdeckte die Möhre, riss sie heraus und fraß sie, woraufhin die Feinde ohne Mühe in die Stadt eindringen und sie plündern konnten.
An diese legendäre Begebenheit sollte der Gänsebrunnen, der sich im Laufe der Zeit zu einer Art Wahrzeichen des Ortes entwickelt hatte, erinnern.
Neben dem Gänsebrunnen hatte man einen alten Pranger aufstellen lassen, an dem sich vor allem viele Kinder und Jugendliche sehr interessiert zeigten. Ein beliebtes Fotomotiv war, „sich an den Pranger zu stellen” und dabei den Gänsebrunnen im Vordergrund und das alte Rathaus im Hintergrund zu haben.
Dass man nun an dieser historischen Stätte eine Leiche mit einer Möhre im Rachen gefunden hatte, konnte man fast, wenn es nicht so tragisch gewesen wäre, als einen ironischen Kommentar zur Stadtgeschichte Gangelts auffassen.
„Ich habe den Toten entdeckt”, sagte Herr Schütz. „Ich kann Ihnen sagen, da wird einem schon anders.” Dabei strich er sich mit dem Handrücken einige Schweißperlen von der Stirn.
„Dann haben Sie Polizei und Rettungsdienst alarmiert?”, fragte er.
„Ja, sicher. Eine erste Aussage habe ich bei den Freunden und Helfern in Grün auch schon gemacht, jetzt muss ich dringend zur Arbeit. Wir sind schwach besetzt im Moment, aber Flugzeuge starten und landen nun einmal immer.”
„Alles klar”, sagte George und verabschiedete sich von Herrn Schütz.
Der Reporter drängelte sich durch die Menschenmenge.
Und dann hatte schließlich auch er einen freien Blick auf den „Muhrepenn” und den Gänserich aus Bronze sowie auf den Toten. Der hing am Pranger, indem ihm jemand den Kettenring um den Hals gelegt hatte. Die Möhre ragte ihm noch aus dem Mund. Seine geöffneten Augen waren starr und leblos.
George erschauderte. Solch ein Anblick, und das im beschaulichen Örtchen Gangelt. Dennoch machte er einige professionelle Fotos und wunderte sich noch, dass die Polizei bisher keinerlei Absperrmaßnahmen vorgenommen hatte. Er wusste auch noch nicht, ob er tatsächlich Fotos veröffentlichen oder sie überhaupt an die Zeitungsredaktion weitergeben würde. Aber es kam oft vor, dass die Polizei von ihm erstellte Fotos anforderte. Die Zusammenarbeit mit der Polizei hatte sich für George als sehr erfolgreich erwiesen.
Eine Nahaufnahme der Leiche, die so erbärmlich an der Kette hing, würde es auf keinen Fall geben. Zumindest nicht mit dem Zusatz „Foto: Schmitz”. Schließlich gab es Grenzen der Pietät und auch Tote hatten ihre Würde.
George war zwar neugierig, aber keineswegs sensationslüstern. Da verzichtete er lieber mal auf einen ganz spektakulären Schnappschuss, wenn er das Bild vielleicht teuer verkaufen, aber nicht mit seiner Person und seiner Reporterehre dahinterstehen konnte.
Außer ihm fotografierte noch jemand. Das musste ein Beamter der Kripo sein, der die Beweissicherung vornahm.
George sah sich um und entdeckte auch gleich ein paar Bekannte. Da war zum Beispiel der Erste Polizeihauptkommissar Burkhard
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: Steve Mayer
Tag der Veröffentlichung: 12.01.2015
ISBN: 978-3-7368-7067-3
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