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Über das Buch

 

Albert Baeumer & Alfred Bekker

Rügen, Ranen, Rachedurst

 

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Biographie(n):

 

Albert Baeumer

geboren 1952 in Gangelt, Internatsschüler am Franziskanerkolleg in Sittard (NL), Volontariat und Ausbildung bei einem Zeitungsverlag, nebenberuflicher Redakteur, Kaufmann, Direktmarketing-Fachwirt und Videojournalist, lebt mit seiner Familie in Geilenkirchen, direkt vor den Toren des Selfkants, des westlichsten Zipfels der Bundesrepublik. Er ist Co-Autor und Mitherausgeber zweier Heimatbücher über Gangelt und der Selfkant-Tourismuskrimis „Mercator, Mord und Möhren“ und „Kaffee, Kunst und Kaviar“.

 

 

Alfred Bekker

wurde 1964 geboren und veröffentlichte zahlreiche Spannungsromane, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Unter anderem ist er Mitautor der Krimi-Serie „Jerry Cotton“ sowie einer Reihe von Thrillern und Science-Fiction-Romanen. In letzter Zeit wandte er sich verstärkt dem Kinder- und Jugendbuch zu. Hier gelang es ihm, zugkräftige Buchserien wie „Tatort Mittelalter“ zu etablieren. Außerdem verfasste er den Fantasy-Bestseller „Das Reich der Elben“, der mit den Bänden „Die Könige der Elben“ und „Der Krieg der Elben“ fortgesetzt wird.

 

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Rügen,Ranen,Rachedurst

© der Digitalausgabe 2012 AlfredBekker/CassiopeiaPress

Ein CassiopeiaPress E-Book.

Www.AlfredBekker.de

Copyright 2010 by Selfkant-Verlag Ltd., Geilenkirchen

Umschlaggestaltung: Lothar Schiebel, Geilenkirchen

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

FAKTEN UND TATSACHEN

Die Handlungen in diesem Roman sind rein fiktiv. Zahlreiche agierende Personen sind jedoch nicht frei erfunden, haben aber ihr schriftliches Einverständnis gegeben und dazu beigetragen, dieses Buch zu veröffentlichen und die touristische Attraktivität der Insel Rügen darzustellen.






Prolog

Vier Männer in den besten Jahren.

Alle sogenannte Entscheider.

Vier, die weiter gekommen waren, als die meisten Menschen es sich je erträumt hätten.

Den Zenit hatten sie in jeder Hinsicht überschritten. Jetzt ging es darum, sich dort oben in den lichten Höhen noch eine Weile zu halten und den Treibsatz, der sie dort hinaufgeschossen hatte, noch möglichst lange brennen zu lassen. Aber zurzeit hatten sie die grauen Anzüge, die Uniform für Alpha-Wölfe, mit Jeans und T-Shirts vertauscht und leerten sich unbekümmert den Dünensand aus ihren Turnschuhen.

Sie atmeten tief durch. Wind streifte von der nahen Ostsee über die Dünen und bog Gras und Sträucher landeinwärts.

„Jetzt ‘ne Flasche Bier!“, seufzte einer der Männer sehnsüchtig, und die drei anderen stimmten ihm kopfnickend zu.

„Aber siehst du hier irgendwo eine Kneipe?“

„Wir sind hier am einsamsten Stück Ostseestrand auf Rügen. Nicht in der Düsseldorfer Altstadt oder in Köln“, sagte der Ältere der Männer.

„Eine Bude mit Mineralwasser wäre ja auch schon in Ordnung. Nach dem Gewaltmarsch!“, entgegnete daraufhin der blonde Mann, der mit den Jahren ein wenig zur Fülligkeit neigte.

„Nichts mehr gewohnt, was?“, fragte schmunzelnd der für sein Alter immer noch sportlich, ja beinahe schlaksig Wirkende der vier Strandläufer.

„Ja, mach dich nur lustig!“, antwortete der Blonde ein wenig beleidigt.

„Hey, da hinten ist ein Haus!“, rief der Schlaksige plötzlich.

„Tja, ein Haus, aber keine Bude!“

„Lies doch, was da steht: Ranen-Met vom Fass!“

„Und was soll das sein?“

„Met nach Art der Ranen, schätze ich.“

„Runen oder Ranen?“, wollte es der Vierte der Männer nun genau wissen.

„Ranen!“, dozierte der Ältere und rückte sich dabei seine Brille zurecht. „Ein Slawenstamm, der sich zu Beginn des 7. Jahrhunderts n. Chr. im Ostseeraum ansiedelte. Man erkennt ihre Siedlungen noch heute an Ortsnamen, die auf -ow, -itz oder -in enden. Die Ranen errichteten ringförmige Erdwälle, in deren Innerem sie Paläste, Verwaltungszentren und Tempel anlegten. Ab Mitte des 11. Jahrhunderts war die Jaromarsburg am Kap Arkona mit dem Standbild des Gottes Svantevit das zentrale Heiligtum der slawischen Ranen auf Rügen.“

Er räusperte sich, aber bevor er mit seinem geschichtlichen Exkurs fortfahren konnte, unterbrach ihn der Blonde: „Klingt ja sehr interessant, aber kannst du uns die Fortsetzung nicht bei einem leckeren kühlen Ranenbier erzählen? Im Moment habe ich so einen Durst, ich würde das Zeug sogar trinken, wenn man darin noch die Gerstenkörner knacken hört.“

Seine Freunde stimmten ihm begeistert zu und steuerten geradewegs auf die Gaststätte zu. Keiner von ihnen ahnte in diesem Augenblick, dass sich mit einem Glas Ranen-Met alles von Grund auf ändern sollte.


***


Zartgliedrige Hände, leicht zitternd, den Stiel einer Axt umfassend …

Mit einem einzigen Schlag fuhr das Beil durch den Hals in den Holzblock und blieb dort drei Zentimeter tief stecken. Der Körper rutschte langsam seitlich weg und das Blut ergoss sich ins Stroh, während der abgetrennte Kopf ein Stück weiter über den Boden rollte.

Die Hände waren jetzt ganz ruhig. Da zitterte nichts mehr. Stattdessen war da nur noch ein einziger, alles beherrschender Gedanke voller Genugtuung: Jetzt bist du das Opfer!




***


Eine dunkle Gestalt, in eine Kutte gekleidet und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass weder der fahle Vollmond noch die emporzüngelnden Flammen den Schatten darunter erhellen konnten, bewegte sich schwerfällig durch die Nacht. Die Flammen loderten empor. Unzählige Arme reckten sich in den Nachthimmel. Ein dumpfer Singsang vermischte sich mit dem leichten Meeresrauschen der nahen Ostsee.

Dann erhob sich eine volltönende Stimme.

„Svantevit, du vierköpfiger Gott der Ranen! Wir rufen dich! Wir sehnen deine Macht herbei, und dein Zorn komme auf diejenigen herab, die deine Rache herausgefordert haben.“

Zwei Hände umfassten einen bleichen Totenschädel, dessen Konturen im weichen Schein des Feuers deutlich erschienen. Die Hände hielten diesen Schädel so hoch empor, wie es die Länge der Arme erlaubte. „Blut und Leben für Svantevit! Deine Kraft für uns!“, rief die Stimme, die sich nun fast überschlug.

Ein einfacher, stampfender Rhythmus bahnte sich dumpf seinen Weg in die Nacht und dröhnte schon bald in den Körpern der hier zu später Stunde Versammelten. Dazu erhoben sich viele Stimmen, die wie in Trance immer wieder dieselben Worte wiederholten:

„Blut!“

„Leben!“

„Svantevit!“

Die Gestalt in der Kutte trat auf das Feuer zu und hielt den Totenschädel über die Flammen.

„Zerstört wurde dein Standbild, geschändet dein vierfaches Antlitz, zerbrochen dein Trinkhorn und vergessen deine Feste des Honigs und des Weins! Aber der Tag deiner Rückkehr ist nahe! Ein Tag der Rache und des Blutes, an dem sich erweisen wird, dass du ein Gott des Krieges bist.“

Lautlos stellte sich eine andere Gestalt eng neben den Kuttenträger. Im Schein der Flammen waren die Konturen als dunkler Schattenriss zu sehen. Es war eine Frau. Ihre Haare wehten in dem auffrischenden Wind, der auch die Flammen von Neuem entfachte und seitwärts lodern ließ.

Die Frau kniete nieder.

Der Kuttenträger drehte sich zu ihr um und hielt den Totenschädel über ihren gesenkten Kopf.

„Die Kraft Svantevits sei mit dir und erhalte deine Hexenkräfte!“, ertönte seine Stimme in der plötzlich eintretenden Stille. „Zum Guten und zum Bösen. Zum Leben und zum Tod. Zur Aussaat und zur Ernte. Svantevit, du bist der Gebieter der Urflut, aus der alle Kraft kommt. Die Urflut ist die Quelle allen Lebens und allen Schreckens, aller Schöpfung und aller Zerstörung, aller Ordnung und allen Chaos’, und nur du, Svantevit, vermagst ihrer Macht eine Richtung, ihrer Zerstörungswut Einhalt und ihrem Drang zu töten das richtige Ziel zu geben …“

Die Frau öffnete die Arme und rief etwas, das wie Worte aus einer längst vergessenen Sprache klang. Ihre Stimme überschlug sich dabei, während der Kuttenträger den Totenschädel auf ihren Kopf herabsenkte.

„Geist zu Geist“, rief er, ihre fremdartigen Worte übertönend. „Die Hexe kündigt Svantevit das Opfer an!“

Die Frau nahm jetzt den Schädel mit beiden Händen und begann wie in ekstatischer Verzückung wirre Silben vor sich hinzumurmeln. Manchmal waren es nur Zischlaute, dann wiederum ein Röhren und Würgen, das sicherlich keiner noch so alten Sprache entstammte.

Der Kuttenträger streckte die rechte Hand aus.

Jemand lief herbei. Im Flammenschein war auch er nur ein huschender Schatten. Er reichte dem Kuttenträger ein Horn, das dieser den Versammelten zeigte mit den Worten:

„Dies ist das Horn Svantevits, des Gottes der Urflut und des Krieges, des Vielgesichtigen, der die Stärke vieler Götter hat und dessen acht Augen bis in die schwärzesten Winkel der Seele sehen! Das Horn mit dem Ranen-Met, gemischt mit Blut! Trinkt es! Denn erst danach dürft ihr den Wein kosten und den geweihten Honigkuchen essen!“




1. Kapitel



Ein irrer Mörder verfolgt dich … Er ist dir auf den Fersen … Du hörst seinen Atem … Siehst sein Messer aus den Augenwinkeln in der Sonne blinken … Nur der eiserne Wille kann die Schwäche der schmerzenden Beine überwinden und dich retten …

Georg Schmitz, von seinen Freunden auch George genannt, keuchte. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Insgesamt 412 Stufen waren zu ersteigen, von denen noch knapp das letzte Viertel vor ihm lag. Über die Holztreppe gelangte man die 110 Meter vom Strand auf den Kreidefelsen hinauf. Einen anderen Weg als diese Treppe gab es nicht dorthin.

Er kommt näher … vorwärts, sonst bist du verloren!

Die Oberschenkel schmerzten. George biss die Zähne zusammen und hetzte weiter. Der irre Mörder existierte nur in seiner Vorstellung, aber um diese Treppe in angemessener Zeit zu bewältigen, musste man wohl schon zu solchen Psychotricks greifen. Selbstsuggestion. George hatte gelesen, dass das helfen sollte. Der Mensch war ein Fluchttier und wenn er Angst hatte, dann mobilisierte er die letzten Kräfte – oder brach völlig zusammen. Es kam wohl wie immer auf die Dosis an.

Aber inzwischen bezweifelte George schon, dass das wirklich funktionierte und ihm messbare Vorteile brachte. Er blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und verschnaufte kurz, während er den herrlichen Ausblick auf den unter ihm liegenden Strand und die Ostsee genoss.

George hatte seit Langem einen Traum. Einmal das Empire State Building in New York über das Treppenhaus besteigen. Da waren diese 110 Höhenmeter hier schon mal ein gutes Training. Allerdings erwarteten ihn in New York 1575 Stufen …

In den letzten zwei Jahren war bei diesem alljährlich im Februar stattfindenden sportlichen Wettbewerb ein Deutscher als erster oben auf dem Dach angekommen.

„Im Moment wohl noch utopisch für mich“, seufzte er und machte sich weiter an den Aufstieg.

Völlig außer Atem kam George oben auf dem Kreidefelsen an. Der Anblick, der sich ihm auf der Aussichtsplattform bot, entschädigte für alles.

Noch keuchend nahm er seine Canon vom Hals und machte ein paar Aufnahmen des hier am Königsstuhl bis auf 118 m aufragenden Kreidekliffs. Der sympathisch wirkende, mittelgroße Mann von Anfang 50 war Lokalreporter vorwiegend für Zeitungen der Region Geilenkirchen und Selfkant, dem westlichsten Zipfel der Bundesrepublik. Auch in seiner Heimat würden sich die Leser für den kleinsten Nationalpark Deutschlands interessieren.

Eine Familie mit zwei Kindern und eine Ein-Kind-Familie, wahrscheinlich Urlauber, genossen ebenfalls die Aussicht.

„Wann gehen wir denn noch mal in den Kletterwald, Papa?“

„Daher kommen wir doch gerade.“

„Aber der war so cool!“

Die Frauen unterhielten sich inzwischen. „Mit Kindern ist das wirklich toll hier im Nationalpark Jasmund! Es wird einiges geboten! Wir haben hier sogar schon einen Kindergeburtstag gebucht!“

„Ach, das ist möglich?“, fragte die Mutter der anderen Urlauberfamilie interessiert.

„Ja, und es geht dabei immer um ein Naturthema. Man kann auch Besonderheiten buchen. Wir haben zum Beispiel Wikinger anlanden lassen. Und das Kuchen-Buffet hat auch allen super geschmeckt.“

„Mein Sohn ist da sehr eigen“, winkte die Frau ab, „der isst keinen fremden Kuchen. Nur den von unserer Oma.“

„Na, dann bringt man halt seinen eigenen Kuchen mit.“ Die andere Mutter zuckte mit den Schultern.

„Kann man sich da irgendwo informieren?“

„www.koenigsstuhl.com. Die Natur Natur sein lassen - das ist das Motto, unter dem hier im Nationalpark alles steht.“ Sie wandte sich an die Jungen: „Wart ihr übrigens schon in der Ausstellung?“

„Die ist super!“, antwortete einer der Jungen. „Ich sage unserer Lehrerin mal, dass sie mit unserer Klasse hierher fahren soll!“

Kreidefelsen und Meer, urtümliche Rotbuchenwälder, Wiesen, Moore und eine Fülle der verschiedensten Lebewesen – all das machte den Reiz von Deutschlands kleinstem Nationalpark aus. Selbst der bekannte Maler Caspar David Friedrich hatte einst den Ausblick von den Kreidefelsen genossen und ihn auf eine Leinwand gebannt.

Ein fantastisches Werk, dachte George.

Der Junge blickte neugierig zu ihm, dem Mann mit der Kamera hinüber. „Papa, sag mal, wieso schwitzt der Mann so? Ist vielleicht ein Mörder hinter ihm her?“

„Nein, so etwas kommt nur im Fernsehen vor!“

„Sagen Sie das nicht!“, sagte jetzt der männliche Teil des anderen Paares in gedämpftem Tonfall, „hier auf der Insel soll ein Toter im Wald gefunden worden sein.“

Eine Leiche im Wald? George schoss ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. Ein Schalter legte sich in seinem Inneren um. Und das völlig automatisch. Ein Schalter von Urlaub auf Job.

Und sein Job war nun mal der eines neugierigen Reporters …

Über diese Sache musste er mehr erfahren! Der nächste Schritt war jetzt für ihn, den Polizeifunk abzuhören.


***


„Hallo, wir haben Urlaub, Mark!“

Lydia warf einen kurzen Seitenblick auf ihren Mann, ehe sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. Es entfuhr ihr ein kleiner Seufzer, der aber ungehört verhallte.

Mark Benecke, ein aus Funk, Fernsehen und vor allem den eigenen Veranstaltungen bekannter Kriminalbiologe und Spezialist für forensische Entomologie hatte sein MacBook auf den Knien und war mit seinen Gedanken meilenweit entfernt. Für das traumhaft schöne Panorama beim Überqueren der neuen Rügenbrücke bei Stralsund hatte Benecke nur einen kurzen Blick übrig. Er betrachtete gerade konzentriert und mit gerunzelter Stirn ein paar Tatortfotos. Der Fall beschäftigte ihn schon seit ein paar Jahren. Es ging um einen Mann, der für einen bestialischen Mord, den er vermutlich aber nicht begangen hatte, im Gefängnis saß. Er weigerte sich jedoch, zum Tathergang auszusagen. Sein Verteidiger hatte sogar im Auftrag des Mandanten die Gutachter-Bestellung an Benecke zurückgezogen.

Dem vermutlich unschuldig Verurteilten war es wichtiger, dass in seinem persönlichen Umfeld gewisse Einzelheiten seines Privatlebens nicht bekannt wurden, als dass sein Prozess noch einmal aufgerollt wurde. Benecke musste die Tatsache akzeptieren, dass der vermeintliche Täter wohl nichts mehr zur Aufklärung des Falles beitragen würde und der wahre Mörder nach wie vor frei herumlief.

Aber den Wissenschaftler beschäftigte die Sache natürlich immer noch.

Ein Rätsel ungelöst zu lassen, das war für ihn schwer erträglich. Und so schaute er sich immer wieder mal die Fotos vom Tatort an. Hunderte von Aufnahmen waren das, alle auf seinem MacBook gespeichert. Und auf einem dieser Bilder musste der Schlüssel zur Lösung des Falles liegen. Ganz offensichtlich und vor aller Augen.

Oft fragte sich Benecke später, wieso man die entscheidende Kleinigkeit eigentlich übersehen konnte. Aber das, was offen zu Tage lag, wurde häufig am ehesten übersehen. Ein Erfahrungswert, den Benecke immer wieder aufs Neue bestätigt sah.

„Mark!“, mahnte Lydia in einem Tonfall, der Benecke nun doch aus seinen Gedanken riss.

„Ja, gleich.“

Es hatte keinen Sinn, jetzt weiterzugrübeln. Mit einem bedauernden Blick schloss er den Fotoordner.

„Welche Adresse hat das Hotel?“, fragte sie, während sie eine wunderschöne Alleenstraße in Richtung Garz befuhren.

„Keine Ahnung, die weiß ich doch nicht auswendig. Nur, dass das Hotel in Lauterbach bei Putbus liegt.“

„Schau mal bitte nach.“

„Ich dachte, du hast die Adresse ins Navi eingegeben?“

„Ich habe nur den Hafen in Lauterbach eingegeben. Schließlich soll es dort ja irgendwo sein und ich bin nicht dazu gekommen, nachzusehen.“

„Typisch“, grinste er.

„Nun mach schon, sonst sind wir vorbeigefahren, bevor du nachgesehen hast!“

Benecke ließ sich eine der Dateien anzeigen, die er aus dem Internet über das Hotel Viktoria in Lauterbach heruntergeladen hatte. Hafenhotel Viktoria, korrigierte er sich innerlich. So nannte es sich. Ein idealer Ausgangspunkt, um die Insel Rügen zu erkunden, so hatte er in verschiedenen Internetforen lesen können, inklusive der weiteren Umgebung, wozu auch Greifswald und Stralsund auf dem Festland zählten. Schließlich gab es ja seit einigen Jahren die schnelle Verbindung über die neue Rügenbrücke.

Die Beneckes hatten ein Zimmer mit Blick zum Meer gebucht – und wenn die Fotos im Netz nur die Hälfte von dem hielten, was sie versprachen, dann hatte man aus dem Hotelfenster einen geradezu traumhaften Ausblick auf den gegenüberliegenden Hafen und die Ostsee. Vielleicht konnte man bei gutem Wetter sogar die nahe Insel Vilm sehen. Mal sehen, dachte Benecke. In diesem Punkt ließ er sich gerne überraschen.

„Hafenhotel Viktoria, Dorfstraße 1, 18581 Lauterbach bei Putbus!“, murmelte er, während er damit anfing, die Adresse ins Navi einzugeben. „Und du glaubst wirklich, wir finden das nicht auch so, Lydia?“

„Sicher ist sicher.

„Na ja, wenn du meinst.“

„Ich weiß schon, was du sagen willst.“

„So?“

„Es gibt keine Sicherheit, so wie es keine Gerechtigkeit gibt.“

„Wenn ich diesen Fall hier betrachte“, er tippte mit dem Finger auf das MacBook, „dann trifft beides leider zu“.

Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Aber in der nächsten Zeit braucht dich das nicht weiter zu bekümmern.“

„Wieso?“

„Auf Rügen machen selbst die Mörder Pause und spannen aus. Wusstest du das nicht? Du kannst deinen Rechner also getrost zugeklappt lassen.“

„Was das betrifft, bin ich ein Workaholic, Lydia. Das weißt du doch.“

„Allerdings!“, seufzte sie theatralisch.


***


Ein kühler Wind pfiff vom Meer her und riss an den Kleidern des Reporters von ,rügencampus‘, dem regionalen, privaten Fernsehsender der Insel. „Ich befinde mich hier vor den zwei berühmten Leuchttürmen am Kap Arkona“, sprach er mit sonorer Stimme in ein Mikrofon und lächelte trotz der widrigen Windverhältnisse tapfer in die Kamera. „Und ich möchte doch einmal der Frage nachgehen, inwiefern die Touristen die Wirtschaftskrise spüren. Also, um es vorwegzunehmen, die Menschen, mit denen ich bisher sprach, gaben überwiegend an, von der Krise persönlich zwar noch nicht betroffen zu sein, aber trotzdem den Euro etwas öfter umzudrehen, bevor sie ihn ausgeben.“

Der Reporter machte jetzt einen Schritt auf eine Spaziergängerin in einer hellblauen Windjacke zu, die die Szenerie schon seit geraumer Zeit beobachtet hatte, dabei aber immer darauf bedacht war, nicht ins Sichtfeld der Kamera zu geraten.

Doch jetzt schwenkte der Kameramann plötzlich sein Objektiv in ihre Richtung, während der Moderator der Frau das Mikrophon unter die Nase hielt.

Sie war eine Mittdreißigerin mit dunkelrotem Haar. Der modische Kurzhaarschnitt stand ihr gut, obwohl ihr Gesicht doch streng und etwas verhärmt wirkte. Linien, die für ihr Alter eigentlich eine deutliche Spur zu hart waren, hatten sich in ihre Gesichtszüge eingeprägt. Linien, die wohl das Leben selbst mit unerbittlichen Pinselstrichen gezogen haben musste. Ein hartes Schicksal, eine große Enttäuschung, ein ungerechtes Geschick, das sie getroffen hatte – irgendetwas in dieser Art musste ihr widerfahren sein. Ihre Gesichtszüge standen in einem so krassen Gegensatz zu dem eher sonnyboyartigen Wesen des Moderators, dass dieser für den Bruchteil einer Sekunde stutzte, als er ihr das Mikrophon entgegenhielt und ihr dabei zum ersten Mal in die Augen sah. Offenbar war er zu sehr auf die Abwicklung seiner Sendung konzentriert gewesen, nur darauf fokussiert, die Bilder und den O-Ton in den Kasten zu bekommen, als dass ihm das eigenartige Flackern in ihrem Blick vorher aufgefallen wäre.

Aber jetzt war es zu spät. Er konnte das Mikrofon nicht mehr zurückziehen, sondern musste nun hoffen, dass alles gut über die Bühne ging.

Das Beste daraus machen, dafür war er als Moderator eines Lokalsenders ja eigentlich Spezialist, denn ohne Improvisation ging trotz aller Professionalität normalerweise gar nichts.

„Sie machen hier auf Rügen Urlaub. Wie ist denn …?“

Die Rothaarige ließ den Reporter nicht einmal die Anmoderation beenden, sondern fiel ihm gleich ins Wort.

„Was ich von der Krise halte, soll ich Ihnen das wirklich mal sagen? Kann ja sein, dass den Schickimicki-Urlaubern die Krise nichts ausmacht. Die hatten ja ihre Schäfchen auch längst im Trockenen, als die Pleitewelle losging. Aber haben Sie eine Ahnung, wie es denen geht, die um ihr Geld gebracht wurden? Von denen finden Sie hier auf Rügen vielleicht nicht so viele, aber …“

„Ja, das mag schon …“, versuchte der Moderator die Hoheit über das Gespräch wiederzuerlangen. Aber er war der Rothaarigen einfach nicht gewachsen. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Schon was die Sprechgeschwindigkeit anging, kam er bei ihr einfach nicht mit. Inzwischen hatte sich ein ganzer Pulk von Urlaubern um den Moderator und sein Team gebildet. Ein paar neugierige Kinder mit ihren Eltern waren ebenso darunter wie eine Gruppe junger Mountainbiker. Einige Frauen im Rentenalter, die allesamt T-Shirts mit dem Schriftzug des Kegelklubs ,Die Pumpenwerfer e.V. 08 Wattenscheid‘ trugen und sich offenbar bei einem Spaziergang zum Kap Arkona ertüchtigen wollten, umringten kopfschüttelnd die Filmcrew. Was sich jetzt hier abspielte, das war aufregender als jedes Wettkegeln, das diese rüstigen Damen schon bestritten haben mochten.

Der Moderator sandte bereits einen hilfesuchenden Blick zum Kameramann. Ein Blick, der wohl nichts anderes als „Schluss jetzt, das wird nichts mehr!“ sagen sollte. Aber der Kameramann hatte die ungewöhnliche Frau immer noch im Visier und schien den Versuch kollegialer Verständigung nicht zu bemerken.

Die Rothaarige kam jetzt so richtig in Fahrt. „Wissen Sie, was man mit diesen Managern machen sollte, die jetzt immer noch ihre Boni kassieren und denen es nichts ausmacht, dass sie die Anleger um ihre Existenz gebracht haben?“, ereiferte sie sich und machte dann eine eindeutige Geste mit der flachen Handkante in Höhe ihrer Kehle. „Wenn man den Halunken das immer wieder durchgehen lässt, dann geschieht doch nichts!“

„Jetzt ist es aber gut“, sagte der Moderator völlig entnervt. Er wandte sich kurz dem Kameramann zu. „Die Aufnahme ist gestorben“, sagte er. „Wir müssen den Beitrag neu drehen.“ Seine Absicht war es gewesen, die allgemeine Stimmung auf Rügen in Bezug auf die Krise einzufangen, sowohl von Einheimischen als auch von Touristen. Beides hing ja untrennbar zusammen. Ein bisschen Pfeffer in den Originaltönen der Zuschauer konnte ja nicht schaden, aber das, was die Rothaarige lieferte, ging weit darüber hinaus. Es wirkte irgendwie …

... krank, dachte der Moderator. Er war kein Psychiater und weit davon entfernt, zu glauben, dass er auch nur ansatzweise in der Lage war, so etwas zu beurteilen. Aber irgendwie erschien ihm diese Frau nicht ganz geheuer.

Der Kameramann hatte inzwischen sein Gerät ausgeschaltet und atmete tief durch. Die Stimmung war ihm im Gesicht abzulesen. Er brauchte gar kein Wort zu sagen, es war auch so offensichtlich, dass er stinksauer war. Dem Moderator ging es nicht anders. „Also alles auf Anfang!“, knurrte dieser zwischen den Zähnen hindurch. Das Sunnyboy-Dauergrinsen, das ansonsten seine Züge zu prägen pflegte, war verschwunden.

„Haben Sie etwa nicht verstanden, was ich gesagt habe? Wieso dreht Ihr Kollege denn gar nicht? Soll das nicht in die Sendung? Können Sie die Wahrheit nicht vertragen? Ist die zu hart für so ein Bürschchen wie Sie, das sich um seinen Job wahrscheinlich keine Sorgen zu machen braucht? Sie haben ja keine Ahnung, wie das ist, wenn man von einem Tag auf den anderen alles verliert und einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird!“ Wutschnaubend rang die Rothaarige um Luft, und ihr stechender Blick traf den Moderator.

„Hören Sie, ich glaube Ihnen gerne, dass Ihnen etwas Schlimmes passiert ist, aber …“

„Nein, da ist nicht irgendetwas Schlimmes passiert, das wie ein Unwetter gekommen ist und das niemand hätte verhindern können!“, schnitt sie ihm gleich wieder das Wort ab und ihre Gesichtsfarbe hatte sich längst der Farbe ihrer Haare angeglichen. „Da waren Kriminelle am Werk, und was geschieht? Wird irgendeiner von denen vielleicht vor Gericht gestellt? Die meisten dieser miesen Abzocker kommen doch so davon, ohne dass man sie zur Rechenschaft gezogen werden.“

„Gute Frau, es tut mir leid, wir machen hier nur eine ganz gewöhnliche Sendung für das Lokalfernsehen, nichts weiter. Und jetzt lassen Sie mich bitte meinen Job machen, sonst bin ich den am Ende nämlich los!“


***


Gerlinde Grasmück strich sich über ihr rötliches Haar. Es fing leicht an zu nieseln. Sie hörte den Moderator vor sich hinschimpfen, denn als der Regen rasch stärker wurde, war klar, dass dieser Beitrag wohl im wahrsten Sinn des Wortes ins Wasser fallen würde.

Ist auch nicht schade drum, dachte sie, dieses leere Gewäsch, das der da zum Besten gibt. Der hat doch keine Ahnung! Mit verächtlicher Miene schaute sie auf das TV-Team und vergrub ihre zitternden Hände in den Jackentaschen.

Der Regen trieb den Pulk von Menschen ziemlich schnell auseinander. Das Fernsehteam verzog sich, und es dauerte nur ein paar Minuten, da stand Gerlinde Grasmück völlig allein vor den imposanten Leuchttürmen. Niemand kümmerte sich noch um sie. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht, der Wind kam jetzt direkt von vorn, aber das schien sie nicht weiter zu kümmern. Ihr Puls raste, und selbst die Nässe, die ihr zunehmend die Haare am Kopf kleben ließ, konnte die namenlose Wut nicht abkühlen, von der sie erfüllt war. Wut auf skrupellose Geschäftsleute und Anlageberater. Wut auf gewissenlose Banker, die ohne mit der Wimper zu zucken, Milliarden vernichtet hatten. Milliarden Dollar oder Euro. Bei diesen Beträgen spielte es kaum noch eine Rolle, in welcher Währung man rechnete.

Unglücklicherweise hatte zu diesen Milliarden, die in der großen, geplatzten Spekulationsblase vernichtet worden waren, auch nahezu alles gehört, was Gerlinde Grasmück je besessen hatte. Ein kleines Vermögen, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Kein großer Betrag im Vergleich zu den Summen, um die bei diesem globalen Glücksspiel gezockt worden war – aber groß genug, um davon unter normalen Umständen ein sorgenfreies Leben führen zu können. Jetzt war Gerlinde Grasmück arm wie eine Kirchenmaus. Der Mann jedoch, der ihr das alles eingebrockt hatte, fuhr immer noch teure Autos, trug elegante Designeranzüge und führte große Reden darüber, wie man sein Geld anlegen sollte. Ein Urlaub auf Rügen gehörte noch zu den kleineren Annehmlichkeiten, die er sich leisten konnte.

Gerlinde ballte ihre Hände zu Fäusten. Ihr Gesicht wurde zu einer Maske des Hasses.

„Nein!“, schrie sie den Leuchttürmen entgegen, während die Farbe ihres Gesichts so dunkelrot wurde, dass man Sorge haben konnte, es würde gleich bersten. Das, was ihr widerfahren war, war nicht gerecht! Und sie hatte nicht vor, den Schuldigen so einfach davonkommen zu lassen! „Ich werde dich finden!“, murmelte sie vor sich hin. „Ganz gleich, wo du dich auch verkrochen haben magst – ich finde dich!“

Der Regen wurde stärker und wuchs zu einem regelrechten Wolkenbruch heran.

Die blaue Windjacke, deren Kragen Gerlinde hochgestellt hatte, war inzwischen völlig durchnässt. Sie spürte die Feuchtigkeit auf der Haut und zitterte. Vor Wut – nicht vor Kälte.


***


George stieg aus seinem Wagen. Er hatte den blauen VW Lupo auf dem öffentlichen Parkplatz vor dem Hafenhotel Viktoria in Lauterbach abgestellt und war froh darüber, noch einen günstig gelegenen Parkplatz bekommen zu haben.

Normalerweise wäre gegen ein paar Schritte mehr ja nichts einzuwenden gewesen. Schließlich war George dem kulinarischen Wohlgenuss durchaus zugetan und kämpfte daher stets mit ein paar überflüssigen Pfunden. Aber in diesem Fall lag die Sache anders. Er hatte den Laptop unter dem Arm, und seine Canon hing ihm um den Hals. George machte ein paar Tage Urlaub auf Rügen, obwohl – das Nachrichtengeschäft ließ George auch hier nicht los. Er hatte eigentlich geglaubt, dass über siebenhundert Kilometer zwischen sich und der Gegend, über die er normalerweise berichtete, genügen müssten, um einen gewissen Abstand zu seinem beruflichen Leben herzustellen.

Doch das schien bei einem so umtriebigen Mann wie George – in seiner Heimatstadt Geilenkirchen wurde er oft auch liebevoll „Katastrophen-Schmitz“ genannt – wohl ohnehin kaum möglich zu sein.

Ganz unvermittelt war er hier auf Rügen auf eine furchtbare Sache gestoßen, über die er unbedingt berichten musste.

Ob seine Stammleserschaft im äußersten Westen Deutschlands sich dafür interessierte oder nicht, war ihm dabei im Moment vollkommen gleichgültig. Ihn interessierte die Sache an sich.



Auf jeden Fall musste jetzt erst einmal ein Bericht geschrieben und via E-Mail an die Redaktion geschickt werden, inklusive ein paar Fotos, die er geschossen hatte, wobei er da aber sehr sorgfältig auswählen musste.

George sichtete seine Bilder immer ganz besonders akribisch, bevor er sie freigab, aber in diesem Fall war das auch außerordentlich wichtig. Dieses Mal gab es eine besondere Schwierigkeit, wodurch die Entscheidung nicht gerade erleichtert wurde. Ein großer Teil des Bildmaterials kam nämlich für eine Veröffentlichung in einer Tageszeitung auf keinen Fall infrage und war selbst für ein Boulevardblatt zu schockierend. George wurde jetzt noch übel, wenn er nur daran dachte.

Aber damit, dass diese Bilder sich in seinen Kopf eingebrannt hatten, würde er wohl leben müssen. George ahnte, dass er in den nächsten Nächten wahrscheinlich nicht besonders gut schlafen würde. In seiner Eigenschaft als Reporter hatte er schon vieles gesehen. Spuren von unvorstellbarer Grausamkeit an menschlichen Körpern und nahezu grenzenloser krimineller Energie und Skrupellosigkeit. Zerschundene Körper, Unfalltote, Menschen, die schon seit langer Zeit in ihrer Wohnung gelegen hatten und offenbar niemandem fehlten, bevor man sie dann halbverwest auffand. All das war ihm während seines ereignisreichen Berufslebens schon begegnet. Und doch – das, was er heute am zweiten Tag seines eigentlich ja als Urlaub geplanten Rügen-Aufenthaltes zu Gesicht bekommen hatte, stellte all diese Dinge noch in den Schatten. Äußerlich wirkte George gefasst und professionell, wie man es von einem Journalisten seiner Klasse erwarten konnte. Aber wer ihn kannte, der wusste, dass seine Gesichtsfarbe normalerweise nicht derart blass war.

George warf noch einen abschließenden Blick über den Hafen von Lauterbach und zur Insel Vilm, bevor er das Restaurant des Hafenhotels Viktoria, in das er sich einquartiert hatte, betrat. Für einen Sekundenbruchteil erwog er, ob er sich zum Arbeiten in sein Zimmer zurückziehen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Zwar hätte er dort sicherlich die nötige Ruhe gehabt. Aber andererseits wusste er als Zeitungsmann am besten, wie verderblich die Ware „Nachrichten“ war.

Da zählte unter Umständen jede Viertelstunde. Und wenn er zuerst noch hinauf in sein Zimmer gelangen musste, verlor er Zeit. Wertvolle Zeit, die er im Augenblick einfach nicht erübrigen wollte. Zumal er sich während seines Arbeitsaufenthaltes in der gemütlichen Sitzecke neben der Hotelbar auch gleich noch einen Kaffee und einen kleinen Snack bestellen konnte, um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.

Der Magen knurrte ihm nämlich, und seine Kehle war so trocken wie schon seit Langem nicht mehr. Drei Stunden an einem Tatort mitten in freier Natur forderten eben auch in dieser Hinsicht ihren Tribut.

So setzte sich George an einen der freien Tische, informierte den Kellner, der – wie er bereits bei seiner Ankunft im Hotel erfahren hatte – Heiko hieß, schnell über seine Essenswünsche, klappte seinen Laptop auf und verband ihn mittels eines USB-Kabels mit seiner Canon.

Während er die Fotos hinüberlud, schweifte sein Blick zur Tür, die gerade geöffnet wurde. Er erstarrte. Herein kam ein schlanker Enddreißiger mit ganz kurzen schwarzen Haaren, Brille und auffälligem Nasenring. Sein Gesicht zierte ein markanter Schnauzbart.

Die Tätowierungen am Hals und auf den Handrücken zogen magnetisch sämtliche Blicke der Restaurantbesucher auf sich.

Den kenn ich doch, durchfuhr es George.

Das war sein erster und absolut spontaner Gedanke. Er war sich vollkommen sicher, schließlich war er als Lokalreporter auf ein gutes Namens- und Gesichtergedächtnis angewiesen.

Der Haken war nur, dass er beides im Moment nicht zusammenzubringen vermochte. Mit seiner Selfkanter Heimat, das erkannte er sofort, hatte dieser Typ nichts zu tun.

In seinem Schlepptau hatte der Mann mit dem Nasenring eine hübsche rothaarige Frau, die etwa Mitte zwanzig.war. Sie trug einen langen schwarzen Rock und ein schwarzes Spaghettiträger-Oberteil, sodass ihre großen Tätowierungen am Rücken und am rechten Oberarm zu sehen waren, was besonders einige ältere Damen verwundert dreinschauen ließ.

„Reicht es denn nicht, wenn du dein MacBook wieder durchchecken lässt, wenn wir zurück in Köln sind?“, fragte die Frau gerade. „Wir wollten doch Urlaub machen und nicht arbeiten. Und außerdem weißt du dann, an wen du dich wenden kannst. Hier auf Rügen wird das nicht ganz so einfach sein!“

„Nun komm schon, Lydia, die DDR ist schon lange Geschichte, und einen vernünftigen Computerservice wird es ja wohl inzwischen auch hier geben!“, war die Antwort. Die Sprache des Mannes hatte eine unverkennbar „kölsche“ Färbung, und die Stimme war George schon bekannt vorgekommen, als die ersten Wortfetzen in sein Bewusstsein gedrungen waren - noch bevor er aufgeblickt und die beiden gesehen hatte.

„Ich meine ja nur. Deine E-Mails kannst du doch auch übers iPhone empfangen.“

Der Mann mit dem Nasenring seufzte leicht genervt: „Du weißt, wie die Terminlage ist, wenn wir zurück sind. Da muss der Mac einfach wieder einwandfrei laufen! Wollen wir jetzt gleich losfahren? Dann schaffen wir es wenigstens noch, einen vernünftigen Laden zu finden.“

„Ich schlage vor, wir essen erst einmal. Mir ist schon schlecht vor Hunger.“

George saß wie vom Donner gerührt an seinem Platz.

Die Brille, die Stimme, die schnelle Sprechweise, die ganze Erscheinung – all das kam dem Reporter nur allzu bekannt vor. Lediglich der Nasenring irritierte ihn im ersten Moment. Gesichter und Namen – das war sein tägliches Brot. Wer dafür in Georges Beruf kein Gedächtnis hatte, der brauchte eigentlich gar nicht erst anzufangen.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: Selfkant-Verlag
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6531-0

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