von Jo Zybell
Ein CassiopeiaPress E-Book
© by Author
© 2014 der Digitalausgabe by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
Dieses Ebook enthält folgende zwei Bände und Glossar und zwei Zeittafeln :
Band 5 Todesmond Triton
Band 6 Der verbotene Planet
Glossar
Zeittafel I
Zeittafel II
Der Umfang dieses Ebook entspricht 300 Taschenbuchseiten.
Prolog
Die Wolken schienen zum Greifen nahe hier oben. Dreihundert Meter unter der kugelförmigen Turmspitze dehnte ein türkisfarbener Ozean sich aus. Bis an die Horizonte reichte er. Dort ging er in den tiefblauen Himmel über.
Die obere Hälfte der Turmkugel war vollkommen durchsichtig, die untere von demselben Metallicblau wie der Turm selbst und der gesamte Gebäudekomplex, der sich um ihn herum bis zu den Steilküsten der Insel ausbreitete. Man sah keinen Wald, wenn man in die Tiefe blickte, man sah keine Wiesen, keine Flussläufe, keine Strände – man sah nur ein metallicblaues Labyrinth aus Kuppeln, Türmen, Würfeln, Brücken und Quadern.
Etwa siebzig Meter durchmaß die Turmkugel an ihrem Äquator. Die dreizehn Gestalten darin verloren sich fast in ihr. Hinter dreizehn Schnittstellen saßen sie in dreizehn schwarzen Sesseln mit hohen Rückenlehnen. Sessel und Schnittstellenkonsolen waren ebenfalls im Kreis angeordnet. Im Zentrum des Kuppelsaales, etwa zwanzig Meter von jedem der dreizehn Sessel entfernt, ragte die Hauptschnittstelle wie ein goldfarbener Pilz aus dem Boden.
Der große Halbkugelsaal atmete an sich schon die Atmosphäre von Würde und Erhabenheit. Hinzu kam die Stille, die in ihm herrschte – keine Stimme war zu hören, kein Räuspern, kein Scharren, kein Husten, nicht einmal das Summen peripherer Quantenkernmodule. Die Dreizehn saßen schweigend und entspannt in ihren schwarzen Lehnsesseln; wie dreizehn Könige auf ihren dreizehn schwarzen Thronen.
Eine Frau in purpurrotem Anzug unter goldfarbener Toga brach schließlich das Schweigen. „Ich eröffne die heutige Sitzung“, sagte sie. „Aufgrund der erhöhten Alarmstufe verzichten wir auf die sonst übliche Weise der Verständigung. So bedauerlich wir es auch finden mögen: Das gesprochene Wort bleibt weniger anfällig für Spionagetechnik, wie ein jeder noch so gut codierte Quantendatensatz.“
Die Frau hatte kurzes, graues Haar, ein schmales, liebliches Gesicht und leuchtend grüne Augen. Ihre weiche und dennoch klare Stimme erfüllte den Raum unter der Kuppel.
„Ein einziger Punkt steht auf der Tagesordnung“, fuhr sie fort. „Die Quartalsberichte aller drei Leitungsgremien der Galaktischen Republik Terra. Unter welch ungünstigem Stern sie stehen, ist jedem von Ihnen bekannt, verehrte Damen und Herren. Ich erteile dem Zweiten Vorsitzenden das Wort.“ Sie nickte in Richtung eines blonden Mannes auf der anderen Seite des Kuppelsaales. „Bitte, verehrter Gabrylon.“
„Ich danke Ihnen, liebe Mikeyla, verehrte Vorsitzende.“ Der Mann erhob sich aus seinem Sessel, deutete eine Verneigung an und lächelte dann in die Runde der anderen Zwölf. Er war mittelgroß, schlank und hatte ein ebenmäßiges Gesicht; manche bezeichneten ihn gar als schön. Seine Augen waren hellgrau, sein langes Blondhaar glänzte seidig. Er trug ein rote Toga über einem blütenweißen Anzug.
„Ich habe mir erlaubt die Berichte der Geheimen Galaktischen Sicherheitsgarden, des Direktoriums und der Flottenführung zu einem einzigen Text zusammenzufassen“, sagte er, während er wieder Platz nahm. „Gestatten Sie mir nun, Ihnen die Chronologie der vergangenen drei Monate noch einmal zu präsentieren.“
Über der zentralen Schnittstelle flammte ein etwa zehn Meter durchmessendes Viqua-Feld auf. Grafiken, Fotos, Tabellen, Zahlenreihen und Textabschnitte erschienen in ihm.
„Drei ereignisreiche Monate liegen hinter uns“, sagte Gabrylon. „Sie standen vor allem im Zeichen der Rebellion einer unserer fähigsten Offiziere. Zusammen mit drei oder vier anderen Namen, dürfte vor allem der Name Merican Bergen auf Terra Prima inzwischen zum Inbegriff von Hybris einerseits und erstaunlicher Leistungsfähigkeit andererseits Seite geworden sein...“
„Übertreiben sie nicht ein wenig, verehrter Gabrylon?“ Ein drahtiger Mann mit kantigem Gesicht, großer Hakennase und dichtem, grauem Stoppelhaar unterbrach den Zweiten Vorsitzenden. Er trug eine schwarze Toga über silberfarbenem Anzug. „Denken Sie an den ADAM I, lieber Gabrylon! Ohne den wäre Bergen ein Nichts, wie all die anderen, die es vor ihm versucht haben, und die es nach ihm versuchen werden!“
„Wir wissen nicht genau, ob es sich tatsächlich um einen ADAM I handelt, verehrter Raphylas. Der letzte Beweis steht noch aus. Doch selbst wenn es sich um diesen Robotertyp handeln sollte und Sie Recht hätten, verehrter Raphylas, erklärt das nicht den Erfolg der anderen Rebellen. Denken Sie an Namen wie Venus Tigern, oder Plutejo Tigern, oder Yakubar Tellim. Nicht zu vergessen auch der diesjährige Sieger des SPIELS.“
Unitas Gabrylon zog die blonden Brauen hoch und lächelte charmant. „Keinem von diesen stand ein Roboter zur Verfügung, schon gar kein ADAM I, und dennoch beflügelte ihre kriminelle Energie zu überdurchschnittlichen Taten. Wie auch immer – das Problem Bergen ist so gut, wie vom Tisch. Doch welche Konsequenzen ziehen wir aus diesem Phänomen? Darum muss es heute gehen, meine Damen und Herren! Aber lesen sie zunächst selbst. Ich präsentiere Ihnen erst einmal die chronologische Zusammenfassung der wichtigsten Daten.“
Im Sichtfeld trat eine Tabelle mit Datumsangaben und Stichworten in den Vordergrund. Quartalsbericht für den Sicherheitsrat von Terra Prima, 10. April, 2554 nGG, stand in der Titelzeile. Und so lauteten die ersten Zeilen:
1. – 31. Januar 2554 nGG
Die Personentransporte nach Baal III gehen in die abschließende und zugleich intensivste Phase. Die letzten 25 Millionen der insgesamt zweihundert Millionen Kolonisten werden ins Baal-System transportiert; täglich im Schnitt etwa 660.000.
Ende Januar 2554 nGG
Sträflingsaufstand im System Maligniz. Die Häftlinge auf dem Glaucauris-Planeten Genna überfallen unter dem Kommando Uran Tigerns Frachter der Klasse I. Ein von Sträflingen gekaperter Frachter entkommt nach Doxa IV im System Doxa. An Bord: Venus und Plutejo Tigern.
27. Januar 2554 nGG
Dr. Gender DuBonheur, Quanteningenieur und Kunsthirnspezialist von Fat Wyoming, wird für die Entwicklung eines Quantenkernprozessor, der den Turing-Sprung von Kunsthirnen verhindert, mit der Höchsten Ehre ausgezeichnet.
28. Januar 2554 nGG
Zwei Tage nach seinem siebzigsten Geburtstag missachtet der Reeder und Primhauptmann der Flotte a.D. Yakubar Tellim von Doxa IV die Einladung in den Ruhepark. Statt seine gesetzlich vorgeschriebene Entsorgung zu unterstützen, flieht er gemeinsam mit den Rebellen von Genna in seinem Frachter Jerusalem ins Zentrum der Milchstraße...
Ende März 2554 nGG
Musik erfüllte den Kuppelraum. Trommeln, raue Flöten und ein Saiteninstrument. Sorgfältig kämmte er sein Haar hinter die Ohren und in den Nacken. Wieder und wieder tauchte er den Kamm in den Blechkrug mit dem Öl. Es stank nach totem Fisch. Es sollte nach totem Fisch stinken.
Er war allein. Das wollte er so. Seiner Mutter und seiner Geliebten hatte er untersagt ihn vor der letzten Phase des SPIELS in der Kandidatenkabine zu besuchen. Er brauchte Ruhe, er musste sich konzentrieren. Und davon abgesehen wollte er nicht, dass sich – falls er sterben würde – ihre Erinnerung an ihn für alle Zeiten mit dem Gestank faulender Fische verband. Ein Blick auf die Zeitangabe am unteren Rand des Sichtfeldes. Noch fünfzig Minuten.
Er ließ den Kamm in den bereitstehenden Abfalleimer fallen, flocht das ölige Haar zu einem Zopf und verknotete es im Nacken. Danach streifte er ein Netz aus Magnesiumfasern über den Knoten. Jeden Handgriff hatte er in Gedanken schon tausend Mal getan. Jahre vor seinem ersten SPIEL hatte er in Gedanken gesehen, wie er in dieser Kabine stand, sich frisierte, Trommeln, Flöten und Saiten hörte, und sich auf die letzte Hürde konzentrierte.
Im linken Sichtfeld dehnte sich eine schmutzig grüne Fläche, gesprenkelt mit großen und kleinen Flecken. Die großen Flecken waren Fels. An manchen Stellen waren Eis und Schnee über ihm geschmolzen. Die kleinen Flecken bewegten sich und wurden nach und nach größer. Gespanne von den anderen Schiffen. Zu Hunderten kamen die Menschen, um die letzte Phase des SPIELS zu sehen.
Er tauchte die Hand in den Krug und balsamierte seinen nackten Körper mit Fischöl ein. Brechreiz würgte ihn. Es stank erbärmlich, aber er hatte gelernt den Geruch zu ertragen, ja zu ignorieren. Im Spiegel zwischen den Schranktüren bewegte sich sein jugendlicher Körper – muskulös, breitschultrig, geschmeidig. Sein Haar schimmerte wie ein enganliegender Helm aus poliertem Kupfer.
Im zweiten Sichtfeld sah er die Kampfbühne. Sie war noch leer. Im dritten Sichtfeld schmiegte sich der weiße Leib einer zierlichen Frau an den Körper eines hochgewachsenen, blonden Mannes. Beide waren nackt.
Der Mann war älter als er. Ganz genau sieben Jahre, sechs Monate, zwei Wochen und neunzehn Tage älter. Der Mann war sein Gegner. Er wusste alles über ihn. Mit seinen jüngeren Brüdern hatte er gewettet, dass der Blonde die letzte Stunde vor dem SPIEL auf die Weise zubringen würde, wie er sie zubrachte: Mit Sex. Auch dass dieser Mann sich schon jetzt als Sieger des SPIELS betrachtete, glaubte er zu wissen.
Nun, zumindest darin ähnelten sie sich.
Er wischte sich die Hände an einem Tuch ab. Das Tuch warf er in den Abfalleimer. Danach stieg er in eine Art Hosenrock, so kurz, dass er gerade seine Scham und seine Hüften bedeckte. Er streifte eine ärmellose Weste über.
Es war nicht direkt regelwidrig, seinen Gegner vor dem SPIEL auf diese Weise zu beobachten. Für diesen Fall gab es einfach keine Regel. Sollte ein Spieler vor ihm je das Bordhirn auf diese Weise angezapft haben, so hatte er sich vermutlich nicht erwischen lassen. Ihm war nämlich kein derartiger Fall bekannt. Und was ihn selbst betraf: Zwei oder drei Stunden allein mit einem Bordhirn der älteren Schiffe, und danach arbeitete es für immer mit ihm zusammen.
Im dritten Sichtfeld wälzten sich sein blonder Gegner und dessen Mätresse auf den Matratzen, als wollte einer dem anderen Blut und Lebenskraft aussaugen. Still tobte der leidenschaftliche Liebeskampf. Er hatte den Ton abgestellt. In diesen Minuten wollte er nur dieses weichen Saitenklänge, diese ganz bestimmten Trommeln und diesen einen Rhythmus hören. Und dazu die rauen Flötentöne. Sie klangen wie heisere, vom Wind zerrissene Rufe aus einer anderen, schöneren Welt.
Diese Welt wollte er kennenlernen. Deswegen hatte er sich seit Jahren auf das SPIEL vorbereitet. Seit seiner Kindheit; seit er zum ersten Mal begriffen hatte...
Seinen Gegner vor Augen zu haben, immer, das hielt er für unverzichtbar. Wenn der Blonde nicht in der Nähe war, und wenn kein Sichtfeld und auch sonst keine Abbildung ihn zeigten, dann beschwor er seine Gestalt und seine Gesichtszüge in der Phantasie herauf.
Noch vierundvierzig Minuten. Er schaltete die Sichtfelder aus. Zum letzten Mal prüfte er die Musik, die er später, während des SPIELES, einsetzen wollte. Und er fuhr, als der Test ihn zufriedengestellt hatte, die Lautstärke der Trommeln, der zarten Saiten und der rauen Flöten hinauf. Danach ging er in die Knie, setzte sich auf seine Fersen und schloss die Augen.
Ein paar Atemzüge lang dachte er an seine Mutter. Ohne sie wäre er nicht, und ohne sie wäre er nicht der, der er geworden war. Alles, was er beherrschte, hatte sie ihm beigebracht. Und alles, was ihn beherrschte, auch. Den unbedingten Willen zu leben zum Beispiel; oder die Sehnsucht nach der anderen, besseren Welt. Beides hatte ihm seine Mutter ins Herz gepflanzt.
Bald wurde es Nacht auf seiner inneren Bühne. Er überließ sich der Dunkelheit, seiner Sehnsucht, seinem Willen. Die Nacht begann zu leuchten. Von Sternen- und Mondlicht erhellte Nebelschwaden waberten durch seinen Geist. Er breitete Schwingen aus, rotes Gefieder spross. Er atmete tief ein – eisenhartes Muskelgeflecht schwoll an seiner Brust, auf seinen Schultern. Er riss einen spitzen Krummschnabel auf – ein Schrei platzte in seiner Kehle. Und endlich erhob er sich in die Luft und stieg, bis das Sternenlicht zum Greifen nahe schien.
Auf dem Zenit seines Steigfluges legte er die Schwingen an und spähte hinunter. Dort stand er, sein Gegner – breitbeinig, blond und in schwarzen Hosenrock und schwarze Weste gehüllt drohte er mit den Fäusten zu ihm herauf. Wieder ein Schrei – im Sturzflug schoss er auf ihn hinab, prallte wie ein Stein gegen seinen Schädel, warf ihn um, schlug ihm die Klauen in die Brust, zerfetzte ihm die Muskeln über den Rippen und riss ihm das schlagende Herz aus der Brust...
Die letzte Kerze.
Alban entzündete sie am verglimmenden Docht der vorletzten. Ein paar Tropfen Wachs auf die am Boden liegende Wandverblendung, und dann die Kerze auf den feuchten Fleck gedrückt. Sie hielt. Alban rückte ein Stück näher an seinen Bruder Urban heran, matter Lichtschein fiel auf die elektronischen und mechanischen Innereien in der Wand neben dem Schott.
Die elektronischen bestanden aus einer halben Hand voll Kabeln, Akkumulatoren und Nanokammer-Kristallen; man musste schon genau hinsehen, um sie überhaupt zu erkennen. Die Mechanik dagegen füllte den halben Hohlraum der Wand aus. Urban nahm zuerst das Kurbelrad heraus. Sie hatten es zuvor in einer Tagesarbeit losgeschraubt.
„Nichts funktioniert mehr!“ Fast lachend traf Donna Kyrilla diese Feststellung. Sie und der Höchstgeehrte standen hinter den Zwillingen im Halbdunkel. Über vier Schichten Kleidern trugen sie drei Schichten Decken. „Kein Licht, keine Heizung, kein Bordfunk, kein Kühlschrank, kein Schottsensor. Die Sauerstoffversorgung aber funktioniert. Ist das nicht komisch?“ Sie hob den Kelch mit dem Champagner. „Was für ein Glück!“
Sie und der Höchstgeehrte stießen an, und tranken. Obwohl es, wie gesagt, auch der Kühlschrank in Dr. Gender DuBonheurs Suite nicht mehr tat, war der Champagner leidlich kühl. Die ganze Suite war kühl; und wurde immer kühler.
„Wie positiv du bist!“ DuBonheurs Stimme klang weinerlich, seine Miene war weinerlich, und trotzdem versuchte er zu lächeln. „Selbst in solch einer aussichtslosen Lage kannst du noch positiv sein! Das liebe ich so an dir!“
Er zog die Bordärztin an sich, und es sah aus, als wollte er sich an ihr festhalten. Dabei war er mit seinen 212 Zentimetern einen Kopf größer und wog mit 207 Kilogramm fast vierzig Kilogramm mehr als sie.
„’Aussichtslos?’ Ich bitte dich, Big Gender!“ Sie tat entrüstet. „Wir werden es schaffen! Wenn wir zusammenhalten, werden wir es schaffen...!“ Mit spitzen Lippen küsste sie ihn auf den Mund. Er lächelte selig.
Im Kerzenlicht bauten Alban und Urban die Mechanik der manuellen Schottbedienung aus: Zahnräder, Teleskopröhrchen, Schwungriemen, Kurbelwellen. Der Sensor reagierte weder auf Daumenprofile, noch auf Stimmprofile, noch auf die ID-Codes der I-Ziffern in den Ohrläppchen von Gender DuBonheur und der Bordärztin. Und das Kurbelrad für die manuelle Bedienung war nicht mehr zu gebrauchen – vollkommen eingerostet, wie sich nach Abnahme der Wandverblendung herausgestellt hatte. Also bauten sie die mechanischen Innereien des Schotts aus. Vielleicht ließ es sich ja mit schierer Körperkraft bewegen.
„Was aber machen wir, wenn es nun jenseits des Schotts keinen Sauerstoff gibt?“ DuBonheur schluckte und riss die Augen auf.
„Nicht mehr viel“, sagte Alban.
„Und auch das nicht mehr lange“, ergänzte Urban.
„Diese Erschütterung, die durch das Schiff ging, dieses Stöhnen und Ächzen – ich fürchte, das war eine Kollision.“ Der Höchstgeehrte machte eine finstere Miene. „Ich bin Wissenschaftler und kein..., ähm..., Flottenangehöriger, aber dennoch ist mir bekannt, dass Kollisionen Lecks zur reißen pflegen...“
„Unsinn, Biggy!“, rief Donna Kyrilla. „Wenn die Wyoming ein Leck hätte, gäbe es auch in deiner Suite längst keinen Sauerstoff mehr!“ Sie hob erneut ihren Kelch um anzustoßen. „Wir sind auf Terra Prima gelandet, wo denn sonst? Zum Wohl!“
„Ihren Optimismus möchte ich haben“, sagte Alban.
„Und Ihre Phantasie“, sagte Urban. Vor allem die letzte Bemerkung des jüngeren – Urban hatte sich erst dreiunddreißig Minuten nach seinem Bruder ans Licht der Welt gewagt – brachte die Bordärztin in Rage. Eine Zeitlang stritten sie herum, ob die Wyoming schon auf Terra Prima gelandet sein konnte, oder ob sie auf einem Planet oder Mond in der Peripherie des Sol-Systems niedergegangen war.
„Bitte hört auf!“, flehte Gender DuBonheur. Er deutete auf die letzte Kerze. „Wir sollten keine Zeit mit nutzlosen Debatten vertun! Wenn wir nicht bald hier herauskommen, dann...!“ Er hob ratlos beide Arme. „...dann, ich weiß auch nicht...“
„Dann verhungern wir“, sagte Alban.
„Und vorher verdursten wir“, sagte Urban. Tatsächlich gab es nur noch einen halben Fünfzig-Liter-Kanister Wasser und drei Flaschen Champagner in DuBonheurs Suite.
„Bevor ich verdurste, gebe ich mir eine Überdosis Morphium“, sagte Donna Kyrilla. Beleidigt rauschte sie ab.
„Vorher aber besorgen Sie uns noch Gummi oder Kunstleder!“, rief Alban ihr hinterher. „Irgend ein gut haftendes Material, mit dem wir das Schott aufschieben können!“
„Einen Bohrer und reißfeste Schnüre bitte auch gleich!“, rief Urban ihr hinterher. Er stutzte plötzlich. „Hast du das gehört? Es war, als hätte jemand gerufen...“ Er lauschte. „...oder gelacht...“
„Ich habe nichts gehört“, sagte Alban. Urban zuckte mit den Schultern. Die Zwillinge von Fat Wyoming konzentrierten sich wieder auf ihre Arbeit.
DuBonheur ging zu seinem Schreibpult, setzte den Champagnerkelch ab, und schlug ein in rotes Leder gebundenes Buch auf; sein Reisetagebuch. Natürlich war es viel zu dunkel zum Schreiben. Er schleppte einen Fußschemel zum Schott und zur letzten Kerze. Ächzend ließ er sich nieder und begann zu schreiben.
Seit sieben Tagen war Gender DuBonheur mit Donna Kyrilla und den Zwillingen in seiner Suite eingeschlossen. Seit sieben Tagen hatten sie kein anderes Besatzungsmitglied der Wyoming gesehen. Kurz nach dem Wiedereintritt ins Normaluniversum war es geschehen: Die Lichter gingen aus, der Bordfunk war tot, es wurde kälter und kälter, und zwei Tage später irgendwann dieses entsetzliche Stöhnen und Knirschen des Schiffsrumpfes.
Er stockte und hob den Blick – wieder lauschten Alban und Urban. „Du kannst mir erzählen, was du willst“, sagte Urban. „Da draußen flüstern und kichern welche miteinander...“
„Jetzt hab ich’s auch gehört“, sagte Alban.
„Waffen!“ DuBonheur fuchtelte mit dem Stift. „Ihr müsst eure Waffen bereitlegen...!“ Urban erhob sich, ging in seine Kabine und holte zwei Fauststrahler. Einen reichte er seinem Bruder, den anderen steckte er in die Beintasche seiner roten Bordkombi. Die Tasche ließ er offen. Sie arbeiteten weiter. Und der Höchstgeehrte schrieb weiter.
Anfang Februar waren sie von Fat Wyoming gestartet. Jetzt, fast zwei Monate später, hatten sie längst das Sol System erreicht. Und längst auch müsste das Schiff von Terra Prima sich gemeldet haben, das man ihnen vor dem Sprung ins Muttersystem der Menschheit angekündigt hatte; ein Schiff mit einem Empfangskomitee, das Dr. Gender DuBonheur, den zweiten Höchstgeehrten des sechsundzwanzigsten Jahrhunderts nGG, in angemessen feierlicher Weise zum verbotenen Planeten geleitete.
Doch kein Schiff kam, und kein Empfangskomitee meldete sich an. Stattdessen blieb es dunkel. Stattdessen gingen die Vorräte an Nahrung und Wasser zur Neige. Und stattdessen war der Wissenschaftler von Fat Wyoming gezwungen die Einträge in sein Reisetagebuch beim Schein der letzten Kerze vorzunehmen. „Welch ein Unglück“, seufzte er. „Welch ein Skandal...“
Donna Kyrilla rauschte herbei. „Jammere nicht soviel, Biggy!“ Sie warf den Zwillingen einen Arm voll Material vor die Füße – Saugnäpfe, Gummimatten, Kunststoffschnüre, Gummibinden. „Es könnte schlimmer sein. Wenigstens haben wir einander noch.“
„Vielleicht kommt’s ja noch schlimmer.“ Alban stand auf. Prüfend rüttelte er am Schott.
„Vielleicht schon bald, denn wir sind soweit.“ Urban reichte seinem Bruder eine Gummimatte nach oben und klaubte eine Kunststoffleine aus dem Material. „Einmal zulangen noch, dann ist die Luke auf.“ Er stemmte sich hoch.
DuBonheur griff nach Donna Kyrilla, erwischte aber nur den Saum ihrer blauen Toga. Er küsste ihn. „Du hast ja so recht, Zuckerchen!“ Er klappte sein Tagebuch zu. „Wie hätte ich das nur ertragen ohne dich! Es ist einfach zum Davonlaufen…“
Alban drückte eine Gummimatte auf den rechten Schottflügel und stemmte sich dagegen. Urban verknotete die dreifach geflochtene Kunststoffschnur an drei Schrauben am Innenfalz des rechten Schottflügels. Seine Hände schützte er mit einer Lage Kunstleder, wickelte dann die Schnur um seine Rechte, packte die Schnur mit der Linken und straffte sie. „Eins, zwei…“ Bei drei ging er in die Knie, stemmte sich in den Boden, legte sich nach hinten und zog. Sein Bruder Alban drückte gegen den Schottflügel. Endlich bewegte er sich und rollte schließlich in die hohle Wand.
„Den Heiligen Göttinnen der Dwingolangowars sei für immer Ruhm und Ehre!“ Gender DuBonheur richtete seinen kolossalen Körper zu ganzer Größe auf.
Fackelschein fiel vom Gang aus ins Foyer seiner Suite. Eine Gruppe bärtiger Gestalten lungerte dort vor einer Art Grill. Es roch nach gebratenem Fleisch. Gender DuBonheur und seinen Eidmännern verschlug es die Sprache. Nie zuvor hatten sie diese Leute gesehen.
„Seht euch das an!“, rief einer der Bärtigen in reinstem Terrangelis. „Echte Fatties...!“ Die Männer waren dick in helle Decken und Mäntel aus undefinierbarem Stoff gehüllt, so dass ihre Körper seltsam unförmig aussahen. „Er ist tatsächlich einer von Fat Wyoming...! Und die da auch...!“ Ungeniert und, wie es schien, ohne jede Angst zeigte er auf die Bordärztin und die Zwillinge. Dabei überragten die blonden Leibwächter ihn um mindestens zwei Köpfe.
Gender DuBonheur wich zurück, Donna Kyrilla schlug erschrocken die Hände vor den Mund, und Alban und Urban zogen ihre Fauststrahler und bauten sich drohend vor den Exoten um den Grill auf. „Wer sind Sie? Wie kommen Sie an Bord der Wyoming?“
„Wyoming?“ Einer nach dem anderen erhob sie sich. „Hübscher Name.“ An ihren Hälsen baumelte etwas, das Gender DuBonheur an Atemmasken erinnerte. Ihre Stiefel waren groß und klobig.
„Steckt doch endlich diese gefährlichen Dinger ein, Kinder!“ Ein älterer Mann deutete auf die Waffen in den Fäusten der Zwillinge. „Keine Sorge, wir sind von der bescheidenen Sorte, wollen auch nur leben irgendwie.“
Der Mann schien ihr Anführer zu sein. Silbrige Fäden durchzogen seinen Bart und sein zu vielen Zöpfen geflochtenes Haar. Er hatte braune, sanfte Augen.
„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Er legte die Rechte auf sein tonnenartiges Oberkleid und deutete eine Verneigung an. „Mein Name ist Sarturan, man spricht mich mit Oberst an. Ich schätze, Sie sind der neue, sogenannte Höchstgeehrte?“
„Nicht der ‚sogenannte Höchstgeehrte’, Oberst Sarturan!“ Gender DuBonheur setzte eine arrogante Miene auf. „Ich bin der Höchstgeehrte! Seit dem 27. Januar bin ich per persönlichem Dekret des Primdirektors und des P.O.L. berechtigt, diesen Titel...!“
„Vier Tage und zweiundzwanzig Stunden“, unterbrach ihn der Mann, der sich als Oberst Sarturan vorgestellt hatte. „Nicht schlecht, aber auch keine Glanzleistung. Andere haben ihre Schotts schneller geknackt.“ Er grinste, und seine Begleiter grinsten auch. „Aber scheißegal, Hochverehrter von Fat Wyoming. Erst einmal herzlich Willkommen in Mississippi!“ Er wies auf den Grill. „Wie wäre es mit Fisch...?“
Der Mann lag auf dem Bett und nuckelte an einem Saugröhrchen, das aus einem Becher auf dem Boden neben dem Bett ragte. Sein großer Schädel war haarlos, das schwarze Leintuch bedeckte seinen nackten Körper bis zu den Lenden. Auf seiner Brust und seinem Bauch wucherten blauschwarze Locken. „Sie geben keine Ruhe, bis Sie am Ziel sind, habe ich recht?“, sagte er.
„Stimmt.“ Anna-Luna Ferròn saß vor der Schnittstelle der kleinen Kabine. Sie arbeitete an einem Bericht für ihre Auftraggeber. Um ihren Liebhaber nicht mit Dingen zu belasten, die ihn nichts angingen, benutzte sie eine alte Tastatur.
„Die Art des Ziels spielt dabei keine Rolle für Sie, habe ich recht?“, sagte der Mann auf dem Bett.
„Stimmt fast.“ Quartalsbericht für den Sicherheitsrat von Terra Prima, lautete die Titelzeile im kleinen Arbeitssichtfeld. Und dann folgten Daten und stichwortartige Fakten: 12. Februar 2554 – erste Begegnung mit Subgeneral Merican Bergen an Bord der Wyoming; stelle mich als Malerin vor, die den Höchstgeehrten porträtiert, lade den Fahnenflüchtigen auf mein Schiff ein, gebe vor, auch ihn porträtieren zu wollen; 13. Februar – Bergen in einem Sparklancer an Bord der Laurin; sein Erster Kybernetiker Roderich Stein und sein Roboter begleiten ihn; wir verhaften sie in der Messe, der getarnte Roboter kann fliehen...
„Und nun werden Sie, wenn es sein muss, bis ans Ende des Universums fliegen, um den Subgeneral zu erwischen. Habe ich recht?“, fragte der Mann auf dem Bett.
...14. Februar – Bergen, Stein und der Roboter können unter bisher ungeklärten Umständen in einem Sparklancer von der Laurin fliehen... „Stimmt“, sagte sie. „Das Universum hat nach allen gängigen Theorien zwar kein Ende, aber selbst dahin werde ich fliegen, um Bergen zu kriegen. Da hast du vollkommen recht.“
Sie hörte nicht auf zu schreiben: ...mein Flaggschiff findet sich nach einem mehrere Tausend Lichtjahre weitem Parasprung außerhalb der Republik wieder. Bergens Flucht und der unkontrollierte Parasprung konnten bisher nicht vollständig aufgeklärt werden. Vermutlich gehen sie auf Sabotageakte von Bergens Roboter zurück...
Sie drehte sich nach dem Mann auf dem Bett um. „Merican Bergen ist aber nicht auf dem Weg zum nicht existierenden Ende des Universums“, sagte sie. „Er ist unterwegs zum existierenden Mittelpunkt des bekannten Universums: Nach Terra Prima im Solsystem. Das ist nicht weniger absurd. Aber selbst dort werde ich ihn jagen, bis ich ihn habe. Ihn, und die Bande, die sich ihm angeschlossen hat: Goltz, Tellim, Cludwich und die Tigernbrut. Wahrscheinlich hat er sogar Nigeryan mit dem Virus der Rebellion angesteckt. Bis ich diese Leute erledigt habe, werde ich nicht ruhen, Alpar, da schätzt du mich schon vollkommen richtig ein.“
Sie wandte sich wieder dem Bericht zu. ...Bergen nach Informationen eines GGS-Agenten vom Planeten Aqualung im System Tarkus derzeit unterwegs im Landungsschiff Rheingold. Kommandant: Joseph Nigeryan, Primoberst der Flotte. Ziel: Terra Prima. Vorsprung: Etwa 50 Stunden. Voraussichtliche Ankunft im Sol-System: Ende März...
„Verzeihen Sie, meine Generälin“, sagte der nackte Mann auf dem Bett. „Aber ich würde gern meine persönliche Meinung zu dieser Angelegenheit loswerden.“ Er stellte den Becher mit dem Sauröhrchen neben dem Bett ab und sah die Frau an der Schnittstelle an.
„Nur zu, Alpar. Sag, was du denkst.“
„Ein Auftrag ist ein Auftrag, denke ich.“ Alpar Koboromajew, Sanitäter der Laurin, faltete seine großen Hände über der lockigen Brust. „Ja, das denke ich: Ein Auftrag ist ein Auftrag, und weiter nichts. Sie aber machen eine persönliche Mission daraus, eine Prüfung, eine Art Bewährungsprobe sozusagen, als würde Ihr Leben davon abhängen.“
Anna-Luna Ferròn nahm die Hände von der Tastatur. Ein paar Atemzüge lang dachte sie nach. Dann lächelte sie und drehte sich nach ihrem Liebhaber um. „Eine persönliche Mission? Eine Bewährungsprobe? Was für ein interessanter Gedanke...“
Ein Ornament von Eisblumen rahmte das Sichtfenster ein. Der Alte beugte sich über die Instrumentenkonsole. Mehr als die Hälfte des eisfreien Kreises im Zentrum des Sichtfensters füllte der Omegaraumer bereits aus. Wie ein großes schwarzes Tier auf viel zu dünnen Beinen ragte der alte Frachter aus der türkisfarbenen Eislandschaft. Der Alte schloss die Augen und sank zurück in den Sessel.
Er lauschte in sich hinein. Da regte sich etwas. Etwas Vertrautes. So vertraut wie die eigenen Atemzüge, und so vertraut wie das unwiderrufliche Stocken der eigenen Atemzüge. Es könnte vorbei sein. Wie oft schon hatte sie ihn angehaucht, diese Ahnung? Heute regte sich mehr als nur eine Ahnung, heute war es eine Gewissheit.
Vorbei...
Woher wusste er das? Eigenartig. Lag es an den Gelenkschmerzen? Lag es an den Stichen hinter dem Brustbein? Oder an dem verdammten, fahlgrünen Himmel?
Die Kolonne erreichte den Teleskoplift der Tiborcohen. Der Alte blickte auf seinen Chronometer: noch dreißig Minuten bis zum Beginn des SPIELS. Der Kugelrobot neben ihm auf dem Pilotensitz, ein alter Kommunikator namens Eddyseven, drückte zweimal auf die Schaltfläche für die Peitsche. Früher öffnete man mit dieser Handbewegung die Heckluke; halbmanuell sozusagen. Heute sandte man damit einen Elektroimpuls aus, der die Kristallspeicher unter dem Schwanzfell der Zugtiere veranlasste zwei Schwachstromladungen freizusetzen.
Das Gespann stand still.
Der Alte fasste sich an die Brust. Die Stiche waren nicht schlimmer als sonst, die Gelenke plagten ihn nicht mehr als sonst – jedenfalls nicht wesentlich mehr – und der verdammte Pseudohimmel war nicht fahler und nicht hassenswerter als sonst. Woher also diese Gewissheit?
Hatte sie mit dem SPIEL zu tun? Machte er sich am Ende doch mehr Sorgen um seinen Ältesten, als er sich eingestehen wollte.
Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es vorbei war. Wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen. Was für ein Leben! Was für ein Witz! Er löste seinen Gurt.
Die sechs Zugbären schwenkten ihre spitzen Schädel und brüllten. Sie forderten ihre Belohnung. Jemand öffnete die Bugluke. Die Halbwüchsigen sprangen aus dem Sparklancer auf die Plattform und von der Plattform in den Schnee hinunter; Söhne und Töchter seiner Eidmänner. Sie konnten es mal wieder nicht erwarten die Eisbären zu füttern. Jemand warf ihnen den Sack mit dem Fisch aus der Luke.
Der Alte stemmte sich aus dem Sitz, folgte Eddyseven zur Luke; sein persönlicher Kugler übrigens. Einer von dreien, die ihnen hier, in Tiborcohen, geblieben waren. Man konnte sie nicht ewig versteckt halten; genauso wenig, wie Waffen. In allen sieben Biosphären führten sie regelmäßige Razzien durch.
Seine Frau Natalya half ihm aus der Luke auf die Plattform, sein jüngster Sohn von der Plattform hinunter aufs Eis. Es war schmutzig und fahlgrün wie der Himmel. An einigen Stellen schimmerte es türkisfarben, an anderen sogar blau. An manchen brach rötlichbrauner Fels durch das Eis.
Sein dritter Sohn, zweijüngste, tauchte neben ihm auf und stützte ihn von rechts. Auch er halbwüchsig und rothaarig. Er erkundigte sich nach dem Befinden seines Vaters. Der Alte brummte abweisend. Er hasste den Eifer, mit der sie ihm zur Hand gingen. Ihre hektischen Gesten, ihre sorgenvollen Blicke, ihr betont freundliches Gerede, ihre perfekte Organisation jeder noch so kleinen Reise – alles rückte ihm sein Alter ins Bewusstsein; und seine Gelenkschmerzen.
Seine Frau Karelya stützte ihn von links, ein paar Männer luden eine Sänfte von der Plattform, die Bären brüllten, und die Halbwüchsigen stritten sich um den Sack mit den Fischen.
Karelya und sein Dritter wollten ihn zur Sänfte führen. Er aber schüttelte ihre Hände ab und fasste die Strecke zum Teleskoplift ins Auge. Noch zwanzig Schritte bis zur Einstiegsluke – die letzten Schritte von wie vielen noch? Er ging sie; schleppend, hinkend. Wie aus verwittertem Marmor gemeißelt war sein Gesicht.
Am Eingang des Lifts sah er sich noch einmal um. Vierzig oder fünfzig Männer, Frauen und Kinder standen um die neun Sparklancer herum. Alles Bewohner der Rubicon, alles Mitglieder seiner Besatzung; oder Nachkommen von Mitgliedern seiner Besatzung. Einige kletterten noch aus den Luken, andere sprangen von den Plattformen, wieder andere folgten ihm bereits.
Die Sparklancer ruhten auf Schwebeplattformen. Die Schwebeplattformen wurden von Eisbärgespannen gezogen. Die Controgravaggregate funktionierten noch, die Triebwerke der Sparklancer nicht. Die der Schiffe schon gar nicht. Kein Glaurux, unter dem ganzen verdammten Himmel nicht.
Das war das erste, was sie beschlagnahmten – Glaurux. Das zweite waren die Roboter, das dritte die Waffen. Angeblich ging das seit Jahrhunderten so. Seit 1250 Jahren, um genau zu sein. Er selbst hätte es nicht beschwören können, er musste sich auf die Aussagen der anderen verlassen. Er selbst musste erst seit achtzehn Jahren hier leben, unter diesem verdammten Himmel.
Er wandte sich dem Lifteingang zu. Der war eisfrei; auch der Unterboden der Tiborcohen war weitgehend eisfrei. Ihre Stützen allerdings versanken zu einem Viertel in Schnee und Eis. Immerhin nur zu einem Viertel. Allmählich merkte man doch, dass es Sommer war. Eddyseven glitt als Erster in den Lift, der Alte folgte ihm. Der Controgravstrahl erfasste sie, sie schwebten nach oben.
Der sogenannte Sommer währte erst drei Jahre. Es war sein erster hier; und ganz gewiss sein letzter. Aber weg mit diesen nutzlosen Gedanken! Immerhin hatte er noch einen Sommer erlebt hier; den Beginn eines Sommers jedenfalls.
Ein bitteres Lächeln verzog sein zerfurchtes Gesicht. Sommer hieß: Die Außenflächen der Biosphären waren eisfrei, und man konnte die Sonne praktisch ununterbrochen sehen; wenn sich nicht gerade einer der Monde vor sie schob oder Schneestürme um die Kuppeln herum tobten. Neulinge erkannten die Sonne übrigens daran, dass sie ein wenig größer war, als die meisten anderen Sterne.
Genau genommen war der Sommer hier ein einziger, achtzig Jahre währender Tag; wenn man die Terra-Prima-Zeit als Zeitmaß ansetzte jedenfalls; und danach richteten sie sich alle. Das war normal; das war schon früher normal gewesen; früher in der Flotte. Wenn auch sonst nicht viel funktionierte – die Chronometer in den Schiffen funktionierten. Sogar in der über tausend Jahre alten Tiborcohen, dem Zentralschiff der gleichnamigen Biosphäre, funktionierten sie noch.
Sie erreichten den Ausstieg. Eddyseven schwebte auf den Gang hinaus und wartete. Der Alte griff nach den Wandbügeln und kletterte aus dem Lift auf den Gang. Man erwartete ihn – Baldura hatte zwei Eidmänner geschickt. Junge Burschen ganz nach ihrem Herzen: Jung, mit Flaum unterm Kinn und kräftig gebaut. Sie geleiteten ihn, seinen Kugler, seine beiden Frauen und seine Söhne in die Zentrale.
Links und rechts des Eingangs standen wie immer die Tische der Moderatoren. Als Zeichen ihrer Neutralität trugen sie Weiß – der Erste Moderator einen weißen Mantel, seine Zweiten und Dritten Moderatoren Overalls. Der Alte wandte sich an den rechten Tisch, weil er Ruluth, einen Sohn von Oberst Sigyard, dahinter entdeckt hatte.
Sigyard war sein Erster Offizier und sein persönlicher Vertrauter. Darüber hinaus auch sein Eidmann. Sigyards Zweitgeborener hatte erst vor kurzer Zeit auf die Tiborcohen hinüber geheiratet. Ungewöhnlich, einen derart jungen Mann bereits in der Rolle eines Moderators zu sehen. Hatte die Matriarchin womöglich ein gnädig-begehrliches Auge auf ihn geworfen? „Wie geht es dir, Ruluth?“
„Danke, mein General, sehr gut geht’s“, versicherte der junge Bursche. „Und Euch?“
„Gut, wie immer.“
„Das freut mich aufrichtig. Was wollt Ihr setzen, mein General?“
„Zehn Kilo Mantelstoff auf Rotman“, sagte er. Alle setzten sie auf Rotman, sein Jüngster, sein dritter, ihre Mutter Karelya, und Karelyas ältere Schwester Natalya; jeder nach seinen Möglichkeiten. Auf wen sonst hätten sie setzen sollen? Rotman war sein zweitältester und Natalyas einziger Sohn.
„Du bist erstaunlich schnell zu Ehren gekommen, mein Junge“, sagte er leise. „Hat Baldura dein Talent also doch so bald entdeckt?“ Ruluth nickte nur stumm und senkte den Blick. Sein bleiches Gesicht war rosig, als er dem Alten die Wettquittung aushändigte.
Der Alte ging zum Ehrenplatz neben Balduras Thronsessel. Die Matriarchin reichte ihm ihre Hand zum Kuss. Das tat sie mit Vorliebe in Situationen, in denen er ihr den Handkuss nicht verweigern konnte, ohne einen Eklat auszulösen. Er beugte seinen Kopf über die unförmige Fleischmasse von Hand und sah Baldura in die wässriggrünen Augen, während seine Lippen die von Fett glänzende Haut berührten. Die Regentin der Tiborcohen schien bester Stimmung zu sein; sie lächelte sogar. Es berührte ihn nicht. Die massige Frau in dem goldfarbenen Mantel drückte ihren Handrücken gegen seinen Mund und neigte den Kopf. „Herzlich Willkommen an Bord des Zentralschiffes, mein General“, sagte sie.
Eine Anspielung auf die größere Bedeutung ihres Schiffes gegenüber der Rubicon. Er überhörte sie und setzte sich an ihre Seite. Salzig und leicht bitter brannte der Geschmack ihrer Haut auf seinen Lippen. Er widerstand der Versuchung sie an seinem Mantelärmel abzuwischen. Später.
Seine Familie nahm auf den Sesseln rechts neben ihm Platz, Eddyseven ließ sich im Zwischengang neben der Ehrensesselreihe nieder. Natalya griff nach der Hand des Alten. Er ließ es geschehen. Selbstverständlich war sie aufgeregt, selbstverständlich hatte sie Angst. Das Leben ihres einzigen Kindes stand auf dem Spiel; buchstäblich auf dem SPIEL.
In den Vorrunden des SPIELS wurden die Unterlegenen noch mit Arbeitseinsätzen in der Nordpol-Biosphäre bestraft. Die meisten kehrten nach zwei Jahren mehr oder weniger krank zurück, und konnten sich, wenn sie Lust hatten, erneut bewerben. Den Verlierern und Todeskandidaten der zweiten Runde konnte man häufig einen Fluchtweg in eine andere Biosphäre ermöglichen. Im Endkampf aber blieben nur ein Sieger und ein Toter zurück. Und der Sieger wurde in der Regel nach kurzer Zeit abgeholt. Was sollte er seinem Sohn wünschen? Sieg oder Niederlage? Der Alte schwankte ernsthaft.
Gedämpftes Stimmengewirr erfüllte die ehemalige Raumschiffzentrale. Der Alte sah sich um. Erst die Hälfte der siebenhundert Plätze war besetzt. Von allen Seiten grüßte man ihn, indem man die Hand auf die Brust legte und den Kopf neigte. Er war der Erste in der Biosphäre Tiborcohen, auch wenn Baldura damit haderte, seitdem er es vor achtzehn Jahren geworden war. Außer ihm gab es nun mal nicht viele Höchstgeehrte. Um es ganz korrekt zu sagen: Es gab nur einen. Ihn. Angeblich sollte in den nächsten Wochen ein zweiter am nicht vorhandenen Himmel von Triton erscheinen. Was für ein Witz!
Auch unten füllten sich allmählich die Ränge. Bewohner der Tiborcohen, Bewohner der Nachbarschiffe in der Biosphäre Tiborcohen. Sogar Angehörige aus den beiden benachbarten Biosphären entdeckte der Alte. Baldura neben ihm streifte schwarze Handschuhe aus Kunstseide über.
Man hatte den Boden zwischen Ebene I und Ebene II der alten Kommandozentrale zu über sechzig Prozent herausgenommen und die Balustrade der Galerie näher an die Frontkuppel versetzt. Das Ergebnis war eine Art Arena, von deren Rängen aus man einen guten Blick sowohl in das Sichtfeld der jeweiligen Ebene – ja, die Viquafelder des alten Frachters funktionierten noch – wie auch auf das erhöhte Bühnenpodest der unteren Ebene hatte. Dort fand alljährlich die letzte Phase des SPIELS statt.
Der Alte spürte Blicke von rechts. Er wandte den Kopf – zum Ohr seines Jüngsten gebeugt stand Balduras Chefkommunikator neben Eddyseven am Beginn der Sitzreihe. Er sah ihn an, während er dem Rotschopf ins Ohr flüsterte, verneigte sich kurz, als ihre Blicke sich trafen, und flüsterte weiter. Eine Botschaft für ihn, vermutete der Alte, eine, die nicht warten konnte. Er hasste wichtige Botschaften.
Musik ertönte. Ein paar hymnische Akkorde, gespielt auf einem halben Dutzend Hörnern, zwei elektronischen Violinen, einer Harfe und einigen Schlaginstrumenten. Was sich eben so angesammelt hatte und übriggeblieben war im Laufe der Jahrhunderte. Musikinstrumente pflegten sie bei den Razzien zu tolerieren.
Ein hochgewachsener, blonder Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren betrat das Bühnenpodest. Er trug eine Art Hosenrock – schwarz und sehr kurz – und eine ebenfalls schwarze, ärmellose Weste auf ansonsten nacktem Oberkörper. Ein gut gebauter Adonis, und die Baldura fing stürmisch an zu klatschen.
Ein fettleibiger Mann mit grauen Locken und in langem weißen Mantel schaukelte auf die Bühne. Der Erste Moderator. Zwei seiner Assistenten folgten ihm, blieben aber neben dem Bühnenpodest stehen. „Castor!“, rief der Erste Moderator. „Bisher einziger ungeschlagener Kandidat des diesjährigen SPIELS!“
Nach und nach fielen auch andere Zuschauer in Balduras lauten Beifall ein und applaudierten Castor Rugov, dem Sieger der Vorrunden. Etliche standen sogar auf und brüllten Bravo! oder Hoch! oder den Namen des Blonden. Andere, wie der Alte und seine Familie, klatschten mit gebotener Höflichkeit und nicht länger als unbedingt nötig.
Aus den Augenwinkeln beobachtete der Alte, wie sein Jüngster sich zu seinem älteren Bruder beugte und ihm ins Ohr flüsterte. Sein Drittgeborener wiederum neigte sich zum Ohr seiner Mutter und gab die Botschaft weiter.
Wieder Musik, ein Rotschopf in dunkelgrünem Hosenröckchen und dunkelgrüner Weste sprang auf das Podest. Er war nicht besonders groß und wirkte stämmig im Vergleich zu seinem Gegner. Aber die Art und Weise, wie er sich bewegte, hatte etwas Leichtfüßiges und Geschmeidiges.
Der Alte erhob sich und applaudierte. Seine Familie stand ebenfalls auf, und mit ihr knapp die Hälfte der inzwischen an die sechshundert Zuschauer. Lauter Jubel und Hochrufe wurden laut. Natalya schrie den Namen ihres Sohnes, andere stimmten ein. Höflicherweise stand auch die Baldura zum Klatschen auf.
„Eine Botschaft für dich“, flüsterte Natalya ihm ins Ohr, während der Applaus sich allmählich legte. „Ein Omegaraumer ist in Mississippi gelandet, schon vor fünf Tagen.“ Ungerührt klatschte er weiter. Der Applaus ebbte am, man nahm wieder Platz. „Hast du nicht verstanden?“, flüsterte seine Frau. „Ein Schiff. In Mississippi. Das kann nur der Neue sein...“ Es verwirrte sie, keine Reaktion in seiner Miene, in seinen Gesten lesen zu können.
Er nickte nur kurz. Die Nachricht ließ ihn kalt. Nach dem SPIEL würde man weiter sehen. „Rotman!“, verkündete der Erste Moderator unten auf der Bühne. „Zweiter der Vorrunden!“ Erneuter Applaus. Rotman hatte in einem technischen Wettbewerb nur ein Remis erzielt. Da jedoch sein Konkurrent zuvor schon einen Punkt abgeben musste, war er weitergekommen.
„Eine Botschaft?“, flüsterte Baldura. „Etwas Wichtiges?“ Der Alte schüttelte den Kopf. Schon wieder dieses Brennen in der Herzgegend. Leichte Übelkeit regte sich in seinen Eingeweiden.
Zwei Sessel wurden auf die Bühne getragen. Der Moderator hob zwei ISK-Kappen hoch. „Drei Durchgänge hat das letzte SPIEL!“, rief er in die Arena. „So will es die Tradition unserer Mütter und Väter! Bei Gleichstand entscheidet der persönliche Zweikampf...!“
„Eine Nachricht von Terra Prima“, tönte es aus dem Bordfunk.
„Stellen Sie durch, Canter, und dann wecken Sie die Kommandantin“, sagte Waller Roschen. Er schwebte im Kommandostand zwischen Sessel und Instrumentenkonsole.
„Man verlangt Sie persönlich, Direktor.“ Im Arbeitssichtfeld des Kommandostandes erschien jetzt ein breites, braunhäutiges Gesicht mit grauem Schnurrbart unter der gekrümmten Nase. „Ausdrücklich nicht die Kommandantin.“ Stechende Augen blitzten. Carlos Canter, Oberst der Geheimen Galaktischen Sicherheitsgarde war der Chefkommunikator der Laurin. Sein dichtes Haar lag in schweren, grauen Zöpfen auf seiner Schulter. Große, goldene Ohrringe baumelten an seinen abstehenden und seltsam verkrümmten Ohren. „Höchste Geheimhaltungsstufe, mein Direktor“, flüsterte er.
„In meine Suite durchstellen.“ Roschen schwebte vom Kommandostand. „Übernehmen Sie vorübergehend“, sagte er an die Adresse des Ersten Offiziers.
„Verstanden, mein Direktor“, bestätigte der Mann im Navigationsstand der Laurin. Er hieß Taiman Korvac, war Primoberst der GGS, und stand in dem legendären Ruf, in jeder Abteilung eines Omegaraumers und auf jeder Position einer Operationseinheit seinen Job mit gleicher Qualität und Perfektion zu erledigen. Das war natürlich übertrieben, kam der Wahrheit jedoch ziemlich nahe. Korvac hatte einen schmalen Schädel mit kurzem Schwarzhaar. Die vielen Narben in seinem kantigen Gesicht, die hochstehenden Wangenknochen und die schmalen Augen verliehen ihm etwas Verruchtes, ja Gefährliches.
Waller Roschen schwebte über die Galerie zur Luke, die in den hinteren von der Frontkuppel überwölbten Bereich führte. Dort lagen die Kabinen und Suiten der Schiffsführung; seine direkt neben der von General Anna-Luna Ferròn. Die Kommandantin bevorzugte zur Zeit allerdings die Kabine und das Bett eines Sanitäters namens Koboromajew, wenn sie sich in ihren knappen Pausen zum Schlafen zurückzog. Roschen beobachtete diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen.
In seiner Suite, über der Schnittstelle vor der Sichtkuppel, flammte das Sichtfeld auf, als die Luke sich hinter ihm schloss. Flüchtig registrierte er die Zeitangabe unten rechts – und wunderte sich: Schon der 26. März?
Im Viquafeld bauten sich Gesicht und Oberkörper eines Mittdreißigers auf. Der Mann hatte langes blondes Haar und makellose, ebenmäßige Züge. Er schien von perfekter Statur: Gerade, schlank und zugleich athletisch. Eine dunkelrote Toga lag in korrekten Falten über seiner Schulter. Darunter trug er einen schneeweißen Anzug. Auf dessen Brusttasche war kein Namensschild genäht, sondern das Emblem der Galaktischen Republik Terra: Eine goldene Spirale aus 793 Sternen auf blauem Grund.
„Wie geht es Ihnen, verehrter Roschen?“, erkundigte er sich höflich.
„Es geht mir gut genug, verehrter Gabrylon.“ Der legendäre Mann mit dem langen, blondem Haar und dem engelsgleichen Gesicht, gehörte dem ebenso legendären Sicherheitsrat von Terra Prima an. Er war dessen zweiter Vorsitzender. Und er war zur Zeit der einzige in der GRT bekannte Mensch, der den P.O.L. regelmäßig von Angesicht zu Angesicht sah. „Sie haben gehört, dass Bergen uns entkommen ist?“, erkundigte Roschen sich vorsichtig.
„O ja, verehrter Direktor, selbstverständlich habe ich es gehört. Unter großen Schmerzen.“ Das Gesicht lächelte wehmütig. „Und nun ist der Hitzkopf auf dem Weg nach Terra Prima, und eine Handvoll Gesetzesbrecher begleiten ihn.“
„Ein Skandal!“
„Sicher doch, ein Skandal. Andererseits benötigen wir solche Skandale. Sie offenbaren die Schwachstellen unserer Republik. Konnten Sie die Rheingold schon orten?“
„Nein. Und ich glaube nicht, dass wir sie einholen werden, bevor wir das Solsystem erreichen.“
„Das ist auch nicht nötig. Nun aber zum eigentlichen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: (C) ALFRED BEKKER CASSIOPEIAPRESS
Bildmaterialien: Steve Mayer
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5705-6
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