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Untote – Vier Romane

von Alfred Bekker

 

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© der Digitalausgabe 2014 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich (Westf.)

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postmaster@alfredbekker.de

 

Dieses Ebook enthält folgende Romane:

Seelenhunger

Die Insel des Magiers

Murphy und die Verdammten

Apokalyptische Reiter

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 440 Taschenbuchseiten.

Seelenhunger

Ein Zombie Roman von Alfred Bekker


1

Der Kegel des Scheinwerfers erfasste Carlo Carisi, als er die Bühne der Metropolitan Opera in New York City betrat. Sein Gesicht war bleich wie bei einem Toten, der Mund wirkte wie ein dünner Strich. Die Augen waren blutunterlaufen und vermittelten den Eindruck tödlicher Erschöpfung.

An ein Skelett erinnernde Finger umklammerten den Hals der Violine und den Bogen. Sie zitterten so sehr, dass man kaum glauben konnte, dass dieser Mann im Stande war, auch nur einen einzigen sauberen Ton auf seinem Instrument hervorzubringen.

Das Publikum hielt den Atem an.

In diesem Augenblick hätte man in der Met buchstäblich eine fallende Stecknadel hören können.

Carlo Carisi, der vielleicht größte Violin-Virtuose aller Zeiten, war auf die Bühne zurückgekehrt. Jahre der Abstinenz lagen zwischen seinem letzten Auftritt und dem heutigen Tag. Dutzende von Kritikern saßen mit gespitzten Bleistiften im Publikum, um das Spiel Carisis zu verreißen. Die meisten von ihnen glaubten, dass der große Maestro seine besten Zeiten lange hinter sich hatte.

Einer lebenden Leiche gleich, zitternd und unsicher, schritt Carisi in die Mitte der Bühne, während sich der begleitende Pianist nun ebenfalls an seinen Platz setzte.

Der erste Ton drang klagend in die Kuppel des großen Saals hinein.

Carisis Gesicht verzog sich zu einer Maske.

Die blutunterlaufenen Augen flackerten und um die dünnen Lippen herum spielte ein Lächeln so kalt wie der Tod.

Mit einem Mal schien der dürre, mumienhaft wirkende, alte Mann auf der Bühne von neuem Leben erfüllt zu sein. Vielleicht war es nur ein Lichteffekt, der durch die Scheinwerfer hervorgerufen wurde, aber fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass die pergamentartig wirkende Haut seiner Wangen wieder etwas an Farbe und Geschmeidigkeit gewonnen hatte.

In seinen Augen blitzte es.

Neue Lebenskraft durchflutete ihn offenbar - eine Kraft, die er auf geheimnisvolle Weise direkt aus seinem Spiel zog. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit schnellten seine dürren Finger jetzt über die Seiten, griffen mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit zu und sorgten für eine perlende Tonkaskade nach der anderen.

Die Klavierbegleitung hielt sich im Hintergrund, spielte nur verhaltene, dumpf klingende Akkorde, die wie eine klanggewordene Drohung wirkten.

Minuten lang lauschte das Publikum in andächtiger Stille diesem Virtuosen, dessen Kunst nun wohl über jeden Zweifel erhaben war. Die im Vorhinein formulierten Verrisse würden sich in Lobeshymnen verwandeln.

Eine geradezu hypnotische Faszination ging von dem Spiel Carisis aus. Und er genoss diesen Auftritt sichtlich. Aber es war nicht allein sein Spiel, das die Zuschauer fesselte. Ein Blick in seine kalten grauen Augen wirkte geradezu verstörend. So viel Hass, so viel blanke Wut und so viel zynische Verachtung lagen in Carisis Blick... Fast konnte man glauben, ein heiseres, schauderhaftes Gelächter aus dem Hintergrund zu hören, dass sich mit den halsbrecherischen Tonkaskaden mischte. Tänzelnd und ohne jede Unsicherheit brachte der Bogen die Seiten zum Klingen.

Immer neue und ungewöhnlichere Tonfiguren reihten sich aneinander.

Der Virtuose spielte sich geradezu in einen rauschhaften Zustand hinein.

Er schloss die Augen.

Das teuflische Grinsen blieb, wurde breiter.

Das totenbleiche Weiß seines Gesichts verwandelte sich zusehends in einen rosigeren Farbton.

Als ob seine welke Haut von neuem Leben erfüllt wurde, je intensiver er sich seinem Spiel widmete.

Carisi wirkte wie in Trance.

Dann drang plötzlich ein krächzender Laut aus der ersten Reihe des Publikums.

Ein Mann in Abendgarderobe rutschte von seinem Stuhl.

Ein Raunen ging durch die Menge. Jemand eilte zu Hilfe, eine Frau rief: "Einen Arzt!"

"Ich bin Arzt“, antwortete ein breitschultriger, grauhaariger Mann mit dunklem Teint, der ein paar Reihen weiter hinten seinen Platz hatte.

"Kommen Sie!"

Unbeirrt fuhr der Virtuose mit seinem Spiel fort.

Seine Augen blieben geschlossen. Was beim Publikum geschah schien er nicht zu bemerken, so sehr hatte er sich in einen vollkommen entrückten Zustand hineingespielt.

"Mein Gott! Richard!“, rief eine Frauenstimme. "Er war doch noch nicht einmal vierzig und jetzt sieht er aus wie..."

"Er ist tot, Ma'am“, stellte der Arzt fest, der sich über den am Boden Liegenden gebeugt hatte.

Inzwischen war im Publikum ein derartiger Tumult ausgebrochen, dass die Töne des Virtuosen kaum noch durchdrangen.

"Meine Haare!“, schrie eine Männerstimme. "Sie sind ganz grau geworden!"

Eine Frau begann laut und durchdringend zu kreischen.

Aufgeregte Stimmen redeten durcheinander.

Die Menge geriet in Bewegung.

"Ich muss hier raus!“, schrie jemand in heller Panik. Ordner bemühten sich verzweifelt darum, die aufkommende Unruhe unter Kontrolle zu halten.

Ein Mann im Smoking ging auf die Bühne, trat ans Mikrofon und redete beschwörend auf die Menge ein.

"Bewahren Sie bitte Ruhe!“, rief er heiser.

Niemand hörte auf ihn.

Der Virtuose nahm indessen die Geige vom Hals. Sein Lächeln war breit, fast so als würde er sich spöttisch über das Geschehene amüsieren und leise in sich hineinkichern. Carisi atmete tief durch.

Ja, dachte er. Die Kraft, die alles Lebendige durchströmt und so verflucht kostbar ist... Sie ist wieder da!



2

Es gibt Tage, an denen nichts klappt - und dieser Abend in der Met gehörte ganz bestimmt dazu. Das allgemeine Chaos, das im Inneren des Operngebäudes ausgebrochen war, hatte mich mit hinaus ins Freie gespült und ich war froh, mit einigermaßen heiler Haut davongekommen zu sein. Nur mein Smoking war etwas ramponiert, weil irgend jemand unbedingt gemeint hatte, sich daran festhalten zu müssen.

Mein Wagen stand in einer Nebenstraße. Es war kalt und feiner Nieselregen ging nieder. Mein Mantel war noch in der Garderobe, aber ich hatte keine Lust, mir jetzt die halbe Nacht damit um die Ohren zu schlagen, mich dort in eine endlose Schlange einzureihen. Es reichte, wenn ich ihn mir in den nächsten Tagen wiederholte.

Ich schlug den ramponierten Kragen des Smokings hoch und vergrub die Hände in den Taschen.

Mein Wagen stand am Straßenrand

Ich hatte ihn noch nicht erreicht, da ließ ein Geräusch mich herumfahren.

Schnelle Schritte.

Eine junge Frau rannte in Panik auf mich zu. Ihrer Kleidung nach hatte sie ebenfalls zu jenem Publikum gehört, das Zeuge von Carlo Carisis Comeback hatte werden wollen, bevor eine Art Massenhysterie die Fortsetzung des Konzerts verhinderte.

Die junge Frau lief barfuß.

Die hochhackigen Schuhe hielt sie in den Händen. Das nussbraune Haar fiel ihr bis weit über die Schultern. Sie drehte sich immer wieder keuchend um, blickte zurück zu ihren Verfolgern, die jetzt um die Ecke kamen.

Es waren vier Personen.

Sie schienen sich ihrer Sache ganz sicher zu sein, jedenfalls legten sie nicht die geringste Eile an den Tag. Als die Verfolger in das flackernde Licht traten, das von der Neonreklame einer Boutique verbreitet wurde, sah ich ihre Gesichter.

Unwillkürlich erfasste mich kalter Schauder.

Wie Totenschädel, durchfuhr es mich.

Die Gesichter der Verfolger hatten etwas Mumienhaftes an sich. Die Haut wirkte wie Pergament. Bleich und faltig spannte sie sich über die Knochen. Die Augen waren starr und...

...tot!, dachte ich sofort, obwohl das natürlich absurd war. Erst jetzt sah ich, dass auch eine Frau unter den Verfolgern war. Ihrer Kleidung nach bestand die Verfolgergruppe ebenfalls aus Personen, die gerade einen Opernbesuch hinter sich hatten. Die Frau trug ein Abendkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, die Männer trugen Smoking.

Wie gebannt starrte ich ihnen entgegen.

Die junge Frau hatte mich inzwischen erreicht. Sie blieb stehen, rang nach Luft. Das lange Abendkleid behinderte sie ziemlich beim Laufen.

Sie wandte sich noch einmal kurz zurück, sah den Verfolgern entgegen, die ihr mit seltsam mechanischen Bewegungen folgten.

Wie Marionetten, dachte ich.

Oder wie Zombies...

Du hast zu viele miese Filme gesehen!, schalt ich mich gleich darauf einen Narren.

"Sie sind in Schwierigkeiten, Ma'am?“, fragte ich.

Sie antwortete nicht.

Panik leuchtete in den Augen der jungen Frau auf. Sie starrte an mir vorbei die Straße entlang. Auch von dort näherten sich jetzt einige schattenhafte Gestalten. Nur als dunkle Umrisse waren sie erkennbar, aber die marionettenartige Art und Weise ihrer Bewegungen sprach für sich.

Die junge Frau deutete auf meinen Wagen.

"Ist das Ihrer?"

"Ja."

"Nehmen Sie mich mit! Bitte!"

"Von mir aus..."

"Schnell! Sonst ist es zu spät!"

Ihre Stimme vibrierte. Sie zitterte halb vor Kälte, halb vor Furcht. Ich schloss ihr die Beifahrertür des Chryslers auf, sie stieg ein. Ich umrundete die Motorhaube, blieb kurz stehen und warf noch einen Blick auf die Verfolger, die sich von allen Seiten näherten.

Dann stieg ich ebenfalls ein und setzte mich ans Steuer.

"Was haben Sie für einen Ärger mit denen?“, fragte ich.

"Nun machen Sie schon!“, schrie sie mich an.

"Sicher - ich weiß nur ganz gerne, worauf ich mich einlasse!"

Ich startete den Wagen, lenkte ihn nach links auf die Fahrbahn.

Die bleichen Schattengestalten postierten sich mitten auf der Straße.

Ich fuhr hupend auf sie zu. Das beeindruckte sie allerdings nicht im mindesten.

"Fahren Sie einfach! So fahren Sie doch!“, rief die Frau, außer sich vor Furcht.

"Sind Sie wahnsinnig?"

Ich bremste. Mochte die junge Frau neben mir auch noch sehr in Not sein - ich hatte nicht die Absicht, einen kaltblütigen Mord für sie zu begehen. Schon gar nicht, so lange ich nicht wusste, worum es überhaupt ging und wer im Recht war.

Die Reifen quietschten.

Der Chrysler rutschte ein Stück über den feuchten Asphalt und blieb nur wenige Meter von den Schattengestalten entfernt stehen.

"Es wäre wirklich nett, wenn Sie mir ein blasse Ahnung davon geben würden, was hier eigentlich gespielt wird", raunte ich meiner Beifahrerin zu. "Wer weiß, vielleicht sind die da draußen im Recht und suchen Sie, um Sie dem Gesetz zuzuführen!"

"Sehen die vielleicht wie Cops aus?“, rief sie. "Die werden Sie und mich umbringen!"

"Das werden wir sehen", sagte ich und griff unter mein Jackett, wo eine großkalibrige Automatik im Holster steckte.

Die junge Frau sah mich mit großen Augen an.

"Ich bin Privatdetektiv", erklärte ich ihr.

"Stecken Sie das Ding weg! Sie werden damit nichts ausrichten!"

"Ach - aber ich hätte diese Leute einfach überfahren sollen, ja?"

Ich öffnete die Tür, die Waffe im Anschlag.

"Gehen Sie aus dem Weg!“, rief ich.

Kehlige, beinahe tierische Laute drangen mir entgegen. Die bleichen Schattengestalten näherten sich weiter. Sie waren völlig unbeeindruckt!

"Stehen bleiben!", rief ich noch einmal. Aber ich dachte nicht im Ernst daran zu schießen. Nicht auf Unbewaffnete - und das waren diese Männer und Frauen offenbar.

"Mit Ihrer Waffe können Sie nichts ausrichten!“, rief die junge Frau vom Beifahrersitz. "Kommen Sie in den Wagen zurück..."

Da hatte die erste dieser zombiehaften Gestalten mich erreicht. Ich blickte in ein aschgraues, faltiges Gesicht, eine mumienhafte Fratze des Todes... Eisige Schauder überkamen mich und ich begann zu ahnen, dass meine Gegenüber kaum noch etwas Menschliches an sich hatten...

Dürre Finger - kaum mehr als von pergamentartiger Haut überspannte Knochen - packten mich mit einer Kraft, die ich ihnen niemals zugetraut hatte. Ein heftiger Stoß erfasste mich, schleuderte mich einige Meter weiter. Hart kam ich auf den Asphalt, rollte mich ab und versuchte so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu kommen.

Eine geradezu unmenschliche Kraft hatte in den dürren Armen meines Gegenübers gesteckt.

Die junge Frau schrie.

Glas klirrte.

Einer der Zombies hatte mit einem einfachen Faustschlag die Scheibe der Beifahrertür zerschlagen. Die junge Frau wehrte sich verzweifelt, während sich Knochenhände würgend um ihren Hals legten. Ich hob die Automatik und feuerte. Mein Schuss fegte dicht über das Dach des Chryslers hinüber und traf den Würger an der Schulter. Die Wucht, mit der das Projektil durch seinen Smoking hindurchfetzte, riss ihn zurück.

Sein totenbleiches Gesicht wirkte irritiert. Die leeren Augen suchten nach mir. Ihre Farbe veränderte sich. Sie wurden glühend rot. Ein grunzender Laut kam über die aufgesprungenen, blutleeren Lippen. Ein wütendes Brüllen, kein Schmerzenslaut.

Mit den Händen betastete er die Stelle, an der er getroffen worden war. Die Wunde blutete nicht. Und sie schien den Mann auch nicht weiter zu beeinträchtigen.

Das geisterhafte Leuchten in seinen Augen begann zu pulsieren. Die junge Frau öffnete die Tür, knallte sie mit voller Wucht gegen den Leib des Würgers, der erneut nach ihr greifen wollte. Ehe er das tun konnte, verpasste ich ihm einen weiteren Schuss in den Oberkörper, der ihn etwa einen Meter zurücktaumeln ließ. Schwankend stand er da, während die junge Frau um ihr Leben rannte.

Auch wenn ihre Verfolger über eine geradezu unheimliche Kraft verfügten, so waren ihre Bewegungsabläufe doch verhältnismäßig langsam.

Die Frau wich einem der Zombies geschickt aus, dann erreichte sie mich.

"Hatte ich es Ihnen nicht gesagt?“, keuchte sie.

Mir fiel der in Silber gefasste dunkelrote Stein auf, den sie um den Hals trug. Für einen Moment glaubte ich, darin ein Schimmern erkennen zu können. Ein Schimmern, das mich an das gespenstische Leuchten in den Augen jenes mumienhaften Würgers erinnerte, den ich angeschossen hatte.

Aber das war vielleicht auch Einbildung...

"Vorsicht!“, rief sie.

Ich wirbelte herum, sah gerade noch eine bleiche Hand auf mich zukommen. Vor mir erhob sich eine massige Gestalt, mindestens anderthalb Köpfe größer als ich. Der Mann, der sich jetzt auf mich stürzte, wirkte ebenso mumienhaft wie die anderen Verfolger. Auch in seinen Augen blitzte es kurz dunkelrot auf.

Ich wich zurück, während mein Gegenüber einen wütenden Laut ausstieß.

Ich feuerte zweimal hintereinander.

Die Gestalt wankte zurück.

Das totenbleiche Gesicht verzog sich ungläubig.

"Dort hin!“, rief unterdessen die junge Frau. Wir rannten zwischen den Reihen der sich marionettenhaft und fast wie in Zeitlupe bewegenden Verfolger hindurch.

Sie drehten sich zu uns um, änderten ihre Bewegungsrichtung, waren aber nicht schnell genug. Wütende, brüllende Laute drangen durch die Nacht. Wir rannten auf eine Nische zwischen zwei Häusern zu.

Ein schmaler Weg führte dort her. Hier herrschte beinahe völlige Dunkelheit. Sekundenlang konnte ich kaum etwas sehen. Dann erreichten wir einen Innenhof. Der Zugang zur Hauptstraße war durch eine etwa zwei Meter hohe Mauer versperrt.

Aber es war die einzige Möglichkeit, diesen Innenhof zu verlassen, wollten wir nicht unseren Verfolgern direkt in die Arme laufen.

Die junge Frau hatte offenbar denselben Gedanken. Als wir die Mauer erreichten, half ich ihr hinauf. Das Abendkleid behinderte sie.

Es riss.

Sie schaffte es, sich hinaufzuziehen und auf der anderen Seite hinunterzuspringen. Ich folgte ihr nur Augenblicke später.

Sie atmete tief durch und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Wir standen auf dem Bürgersteig einer dicht befahrenen Geschäftsstraße. Es war fast taghell hier. Die Scheinwerfer der Autos sorgten dafür genauso wie die flackernden Leuchtreklamen der Geschäfte. Nur der Himmel war grauschwarz.

Ich sah die Frau mit den nussbraunen Haaren fragend an. Sie umfasste den Stein, den sie an einer silberfarbenen Kette um den Hals trug.

Sie schluckte, musterte mich dann mit einem schwer zu deutenden Blick.

"Das war knapp", stellte ich fest.

Sie nickte nur.

Besorgt drehte sie sich zu der Mauer um, die wir gerade überwunden hatten. "Gehen wir", murmelte sie. "Hier sind wir noch nicht in Sicherheit..."

"Vielleicht erklären Sie mir mal, worum es hier eigentlich geht", sagte ich.

Ihre dunklen Augen musterten mich einige Sekunden lang prüfend.

Ein mattes Lächeln flog über ihr Gesicht. "Ich kann Sie verstehen..."

"Ach, wirklich? Ich schieße auf jemanden, ehe er Sie umbringt, treffe auch und muss feststellen, dass mein Gegner offenbar eine kugelsichere Weste trägt..."

"Nicht hier!“, unterbrach sie mich. "Kommen Sie!"

Am Straßenrand hielt ein Taxi, aus dem gerade jemand ausstieg.

"Warten Sie!“, rief meine Begleiterin dem Fahrer zu, der uns beide zunächst einmal misstrauisch musterte. Bei dem ramponierten Aufzug konnte ich ihn verstehen.

"Wir haben das nötige Geld dabei!“, versuchte ich ihn zu beruhigen.



3

Die junge Frau sorgte dafür, dass wir kreuz und quer durch die Stadt chauffiert wurden. Offenbar hielt sie das für nötig, um Verfolger abzuschütteln.

"Lucas Gordon, Privatdetektiv", stellte ich mich ihr vor. "Und wer sind Sie?"

"Rebecca...", flüsterte sie.

"Haben Sie auch einen Nachnamen?"

"Je weniger Sie über mich wissen, desto besser, Mr. Gordon. Es tut mir leid, dass ich Sie da in etwas hineingezogen habe, von dem Sie besser nie erfahren hätten..."

Ich hob die Augenbrauen. "Es ist nicht Ihr Ernst, dass Sie mich damit abspeisen wollen!"

"Den Schaden an Ihrem Wagen werde ich natürlich ersetzen. Und ansonsten: Vergessen Sie mich. Je schneller desto besser!"

"So einfach kommen Sie mir nicht davon. Was ist dort im Konzertsaal geschehen? Diese merkwürdigen Leute, die hinter Ihnen her waren, sahen aus, als wären sie auch dort gewesen..."

"Das waren sie auch!"

"Aber eine Ansammlung von solchen Mumien wäre nicht nur mir aufgefallen!"

"Sie haben keine Ahnung, Mr. Gordon."

"Nennen Sie mich Luke."

Rebecca lächelte matt. "Da wir uns niemals wiedersehen werden, sind derartige Vertraulichkeiten wohl überflüssig!"

"Wie auch immer: Wieso meinen Sie, dass mir diese Leichenschädel nicht im Konzertsaal auffallen konnten? Vielleicht gilt das für einen oder auch eine Handvoll von Personen, die so aussahen... Aber es waren fast zwei Dutzend Leute hinter Ihnen her, Rebecca - oder wie immer Sie auch in Wirklichkeit heißen mögen!"

Sie atmete tief durch. Mit schnellen, etwas fahrig wirkenden Handbewegungen ordnete sie ihre Haare. Das Zittern konnte sie dabei kaum unterdrücken. Ganz gleich wie cool und abgebrüht sie ansonsten auch tat - das Geschehene hatte auch bei ihr seine Spuren hinterlassen.

So sehr sie auch versuchte, die äußeren Anzeichen dafür zu unterdrücken.

Sie beugte sich nach vorn und wandte sich an den Fahrer.

"Lassen Sie mich bitte bei der nächsten Subway-Station aussteigen, Sir!"

"Kein Problem, Ma'am."

"Ich dachte, wir suchen uns eine hübsche Bar und Sie erzählen mir alles schön haarklein!“, mischte ich mich ein.

"Hatte ich Ihnen nicht schon gesagt, dass ich nichts davon halte?"

"Was haben Sie gegen mich?"

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Hand berührte meinen Unterarm und mir fiel erneut der dunkelrote Stein auf, den sie um den Hals trug.

Spiegelte sich nur das Licht der Scheinwerfer und Neonreklamen darin?

Oder leuchtete er aus eigener Kraft? In der Seitenstraße, in der uns die mumienhaften Schattengestalten begegnet waren, hatte ich kaum Zweifel daran gehabt, dass von diesem eigenartigen Stein ein Leuchten ausging.

Eine Lichterscheinung, die mich in erschreckender Weise an die glühenden Augen der Verfolger erinnert hatte...

"Ich habe nichts gegen Sie", erklärte sie. "Ich mag Sie sogar. Sie haben versucht mir zu helfen, als ich in Lebensgefahr war und sich dabei selbst in Gefahr gebracht."

"Hätte ich nicht gerade deswegen ein Recht mehr zu erfahren?"

"Ich würde Sie nur unnötig in Gefahr bringen."

"Lassen Sie das mal meine Sorge sein..."

"Sie Ahnungsloser..."

Wir sahen uns an.

Ihr Gesicht war feingeschnitten und sehr hübsch. Ich war mir in dieser Sekunde sicher, dass ich es so schnell nicht vergessen würde.

"Woher wussten Sie, dass die Kerle schusssichere Westen unter ihren Anzügen trugen? Müssen Qualitätswesten gewesen sein, die auch die Schultern noch schützen und nicht so auftragen nicht diese mordsschweren Uralt-Modelle, die die Cops verwenden..."

"Ich wusste es nicht", widersprach sie mir und wirkte abwesend dabei.

"Sie sagten, dass ich mit meiner Automatik nichts ausrichten könne..."

Ihre dunklen Augen musterten mich nachdenklich.

"Das entspricht auch den Tatsachen, Luke. Die Gestalten, denen wir begegnet sind, waren in gewissem Sinne bereits tot..."

Ich starrte sie an.

"Was reden Sie da?"

Jetzt meldete sich der Taxifahrer zu Wort.

"Da vorne an der Ecke ist eine Subway-Station, Ma'am!"

"Danke."

Sie riss die Tür auf und lief ins Freie.

"Rebecca!“, rief ich ihr hinterher. Aber schon nach wenigen Augenblicken war sie zwischen den Massen von Passanten verschwunden, die sich um die Subway-Station herum drängelten.

"Sie übernehmen doch die Rechnung, Sir?“, erkundigte sich der Fahrer etwas besorgt.

"Sicher", knirschte ich zwischen den Zähnen hindurch.

"Und wohin jetzt bitte? Oder wollen Sie die Fahrt auch mit der Subway beenden?"

Ich hatte für den leicht zynischen Humor des Taxifahrers im Moment keinen Sinn.

"In die Mott Street, bitte", wies ich ihn an. Dort befanden sich im dritten Stock eines ehemaligen Lagerhauses meine Wohnung sowie das Detektivbüro, das ich zusammen mit einem Partner betrieb.



4

Carlo Carisi stand auf dem Balkon seiner Suite im Excalibur Hotel am Broadway und sog die kühle Nachtluft ein.

Der leichte Nieselregen störte ihn nicht.

Carisi spürte, wie die Kraft des Lebens ihn durchflutete...

Eine Kraft, von der er beinahe schon vergessen hatte, wie sie sich anfühlte.

Viel zu lange ist es her, dachte er, während er dem Spiel der Lichter von New York City zusah, jener Stadt, von der es hieß, dass sie niemals schlief...

Carisi hob die Hände, betrachtete sie.

Sie waren immer noch knochendürr, aber die Haut spannte sich jetzt viel straffer um sie.

Carisi lächelte.

Ja, dieses Gefühl der Kraft...

Er wollte es nie wieder missen!

Nie wieder die Nähe des Todes spüren, nie wieder den eisigen Atem des Verfalls, der unabwendbar zum Ende hinführte. Zur Verwesung...

Vergiss nicht, dass du Staub bist!, meldete sich eine Stimme in seinem Inneren. Vergiss es nicht...

"Das werde ich nicht", murmelte Carisi halblaut vor sich hin. Und dann lachte er. Der Klang seiner heiseren Stimme verschmolz mit dem Straßenlärm, der vom Broadway heraufdrang. Ja, dachte er, so viele Seelen sind dort unten...

Mehr Seelen, als der unheimliche Hunger, der Carlo Carisi beherrschte, selbst in Jahrhunderten fordern würde...

In diesem Moment drang ein Klopfen in die Gedanken des Virtuosen.

Es kam von der Tür seiner Tür her und war ziemlich heftig.

"Mr. Carisi?"

Carisis Gesicht veränderte sich, wurde wieder zu einer harten, kalten Maske. Er strich sich über die glatter gewordene Haut seiner Wangen, verharrte noch einen Moment und trat dann durch die Balkontür zurück in die Suite.

"Herein!“, sagte er zur Tür gewandt. "Es ist offen."

Ein massiger, fast zwei Meter großer Mann trat ein. Das Gesicht war aufgeschwemmt, der Kopf von einem dünnen Haarkranz umrandet.

Sein Name war Ted Barnes. Er war der Konzert-Agent, bei dem Carisi derzeit unter Vertrag stand. Barnes' Gesichtsausdruck wirkte verstört. Er schien das, was während des Konzertes geschehen war, noch immer nicht verdaut zu haben.

"Mr. Carisi, ich muss mit Ihnen sprechen..."

"Jetzt noch - um diese Zeit?“, fragte Carisi.

Barnes trat auf Carisi zu, blieb dann abrupt stehen und starrte den Virtuosen fast ungläubig an.

"Was ist, Mr. Barnes?“, wisperte Carisi leise. Ein drohender, gefährlicher Unterton schwang in diesen Worten mit. Carisis Züge zeigten Entschlossenheit. Mit festem Blick fixierte er sein Gegenüber.

"Der Mann, der während des Konzerts zusammenbrach..."

"Er ist tot, ich weiß, Mr. Barnes. Warum reden wir über diese Dinge?"

"Es hat noch einen Toten gegeben. Eine Frau. Sie konnten von der Bühne aus nicht sehen, wie sie zusammengebrochen ist und..."

"Mr. Barnes, sie langweilen mich", lächelte Carisi.

"Diese Leute sahen aus wie Greise, als man ihren Tod feststellte! Und nicht nur sie! Ich habe mit den Security-Leuten und den Ordnern gesprochen. Und sie haben dasselbe gesehen wie ich... Menschen, die innerhalb von Augenblick zu Greisen wurden, während Sie spielten!"

"Mr. Barnes, ich bin müde."

"Wirklich? Sie sehen gar nicht so aus. Ganz im Gegenteil, Sie wirken, als ob Sie gerade eine Art Frischzellenkur hinter sich hätten!"

"Gute Nacht, Sir!"

Barnes packte Carisi, der sich halb abgewandt hatte, bei den Schultern und drehte ihn zu sich herum. Die Nasenflügel des Konzert-Agenten bebten vor Erregung. In seinen Augen flackerte es unruhig.

Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

"Oh, nein, Carisi, so einfach kommen Sie mir nicht davon. Ich habe Männer und Frauen gesehen, die binnen Sekunden um Jahre alterten, denen die Haut eintrocknete wie bei einer Mumie, die jahrelang in den luftabgeschlossenen tiefen eines Moores gelegen hat. Die Haare wurden grau und dünn..."

Carisis Blick war eisig.

Eine geradezu gespenstische Intensität ging von ihm aus, die den Konzertagenten unwillkürlich verstummen ließ. Barnes schreckte zurück.

Ein dunkelrotes Leuchten glomm in Carisis Augen auf, flackerte auf wie bei glühenden Kohlen, die durch einen Luftzug angeheizt werden.

Dann war es wieder vorbei.

Barnes schluckte, wich einen Schritt zurück.

"Ich war von Anfang an nicht begeistert von dem Gedanken, ein Comeback mit Ihnen zu managen", sagte er dann fast tonlos. Die Schweißperlen auf seiner Stirn hatten sich dramatisch vermehrt. Sein Atem ging schwer, so als hätte er gerade einen anstrengenden Lauf hinter sich gehabt.

Carisi bleckte die Zähne.

Seine Lippen waren nicht länger blutleere, unscheinbare Striche, sondern dunkelrot und voll.

"Sie haben es mir nicht zugetraut, dass ich überhaupt noch einen vernünftigen Ton auf meinem Instrument hervorzubringen vermag... Aber da waren Sie nicht der Einzige! Allerdings weiß ich nicht, worüber Sie sich beschweren! An der Qualität meines Spiels hat es sicherlich nicht gelegen, dass der Abend im Chaos endete..."

Carisi ging zu dem runden Holztisch, auf dem er die Violine abgelegt hatte. Er nahm das Instrument, klemmte es sich unter das Kinn...

"Ich möchte die weiteren Konzerte mit Ihnen absagen", erklärte Barnes unmissverständlich, bevor Carisi den ersten Ton gespielt hatte.

Carisi war fassungslos.

Er starrte Barnes an.

"Was?"

"Ich habe Sie beobachtet, Carisi. Irgendwas stimmt mit Ihnen nicht... Ich kann nicht genau sagen was und außerdem habe ich auch wenig Lust, dass mich jemand in die Klapsmühle wirft. Ich weiß nur eins - ich will damit nichts zu tun haben!"

"Das können Sie nicht tun!“, zeterte Carisi.

"Oh, doch, das kann ich!"

"Wir haben einen Vertrag!"

"Sie bekommen die vereinbarte Summe als Konventionalstrafe und damit ist für mich der Fall erledigt..."

Carisi ließ die Violine sinken.

Er schien geradezu einige Zentimeter in sich zusammen zu schrumpfen. Stumm schüttelte er den Kopf.

"Sie wissen nicht, was sie da tun", murmelte er.

Barnes zuckte die Achseln.

"Mag sein", gestand er zu, "aber die Entscheidung ist endgültig."

"Spielen... das ist für mich das Leben!", rief Carisi mit einem Unterton, der seine Verzweiflung ahnen ließ.

"Tut mir leid"

"Aber - Warum? Wegen den Toten im Konzertsaal? Was kann ich dafür?"

"Und der tote Taxifahrer, der Sie gestern chauffiert hat? Heute steht er in der Zeitung... Niemand kann sich erklären, was mit ihm geschehen ist, außer Ihnen, Mr. Carisi. Da bin ich mir inzwischen sicher!"

"Reden Sie doch keinen Unsinn, Barnes!"

Aber der Konzertagent blieb kompromisslos. "Ich will einfach nicht mehr, Mr. Carisi. Leben Sie wohl..."

Barnes drehte sich herum, ging mit schnellen Schritten auf die Tür der Suite zu.

Carisi hob unterdessen die Geige an.

Sein Gesicht war zur Grimasse verzerrt. Scharfe Linien durchzogen es holzschnittartig. Die Augen traten hervor und mit einer ruckartigen, harten Bewegung strich Carisi den Bogen über die tiefe G-Saite. Ein durchdringender, schneidender Ton war zu hören, schwoll an, wurde lauter und mündete schließlich in ein beunruhigendes Tremolo.

Barnes stoppte abrupt.

Seine Hand, die schon die Türklinke berührt hatte, zog sich wie unter dem Einfluss einer fremden Macht zurück. Ruckartig, so als würden unsichtbare Hände ihn dazu zwingen, drehte er sich um, taumelte dann dem Virtuosen entgegen, so als wäre er gestoßen worden.

Barnes kam zu Boden.

Der blanke Schrecken stand in seinen Augen.

Er spürte zweifellos die unheimliche Kraft, die nach ihm griff, ihn zu beherrschen begann und ihm nicht mehr den geringsten Spielraum zum Handeln gab.

Ein teuflisches Grinsen stand auf Carisis Gesicht, während die Finger seiner linken Hand jetzt zu ihren berühmten, mit traumwandlerischer Sicherheit durchgeführten Läufen ansetzten. Der Bogen tanzte dazu über die Seiten. Ein eigenartiges Tongewirr entstand. Es war keine melodische Struktur, die der Virtuose da erschuf, sondern ein fremdartiges, bizarres Klanggebilde, das in seiner Kälte und Leidenschaftslosigkeit an Töne erinnerte, wie sie von Insekten erzeugt wurden.

Carisis Kichern mischte sich in sein Geigenspiel hinein, während die massige Gestalt des Konzertagenten förmlich zusammenschmolz. Die Fettpolster verschwanden auf geheimnisvolle Weise. Barnes starrte voller Grauen auf seine fleischigen Hände, die innerhalb eines Augenblicks nur noch aus dürrer, eingetrockneter, sich leicht bräunlich verfärbender Haut bestand, die sich eng um die skelettartig hervortretenden Knochen legte.

Barnes' gesamter Körper machte diese Verwandlung durch, während Carisis Geigenspiel immer halsbrecherischer wurde.

Mit kalter Perfektion ließ er ein ungewöhnliches Intervall dem Nächsten folgen.

"Nein“, hauchte es über Barnes' inzwischen kaum noch vorhandene Lippen.

Der Konzertagent versuchte verzweifelt, gegen die unsichtbaren Kräfte anzukämpfen, die ihn fesselten. Aber im Grunde wusste er längst, dass er nicht den Hauch einer Chance gegen diese Macht hatte, die jetzt in sein Innerstes drang.

Meine Seele, durchfuhr es Barnes mit eisigem Schrecken.

Mein Leben...

Seine Augen wurden starr. Sein Gesicht war nicht wiederzuerkennen.

Dicht legte sich die pergamentartig veränderte Haut um seinen fleckigen Totenschädel.

Aber der Verfall ging noch weiter.

Immer wahnwitziger wurde das Spiel des Virtuosen, der jetzt eine schräge Folge dissonanter Doppelgriffe vollführte.

Kraft!, durchzuckte es ihn.

Mehr Kraft...

Dieser Hunger...

Carisi schloss die Augen.

Sein Gesicht zeigte Züge einer geradezu satanischen Verzückung.

Wie entrückt setzte er sein Spiel fort, ließ sich treiben von der Macht der Töne...

Ted Barnes Totenschädel zerfiel indessen zu feinem, grauem Staub, der einen leichten Modergeruch in der Suite verbreitete.

Endlich erwachte Carisi aus seiner Trance.

Sein Spiel endete abrupt, ohne Kadenz, ohne erkennbares Ende. Er atmete tief durch, genoss das Gefühl der Kraft, das ihn durchströmte und blickte dann auf den dunklen Anzug zu seinen Füßen. Einen Anzug, der mit Sicherheit die Maße jeder Konfektionsgröße sprengte. Jetzt war er gefüllt mit aschgrauem Staub, der aus Ärmeln und Hosenbeinen herausrieselte.

Carlo Carisi lächelte.

Vergiss nicht, dass du Staub bist!, dachte er zynisch und kicherte dabei wie von Sinnen.

Du bist maßlos geworden in deiner Gier!, meldete sich die warnende Stimme in ihm. Maßlos in deiner Gier nach Leben!

Und wenn schon!, erwiderte er in Gedanken. Ist vielleicht irgend etwas dagegen einzuwenden?

Aber die Stimme ließ sich nicht einschüchtern.

Wer weiß, vielleicht bringt diese Gier dir den Tod, meldete sie sich klirrend kalt zu Wort.



5

Als ich unser Büro in der Mott Street erreichte, war es schon weit nach Mitternacht.

Das Office des Detektivbüros Gordon & Delcourt bildete die eine Hälfte eines ehemaligen Lagerraums, der von einer Wand durchzogen wurden. Die zweite Hälfte war meine Wohnung. Greg Delcourt, mein Partner, bewohnte ein Apartment, das nur fünf Minuten entfernt über einem Coffee Shop lag, in dem wir beide oft zusammen frühstückten.

Im Office war noch Licht.

Greg hielt noch die Stellung.

Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er schon längst zu Hause war. Aber statt dessen saß er vor dem Computer unserer Agentur. Greg war schwarz, etwa einsachtzig groß und trug den Kopf kahlrasiert. Ich hatte ihn kennengelernt, als er noch Rausschmeißer in einer üblen Bar in Harlem gewesen war - und ich ein Cop, der etwas gegen die Drogengeschäfte unternehmen musste, die dort liefen.

Aber das war lange her.

Jetzt zogen wir an einem Strang - und das auf eigene Rechnung.

Greg war ein Ass auf dem Computer.

Und für einen Private Investigator ist das in unserer Zeit mindestens genauso wichtig, wie in früheren Zeiten vielleicht die Fähigkeit war, jemanden unauffällig zu observieren. Wenn man wusste, wo man sich einloggen musste, konnte man unter Umständen auf dem Daten-Highway mehr über jemanden erfahren, als wenn man ihm Tag für Tag auf Schritt und Tritt folgte.

Greg sah auf.

Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

"Na, warst du erfolgreich?"

Ich war nicht zum Vergnügen in das Carisi-Konzert gegangen, sondern weil ich jemanden für die Agentur hatte beschatten sollen. Ein Elektronik-Unternehmen hatte uns beauftragt, herauszufinden, ob einer der Leiter der Entwicklungsabteilung sich möglicherweise mit der Konkurrenz traf. Ein Carisi-Konzert war dazu natürlich eine gute Möglichkeit. Dazu kam noch, dass das Interesse dieses Mannes für klassische Musik ganz plötzlich entstanden zu sein schien. So lag es nahe anzunehmen, dass er wohl nicht nur des Violinspiels eines großen Meisters wegen in die Met gekommen war...

Aber nun war es müßig, darüber weiter nachzudenken.

In dem Chaos dieses Abends hatte ich das Objekt meiner Observation natürlich verloren.

Greg sah mich mit gerunzelter Stirn an.

"Hey, was ist, Luke?"

Ich zögerte, ehe ich ihm dann in knappen Worten die ganze Story erzählte. Ich zögerte, obwohl ich Greg vertraute, wie sonst niemandem auf der Welt. Aber das, was ich in dieser Nacht erlebt hatte, sprengte einfach den Rahmen dessen, was ein normaler Mensch für wahr halten konnte, ohne selbst in den Verdacht zu geraten, ein Narr zu sein.

Greg lehnte sich zurück.

Er sah mich an, öffnete den Mund, als ich von Rebecca zu erzählen begann und vergaß ihn wieder zu schließen.

Nach einer längeren Pause des Schweigens sagte er schließlich: "Mumienhafte Greise, die mit kugelsicheren Westen hinter einer jungen Frau herlaufen und sich wie Zombies bewegen... Das klingt nicht gerade nach dem Stoff, aus dem nüchterne Observationsprotokolle sind!"

"Greg..."

"Wenn ich nicht wüsste, dass du überzeugter Antialkoholiker bist..."

"Gleichgültig, was du jetzt von mir hältst, ich weiß, was ich gesehen habe, Greg!"

"Vielleicht schläfst du erstmal 'ne Nacht drüber, Luke!"

Greg sah mich sehr ernst an.

Es war ihm anzusehen, dass er sich ernsthafte Sorgen um mich machte.

"Was ist mit dem Wagen?“, fragte er dann.

Ich zuckte die Achseln.

"Ich hielt es nicht für klug, jetzt noch einmal an den Ort des Geschehens zurückzukehren. Schließlich habe ich geschossen und ich möchte nicht riskieren, dass einer der Anwohner mich identifiziert!"

Greg nickte.

"Verstehe. Ich hoffe nur, dass aus der ganzen Sache kein Ärger resultiert..."



6

Am nächsten Morgen weckte mich ein Lieutenant der City Police aus dem Schlaf und teilte mir mit, dass ein auf meinen Namen zugelassener Chrysler in ziemlich ramponiertem Zustand aufgefunden worden war.

"Es hat in der Gegend eine Schießerei gegeben, wie uns Anwohner mitgeteilt haben. Wir vermuten eine Auseinandersetzung zwischen Jugendbanden...", berichtete der Sergeant. "Wieso hatten Sie übrigens Ihren Wagen dort abgestellt?"

"Ich war in dem Carlo-Carisi-Konzert, aber nach dem Chaos, das gestern Abend in der Met herrschte, dachte ich mir, dass ich wahrscheinlich schneller zu Hause bin, wenn ich die Subway benutze und den Wagen am nächsten Tag abhole..."

Der Sergeant nickte.

"Ich verstehe", murmelte er und ließ dabei den Blick durch das unaufgeräumte Büro schweifen.

Ich hatte Glück.

Der Cop akzeptierte meine Erklärung und hakte nicht weiter nach, indem er mich zum Beispiel aufforderte, ihm meine Waffe zu zeigen, an der er mühelos hätte feststellen können, dass damit noch vor wenigen Stunden geschossen worden war.

Dann traf ich mich mit Greg in Antonio's Coffee Shop. Ein Stockwerk höher lag Gregs Wohnung.

"Hör mal, könntest du den Routinekram heute mal allein machen, Greg?“, fragte ich.

Greg verdrehte die Augen und kratzte sich an seinem Hinterkopf.

"Jesus, was werden unsere Kunden dazu sagen, dass wir nur mit halber Kraft für sie arbeiten?"

"Die wissen das ja zum Glück nicht!"

Greg lachte auf.

"Früher oder später merken sie es aber!"

"Greg, was soll das Theater?"

Er schüttelte den Kopf. "Ich mache kein Theater. Ich befürchte nur, dass du etwas vorhast, was mir nicht gefällt. Es geht um den Vorfall von gestern Abend, nicht wahr?"

Ich nickte.

"Ja."

"Luke! Wach auf! Wir stecken bis zum Hals in Arbeit und du verrennst dich jetzt in eine Sache, die du getrost anderen überlassen kannst!"

"Es wird sich sonst niemand darum kümmern, Greg."

"Ach, nein?" Er faltete die Zeitung auseinander und zeigte mir einen großen Artikel, garniert mit spektakulären Bildern. PANIK IN DER MET!!!, lautete die Überschrift. Mit drei Ausrufungszeichen. Im Untertitel war von zwei Toten die Rede. Die Ursache ihres plötzlichen Ablebens wurde noch untersucht. Ich überflog hastig den Text.

Zahlreiche Besucher des Konzertes beklagten sich darüber, dass ihre Haare schlagartig ergraut waren. Ein bekannter New Yorker Psychologe äußerte sich dazu und vermutete Folgen einer massenhaft aufgetretenen Form extremer Hysterie, die durchaus psychosomatische Folgen haben könne.

Typisch, dachte ich. Am Ende wird man feststellen, dass alle, die an diesem Abend etwas Ungewöhnliches bemerkt haben, sich das nur eingebildet haben!

Greg sah mich aufmerksam an.

"Was hast du vor? Wenn ich dich schon nicht davon abhalten kann, dann weihe mich wenigstens ein."

"Ich muss diese Rebecca finden..."

"Meine Güte, die scheint es dir aber angetan zu haben!"

"Ich kann das, was gestern Nacht passiert ist, einfach nicht auf sich beruhen lassen. Dafür ist es zu..." - ich zögerte, ehe ich weiter sprach - "...zu ungewöhnlich. Du kennst mich, ich bin ein nüchterner Mensch und glaube eigentlich nur an das, was sich glasklar durch Fakten belegen lässt!"

"Darum wundere ich mich ja auch so!“, versetzte Greg Delcort trocken.

"Ich muss einfach wissen, WAS ich gestern Nacht wirklich gesehen habe..."

"Und du glaubst, diese Rebecca könnte dir da weiterhelfen?"

Ich nickte.

"Davon bin ich überzeugt."

Ihr Gesicht erschien vor meinem inneren Auge und mir fiel der rötlich schimmernde Stein ein, der um ihren Hals gehangen hatte. Aus irgendeinem Grund musste ich immer wieder daran denken.

"Du bist nicht sauer, oder?“, fragte ich dann an Greg gewandt.

"Wenn's nicht in Zukunft zur Gewohnheit wird, dass ich die gesamte Arbeit allein machen muss - nein!"

"Na, klasse! Ich wusste doch, dass du ein echter Freund bist!"

Greg atmete tief durch.

"Das ich deiner bin, steht wohl fest - aber ich hoffe, du bist auch meiner nutzt meine Gutmütigkeit nicht nur aus, um irgendeiner unbekannten Schönen hinterher zu steigen!"

Ich hob die Augenbrauen. "Wie kannst du so etwas nur denken, Greg?"

"Dreimal darfst du raten."

"Ich verzichte..."



7

Ich ließ mich auf dem 44. Polizeirevier sehen, das unter der Leitung von Captain Jack L. Atanasio stand. Jack war etwa 35 - also in meinem Alter.

Wir hatten zusammen bei der City Police angefangen und eine Weile waren wir Partner gewesen. Wenn ich ihn traf, rief mir das immer wieder ins Gedächtnis, welche Karriere ich hätte machen können, wenn ich nicht frühzeitig den Dienst quittiert hätte.

Sofern ich Informationen brauchte, dann wandte ich mich an Jack. Er saß schließlich an der Quelle und im Zweifelsfall hatte er den schnelleren Zugang zu den Polizeicomputern, als wenn Greg es mit seinen Hacker-Künsten versuchte.

Außerdem redeten wir gerne über die alten Zeiten. Fast zwei Jahre lang hatten wir Tag für Tag in einem Streifenwagen gesessen und mehr Zeit miteinander verbracht als mit irgend jemand sonst.

Jack L. Atanasio sah mich grinsend an.

"Na, was treibt dich denn her? Der dünne Kaffee, den es bei uns gibt doch wohl bestimmt nicht!"

"Glaubst du, der in unserer Detektei ist dicker?"

Captain Atanasio lachte, während er hinter seinem penibel aufgeräumten Schreibtisch hervorkam und mir die Hand schüttelte.

"Natürlich ist der Kaffee bei euch dicker", meinte er dann. "Schließlich kannst du als freier Unternehmer doch selbst bestimmen, wie viel Pulver du dir leistest!"

"Als freier Unternehmer muss ich das Zeug allerdings auch selbst bezahlen", konterte ich.

"Du Ärmster!"

"Ich bin nicht zum jammern hier..."

Der Captain musterte mich. "Gut siehst du nicht aus mit deinen Ringen unter den Augen. Entweder du hast ein entschieden zu ausschweifendes Privatleben oder dein Agentur-Partner lässt dich die ganze Arbeit allein machen!"

Ich lachte.

"Greg behauptet genau das Gegenteil!"

"Was du nicht sagst..."

Die Flachserei zwischen uns gehörte einfach dazu.

Jack zog die Augenbrauen zusammen. Sein kantiges Gesicht wurde jetzt ernster. Er strich sich mit einer nachdenklichen Geste über den bis auf den Millimeter genau abgegrenzten Knebelbart, den er sich seit einigen Monaten hatte stehen lassen.

"Nun sag schon, was kann ich für dich tun, Luke?"

"Es geht um eine Frau..."

"Oh..."

"Nein, nein, nicht, was du denkst. Sie wurde gestern Nacht von ein paar Leuten verfolgt, die ziemlich entschlossen schienen, sie umzubringen. Ich habe ihr in letzter Sekunde geholfen."

"Wo war das? Sieht nach einem Fall für..."

"Zunächst einmal ist das nur ein ganz privater Fall für mich, okay?

Sonst nichts."

Jack hob die Hände.

"Warum so gereizt, Luke? Habe ich da irgendeinen wunden Punkt erwischt?"

"Jack, es hängt einfach eine Menge davon ab, dass ich diese Frau wiederfinde. Leider ist das Einzige, was ich von ihr habe der Vorname und..."

"Ja?"

"...ihr Gesicht." Ich tickte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. "Hier drin."

Jack Atanasio hob die Schultern.

"Na, bravo! Das ist ja wirklich umwerfend!"

"Ich will ja nur, dass wir ein Phantombild machen und es durch den Computer jagen."

"Du hoffst, dass diese Lady irgendwann mal straffällig geworden ist?"

"Es ist immerhin eine Chance."

Atanasio seufzte, dann nickte er schließlich.

"Weil du es bist, Luke. Aber nur deshalb!"



8

Ich hatte Glück. Die geheimnisvolle Schönheit mit den nussbraunen Haaren war bereits mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

Ihr Name war Rebecca Danby, geboren in Reilly, Massachusetts.

Bereits als Jugendliche war sie zur Ableistung gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden, weil sie wegen Benutzung satanischer Symbole von einem Bezirksgericht verurteilt worden war.

Im erzkonservativen Massachusetts war das bis heute ein Straftatbestand.

Es folgten noch ein paar weitere Anklagen wegen ähnlicher Delikte, bis die Familie schließlich nach New York City übersiedelte.

Vor drei Jahren hatte es dann eine Mordanklage gegen Rebecca Danby gegeben. Sie war festgenommen worden unter dem dringenden Tatverdacht, ihren Vater bei einem okkulten Ritual umgebracht zu haben...

Schließlich war sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden.

Die Anklage hatte nicht stichhaltig darlegen können, dass der Tod Lester Danbys in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der bizarren Apparatur stand, an die Danby angeschlossen gewesen war.

Captain Jack L. Atanasio pfiff durch die Zähne und riss mich damit aus meinen Gedanken heraus. Beide starrten wir gebannt auf den Computerschirm auf Jacks Schreibtisch, über den er mit den Datenbanken der verschiedenen Polizeibehörden und der Justiz verbunden war.

"Sag mal, auf was bist du denn da gestoßen, Luke?“, murmelte Jack halblaut. "Wie wär's wenn du jetzt mal ein paar Brocken auf den Tisch legst, mit denen ich etwas anfangen kann..."

"Tut mir leid", sagte ich.

"Luke! Nennt man so etwas Dankbarkeit?"

"Sobald ich etwas in Erfahrung bringe, lasse ich es dich wissen, Jack!"

Captain Atanasio machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Leere Versprechungen, Luke“, meinte er. "Nichts weiter."

"Du kennst mich, Jack!"

"Ja, eben!"



9

Rebecca Danbys letzte Adresse gehörte zu einer Villa in den Brooklyn Heights. Und da es im Telefonbuch noch immer einen Eintrag unter dem Namen Danby gab, war zu hoffen, dass Rebecca nach wie vor dort wohnte.

Ich fuhr hin und benutzte dabei einen schon etwas in die Jahre gekommenen Golf, der zu dem insgesamt fünf Fahrzeuge umfassenden Mini-Fuhrpark unserer Agentur gehörte. Alles Wagen, die unauffällig genug waren, um bei Observationen benutzt werden zu können.

Ich hatte keine Schwierigkeiten, die Danby-Villa in Brooklyn zu finden, stellte den Wagen am Straßenrand ab und trat an das massive gusseiserne Tor heran, das die Einfahrt versperrte. Das Haus - man musste schon von einem Anwesen sprechen - war von einer etwa zweieinhalb Meter hohen Mauer aus grau gewordenem Sandstein umgeben. Einzig und allein vom Tor aus konnte man einen Blick auf die Vorderfront der eigentlichen Villa werfen. Sie war aus demselben grauen Stein errichtet worden wie die sie umgebende Mauer.

Der Baustil war höchst eigenartig, selbst für die zum Großteil sehr individuell angelegten Heights-Villen. Das erste, was einem selbst aus der Entfernung auffiel war, dass die Villa offenbar asymmetrisch angelegt war und der Architekt einen besonderen Hass auf rechte Winkel gehabt haben musste.

Wie ein Zerrbild wirkte die Danby-Villa.

Keiner der vielen kleinen Erker glich dem anderen, die Fenster waren nicht rechteckig, sondern glichen ungleichmäßigen Rauten oder Parallelogrammen. Ein Haus, wie aus einer anderen Welt...

Ich sah mich nach einer Gegensprechanlage um und fand sie schließlich, nachdem ich eine überhängende Ranke zur Seite schob.

"Sie wünschen?“, meldete sich eine heisere Männerstimme.

"Ich möchte zu Miss Rebecca Danby."

"Bedaure, die ist nicht zu sprechen."

"Melden Sie Ihr bitte, dass ein gewisser Lucas Gordon sich hier vor der Tür die Füße platt steht..."

Ein knackender Laut drang aus der Gegensprechanlage. Ich befürchtete schon, dass mein Gegenüber die Verbindung endgültig unterbrochen hatte. Eine ganze Weile wartete ich, drückte zwischendurch noch einmal den Knopf an der Sprechanlage, ohne dass es darauf allerdings irgendeine Reaktion gab.

Ich war schon nahe daran aufzugeben und mich wieder hinter das Steuer meines Golfs zu setzen, als sich endlich das gusseiserne Tor selbsttätig öffnete. Ein Summton war dabei zu hören. Er mischte sich mit dem Quietschen der wohl seit langem ungeölten Scharniere.

Ich trat ein und ging den breiten, mit Natursteinen gepflasterten Weg entlang, der auf das Portal der Villa zuführte.

Hinter mir schloss sich das Tor.

Der Garten, der die Danby-Villa umgab, wirkte ziemlich verwildert.

Knorrige Bäume standen wie bizarre Skulpturen auf dem Grundstück verstreut.

An einem der Fenster glaubte ich, eine Bewegung zu erkennen.

Zweifellos wurde ich beobachtet.

Ich stieg ich die Stufen des Portals empor. Es waren insgesamt sieben an der Zahl. In den benachbarten Blumenrabatten waren kleine Tonstatuen aufgestellt worden, die an mittelalterliche Darstellungen des Todes erinnerten: In Kutten gehüllte Skelette mit Sensen und Sicheln in den fleischlosen Knochenhänden...

Schließlich stand ich vor einer Tür aus dunklem Ebenholz, die mit zahllosen Schnitzereien versehen war. Pentagramme reihten sich an umgedrehte Kreuze und fratzenhaft-verzerrte Darstellungen dämonenhafter Fabelwesen.

Gut, dass du nicht mehr in Massachusetts wohnst, Rebecca, ging es mir durch den Kopf. Was ich sah, befremdete mich. Kaum zu glauben, aber dies ist New York City, der Nabel der Welt des frühen 21.Jahrhunderts, durchfuhr es mich. Es war kaum zu glauben.

Ein grauhaariger Mann mit ausdruckslosem, eckigen Gesicht öffnete mir. Ich schätzte sein Alter auf Mitte 50. Sein Gang war schleppend und etwas gebeugt. Er trug einen dreiteiligen Anzug aus dunkler Schurwolle, dazu einen schwarzen Rollkragenpullover, von dem sich ein silbernes Totenkopf-Amulett abhob.

"Folgen Sie mir, Mr. Gordon", begrüßte er mich. "Miss Danby wird Sie im roten Salon empfangen..."

Ich folgte dem Mann mit dem Totenschädel-Amulett, der offenbar eine Art Hausverwalter oder Butler war. Die Räume und Flure, durch die ich geführt wurde, waren allesamt sehr hoch, fast gewölbeartig. Aber sie enthielten so gut wie überhaupt kein Mobiliar. Die Wände waren mit magischen Symbolen bemalt. Reihen komplizierter Zeichen bildeten regelrechte Kolonnen. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich um Texte in einer bizarren Geheimschrift handelte.

Schließlich folgte ich dem Butler in einen fensterlosen Raum, der vollkommen in Rot gehalten war. Der Wandbehang war ebenso in leuchtendem Scharlachrot wie der Fußboden und das Mobiliar, das aus nur einigen Tischen, einem Diwan und dazugehörigen Sesseln bestand.

Kerzenlicht flackerte auf.

Schatten tanzten unruhig an den Wänden.

Rebecca Danby saß in sich versunken an einem der Tische. Das lange, nussbraune Haar trug sie jetzt zu einem Knoten zusammengefasst.

Ihr Gesicht wirkte angestrengt. Die Augen waren geschlossen.

Der Butler deutete auf einen der Sessel.

"Bitte nehmen Sie Platz, Sir“, forderte er mich auf. "Miss Danby wird alsbald zurückkehren..."

"Zurückkehren?“, echote ich.

Der Butler ging nicht darauf ein.

Er drehte sich mit mechanisch wirkenden Bewegungsabläufen um und verließ jenen Raum, den er den 'Roten Salon' genannt hatte.

Einige quälend lange Augenblicke lang herrschte absolute Stille. Ich betrachtete die offenbar in Trance befindliche Frau vor mir und ließ die eigenartige Umgebung auf mich wirken.

Diese Villa - und insbesondere der rote Salon - waren ein bizarrer Ort, der auf seltsame Weise von Raum und Zeit entrückt zu sein schien.

Man konnte beinahe den Eindruck gewinnen, in eine andere Welt hinübergewechselt zu sein.

Ein absurder Gedanke, durchfuhr es mich.

Rebecca Danby öffnete die Augen.

"Luke..." Ein beinahe verklärtes Lächeln spielte um ihre vollen Lippen herum. "So haben Sie mich also doch gefunden..."

"Na, wenigstens sehen Sie aus, als würden Sie mich deswegen nicht gleich verfluchen..."

Ihr Lächeln schwand.

"Seien Sie sich da mal nur nicht zu sicher, Luke!"

"Unsere letzte Unterhaltung wurde etwas abrupt abgebrochen. Ich wäre dafür, sie hier und jetzt fortzusetzen, wenn Sie nichts dagegen haben."

"Ich halte nicht viel davon, Luke. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Halten Sie sich aus der Sache heraus. Andernfalls..."

"Ja?"

Sie hob das Kinn, sah mich einige Augenblicke lang nachdenklich an und fuhr dann in einem etwas gedämpfteren Tonfall fort: "Sie sollten das, was ich gesagt habe, nicht als eine der üblichen Drohungen auffassen, die Ihnen in Ihrem Job sicher des öfteren begegnen..."

"Nun..."

"Sie sind ein netter Kerl, Luke. Ich möchte nicht, dass Ihnen etwas passiert..."

"Vielen Dank, aber ich konnte bis jetzt immer ganz gut auf mich selbst aufpassen." Ich atmete tief durch, fragte mich, wie ich in dieser Sache endlich ein Stück weiter kommen konnte. Ich lehnte mich etwas zurück, ließ den Blick durch den roten Salon schweifen. "Sie leben in einem... außergewöhnlichen Haus", sagte ich dann gedehnt. "Hier in New York gibt es dermaßen viele völlig abgedrehte Typen, dass Sie mit so einem Anwesen kaum größeres Aufsehen erregen..."

"Worauf wollen Sie hinaus?"

"Darauf, dass das in Massachusetts wohl etwas anders wäre..."

Ihr Gesicht wurde dunkler.

Das Lächeln verflog vollends und ihre Stimme bekam einen harten, sehr bestimmten Tonfall.

"Daher weht also der Wind", sagte sie. "Nun gut, ich habe versucht nett zu sein, aber jetzt ist es wohl besser, wenn wir das Gespräch einfach abbrechen und jeder von uns seiner Wege geht."

Sie erhob sich.

Ich blieb sitzen, sah sie von schräg unten an. Das enganliegende Kleid, das sie trug, betonte die schwindelerregenden Kurven ihrer aufregenden Figur. Ich nahm mir fest vor, mich davon nicht ablenken zu lassen.

"Tut mir leid, Rebecca - mehr als diesen wundervollen, aber leider ziemlich häufigen Vornamen wollten Sie mir ja nicht über sich preisgeben..."

"Wozu ich meine Gründe habe!"

"...und so war ich gezwungen, meine eigenen Informationsquellen anzuzapfen. Ihre Vorliebe für Okkultismus scheint sich gehalten zu haben... Ich sage Ihnen ganz offen, dass ich nichts von derlei esoterischem Zeug halte! Wir leben im 21. Jahrhundert und das Mittelalter ist lange genug vorbei, um es endgültig abhaken zu können! Aber das, was ich nach dem Carisi-Konzert miterlebte..."

Sie blickte auf mich herab.

Geringschätzung und Verwirrung hielten sich in ihrem Blick die Waage mit einer dritten Zutat.

Angst.

Da war ich mir ganz sicher.

Auch wenn sie rein äußerlich so beherrscht und abgeklärt tat und ihrer Seele in irgendwelchen Trance-Sphären etwas Ruhe und Erholung gegönnt hatte - unter der Oberfläche brodelte es in ihr. Ein Vulkan, dessen glühende Lavamassen jederzeit explosionsartig hervorbrechen konnten.

"Was wollen Sie eigentlich, Luke?"

"Ich will Erklärungen! Zum Beispiel will ich wissen, was das für Leute waren, die Ihnen gefolgt sind: Greise mit glühenden Augen, die wie Zombies aus B-Movies aussehen und sich nicht erschießen lassen..."

Ich atmete tief durch und erhob mich jetzt ebenfalls. Wir sahen uns an.

"Ich muss wissen, was das war, Rebecca. Ob ich vielleicht den Verstand verloren habe oder..." Ich brach ab, schüttelte den Kopf. "Für Sie sind Geister, Dämonen und dieses ganze übernatürliche Zeug real! Das sieht man an der Art und Weise, wie Sie dieses Haus eingerichtet haben und das weist auch Ihr Vorstrafenregister aus... Aber in der Welt, in der ich lebe, gehörte dies alles bislang ins Reich der Fabel!"

"Es gibt Dinge, für die menschliche Wissenschaft bislang noch keine Erklärungen besitzt", sagte Rebecca. "Phänomene, die man als das Übernatürliche bezeichnen könnte. Meinen Sie das?" Sie seufzte. "Das, was Sie gesehen haben, war eine Begegnung mit dieser Welt... Sie sollten es dabei belassen oder es könnte Sie den Verstand, das Leben oder beides kosten!"

"So wie Ihren Vater - Lester Danby?"

Ihr Blick wurde jetzt eisig.

Ich bemerkte den dunkelroten Stein, der ihr an einer silbernen Kette um den Hals hing. Sie griff danach, umklammerte ihn mit der Faust und drückte dabei so doll zu, dass ihre Knöchel weiß wurden. "Sie haben kein Recht, so darüber zu reden."

"Dann erklären Sie es mir!"

"Der Tod meines Vaters geht Sie nichts an, Lucas Gordon!"

"Er starb unter bis heute mysteriösen Umständen im Zusammenhang mit der Verwendung einer okkulten Apparatur..."

"Sie Ahnungsloser!"

Ich spürte, dass ich ihren wunden Punkt erwischt hatte. Wenn ich in dieser offenen Wunde herumbohrte, kam vielleicht noch etwas an den Tag, was mich weiterbrachte. Schließlich war nicht auszuschließen, dass ein Zusammenhang zwischen dem Tod Lester Danbys und den unheimlichen Ereignissen im Anschluss an das Carlo Carisi-Konzert bestand.

"Zweifellos sind Sie ein begabter Detektiv, Luke", stellte Rebecca dann fest. Sie hob das Kinn, blickte mir direkt in die Augen und öffnete dann die Faust, die bis jetzt den dunkelroten Stein umschlossen hatte.

Der Stein schimmerte, begann immer heller zu leuchten.

Ich hatte mich also nicht getäuscht...

Mein Instinkt für Gefahr meldete sich.

Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

"Es tut mir leid, aber Sie lassen mir keine andere Wahl..."

Eine grellrote Lichtaura bildete sich um das Amulett. Im nächsten Augenblick schoss etwas auf mich zu. Ein roter Strahl, ein Blitz.... Es ging einfach zu schnell. Von einem Augenblick zum nächsten umgab mich dann nur noch Dunkelheit. Ich hatte das Gefühl zu fallen. Immer tiefer, in einen unermesslichen schwarzen Schlund hinein. Eisige Kälte umgab mich und ließ mich bis Mark frieren. Ich hatte das Gefühl vollkommener Erstarrung. Ein Geruch nach Moder und Verwesung betäubte meine Sinne.

Ich hatte das Gefühl zu ersticken.

Mein Gott!, durchfuhr es mich. Wie in einer Totengruft...

Dann spürte ich gar nichts mehr.



10

Carlo Carisi beobachtete mit in sich gekehrtem Blick, wie die Pagen des Excalibur Hotels seine Koffer in den Gepäckraum des Taxis verfrachteten.

Nur seine Geige - an die ließ der Virtuose niemanden heran.

Der schwarze Violinkasten klemmte unter seinem linken Arm. Mit der Rechten strich er beinahe zärtlich über den samtenen Überzug.

Dieses Instrument ist mein Leben, ging es ihm durch den Kopf. Und das nicht nur im übertragenen Sinn...

Der Taxifahrer war ein großer, breitschultriger Mann mit kantigem Gesicht und kurzgeschorenen Haaren. Er sah aus, als würde er seine Freizeit überwiegend in einem Bodybuilding-Studio verbringen, was ihn jedoch nicht dazu veranlasste, den Pagen des Excalibur bei ihrer schweißtreibenden Arbeit zu helfen. Der Blick des Taxi-Drivers hing an Carisi.

Du hast es fast vergessen, wie es ist, angestarrt zu werden, nicht wahr?, ging es dem Virtuosen dabei durch den Kopf. Der Preis der Popularität... Manchen seiner Musiker-Kollegen ging das auf die Nerven.

Carisi hingegen hatte seine Bekanntheit stets genossen. Er hatte regelrecht etwas vermisst, als es für einige Zeit etwas ruhiger um ihn geworden war...

Aber diese Zeit war nun vorbei...

Hast du nicht schon gedacht, dass alles zu Ende geht?, dachte er. Dass du im Wahnsinn versinkst und nie wieder auf der Bühne stehen kannst?

Aber nun gehört dir die Ewigkeit. Es gibt keinen Tod und kein Vergessen für dich.

Ein blassgesichtiger, schlaksiger Mann trat an ihn heran. Seine Haut war pergamentartig und faltig. Eng lag sie an den hervorstehenden Wangenknochen an. Die Augen waren blassblau und wirkten müde.

Carisi sah ihn mit einem spöttischen Ausdruck im Gesicht an.

"Nun, Jesper? Was willst du mir sagen? Dass du bis jetzt noch immer keinen Erfolg hattest?"

"Es ist nur eine Frage der Zeit, wann Rebecca Danby in unsere Hände gerät", erwiderte Jesper schluckend.

"Das hoffe ich", zischte Carisi und seine Stimme hatte dabei etwas von den Lauten einer Klapperschlange. "Und zwar für dich!" Carisi tätschelte Jesper herablassend an der Schulter. "Du siehst nicht gut aus", stellte er fest. Und im selben Moment fühlte Carisi, wie der unheimliche Hunger, der ihn beherrschte, wieder aufkeimte.

Nein!, schritt die warnende Stimme in ihm ein. Es ist genug! Du kannst nicht schon wieder Bedarf nach Lebensenergie haben, Carlo Carisi! Die Sache mit Ted Barnes ist noch nicht einmal 24 Stunden her!

Carisi atmete schwer.

Der Hunger drohte ihn zu überwältigen.

Du musst dich beherrschen!, hämmerte es in ihm. Sonst gerät alles außer Kontrolle...

Er wusste, dass die warnende Stimme in seinem Inneren Recht hatte.

Aber es wurde immer schwieriger für ihn, auf sie zu hören.

Ich brauche Jesper noch, wurde ihm klar. Also darf ich dessen Lebensenergie nur so weit anzapfen, dass es nicht kritisch wird.

"Ich brauche deine Hilfe", sagte Jesper. Die Stimme des blassgesichtigen Schlackses gelangte wie aus weiter Ferne in Carisis Bewusstsein. Mit etwas Zeitverzögerung lachte der Virtuose dann heiser auf.

"Meine Hilfe?"

"Bitte!"

"Rebecca Danby gehört nicht zu meinen Aufgaben", sagte Carisi dann. "Aber an deiner Stelle würde ich mich beeilen... Du weißt, was ER mit Versagern zu tun pflegt..."

"Ja", murmelte Jesper tonlos.

Carisi lachte dröhnend.



11

Ein paar Minuten später saß Carisi auf der Rückbank des Taxis, das ihn zum John F. Kennedy Airport bringen sollte. Die Fahrt zog sich hin.

Auf den Straßen des Big Apple war um diese Zeit der Teufel los und man brauchte schon einiges an Geduld.

"Schneller geht's leider nicht", meinte der Driver.

"Lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen", meinte Carisi. "Bis zum Start meiner Maschine ist genug Zeit - selbst, wenn wir zwischendurch noch irgendwo steckenbleiben..."

"Schön, dass Sie das so gelassen sehen", erwiderte der Driver. "Die meisten Fahrgäste sind ziemlich ungeduldig..."

"Kann ich mir denken."

Es folgte eine Pause des Schweigens.

Schließlich nahm der Driver den Gesprächsfaden wieder auf. Er druckste erst etwas herum, bevor er schließlich auf das Thema zu sprechen kam, das ihm wohl schon die ganze Zeit über im Kopf herumspukte.

"Über Ihr Comeback-Konzert in der Met stand eine ganze Menge in den Zeitungen..."

"Ja, ja", murmelte Carisi.

"Nicht nur in der New York Times, sondern auch in den Revolverblättern, die normalerweise keine Konzertkritiken bringen... Haben Sie eine Ahnung, was nun genau die Ursache dafür ist, das zwei Menschen während des Konzertes starben?"

"Nein."

"Sie halten mich wahrscheinlich für schrecklich aufdringlich, aber wissen Sie, ich mache das hier..." - er schlug mit dem Handballen zweimal gegen das Lenkrad des Taxis - "...nur übergangsweise. Eigentlich bin ich Cellist, aber es ist nicht so leicht, irgendwo ein Engagement zu kriegen..."

"Was Sie nicht sagen..." Carisi verzog gelangweilt das Gesicht.

Und gleichzeitig spürte er erneut jenen grausamen Hunger in sich aufkeimen, der in der vergangenen Nacht Ted Barnes das Leben gekostet hatte. Und davor schon so vielen anderen...

Ein Cello spielender Taxi Driver...

Gab es davon nicht ohnehin viel zu viele auf der Welt?

"Wissen Sie, eigentlich wollte ich gestern gerne in ihr Konzert, Mr. Carisi", redete sich der Mann am Steuer in Fahrt. "Ein Freund von mir hatte versprochen, mir noch Karten besorgen zu können, aber leider wurde nichts daraus..."

Deine Seele gehört mir!, durchzuckte es Carisi.

Sein Gesicht verzog sich zu einer Maske blanker Gier.

Der Taxi Driver bemerkte das im Rückspiegel. Sein Redefluss verstummte augenblicklich.

Sie erreichten den Flughafen.

Das Taxi hielt am Straßenrand.

Der Fahrer nannte den Preis, drehte sich halb zu seinem Fahrgast herum und runzelte dann die Stirn, als er sah, dass Carisi keineswegs zu seiner Geldbörse griff.

Statt dessen öffnete er den Geigenkasten.

"Was tun Sie da, Sir?"

Carisi grinste zynisch.

"Muss ich Ihnen das wirklich erklären? Ich dachte, Sie sind Musiker..." Er kicherte irre in sich hinein, dann nahm er die Geige hervor.

Der Taxifahrer blickte Carisi verständnislos an, öffnete halb den Mund vergaß ihn wieder zu schließen.

Carisi ließ den Bogen über die Seiten streichen. Die traumwandlerische Leichtigkeit, mit der er seine virtuosen Tonkaskaden hervorbrachte, schlug den Mann am Steuer in den Bann.

Aber nur wenige Sekunden lang.

Dann begann er zu spüren, dass etwas nicht stimmte.

Während auf Carisis Gesicht ein dämonisch verzerrtes Lächeln stand, wurde das Gesicht des Taxifahrers zu einer Maske des blanken Entsetzens.

Die Augen traten aus den Höhlen heraus, die Haut wurde trocken, rissig und faltig wie eine ungeschützte, den Meteoritenschauern ausgesetzte Planetenoberfläche. Sie verlor die Farbe, legte sich dicht über die Knochen, die nun immer deutlicher hervortraten. Das blonde, kurzgeschorene Haar ergraute. dasselbe geschah mit den Augenbrauen.

"Was... Nein!“, stieß der Taxi Driver stammelnd hervor, starrte dabei seine Hände an und sah entsetzt zu, wie aus ihnen die Knochenhände eines uralten Greises wurden.

Carisi schloss die Augen.

Er spürte, wie die Lebenskraft seines Gegenübers ihn durchströmte.

Ja, das war es, wonach ihn so sehr gedürstet hatte.

Carisi atmete tief durch, während der Taxifahrer aufstöhnte. Ein schwächlicher, heiserer Laut. Der gewaltige muskelbepackte Mann schrumpfte in sich zusammen, sank auf das Lenkrad. Die Kleider hingen ihm schlaff vom Körper, der nur noch aus Haut und Knochen bestand.

Lass es gut sein!, erhob sich die warnende Stimme in Carisis Innerem.

Carisi verfluchte sich dafür, sie nicht zum Schweigen bringen zu können.

Gerade jetzt...

Im Augenblick des höchsten Glücks, in dem das Leben selbst wie ein Schauer prickelnder Energie in ihn einströmte.

Mach Schluss, bevor nur noch Staub vorhanden ist, warnte Carisi erneut die innere Stimme. Man darf nichts sehen, nichts, was zu schnell Aufmerksamkeit und Verdacht erregen könnte... Sonst gibt es nur Schwierigkeiten!

Carisi öffnete die Augen.

Die dünne pergamentartige Haut auf dem Schädel des in sich zusammengesackten Taxi Drivers begann bereits, sich aufzulösen. Sie erinnerte an gegerbtes Leder, das lange Zeit in einem feuchten Keller vor sich hin geschimmelt hatte und nun langsam zerfiel...

Nur das hier der Prozedd weitaus schneller vor sich ging.

Nein!, schrie die warnende Stimme in ihm.

Und diesmal behielt sie Oberhand. Carisi setzte die Geige ab. Seine Rechte hielt vor Erregung zitternd den Frosch des Bogens. Mit der Bogenspitze berührte er vorsichtig die Schulter des Taxi Drivers.

Der Stoff der Jacke gab nach.

Darunter schien nichts mehr zu sein, was noch irgendeine Form zu halten und dem leichten Druck der Bogenspitze Widerstand entgegenzusetzen vermochte.

Du bist ein Süchtiger geworden!, meldete sich wieder die innere Stimme, deren Worte er in diesem Augenblick als besonders quälend empfand.

Weil du spürst, dass es die Wahrheit ist!, kommentierte die Stimme gnadenlos. Du weißt, dass das, was du tust, nicht in SEINEM Sinn ist - oder?

"Ja, verdammt!“, rief Carisi laut aus.

Der Verwesungsgestank in dem engen Taxi raubte ihm den Atem. Er klemmte sich mit den drei Fingern, die er nicht brauchte, um den Frosch des Geigenbogens zu halten, den Griff des Violinkastens, stieg aus und schlug die Tür gleich wieder hinter sich zu.

Dann legte er den Kasten auf die Motorhaube und legte die Violine sorgfältig hinein. In seinen Bewegungen lag dieselbe Zärtlichkeit, mit der eine Mutter ihr Baby betten mochte.

Ein untersetzter Mann in Strickjacke, Jeans mit Bügelfalte und einer Baseballmütze mit der Aufschrift EXTREME FUN sprach ihn an.

"Heh, ist der Wagen da frei?"

"Nein!“, rief Carisi unwirsch zurück.

Der Mann mit der EXTREME FUN-Mütze blickte zum Fahrer hin.

Er runzelte die Stirn, näherte sich.

"Pennt der etwa?"

Carisi kochte innerlich.

Aber er ließ sich davon äußerlich nichts anmerken.

"Ruht sich nur ein bisschen aus", antwortete er.

"Ach, so."

Der Mann zog ab.

Ein paar Meter weiter wartete ein anderes Taxi. Dort strebte er hin.

Zweimal noch drehte er sich kurz um. Sein Blick ging immer wieder zu der für ihn nur schattenhaft sichtbaren, über das Steuer gebeugten Gestalt hin...

Nichts wie weg!, dachte Carisi.



12

"Heh, Sie! Wenn Sie besoffen sind, dann schlafen Sie Ihren Rausch gefälligst zu Hause aus!"

Jemand rüttelte mich an der Schulter.

Als ich die Augen öffnete, blickte ich in das braungebrannte Gesicht eines New Yorker Cops. Die obere Gesichtshälfte wurde durch den Mützenschirm und die Sonnenbrille verdeckt.

Seine Mundpartie wirkte ziemlich wuchtig und war dauernd in Bewegung. Er kaute auf einem Kaugummi herum und blickte auf mich herab.

"Es hat hier 'ne Beschwerde gegeben, Mister", sagte er. "Sie können hier nicht mitten auf dem Gehweg herumliegen. Das ist für die umliegenden Geschäfte umsatzschädigend. Außerdem gibt es da ein paar Paragraphen gegen Landstreicherei..."

Ich erhob mich.

Ein bohrender Kopfschmerz meldete sich und ließ mich kurz aufstöhnen.

Der Cop grinste.

"Ja, so eine durchzechte Nacht kann einem ganz schön ins Gehirn gehen..."

"Ha, ha, sehr witzig!"

Ich stand da und blickte mich um. "Wo bin ich hier?"

"112. Straße. Haben Sie einen Wagen?"

"Nein, jedenfalls nicht hier..." Dann sah ich auf der anderen Straßenseite

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: (c) Alfred Bekker, CassiopeiaPress
Bildmaterialien: Bekker
Tag der Veröffentlichung: 17.10.2014
ISBN: 978-3-7368-4850-4

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