von Alfred Bekker
Ein CassiopeiaPress E-Book
© by Author
© der Digitalausgabe 2014 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
Dieses E-Book enthält folgende fünf Wikinger Bücher für junge Leser:
Ragnar der Wikinger Band 1: In Haithabu
Ragnar der Wikinger Band 2: In Gefahr
Ragnar der Wikinger Band 3: Im Palast des Kaisers
Ragnar der Wikinger Band 4: Das zerbrochene Schwert
Drachenschiffe vor Vinland
Der dreizehnjährige Wikingerjunge Ragnar träumt davon, auf große Fahrt zu gehen und die Küsten unbekannter Länder zu erreichen. Da schickt ihn sein Vater nach Haithabu, wo er in die Geheimnisse des Schiffbaus eingeweiht werden soll... In Ragnar der Wikinger 1-4 geht es um die Abenteuer dieses Wikingerjungen! Lesefutter für junge Leser
Die Wikinger segelten bis Amerika, das man damals Vinland nannte. Dorthin wollen auch die Eltern der Wikinger-Kinder Einar und Freya. Ein besseres Leben soll sie dort alle erwarten! Doch als sie nach einer stürmischen Überfahrt das neue Land erreichen, warten dort ungeahnte Gefahren. Denn Vinland ist keineswegs unbewohnt. Jäger mit rötlicher Hautfarbe leben dort. Skrälinger nennt man sie. Und erst scheint es, als könnte man Freundschaft schließen. Als als diese Jäger von der Milch der Kühe trinken, die die Wikinger mitgebracht haben, vertragen sie das nicht und glauben, dass man sie vergiften wolllte! Ein furchtbarerer Krieg droht.Kann der junge Einar ihn noch verhindern? Oder werden die Wikinger das neue Land wieder verlassen müssen? Darum geht es in DRACHENSCHIFFE VOR VINLAND, einem Wikinger-Abenteuer für junge Leser - mit Erläuterungen!
Alfred Bekker schreibt Fantasy, Science Fiction, Krimis, historische Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Seine Bücher um DAS REICH DER ELBEN, die DRACHENERDE-SAGA, die GORIAN-Trilogie und seine Romane um die HALBLINGE VON ATHRANOR machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er war Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Kommissar X und Ren Dhark. Außerdem schrieb er Kriminalromane, in denen oft skurrile Typen im Mittelpunkt stehen - zuletzt den Titel DER TEUFEL VON MÜNSTER, wo er einen Helden seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einer sehr realen Serie von Verbrechen macht.
Die Welle brach über der Reling des Drachenschiffs zusammen. Kübelweise Wasser kam ins Schiff und im nächsten Moment stand das Wasser knöcheltief.
„Schöpfen!“, rief eine heisere Stimme, die sich mit dem heulenden Wind vermischte.
Ragnar nahm einen der Schöpfeimer und half mit, das Wasser aus dem Schiffsinneren wieder herauszuschöpfen. Die Eimer waren sicherheitshalber mit Tauen befestigt, damit sie nicht über Bord gerissen werden konnten.
„Los, bevor die nächste große Welle kommt, müssen wir das meiste rausgeschöpft haben!“, rief einer der Männer.
Es war bereits die dritte große Welle innerhalb kurzer Zeit. Aber im Westen wurde es heller. Das Wetter besserte sich. Doch die Böen blieben tückisch. Der seitliche Wind drückte dann mit plötzlicher Wucht ins Segel. Das Schiff legte sich schief und wenn dann eine Welle hineinschwappte, wurde es gefährlich.
Angespannt wartete man auf die nächste Böe. Es war unmöglich vorherzusagen, wann sie kam.
Ein eisiger Wind fegte über das aufgeschäumte Wasser und trieb das Drachenschiff durch die Wellen. Gischt spritzte auf. Ragnar Rothaar Einarson stand am Bug der SCHAUMKRONE, einer dreißig Meter langen Schnigge. So nannte man die kleineren schmalen Drachenschiffe mit einer Besatzung von bis zu vierzig Mann. Das rötliche Haar klebte Ragnar feucht am Kopf. Dreizehn Jahre war er gerade geworden und es gab für ihn nichts Schöneres, als mit einem Drachenschiff durch die schäumende See zu fahren.
Vorne hob sich das Schiff leicht an, dann senkte es sich wieder.
Dies war nicht das offene Meer, sondern ein großer See im Norden von Holmgard. Dieser See war zwar so groß, dass man ihn schon fast als ein kleines Meer ansehen konnte – aber trotzdem war es nicht dasselbe. Ragnar träumte davon, eines Tages mit noch größeren Schiffen über das offene Meer zu segeln, zu Ländern, die noch kein Mensch je zuvor betreten hatte. Aber bis es soweit war, würden wohl noch ein paar Jahre vergehen.
Bislang hatte sein Vater Einar es verhindert, dass Ragnar auf einem dieser Schiffe als Schiffsjunge mitfuhr. Dazu sei er noch zu jung, hatte er gemeint.
Ragnar war da natürlich anderer Ansicht, aber er musste sich der Entscheidung beugen.
Er ließ den Blick am Horizont entlang schweifen. Der Himmel war grau und das Ufer fast weiß, so dass man es kaum erkennen konnte. Im Sommer waren dort dichte Wälder zu sehen, die bis ans Seeufer heranreichten. Aber jetzt lag dort noch Schnee.
Immerhin war bereits das Eis auf dem See getaut, sodass man ihn wieder mit dem Schiff befahren konnte. Das war ein Zeichen dafür, dass es bald Frühling werden würde.
Einar Einarson trat neben seinen Sohn und deutete zum Ufer. „Wir haben gute Fahrt drauf. Nicht mehr lange, dann legen wir an! Ich hoffe nur, dass Oleg gute Pelze für uns bereithält!“
„Aber woher willst du wissen, wo Olegs Lager ist?“, fragte Ragnar. „Es sieht überall gleich am Ufer aus!“
Einar lachte. „Siehst du den zweimal gezackten Berg? Man erkennt ihn nur ganz schwach durch den Dunst.“
„Ja, ich sehe ihn!“
„Auf den hält der Steuermann zu. Der Wind steht günstig, wir brauchen nicht zu kreuzen.“
Plötzlich fiel Ragnar etwas auf. Unterhalb des Berges stieg etwas Dunkles empor.
Ragnar streckte den Arm aus. „Dort steigt schwarzer Rauch auf!“, stellte er fest.
Einars Gesicht verfinsterte sich. Er strich sich nachdenklich über den verfilzten Bart.
„Das bedeutet nichts Gutes!“, murmelte er.
Einar trieb seine Männer zu größerer Eile an. Die Ruder wurden ausgefahren und die Männer legten sich in die Riemen, um das Schiff noch zusätzlich zu beschleunigen.
Eine Rauchsäule, die aus dieser Entfernung über die Bäume stieg, konnte nicht einfach nur von einem Lagerfeuer stammen! Und das zu dieser Jahreszeit bei all dem feuchten Schnee ein Waldbrand ausbrach, war auch höchst unwahrscheinlich.
So blieb nur eine Möglichkeit.
Jemand hatte das Lager des Pelzjägers Oleg überfallen und angezündet. Für Einar Einarson war das ein schlimmer Gedanke. Er war durch den Pelzhandel reich geworden und brauchte ständig Nachschub an guter Ware, die er dann weiterverkaufen konnte. Die Pelze kaufte Oleg Jägern in der Umgebung ab – und Oleg hatte ihm immer die besten und seltensten Stücke geliefert. Bärenfelle ebenso wie Zobel und Hermelin, woraus an weit entfernen Königshöfen die Damen die Kragen ihrer Mäntel fertigen ließen.
Ragnar setzte sich auch auf die Ruderbank. Die SCHAUMKRONE schoss jetzt wie ein Pfeil durch das Wasser.
Einars Hand umfasste derweil den Griff des Schwertes, das er an der Seite trug. Sein Gesicht wirkte grimmig und entschlossen. „Soll es nur jemand wagen, mir meine Pelze zu rauben!“, grollte er, obwohl Olegs Pelze streng genommen noch gar nicht ihm gehörten.
Aber für ihn waren es seine Pelze.
Die Schaumkrone näherte sich dem Ufer. Für Ragnar war es die erste Pelzfahrt, an der er teilnahm. Bisher hatte immer sein älterer Bruder seinen Vater dabei begleitet. Dessen Name war auch Einar – wie bei seinem Vater und Großvater. Um ihn unterscheiden zu können, hatte man ihn immer den roten Einar genannt, denn genau wie Ragnar hatte er von seiner Mutter die rötlichen Haare geerbt.
Aber in diesem Winter war der rote Einar am Fieber gestorben. Und so musste Ragnar jetzt mit zur Pelzfahrt. Wenn die Flüsse und Seen, über die man von Holmgard aus bis in die Ostsee segeln konnte, nicht mehr gefroren waren, besuchten die Pelzhändler unter den Wikingern die slawischen Jäger in der Umgebung, um ihnen die Pelze abzukaufen, die sie den Winter über gejagt hatten.
Manchmal kam es aber auch vor, dass sich einzelne Wikinger-Anführer nicht an die Regeln hielten und die Pelzjäger einfach ausraubten. Außerdem hatten die slawischen Stämme, zu denen die Jäger gehörten auch sehr häufig untereinander Krieg.
Aber ganz gleich, was auch in diesem Fall dahinter stecken mochte – Einar Einarson war nicht bereit, irgendjemanden mit den Pelzen davonziehen zu lassen, auf die er einen Anspruch zu haben meinte.
Für Ragnar war alles neu und die schneebedeckte Uferböschung sah für ihn überall gleich aus. Aber die anderen an Bord kannten sich aus. Sie fanden eine Stelle, wo man gut anlegen konnte. Einar warf Ragnar ein Tau zu. Man brauchte ihm nicht zu sagen, was damit zu tun war. Er kletterte in den Bug, wo der Drachenkopf der SCHAUMKRONE weit nach vorne ragte.
Mit einem Ruck stieß das Schiff auf Grund. Ragnar sprang an Land und zog an dem Tau-Ende. Ein paar Männer sprangen kurz danach an Land und halfen ihm. Das Tau-Ende wurde um einen knorrigen Baum geschlungen, dessen halbes Wurzelwerk ins Wasser hineinragte. Auf diesem Baum waren ein paar verwitterte Runen zu sehen. Sie waren offenbar vor längerer Zeit in die Rinde geritzt worden.
„Wir sind an der richtigen Stelle!“, verkündete Einar und deutete auf die Runen.
Ragnar konnte diese Runenbuchstaben mit Mühe zusammenziehen. Ab und zu hatte er in Holmgard bei einem Wanderlehrer Unterricht gehabt. Aber wirklich sicher war er darin nicht.
THOR SCHÜTZE DIE PELZFAHRER VON EINAR EINARSON, stand dort zu lesen.
Runen hatten Zaubermacht, so glaubten sie Wikinger.
Der Donnergott Thor, der mit seinem von Ziegen gezogenen Wagen über den Himmel fuhr und Blitze schleuderte, sollte Einars Männer in dieser Wildnis bewachen. Auf See fühlten sie sich sicher und unbesiegbar, aber hier in den dichten Wäldern waren sie Fremde.
Von seiner schützenden Zaubermacht einmal abgesehen, machte die Inschrift aber auch jenen anderen Pelzfahrern deutlich, dass die Pelze dieser Gegend von Einar Einarson beansprucht wurden und jeder mit Ärger rechnen musste, der darauf keine Rücksicht nahm.
Fünf Mann mussten beim Schiff bleiben.
Zuerst war Einar der Ansicht, dass es besser war, wenn auch Ragnar dort blieb. Aber der protestierte.
„Nein, ich möchte mit euch gehen!“, verlangte er.
„Ich habe in diesem Winter schon einen Sohn verloren – es soll nicht noch ein zweiter in das düstere Reich unseres Totengottes Hel eingehen“, erwiderte Einar.
„Aber soll ich nicht all das lernen, was auch mein Bruder gelernt hatte? Doch wie kann ich das, wenn ich hier beim Schiff bleiben muss?“
Einar überlegte kurz, dann änderte er seine Meinung. „Also gut“, sagte er, während die anderen Männer bereits ihre Waffen und Helme anlegten, um für den Landgang gerüstet zu sein.
Einar gab Ragnar ein kurzes Breitschwert. „Nimm das hier. Diese Wälder sind voller Gefahren und man weiß nie, was einem widerfährt…“
Die Wikinger gingen an Land. Raben saßen krächzend auf den kahlen Bäumen. Hin und wieder knackten Äste. Der Schnee war so feucht und schwer geworden, dass manche Äste die Last einfach nicht mehr halten konnten.
Die kniehohen Fellstiefel, die Ragnar trug, sanken mit den ersten Schritten fast ganz in den Schnee ein. Dann wurde es besser. Der Boden unter der Schneedecke war hart gefroren. Spuren verschiedener Tiere waren auf den Schneeflächen zwischen den Bäumen zu sehen. Einar marschierte vorneweg und die anderen folgten ihm.
Zwischendurch hielten sie an und lauschten. Stimmen waren ganz leise zu hören. Schreie.
„Da ist etwas im Gange!“, meinte Thorfinn, einer der erfahrenen Gefolgsleute von Einar Einarson.
„Dann lasst uns schneller laufen! Vielleicht können wir noch das Schlimmste verhindern.“
Die Männer hetzten durch den tiefen Schnee und Ragnar musste sich alle Mühe geben, um mit ihnen mithalten zu können.
Sie erreichten schließlich eine Lichtung, auf der mehrere Holzhütten standen. Die Hälfte davon stand in Flammen. Schwarzer Rauch stieg empor und bildete eine lange Fahne. Eine der Hütten war schon so gut wie völlig niedergebrannt.
In Fell gekleidete, mit Speeren bewaffnete Krieger hatten Gefangene in der Mitte der kleinen Siedlung zusammen getrieben.
In der Mitte der Lichtung befand sich ein Haufen mit Fellen. Einige der Krieger waren damit beschäftigt, sie zu handlichen Bündeln zusammenzuschnüren, die man gut auf dem Rücken tragen konnte.
Jetzt bemerken die in Fell gekleideten Krieger die ankommenden Wikinger.
Laute Schreie gellten.
Ragnar verstand die Sprache dieser Krieger nicht. Nur ein Wort hörte er immer wieder. „Rus!“, riefen die Fellgekleideten. „Rus!“
Das bedeutete „Ruderer“ und war der Name, den die Bewohner dieses Landes den Wikingern gegeben hatten, weil sie häufig ruderten, wenn sie mit ihren Schiffen die Flüsse passierten. Das Land um Holmgard wurde deswegen auch häufig „Russland“ genannt.
Die in Fell gekleideten Krieger hatten offenbar große Furcht vor den Wikingern. Sie nahmen noch mit sich, was sie an Fellen zu tragen vermochten und rannten dann davon. Die gefesselten Gefangenen ließen sie einfach zurück.
Innerhalb kurzer Zeit waren die Angreifer im Unterholz verschwunden.
„Werden sie nicht verfolgt?“, fragte Ragnar an seinen Vater gewandt. Einar schüttelte den Kopf. „Nein, die sind schneller und kennen sich in den Wäldern besser aus. Außerdem sind sie mehr als wir.“
Die Fesseln der Gefangenen wurden gelöst.
„Wie gut, dass ihr uns geholfen habt!“, sagte einer der Befreiten – ein Mann mit Pelzmütze und einer Kette aus Wolfzähnen. Er sprach die Wikingersprache mit einem starken Akzent.
Einar ging auf ihn zu.
„Oleg! Ich freue mich, dass dir nichts geschehen ist!“
„Nichts geschehen?“, rief Oleg. Er deutete auf die in der Mitte der Siedlung aufgehäuften Felle. „Diese Räuber haben uns leider genug Felle weggenommen. Und natürlich nur die besten Stücke!“
„Wir werde sehen, was noch übrig ist“, antwortete Einar. „Hast du eine Ahnung, wer euch da überfallen hat?“
Oleg nickte. „Ein Stamm, mit dem wir seit kurzem Streit haben. Leider sind sie viel zahlreicher als wir!“
Einar hielt Oleg sein Schwert hin und sagte: „Vielleicht sollten sich die Männer aus deinem Dorf mal ein paar dieser hervorragenden Klingen anschaffen! Dann machen euch die anderen Stämme sehr schnell nicht mehr so einen Ärger! Glaub es mir!“
Oleg lachte. „Das sagst du doch nur aus einem einzigen Grund, Einar Einarson! Du willst mir doch garantiert ein paar dieser Waffen verkaufen!“
Einar zwinkerte Ragnar zu. „Diesem Kerl kann man nichts vormachen, Ragnar!“ Dann wandte sich Einar wieder an Oleg. „Dies ist übrigens mein Sohn Ragnar.“
„Das ist unverkennbar. Er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten, Einar – nur, das ihm noch kein Bart wächst!“
Einar hob noch einmal sein Schwert und reichte es Oleg. „Was ich über diese Klinge gesagt habe, ist aber trotz allem gültig! Fühl doch mal, wie diese Waffe in der Hand liegt!“
Oleg nahm die Waffe und nickte anerkennend. „Ja. Das mag sein…“
„Eine Klinge aus Damaskus, geschmiedet von Arabern“, sagte Einar. „Das sind die besten Schmiede, die es gibt! Unsere Schiffe bringen diese Waffen über das schwarze Meer und die großen Flüsse bis zu dem Ort, den ihr Nowgorod nennt.“
Nowgorod war der Name, den die slawischen Stämme für den Ort verwendeten, der von den Wikingern Holmgard genannt wurde.
Oleg wog das Schwert in seiner Hand. „Und du könntest mir von diesen Klingen ausreichend viele besorgen?“, vergewisserte sich Oleg.
„Natürlich! Meine Handelsbeziehungen reichen weit…“
„Aber ich fürchte, dass ich sie kaum bezahlen kann!“
„Was ist mit den Fellen?“
„Erstens haben uns unsere Feinde die besten Stücke weggestohlen und zweitens ist das, was wir dafür bekommen, auch schon verplant.“
„Ich wüsste eine weitere Einnahmequelle für euch! Darüber hätte ich sowieso mit dir sprechen wollen“, sagte Einar.
Oleg seufzte. „Im Moment werden wir wohl genug damit zu tun haben, alles wieder aufzubauen. Einige unserer Leute sind verletzt. Aber grundsätzlich bin ich interessiert.“
„Traust du deinen Jägern zu, Greifvögel zu fangen? Adler, Bussarde, Falken und so weiter…“
„Das ist nicht leicht, aber möglich.“
„Fangen wohlgemerkt!“, gab Einar zu bedenken. „Den Tieren darf nichts geschehen.“
„Was geschieht mit den Tieren?“
„Sie gelangen auf demselben Weg, auf dem die Klingen aus Damaskus nach Holmgard kommen in den Süden. Am Hof des Kalifen von Bagdad und in Kairo bringt man Greifvögeln bei, als Jagdgehilfen zu dienen. Gelehrige Tiere bringen dort ein Vermögen ein!“
„Ich denke, dass ich dir da weiterhelfen kann, Einar“, versprach Oleg.
„Voraussetzung ist natürlich, dass den Tieren wirklich keine Feder gekrümmt wird!“
„Sicher.“
Einar kaufte Oleg den Rest der Felle, die die Angreifer zurückgelassen hatten. Er bezahlte mit Gewichtsgeld - Silbermünzen, die aus aller Herren Länder stammten und mit denen nach Gewicht bezahlt wurde. Wenn das Gewicht nicht genau hinkam, wurden die Münzen einfach zerbrochen, weswegen man auch vom Bruchgeld sprach. Münzen aus Bagdad waren ebenso darunter wie Silberstücke mit dem Kopf des Kaisers von Konstantinopel.
„Ich werde einiges davon sparen, um mir Klingen aus Damaskus leisten zu können“, sagte Oleg.
„Die kannst du mit gefangenen Greifvögeln bezahlen“, erwiderte Einar.
Die Wikinger luden sich die Fälle auf den Rücken. Auch Ragnar musste ein Bündel nehmen. Dann marschierten sie zurück zum Schiff und stiegen an Bord. Die Felle wurden gut festgebunden. Schließlich sollten sie nicht über Bord gehen, wenn die SCHAUMKRONE in turbulentes Wetter geriet.
Einar wandte sich an seinen Sohn.
„Dies war der letzte Pelzhändler, den wir auf dieser Fahrt besuchen“, erklärte er.
„Dann geht es jetzt wieder zurück nach Holmgard?“
„So ist es.“
„Und wann fährst du auf das richtige Meer hinaus?“, fragte Ragnar.
Die Seen um Holmgard waren alle untereinander durch Flüsse miteinander verbunden. Über dieses System aus Flüssen und Seen konnte man schließlich auch in die Ostsee gelangen, über die man segeln musste, wenn man in die eigentlichen Heimatländer der Wikinger gelangen wollte.
Immer wieder hatte Ragnar davon gehört. Von der Insel Gotland, wo sich einer der größten Märkte befand – oder die fernen Wikingerhäfen Birka und Haithabu. All das wollte Ragnar nur zu gerne einmal mit eigenen Augen sehen.
Während die Schaumkrone vom Ufer abgestoßen wurde und der Wind ins Segel fiel, dachte Ragnar darüber nach, wie er seinen Vater doch noch davon überzeugen konnte, dass er als Schiffsjunge auf die Reise gehen durfte.
Aber der Tod seines Bruders hatte die Chancen dafür natürlich noch verschlechtert. Schließlich dachte Einar auch daran, wer einmal sein Nachfolger werden konnte, wenn ihm selbst vielleicht etwas zustieß.
Zwar hatte Ragnar noch weitere Geschwister, aber die waren jünger und es würde noch eine Weile dauern, bis von ihnen jemand Einar helfen konnte.
Es war bereits dunkel, als die SCHAUMKRONE in den Hafen von Holmgard zurückkehrte. Holmgard lag an einem kleinen Fluss, der zwei Seen miteinander verband. Die Siedlung wurde durch einen Halbkreis aus angespitzten Holzpalisaden umgeben, die den Ort vor Angriffen von außen schützen sollten. In der Mitte war ein Platz, auf dem der Thing abgehalten wurde – die Versammlung der freien Männer, die über alles entschieden und auch Gericht hielten, wenn ein Verbrechen geschehen war. Unter den Häusern waren zwei verschiedene Arten deutlich zu unterscheiden. Die quadratischen Blockhäuser der Slawen und die länglichen Holzhäuser der Wikinger. Beide Bevölkerungsgruppen lebten in Holmgard friedlich zusammen.
Im Hafen lag eine Reihe von Schiffen vor Anker. Die meisten waren schlanke Schniggen, denn im Inneren Russlands musste ein Schiff manchmal über mehrere Kilometer über Land von einem Fluss zum anderen gezogen werden. Und dafür waren allzu große Schiffe einfach ungeeignet. Aber es gab auch einige der größeren Schiffstypen im Hafen von Holmgard. Eine paar Skaids, die bis zu 60 Mann Besatzung hatten oder ein Draken mit bis zu hundert Mann. Und natürlich der Knorr, der viel breiter war als die anderen, vornehmlich als Kriegsschiffe verwendeten Typen.
Die großen Schiffe kamen fast immer von der Ostsee, denn auf hoher See hatten sie gegenüber den kleineren Vorteile. Zum Beispiel waren die Wandungen höher, sodass nicht so schnell Wasser ins Innere spülen konnte, wenn der Wellengang hoch war.
Nur wenige der Schiffe waren allerdings im Moment schon einsatzfähig. Während des eisigen Winters hatten viele von ihnen Schäden davongetragen und jetzt wurde überall fleißig repariert. Das Hämmern war meilenweit zu hören.
Einar lächelte, als er das sah. „Gut, dass wir bereits so früh damit angefangen haben – so waren wir mit die ersten, deren Schiffe bereits einsatzfähig waren!“
„Sieh nur, ein besonders großer Knorr!“, meinte Ragnar bewundernd und deutete auf eines der Schiffe, das fast so breit wie zwei Schniggen war. An Bord befanden sich zahlreiche Tiere – vor allem Pferde und Rinder – die nun vorsichtig über eine ausgeklappte Holzbrücke an Land gebracht wurden. Ein Rind scheute zurück. Ein lautes Muhen war zu hören. Das Tier rutschte auf den Planken aus, kam wieder auf die Beine und erreichte schließlich doch das Ufer.
„Diesen bemalten Wolfskopf am Bug kenne ich doch!“, murmelte Einar. „Das ist das Schiff von Björn Olavson aus Haithabu!“ Er stieß Ragnar an. „Komm, lass ihn uns begrüßen! Dass er so früh im Jahr nach Holmgard kommt, kann nur heißen, dass die Wasserwege inzwischen überall eisfrei sind!“
Björn Olavson war ein mächtiger Wikinger aus dem fernen Haithabu. Ein Händler und Schiffsbauer, der ein bis zweimal im Jahr nach Holmgard fuhr, um Waren dorthin zu bringen und mit einem Schiff voller Pelze zurückzukehren. Einar Einarson war gut mit ihm befreundet. Björn nahm einen großen Teil der Pelze, die Einar von den slawischen Jägern erwarb, an Bord seiner Knorr und verkaufte sie dann auf dem Markt von Haithabu weiter.
Immer wenn Björn Olavson nach Holmgard gekommen war, hatte Ragnar gespannt den Geschichten gelauscht, die dieser Mann am Lagerfeuer erzählte. Geschichten von fernen Ländern, die Ragnar unbedingt auch einmal sehen wollte.
Während Einars Gefolgsleute die Pelze entluden und zum Langhaus von Einar Einarson und seiner Familie brachten, gingen Ragnar und sein Vater auf die Anlagestelle zu, an der die Knorr von Björn Olavson festgemacht war.
NJÖRDS FREUDE hieß Björns Schiff, wie an den Runen zu sehen war, die deutlich sichtbar in das Holz eingebrannt worden waren. Njörd war der Gott des Meeres, der auch Feuer und Wind beherrschte. Unter anderem beschützte er den Handel. In kleineren Runen stand unter dem Schiffsnamen ein Zauberspruch, der das Schiff und seine Besatzung vor Piraten und schlechtem Wetter bewahren sollte und außerdem vermerkte, wer diesen Knorr gebaut hatte: Björn Olavson, der beste Schiffsbauer von Haithabu.
Björns Reichtum gründete sich tatsächlich auf seinem Können als Schiffsbauer. Seine Schiffe wurden weithin gerühmt – und wenn darauf eingebrannt war, wer es gebaut hatte, so sollte das jeden, der das Schiff sah, dazu anregen, ebenfalls ein Schiff bei Björn Olavson in Auftrag zu geben.
Björn war ein sehr großer, breitschultriger Mann. An seinem Gürtel hing eine langstielige Streitaxt. Ein langes gerades Schwert trug er über den Rücken gegürtet.
Der flachsblonde Bart wuchs fast bis unter die Augen. Er trug einen Helm mit einem tief herabreichenden Nasenschutz, der schon einige Kratzer und Dellen aufwies. Dellen, die davon zeugten, dass dieser Helm seinem Träger wohl schon des Öfteren mal das Leben gerettet hatte.
„Sei gegrüßt, Einar!“, rief Björn, als er Einar Einarson sah. „Ich hoffe, du hast eine ausreichende Ladung an Pelzen für mich, damit ich nicht mit einem halbleeren Knorr zurück nach Haithabu segeln muss!“
„Wir kommen gerade von einer Pelzfahrt zurück und wenn du willst, kannst du die Ware gerne später prüfen – nachdem du in meinem Haus als Gast reichlich Met getrunken und etwas gegessen hast!“
„Das Angebot deiner Gastfreundschaft nehme ich gerne an!“, sagte Björn. „Und das Met, das ich beim letzten Mal in deinem Haus trank, ist das beste Bier, das ich seit langem zu mir nahm. Ich hoffe, du hast ein paar Fässer davon, die ich dir abkaufen kann!“
Einar lachte. „Gewiss! Das Met kommt aus Kiew! Mein Lieferant war schon vor drei Wochen hier – aber da war unser Hafen noch vereist und so musste seine Schnigge fünf Meilen südlich anlegen.“
Björn Olavson runzelte die Stirn. „Du willst mir damit doch nicht etwa sagen, dass du etwas auf den Preis aufschlagen willst, weil ihr die Met-Fässer meilenweit über das Land tragen musstet!“
Einar grinste. „Da du es schon erwähnst, Björn… Natürlich schlägt sich das im Preis nieder!“
Björn lachte dröhnend und erschlug Einar freundschaftlich auf die Schulter. „Von dir kann man wirklich lernen, wie man feilscht und die Preise hochtreibt, Einar!“ rief er amüsiert. Dann wandte er sich Ragnar zu. „Dein Ältester ist seit letztem Jahr ja gar nicht mehr gewachsen, Einar!“
„Das ist nicht mein Ältester“, erwiderte Einar. Sein Tonfall veränderte sich dabei. „Ragnar ist mein zweitgeborener Sohn. Der rote Einar ist in diesem Winter am Fieber gestorben.“
„Oh, das tut mir leid“, sagte Björn. Er sah Ragnar einmal von oben bis unten an. „Wie alt bist du jetzt?“, fragte er.
„Dreizehn Jahre“, gab Ragnar Auskunft.
„Kannst du die Runen lesen?“
„Einigermaßen. Ab und zu kommt ein Wanderlehrer vorbei, der mich unterrichtet und mir auch die alten Geschichten über die Götter erzählt…“
„Interessieren dich Schiffe?“
„Ich träume davon, auf einem der großen Draken als Schiffsjunge mitzufahren, die bis nach Island segeln!“
„Dann verstehe ich nicht, weshalb du noch hier in Holmgard bist! Von Holmgard aus segeln doch viele Schiffe los!“
„Mein Vater meint, dass ich noch zu jung dafür bin, um auf einem Seeschiff mitzufahren“, sagte Ragnar kleinlaut.
Björn runzelte die Stirn. „Zu jung? Da kann man geteilter Meinung sein. Aber du bist auf jeden Fall alt genug, um etwas zu lernen. Ein gutes Handwerk zum Beispiel, das man überall braucht und einem an jedem Ort gut vergolten wird.“
„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wovon jetzt die Rede ist“, sagte Ragnar.
„Na Schiffbau natürlich! Ich nehme an, dass du die Listigkeit und den Geschäftssinn deines Vaters geerbt hast - wenn du dazu noch lernst, wie man gute Schiffe baut, brauchst du dich um dein Auskommen niemals zu sorgen! Wenn du willst kannst du in meiner Werkstatt in Haithabu das Schiffsbauer-Handwerk lernen!“
Ragnar blickte zu seinem Vater.
Es war durchaus üblich, dass die Söhne reicher und vornehmer Wikinger zu Bekannten geschickt wurden, damit sie dort eine Ausbildung bekamen. Und was den Schiffsbau betraf, so war Björn Olavson sicherlich einer der besten Lehrmeister, die man sich denken konnte.
Björn strich den Bart glatt und fuhr dann fort: „Ich weiß, dass du lieber gleich zur See fahren würdest, Ragnar. Das ist mir in deinem Alter genauso gegangen. Aber denk mal einen Augenblick darüber nach: Du lernst zwei oder drei Jahre bei mir das Handwerk und danach wird dich jeder Wikinger-Kapitän gerne überallhin mitnehmen. Aber nicht nur als Schiffsjunge! Sondern als ein vollwertiger Gefolgsmann, der seinen fairen Anteil an der Beute oder dem Gewinn der Fahrt bekommt! Na, was sagst du? Wäre das nichts für dich?“
Der Gedanke, in Haithabu das Schiffsbauer-Handwerk zu lernen, gefiel Ragnar durchaus. Leute, die sich darauf verstanden, waren bei den Kapitänen sehr begehrt, denn während längerer Seefahrten kam es immer wieder vor, dass Schiffe repariert werden mussten. Manchmal, wenn eine Wikingerflotte unbekanntes Gebiet erkundete, war es sogar notwendig, dass man an Land ging, um ein kleinere Beiboote anzufertigen, mit denen man dann auch sehr flache Wasserläufe erkunden konnte.
„Das ist ein sehr großzügiges Angebot“, sagte Ragnar.
„Ein Angebot, das ich durchaus nicht jedem mache“, erwiderte Björn. „Aber dem Sohn von Einar Einarson schon! Überleg dir das! Du wirst es nicht bereuen!“
Ragnar hätte am liebsten sofort zugestimmt. Aber er wusste, dass er das zuerst mit seinem Vater besprechen musste. Also bedankte er sich nur noch einmal für das Angebot. Björn sagte, dass er wahrscheinlich drei Tage in Holmgard bleiben würde. „Du musst dich entschieden haben, bis wir wieder ablegen.“
„Wir werden darüber beraten“, versprach Einar Einarson, der wohl bemerkt hatte, dass sein Sohn von der Idee ziemlich begeistert war.
Ein Mann mit pelzbesetztem Helm trat auf Einar zu. Er musterte Björn abschätzig. Ragnar schenkte er nur einen kurzen Blick und wandte sich dann Einar zu.
„Ich hoffe, ich komme nicht zu spät, um dir ein paar Zobelfelle abzukaufen“, sagte er.
„Tut mir leid, ich habe Björn Olavson bereits die gesamte Ladung versprochen!“
„Und du hast nicht auch für mich noch in paar Zobel- und Hermelin-Felle? Alles andere mag bekommen wer will, ich bin nur an den wertvollsten Pelzen interessiert!“
Jetzt mischte sich Björn Olavson ein. „Wer ist dieser Mann, Einar?“
„Das ist Hakan Holgarson“, stellte Björn ihn vor. „Aber man nennt ihn auch Hakan den Geizigen, weil keiner die Preise herunterzuhandeln vermag wie er!“
„Das klingt, als wärst du ein gefährlicher Mann, Hakan!“, lachte Björn.
Aber Hakan Holgarson machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich werde ja wohl keine Gelegenheit zum Handeln bekommen, da du schneller warst und mir bereits alles weggeschnappt hast!“
„Hör zu, Hakan“, forderte Björn dann. „Ich will nicht, dass du unglücklich wirst. Such dir also je ein Zobel- und Hermelinfell aus und mach mit Einar darüber einen Preis aus! Das will ich dir zugestehen!“
Hakan Holgarson seufzte. „Das ist immerhin besser als gar nichts!“
Ragnar kannte Hakan Holgarson recht gut. Der geizige Mann war ein einzigartiges Verhandlungstalent. Aber in diesem Fall nützte ihm wohl auch sein Verhandlungsgeschick nichts.
Hakan hatte seinen Beinamen der Geizige allerdings nicht nur wegen seines Geschicks beim Herunterhandeln von Preisen.
Er war auch berüchtigt dafür, dass er die Münzen des silbernen Gewichtsgeldes nicht nur in zwei Stücke, sondern manchmal in drei oder vier zerschlug.
Neben dem Schwert trug er dazu einen Hammer an der Seite. Er hing in einer Schlaufe an seinem breiten Gürtel, dessen bronzene Schnalle mit feinen Gravuren versehen war.
Bei dem Hammer war an der Schlagseite ein Stück abgebrochen, sodass eine scharfe, gezackte Kante entstanden war. Wenn er damit eine Münze teilte, konnte man diese Zackenlinie hinterher am Rand des Stücks sehen. Und wenn er nicht richtig traf, grub sich diese Form in das weiche Silber wie ein Abdruck ein.
Als Ragnar noch klein gewesen war, hatte er Hakan den Geizigen mal ganz unverblümt gefragt, wieso ein Mann wie er, der doch ziemlich reich und wohlhabend war, sich keinen neuen Hammer leisten konnte.
„Ich kann ihn mir schon leisten!“, hatte Hakan Holgarson damals gesagt. „Aber ich will es nicht! Denn dieses Stück hat mir Glück gebracht! Und ich denke, es ist Thor selbst, der seine Hand über mir hält, weil ich diesem Hammer die Treue gehalten habe! Ich werde ihn auf keinen Fall aufgeben!“
Einar ging zusammen mit Ragnar und Hakan Holgarson zurück zur Schaumkrone. Ein Teil der Ladung war dort noch zu finden. Einar wies Ragnar an, eines der Bündel mit Fellen zu öffnen, sodass sich Hakan ein gutes Stück Pelz aussuchen konnte.
Hakan der Gierige war sehr wählerisch dabei und Einar Einarson verdrehte schon die Augen.
Nachdem sich Hakan endlich entschieden hatte, griff er zu dem Beutel an seinem Gürtel. Die Silberstücke, die er in seine Handfläche gleiten ließ, waren überwiegend sehr klein und viele von ihnen zeigten die typische Zackenlinie an der Kante.
„Es macht doch immer wieder Freude, mit dir Geschäfte zu machen“, sagte Einar, nachdem sie sich geeinigt hatten.
„Du hast den Rest deiner Felle voreilig verkauft!“, erwiderte Hakan Holgarson. „Ich wette, dass dein Käufer dir nicht so einen guten Preis gemacht hat!“
Als Hakan gegangen war, wandte sich Einar an Ragnar. Er zeigte ihm die Hand voller Silberstücke. „Sieh dir das an, wie viel Hakan bezahlt hat!“
„Und er war nicht einmal richtig hartnäckig beim Handeln!“, stimmte Ragnar zu.
Einar lachte. „Kein Vergleich mit seinem sonstigen Geschachere! Er muss diese Pelze wirklich sehr dringend brauchen!“
Björn und seine Männer genossen Gastfreundschaft im Haus von Einar Einarson. In diesem Haus lebten nicht nur Einars Familie, sondern auch seine Gefolgsleute und deren Angehörige. Das waren freie Männer, die für Einar arbeiteten oder auf seinem Schiff dienten. Außerdem gab es noch Leibeigene, Knechte und Mägde und deren Kinder, die ebenfalls in dem großen Langhaus wohnten, das nur aus einem einzigen Raum bestand. An beiden Seiten waren Erdwälle aufgeschüttet, die mit Matten und Strohsäcken ausgelegt waren. Dort saß man und schlief in der Nacht.
Lediglich der Hausherr und seine Frau hatten zum Schlafen einen schrankähnlichen Holzverschlag für sich allein. Alkoven nannte man so etwas, was von dem arabischen Wort für Nische kam.
Einar hatte es erst im letzten Jahr gebaut und Björn Olavson bewunderte es sehr.
„Al-Kubba nennen das die Araber“, sagte Einar.
„Ein sehr erfindungsreiches Volk“, meinte Björn anerkennend. „Stammt von denen nicht auch die Sitte, Greifvögel zum Jagen abzurichten?“
„So ist es. Aber es gibt auch sehr befremdliche Sitten unter ihnen. Zum Beispiel sollen ihre Ritter angeblich einer geliebten Frau Lieder zur Laute singen.“
„Das ist eine Sitte, die sich ruhig bis zu uns ausbreiten dürfte!“, mischte sich Solveig Thorbjörnstochter ein. Sie war Ragnars Mutter, was an den roten Haaren leicht zu erkennen war. „Das Essen ist fertig“, sagte sie. „Keiner deiner Männer soll heute hungrig oder durstig die Augen schließen!“
Björn grinste. „Das klingt gut“, meinte er.
Ragnar hörte den Erzählungen am Feuer zu. Björn Olavson und seine Männer hatten zuerst viel gegessen. Anschließend wurden immer wieder die Trinkhörner mit Met gefüllt. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung.
Björn berichtete über Neuigkeiten, die sich in Haithabu ereignet hatten.
„Ich bin jetzt zum Jarl gewählt worden“, berichtete Björn.
„Meinen Glückwunsch“, gab Einar zurück. „Aber deinem Ansehen ist diese Wahl durchaus angemessen.“
„Es ist auch nicht immer ganz einfach, die Streitigkeiten zu schlichten. Das wichtigste ist, das Leben der ausländischen Kaufleute zu schützen, die nach Haithabu kommen. Sie haben ja keine Sippe, die sie im Streitfall unterstützen könnte und stehen bei einem Streit völlig allein da! Wenn man sie nicht schützt, dann bleiben sie dem Markt von Haithabu fern und das wiederum hätte verheerende Auswirkungen.“
Ein Jarl wurde von den freien Männern gewählt. Normalerweise wurde ein besonders angesehener oder vermögender Mann dazu bestimmt.
„Bei euch untersteht der Jarl doch inzwischen einem König, wenn ich recht informiert bin“, stellte Einar fest. „Das bedeutet, du bist in deinen Entscheidungen nicht nur vom Thing abhängig…“
„Bei euch hier oben ist das noch anders, ich weiß“, nickte Björn.
„Was soll das heißen - noch?“
Björn lachte und nahm einen weiteren Schluck Met. „Wir haben es uns auch nicht ausgesucht, einen König über uns zu erheben. Aber wir mussten uns gegen Feinde zusammenschließen. Der deutsche König würde Haithabu nur zu gerne mit seinen sächsischen Kriegern in Besitz nehmen und zu seinem eigenen Hafen machen. Und sollten sich die slawischen Stämme um Holmgard mal gegen euch zusammenschließen, dann habt ihr hier dasselbe Problem und werdet sicher auch einen König über euch erheben!“
Einar schüttelte den Kopf. „Die Stämme dieser Gegend führen dauernd Krieg untereinander. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie sich gegen uns zusammenschließen!“
„Ich wünsche dir, dass du Recht hast!“ Björn nahm einen Beutel von seinem Gürtel und öffnete ihn. Er war mit Gewichtsgeld aus Silber gefüllt. Im Schein des Feuers waren die Münzen gut zu sehen. „Manche meinen, dass man aus dem Wurf von Knochen oder der Beschaffenheit bestimmter Organe bei geschlachteten Tieren die Zukunft vorhersagen kann. Ich kann es anhand dieser Münzen!“
Ragnar rückte etwas näher ans Feuer heran, um besser sehen zu können. Er runzelte die Stirn und fragte sich, wie Björn das gemeint haben mochte. Wollte der Jarl von Haithabu hier und jetzt vielleicht irgendein magisches Ritual durchführen? Dann wollte er das nicht verpassen.
Einar runzelte skeptisch die Stirn.
„Sieh dir diese Münzen an, Einar!“, sagte Björn. „Ich habe das meiste davon auf einem Markt auf Gotland eingenommen. Das meiste Silber besteht aus arabischen Dirhem und ein kleinerer Teil zeigt den Kopf des Kaisers von Konstantinopel.“
„Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst, Björn!“, gestand Einar kopfschüttelnd.
„Es fließt ein Strom von Silber aus Konstantinopel, Arabien und Persien von Süden nach Norden durch das Land der Rus – immer entlang der Flüsse. Ich sage dir, dieser mächtige Silberstrom wird früher oder später die Gier von Neidern erregen! Es wird sich herumsprechen, welche Reichtümer in unseren Schiffen über die Flüsse geschafft werden und manche von denen, die davon hören, werden aufbrechen, um sich selbst etwas davon zu nehmen. Die Ersten wird man abwehren, aber es werden weitere kommen und früher oder später wird man sich auch im Land der Rus unter Königen zusammenschließen müssen, um sich gemeinsam zu verteidigen! Das ist die Zukunft, die ich für euch hier in Holmgard sehe, Einar.“
Ragnar hörte gespannt zu, wie Björn davon sprach, dass es eigentlich unvermeidlich war, dass auch im Land der Rus irgendwann ein König erhoben werden würde.
Aber mit der Zeit schweifte er ab und er sprach immer mehr von den weiten Reisen, die er unternommen hatte. Er berichtete von dem geheimnisvollen, nebelverhangenen Land auf dem es Feuer speiende Vulkane und eisige Gletscher gab.
„Island wird es genannt.“
„Ich habe davon gehört. Soll es dort nicht heiße Quellen geben, deren Wasser urplötzlich mehr als zwei Schiffslängen hoch aufspritzen kann?“, fragte Einar.
„Diese Quellen gibt es. Geysire nennt man sie. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen – genauso wie die Feuer speienden Berge. Leider gibt es nur wenig fruchtbares Land dort – und das wenige ist bereits verteilt. Aber das hat auch sein Gutes.“
„Wieso?“
Björn senkte den Tonfall und sprach nun leiser weiter. „Weil es deswegen nur wenig Wald auf Island gab – und der wurde inzwischen so gut wie völlig abgeholzt!“
Ragnar begriff sofort. „Das bedeutet, die Isländer können weder Häuser noch Schiffe bauen!“, entfuhr es ihm.
Björn drehte sich zu ihm um. Dass er dazwischen redete, wenn die Erwachsenen sich unterhielten, war eigentlich nicht angemessen, aber Björn Olavson schien Ragnar das nicht weiter übel zu nehmen. Er nickte lächelnd.
„Du bist ein schlaues Kerlchen, Ragnar! Genauso ist es! Die Isländer müssen ihr Holz von anderswo bekommen. Es gibt bereits mehrere Schiffsführer in Haithabu, die in dieses Geschäft eingestiegen sind und Holz nach Island bringen – und ich selbst überlege, ob ich in dieses Geschäft nicht auch einsteigen soll.“ Björn zwinkerte Ragnar zu. „Mir persönlich wäre es natürlich am liebsten, die Wikinger von Island würden nicht nur Holz bei mir kaufen – sondern gleich ganze Schiffe! Damit könnte ich noch einen wesentlich höheren Gewinn erzielen!“
Mit der Zeit wurde das Gespräch für Ragnar uninteressanter. Björn und Einar begannen um den Preis für die Met-Fässer zu feilschen.
Ragnar ließ den Blick durch die Halle des Langhauses schweifen. Björns Männer amüsierten sich allesamt prächtig. Aber zwei von ihnen fielen Ragnar auf. Der eine hatte eine Narbe quer über die Wange unter dem linken Auge. Dem anderen hing um den Hals ein Amulett, das aus dem Elfenbein eines Walrosszahns herausgeschnitzt worden war. Es stellte einen Hammer dar und sollte wohl eine magische Schutzwirkung auf seinen Träger ausüben.
Mjöllnir!, dachte Ragnar sofort. So hieß der Hammer des Donnergottes Thor. Zauberkundige Zwerge hatten Thor diesen Hammer der Legende einst geschmiedet und er ließ sich so groß oder so klein machen, wie es dem Donnergott beliebte. Wenn Thor den Hammer schleuderte, traf Mjöllnir bei jedem Wurf und kehrte in die ausgestreckte Hand des Gottes zurück. Dabei pflegte Thor breitbeinig auf seinem von zwei Ziegenböcken gezogenen Wagen zu stehen, mit dem er über den Himmel fuhr. Unter dessen Rädern blitzte es. Die Erde erbebte und begann zu brennen und die Felsen zerrissen. Man sprach dann vom Dröhnen Thors – dem Donner. Deswegen lautete ein anderer Name Thors auch Donar und man hatte sogar einen Tag nach ihm benannt – den Donnerstag.
Der Mann mit dem Mjöllnir-Amulett griff immer wieder mit der rechten Hand an den Miniatur-Hammer aus Elfenbein und es schien Ragnar fast so, als bräuchte er in besonderem Maß den magischen Schutz des Donnergottes.
Der Mann sagte nichts. Er saß nur da, während der Mann mit der Narbe fortwährend auf ihn einredete. Allerdings so leise, dass nicht ein einziges Wort davon bis zu Ragnar herüber drang.
Auf jeden Fall war es auffällig, wie ernst die beiden waren.
Eine der leibeigenen Mägde, die im Haus von Einar Einarson dienten, kam mit einem Krug voller Met zu ihnen, um ihre Trinkhörner zu füllen.
Aber sie lehnten erstaunlicherweise beide ab.
Der Mann mit dem Mjöllnir-Amulett stand nun auf und ging zur Tür des Hauses.
„Nun warte doch, Snorre!“, rief der Mann mit der Narbe ihm zumindest so laut hinterher, das einige der anderen Männer für kurze Zeit abgelenkt waren und sich umdrehten.
Er erhob sich nun ebenfalls und folgte dem Mann, den er Snorre genannt hatte. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen einen Krug mit Met, der einem der anderen Männer gehörte, die in Björn Olavsons Diensten standen.
„Kannst du nicht aufpassen, Leif?“, fauchte der Mann, dessen Hose jetzt mit Met durchtränkt war.
„Stell dich nicht so an!“, murmelte der Mann mit der Narbe und versuchte, sich vorbeizudrängen, aber der Mann mit der bekleckerten Hose stand jetzt ebenfalls auf. Jetzt erst war zu sehen, dass er den Mann mit dem Namen Leif um fast anderthalb Köpfe überragte.
Ein Riese von einem Mann.
Er war Ragnar schon ganz zu Anfang deswegen aufgefallen und er glaubte, dass es in ganz Holmgard wohl keinen anderen Mann gab, der auch nur annähernd gleich groß war.
Der Riese packte Leif am Oberarm, bevor dieser ihm entweichen konnte.
„Warte und stiehl dich nicht einfach so davon, Leif. Wenigstens entschuldigen könntest du dich! Du hast doch noch kein Auge im Kampf verloren. Da kann man doch wohl sehen, wohin man tritt! Oder ist es zu viel verlangt, ein bisschen vorsichtig zu sein?“
„Ist ja schon gut!“, knurrte Leif, der offenbar nichts anderes im Sinn hatte, als möglichst schnell zur Tür zu gelangen. Snorre war inzwischen schon ins Freie getreten.
Auf einmal herrschte Stille im Langhaus.
Niemand sagte ein Wort – aber hier und da wanderten Hände zu den Schwertgriffen und Axtstielen.
„Ich möchte keinen Streit in meinem Haus!“, erklärte Einar Einarson unmissverständlich.
Leif und der Riese funkelten sich mit abschätzigen Blicken gegenseitig an. Beide waren sehr aufgebracht und Ragnar verstand nicht so recht, weshalb eigentlich. Ein wirklicher Grund für einen handfesten Streit war eigentlich nicht vorhanden.
Einar wandte sich an Björn Olavson. „Es sind deine Leute, unter denen der Streit ausgebrochen ist, also ist es auch an dir, zwischen ihnen zu schlichten.“
„Das will ich gerne tun“, sagte Björn und erhob sich jetzt. Die Daumen seiner Hände klemmte er hinter den breiten Gürtel, den er trug. „Missbraucht nicht die Gastfreundschaft von Einar Einarson“, sagte er sehr ernst.
„Er soll sich entschuldigen!“, knurrte der Riese.
Leif atmete tief durch und presste dann hervor: „Tut mir leid, Knut!“
Knut ließ ihn los. „Na also! Geht doch! Und sieh in Zukunft zu, dass du kein Met mehr verschüttest, du Trottel.“
Leif drehte sich um und ging zur Tür. Geräuschvoll schlug er sie hinter sich zu.
„Es ist nichts geschehen, was der Erwähnung wert wäre!“, sagte Björn Olavson.
Und Einar ergänzte: „Es gibt noch viel Met zu verteilen! Wer noch Durst hat, möge sein leeres Trinkhorn heben!“
Die Sache schien unter den Männern schnell vergessen zu sein. Ragnar hörte, Björn Olavson davon erzählte, dass die beiden Streithähne sich von Anfang an nicht gut miteinander verstanden hätten. „Eigentlich hatte ich gedacht, dass die Sache inzwischen aus der Welt wäre – aber da habe ich mich wohl geirrt!“
„Einer von beiden wird wahrscheinlich in Zukunft seinen Weg allein gehen müssen“, vermutete Einar.
Björn zuckte mit den Schultern. „Gute Leute sind schwer zu finden“, meinte er. „Das macht eine solche Entscheidung nicht leicht. Und außerdem haben sie sich bislang noch immer zusammengerauft…“
Snorre und Leif kehrten sehr spät zum Langhaus ihres Gastgebers zurück. Es schliefen bereits alle. Ragnar wurde wach und beobachtete, wie die beiden Männer sich zu ihren Schlafplätzen schlichen und in ihre Decken einhüllten.
Wo waren sie so lange gewesen?, fragte sich Ragnar. Auf jeden Fall hatten sie sich wieder beruhigt. Ragnar war nach wie vor sehr müde und so schlief er bald wieder ein.
Als er am nächsten Morgen erwachte, stellte er fest, dass die Decken von Snorre und Leif zusammengerollt waren.
Die beiden Männer schienen bereits in aller Frühe aufgestanden zu sein, während der Rest der Wikinger noch tief und fest schlief. So manchem von ihnen brummte vermutlich noch der Schädel, weil es am vergangenen Abend viel zu spät geworden war und man einfach zu viel Met getrunken hatte.
Nach und nach wurden alle, die im Langhaus von Einar Einarson geschlafen hatten wach. Man reckte sich und nach und nach waren Stimmen zu hören.
Die Unterhaltungen vom Vorabend wurden fortgesetzt. Ragnar lauschte den erstaunlichen Erzählungen über ferne Länder und den Gefahren auf See. Er fand es immer faszinierend, den Berichten von erfahrenen Seefahrern zuzuhören, wenn sie schilderten, wie Schiffe kenterten und andere Wikinger sie überfallen und ausgeplündert hatten – oder wie sie Tempel, Klöster und Städte in fernen Ländern ausgeraubt hatten. Es gab so viele Länder und so wundersame Dinge, dass man sie sich kaum vorstellen konnte. Bei manchen Berichten fragte sich Ragnar auch, ob sie überhaupt der Wahrheit entsprechen konnten.
Ragnar war jedoch kaum aufgestanden, da drückte seine Mutter ihm einen Eimer in die Hand.
„Hol Wasser“, sagte sie.
Ragnar wusste, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Nicht nur die Leibeigenen und Sklaven mussten Wasser schleppen, damit immer genug davon im Haus war, sondern auch der Älteste des Hausherrn.
„Mach den Eimer nur halbvoll“, riet ihm die Mutter. „Das ist schwer genug.“
„Ich kann auch mehr tragen!“
Sie lächelte. „Im Moment vielleicht, aber wenn dir später bei jeder Bewegung der Rücken schmerzt, hat niemand etwas davon, dass du heute den Eimer zu voll gefüllt hast!“
Ragnar ging mit dem Eimer zum Flussufer. Er war nicht einzige, der vom Langhaus Einar Einarsons aus losgeschickt worden war, um Wasser zu holen. Mehrere Kinder von Leibeigenen und Gefolgsleuten waren ebenfalls unterwegs.
Er ging also zum Ufer und füllte den Eimer mit Wasser.
Meistens schaute er dann noch ein paar Augenblicke bei den Schiffen im Hafen.
Der Knorr von Björn Olavson war eindeutig das größte und beeindruckendste Schiff. Es war an einem der Stege festgemacht worden, die in den Fluss hineinragten. Kleinere Schiffe zog man einfach die flache Uferböschung hinauf.
In Ufernähe befanden sich einige einfache Holzbauten, die als Lagerhäuser dienten. Waren, die aus dem Süden kamen, wurden hier ausgeladen, eingelagert und später auf größere Schiffe umgeladen, die dann über mehrere Flüsse und Seen schließlich in die Ostsee gelangten.
Außerdem hatten sich mehrere Schiffswerften in Ufernähe angesiedelt. Schiffe, die unterwegs beschädigt worden waren, konnten hier von geschickten Handwerkern wieder instand gesetzt werden und ab und zu wurden auch neue Schiffe gebaut.
Eine halbfertige Schnigge war am Flussstrand zu sehen. Der abnehmbare Drachenkopf fehlte noch ebenso wie der Mast und ein Teil der Planken.
Als Ragnar hinter einem der Lagerhäuser hervorkam, entdeckte er Snorre und Leif. Sie bemerkten ihn nicht, sondern standen etwas abseits von den anderen, die sich zu dieser frühen Zeit schon im Hafen befanden. Außer denen, die für ihre Häuser Wasser holten, waren das vor allem Wächter, die zur Bewachung des Hafens abgestellt worden waren. Die wertvollen Waren, die dort die Besitzer wechselten, lockten natürlich Neider an, die diesen Besitz auch gerne gehabt hätten. Also musste immer dafür besorgt werden, dass genügend Wächter eingeteilt wurden.
Ein kühler Wind strich über den gesamten Ort und trug die Unterhaltung zwischen Snorre und Leif zumindest teilweise an Ragnars Ohr.
„Björn Olavson wird sich noch wundern.“
„Ja, ich freue mich schon auf den Gesichtsausdruck, den er machen wird, wenn er die Wahrheit erfährt!“
„Aber dann wird es zu spät sein!“
„Du sagst es!“
„Wie gut, dass er uns völlig vertraut…“
„Ich hoffe nur, dass alles glatt geht! Sonst wird uns Björn Olavsons Zorn treffen, dass sage ich dir! Und dann Gnade uns Thor!“
Den Rest konnte Ragnar nicht verstehen, wie er auch nicht genau hätte sagen können, wer von den beiden nun eigentlich was gesagt hatte. Leif drehte sich um und ließ den Blick über den Hafen schweifen. Kurz blickte er auch in Ragnars Richtung. Leif hatte graue Augen wie die Falken, die von Holmgard aus an die Araber verkauft wurden.
Dann drehte er sich wieder um und zog Snorre mit sich. Was die beiden nun redeten, davon konnte Ragnar nur noch Bruchstücke verstehen.
„Hey, schläfst du im Stehen ein?“, fragte plötzlich eine Stimme von hinten.
Ragnar zuckte zusammen. Er drehte sich herum und sah in das Gesicht von Thorfinn. Den erfahrenen Gefolgsmann von Einar Einarson nannte man auch Thorfinn den Grauen, weil sein Haar inzwischen ebenso ergraut war wie sein langer Bart. Er deutete auf den Wassereimer, den Ragnar abgestellt hatte. „Ich könnte mir denken, dass jemand darauf wartet!“
„Ja“, sagte Ragnar.
Dann fiel Thorfinns Blick auf die NJÖRDS FREUDE, den Knorr von Björn Olavson. Ein Lächeln glitt über das Gesicht des Grauen. „Ja, jetzt verstehe ich. Da ist schon ein besonderes Schiff. Da kann man schon einen Moment ins Träumen kommen!“
„Björn Olavson muss wirklich ein hervorragende Schiffsbauer sein“, meinte Ragnar.
„Worauf du wetten kannst! Ich bin schon auf Schiffen gesegelt, die Björn geschaffen hat! Da geht auch nach Jahren nichts aus dem Leim und die Dichtungen aus Pech lassen nichts durch. Er hat einfach ein Gefühl für das Holz und weiß, was aus einem Stamm werden kann und wie weit man ihn biegen darf…“
„Kennst du Snorre und Leif?“, fragte Ragnar und deutete auf die beiden, die sich jetzt an Bord von NJÖRDS FREUDE begaben.
„Das sind zwei Männer aus Björns Gefolge! Ich glaube sie waren auf jeden Fall schon letztes und vorletztes Jahr dabei, als Björn mit seinem Schiff in Holmgard anlegte.“
„Was hältst du von denen?“
„Ehrlich gesagt kenne ich sie nicht weiter. Wir haben zusammen Met getrunken und keinen Streit. Warum fragst du?“
„Ach nichts“, meinte Ragnar.
Er brachte den Eimer mit Wasser zum Langhaus, wo seine Mutter schon darauf wartete.
„Dein Vater möchte mit dir sprechen“, sagte sie. „Es geht wohl darum, ob du mit Björns Schiff nach Haithabu fährst und dort den Schiffsbau lernst…“
„Ja“, sagte Ragnar nur.
Seine Mutter lächelte. „Ich hätte dich natürlich lieber hier. Das habe ich Einar auch gesagt. Aber andererseits ist es für dich die Möglichkeit, etwas zu lernen – und das bei einem der besten Lehrmeister, die man sich denken kann.“ Sie legte Ragnar eine Hand auf die Schulter. „Also, auch wenn es schwer fällt, dich ziehen zu lassen – so weiß ich, wie wichtig es ist, etwas zu lernen. So eine Möglichkeit darf man nicht vorbeiziehen lassen!“
„Ja, das denke ich auch, Mutter“, sagte Ragnar.
Er fand seinen Vater wenig später hinter dem Langhaus, wo er Felle nach unterschiedlicher Qualität sortierte. Er legte die Zobelfelle, die er von Olegs Stamm gekauft hatte, auf den Haufen.
„Hier sieh dir diese Felle an! Ausgezeichnete Qualität ist das!“, meinte Einar, als er Ragnar bemerkte. „Schade um die Felle, die von den Räubern mitgenommen worden sind! Oleg wird sich auch darüber ärgern! Ich hoffe nur, dass Oleg meinen Rat annimmt und einige der Schwerter aus Damaskus kauft.“
„Das wäre dann auch gleichzeitig ein gutes Geschäft!“, meinte Ragnar.
„Du hast es erfasst. Ich habe übrigens auch mit Björn Olavson darüber gesprochen. Im Rheinland werden Klingen gefertigt, die sehr bruchsicher sein sollen. Wenn Björn das nächste mal nach Holmgard kommt, will er mir davon einige mitbringen – und vielleicht kann ich dann davon ein paar an Oleg und seinen Stamm weiterverkaufen…“ Einar Einarson stemmte die kräftigen Arme in die Hüften, machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: „Da wir gerade von Björn Olavson sprechen…“
„Ich würde gerne mit Björn Olavson nach Haithabu fahren und sein Angebot annehmen“, sagte Ragnar.
„Er wird dir sicher ein guter Lehrmeister sein“, meinte Einar. Er klopfte Ragnar auf die Schultern. „Wenn du dann später nach Holmgard zurückkehrst, wirst du mir Schiffe bauen, die so genial konstruiert sind, dass sie flussaufwärts und gegen den Wind segeln können.“
Beide lachten.
„Ich fürchte, so genial sind nicht einmal die Schiffskonstruktionen von Björn Olavson“, meinte Ragnar lachend. Doch dann wurde er wieder ernst. „Ich muss dich etwas fragen, Vater.“
„Dann frag!“
„Unter den Gefolgsleuten von Björn Olavson sind zwei Männer, die Snorre und Leif heißen.“
Einar nickte. „Richtig. Was ist mit denen?“
„Ich fürchte, sie führen irgendetwas gegen Björn im Schilde.“ Und dann berichtete Ragnar in allen Einzelheiten von dem Gespräch, das er zwischen den beiden mitangehört hatte. „Mehr habe ich leider nicht mitbekommen! Aber jetzt frage ich mich, ob man Björn nicht warnen müsste?“
Einar überlegte einen Moment und schüttelte dann entschieden den Kopf. „Ohne zu wissen, ob an diesem Verdacht wirklich etwas dran ist? Wahrscheinlich hast du das ganze einfach nur falsch verstanden.“
„Aber ich weiß doch, was ich gehört habe!“, widersprach Ragnar.
„Ja, aber was du gehört hast, kann man doch auch ganz anders verstehen. Leif und Snorre sind alte Gefolgsleute von Björn. Als Björn noch Plünderfahrten an die englische Küste unternahm, haben sie ihn schon begleitet und an seiner Seite gekämpft. Glaub’s mir, die beiden sind über jeden Zweifel erhaben!“
„Aber die beiden haben wollen irgendetwas gegen Björn unternehmen! So klang das jedenfalls für mich!“
„Ja, weil du nur ein paar Sätze aus dem Zusammenhang gerissen gehört hast und gar nicht weißt, was sonst noch gesprochen wurde. Oder hast du irgendeinen klaren Beweis dafür, was die beiden angeblich planen?“
„Nein“, schüttelte Ragnar den Kopf.
„Na also! Was sollte man Björn also sagen? Dass seine Männer irgendetwas Seltsames gesagt haben, das man nicht richtig verstehen konnte und er sie deswegen aus seiner Mannschaft werfen soll?“
„Zumindest sollte man ihn warnen!“
„Vor zwei einer treuesten Gefolgsleute? Ohne Beweise?“ Einar atmete tief durch. „Was glaubst du wohl, was das auf dich für ein Licht wirft, wenn du Snorre und Leif ungerechtfertigterweise beschuldigst, und es stellt sich alles als ganz harmlos heraus? Ich weiß nicht, ob Björn dann sein Angebot, dich in seinem Haus aufzunehmen und auszubilden zurückzieht.“
„Also soll Björn davon nichts erfahren?“, vergewisserte sich Ragnar.
„Du würdest Misstrauen säen, ohne einen Beweis zu haben. Was würdest du sagen, wenn jemand falsche Anschuldigungen über dich verbreitete? Du kannst so etwas nur vorbringen, wenn du dir wirklich sicher bist – und nach allem, was du mir davon berichtet hast, kannst du das nicht sein. Also kann ich dich nur beschwören, nichts zu sagen.“
Ragnar überlegte. Natürlich wollte er niemanden ungerechtfertigterweise beschuldigen und im Grunde genommen hatte sein Vater ja auch recht! Ragnar wusste nicht das Geringste über den Plan der beiden und da er nur einen kleinen Teil des Gesprächs mit angehört hatte, konnte es durchaus sein, dass er alles falsch verstanden hatte.
Allerdings nahm Ragnar sich vor, aufzupassen. Er wollte Snorre und Leif gut im Auge behalten – bei allem, was sie taten oder sagten.
Der Augenblick des Abschieds war schließlich gekommen, als Björns Schiff vollständig beladen war. Die Felle waren mit Tauen gut gesichert – so wie alle anderen Waren auch. Schließlich wollte man vermeiden, dass bei aufgewühlter See irgendetwas über Bord ging.
Natürlich sollten vor allem die wertvollen Pelze auch nicht nass werden, zumal das Salzwasser der offenen See die Ware angreifen konnte. Die Pelze wurden dann strubbelig und verloren ihren Glanz und ihre Weichheit, wenn sich Salz dort absetzte. Aber dass Wasser über die Reling spritzte war kaum zu vermeiden. Auch bei einer breiten Knorr wie Björns Schiff NJÖRDS FREUDE nicht.
Daher wickelte man alles von außen mit weniger wertvollen Tierhäuten ein – zum Beispiel Kuhhäuten. Die waren durchaus auch gut weiterzuverkaufen, denn man machte Leder aus ihnen. Manchmal auch Pergament, um darauf zu schreiben. Aber sie waren natürlich weit weniger empfindlich als die Felle von Bären, Wölfen, Zobeln oder Hermelinen.
Ragnar hatte seine Sachen in ein Bündel geschnürt, das er ebenfalls gut festband.
Kurz bevor es losging, bekam Ragnar von seinem Vater noch ein Geschenk.
Es war eine Axt, die sehr leicht in der Hand lag und einem verkürzten Stiel hatte. Solche Äxte dienten gleichzeitig als Waffe im Kampf und als wichtigstes Werkzeug. Die Axtklinge glänzte und war blitzblank. Ragnar strich über das Metall. Eine Seite war scharf und glatt geschliffen, die andere dafür flach und gerade, sodass man sie als Hammer benutzen konnte, um Nägel ins Holz zu treiben.
„Wenn du den Schiffsbau erlernst, sollst du dein eigenes Werkzeug haben“, sagte Einar zu seinem Sohn.
„Danke, Vater.“
„Steck sie dir hinter den Gürtel. Wenn du zurückkommst, bekommst du ein Schwert! Aber dafür bist du jetzt noch zu jung.“
Ragnar schob die Axt hinter den Gürtel.
„Ja, Vater.“
„Und noch etwas sollst du mitnehmen!“ Er gab ihm einen kleinen Lederbeutel. „Sieh hinein!“
Ragnar öffnete ihn und sah darin kleine Silberstücke! Es war der Preis, den Hakan Holgarson bezahlt hatte, wie man an deren Form sehen konnte.
„Danke!“, stieß Ragnar hervor.
„Wer weiß, vielleicht brauchst du sie mal in Haithabu!“
Später stand Ragnar doch lange am Heck von Björns Schiff, als es davon segelte. Der Wind stand günstig, sodass selbst in dem schmalen Fluss nicht gerudert werden musste.
Der Steuermann hieß Harald. Er stand hinten im Schiff und umfasste den Balken, der als Ruderpinne diente und das Steuer bewegte. Dieses Steuer, das aus einer ins Wasser ragenden hölzernen Platte bestand, befand sich bei Wikinger-Schiffen immer rechts – auf Steuerbord eben.
Schließlich erreichte der Knorr einen riesigen See, den man überqueren musste. Der Wind blieb günstig und so hatte man bei Einbruch der Dunkelheit die andere Seite erreicht.
Über Nacht ging man an Land und machte den Knorr am Ufer fest. Es wurde Wachen eingeteilt und ein Lagerfeuer entzündet.
Ragnar saß bei den Männern am Feuer. Man hörte die Wölfe heulen, die nach dem langen, harten Winter nicht genug zu fressen hatten und deswegen sehr gefährlich werden konnten.
Aber dem Feuer blieben sie fern.
Die Männer tranken viel Met. Es wurde gegessen und schließlich machte Harald, der Steuermann einen Vorschlag.
„Lasst doch den alten Thorstein ein paar Geschichten erzählen!“, schlug er vor. „Da haben wir mal an einen Skalden an Bord und ich finde, der sollte sich seine Überfahrt auch verdienen!“
Die anderen stimmten.
Der alte Thorstein war ein Mann mit vollkommen weißen Haaren, das ihm aber bis über die Schultern hing. Sein Bart war ebenso weiß und reichte ihm bis zur Brust hinunter. Niemand wusste genau, wie alt er war – und er selbst hätte das wohl nicht so genau sagen können. Abgesehen von einem Schwert, das bereits eine Reihe von deutlich erkennbaren Dellen hatte und an dessen Spitze auch ein Stück abgebrochen war, gehörte auch noch eine Laute zu seinem Besitz. Dieses hölzerne Seiteninstrument benutzte er dazu, um seinen Gesang zu begleiten. Singen, dichten und Geschichten erzählen – das waren die Aufgaben eines Skalden. Oft lebten sie eine Zeitlang in den Häusern reicher Wikinger, denn gerade während der langen Wintermonate herrschte viel Langeweile. Da war es gut, wenn jemand für Unterhaltung sorgte.
Ragnar kannte Thorstein. Er hatte bei verschiedenen Gelegenheiten auch schon dessen Liedern gelauscht. Außerdem beherrschte Thorstein recht gut die Runenschrift. So ließ man von ihm gerne etwas auf eine Tierhaut oder eines der wenigen Pergamente, die zur Verfügung standen, vorschreiben, wenn man zum Beispiel einen Runenstein anfertigen wollte. Dort wurden besondere Taten eines Wikingers in Stein gemeißelt, sodass noch viele Jahre nach dessen Tod sich Menschen daran erinnerten, was er getan hatte.
Oft ging es allerdings nur darum, einfache Zaubersprüche und Verfluchungen in Holzstücke zu ritzen, mit deren Hilfe dann irgendjemanden durch die magische Kraft dieser Zeichen entweder Schaden oder Nutzen gebracht werden sollte.
Aber so etwas tat Thorstein nicht gern. Er wusste nur zu gut, dass daraus ansonsten hinterher die erbittertesten Kämpfe entstehen konnten. Und wenn am Ende ganze Sippen gut bewaffnet aufeinander losgingen, war das für alle Beteiligten ein großes Unglück.
„Ja, erzähl uns von den Göttern!“, mischte sich Björn Olavson ein. Er deutete auf Ragnar. „Wir haben schließlich jemanden unter uns, der noch sehr jung ist und diese Geschichten vielleicht noch nicht oft genug gehört hat, um sich die Götter zum Vorbild oder auch zur Warnung nehmen zu können!“
„Ist doch gleichgültig, was Thorstein erzählt!“, meldete sich nun Snorre zu Wort. „Hauptsache, es ist nicht so langweilig, dass wir alle dabei einschlafen und am Ende von den Wölfen gefressen werden!“
Die anderen Männer verfielen in dröhnendes Gelächter.
Ragnar versuchte in Thorsteins hellblauen Augen sehen zu können, wie der Skalde gestimmt war und ob die Chance bestand, dass er sich überreden ließ.
„Ihr wollt einem alten Mann nicht die Nachtruhe gönnen, wie mir scheint“, meinte er.
Aber Ragnar hatte ihn ja schon bei anderer Gelegenheit erlebt und wusste, dass er sich gerne etwas bitten ließ, ehe er seine Erzählungen zum Besten gab.
„Schenkt mir erst noch einmal das Trinkhorn voll Met ein“, forderte er.
Einer der Männer tat das sofort, damit der alte Thorstein den Beginn seiner Erzählung nicht noch weiter hinauszögerte.
Als das Horn halb voll war, schritt jedoch Björn Olavson ein.
„Das ist genug!“, rief er. „Schließlich darf Thorstein auf meinem Schiff mitfahren, ohne dafür bezahlen zu müssen, oder dass jemand von ihm erwarten würde, dass er mit rudert, wenn der Wind gegen uns steht!“
Und so nahm Thorstein noch einen letzten Schluck und begann dann von den Göttern zu erzählen. Davon, dass die Welt nur bestehen konnte, weil die Götter gegen Riesen gekämpft und sie vertrieben hatten. „Aber eines Tages“, so erzählte Thorstein, „kehren die Riesen zurück und werden den Göttern in der Schlacht von Ragnarök gegenüberstehen – der letzten Schlacht, die je geschlagen werden wird! Für diese Schlacht rüsten sich die Götter bereits und die tapfersten Krieger der Menschen werden an ihrer Seite reiten!“
Thorstein erzählte dann von Odin, dem Ranghöchsten unter den Göttern. Er war einäugig, weil er ein Auge dafür geopfert hatte, vollkommene Weisheit zu erringen. Er war es auch, der die magischen Runen gefunden hatte und daher galt er als Beschützer der Skalden. „Wenn Odin seinen Speer Gugnir schleudert, so trifft er jedes Ziel!“, erzählte der alte Thorstein und obwohl die Männer diese Geschichten alle schon einmal in leicht veränderter Form von anderen Skalden gehört hatten, so waren sie doch ganz Ohr. Niemand sagte ein Wort. Nur das Prasseln des Lagerfeuers, das Rauschen der Wellen auf dem nahen See und das ferne Heulen der Wölfe war zu hören. „Und wenn Odin mit seinem achtbeinigen Hengst Sleipnir daher reitet, dann sitzen zwei Raben auf seinen Schultern. Einer heißt Hugin, das bedeutet Gedanke. Der andere heißt Munin, das bedeutet Erinnerung. Sie sind Odins ständige Begleiter. Jeden Morgen sendet er sie aus, damit sie ihm anschließend davon berichten, was in der Welt geschieht. Wer weiß, vielleicht beobachten sie uns gerade…“
Dann erzählte Thorstein von den in der Schlacht gefallenen Helden, die in Odins Kriegerhalle Walhall empfangen wurden. Dort bewirteten sie Frauen, die Walküren genannt wurden, mit Met. „Aber eines Tages werden diese Helden zusammen mit den Göttern in die letzte Schlacht gegen die Riesen ziehen“, fuhr Thorstein fort. „Das wird dann Ragnarök sein, der Weltuntergang. Die Erde, die Götter, die Menschen und alle Lebewesen werden dann vernichtet.“
Ragnar hatte diese Geschichte vom bevorstehenden Untergang der Welt schon oft gehört, aber kaum einer konnte sie so ein eindrucksvoll erzählen wie Thorstein. Er schilderte in allen Einzelheiten, wie die Schar der Riesen alles zerschlug und keinen der Götter verschonte. Odin konnte ihnen ebenso wenig widerstehen wie sein Sohn, der Donnergott Thor mit seinem Ziegenwagen oder Meeresherrscher Njörd und der Kriegsgott Tyr, der als Tapferster unter den Göttern galt.
Da Thorstein so eindrucksvoll und gut zu erzählen vermochte, war Ragnar stärker beeindruckt als sonst. Und das ging nicht allein ihm so! Auch einige der Männer saßen noch einige Zeit schweigend und gedankenverloren da, nachdem Thorstein bereits mit den Worten „So endet die Geschichte der Welt und der Götter!“ geschlossen hatte.
Björn Olavson fand als Erster seine Sprache wieder.
„Keine besonders guten Zukunftsaussichten, würde ich sagen“, meinte er. „Aber wenigstens wird man in Odins Walhall vorher noch eine Weile von den Walküren bewirtet, wenn man als tapferer Held gestorben ist!“
„Trotzdem ist es kein schöner Gedanke, dass die Riesen einst zurückkehren und alles zerstören“, fand Ragnar.
„Es kehrt alles zu dem Zustand zurück, wie es vor der Erschaffung der Welt und dem Auftreten der Götter gewesen ist“, erklärte der alte Thorstein mit leiser, brüchiger Stimme. „Die Menschen können nur existieren, weil die Götter die alles zerstörenden Riesen vertrieben haben, aber irgendwann werden sie im Kampf gegen die Mächte des Chaos unterliegen. Das ist dann das Ende.“
Harald der Steuermann stocherte etwas im Feuer herum und sagte dann: „Kein Wunder, dass immer mehr von uns sich vom Glauben die alten Götter abwenden und sich Religionen zuwenden, die bessere Aussichten versprechen“, meinte er.
„Sprichst du vom Christengott?“, fragte Ragnar.
Harald sah Ragnar an und hob die Augenbrauen. „Hat man bei euch in Holmgard auch schon davon gehört?“
„Sicher! Im Süden sind sogar schon einige Jarle mit ihren Männern zum Glauben der Christen übergetreten“, erklärte Ragnar.
„Bei uns in Haithabu wohnt ein Mönch. Er heißt Bruder Rupert und versucht auch Anhänger für seinen Glauben zu finden“, nickte Björn Olavson. „Allerdings mit wenig Erfolg – obwohl sein Glaube davon ausgeht, dass dieser Jesus durch seinen Tod die Welt erlöst hat, was ja wohl um einiges freundlicher klingt als die Aussicht, dass irgendwann die ganze Welt unter den Füßen von Riesen zertrampelt wird.“
„Ich glaube, den Jarlen im Süden geht es mehr um den Handel“, sagte Thorstein. „Ich war lange dort. Viele Wikinger glauben, dass man besser Handel treiben kann, wenn man den Glauben seiner Handelspartner annimmt. Sie vertrauen einem dann eher!
„Und im Reich des Kaisers von Konstantinopel herrscht das Christentum“, nickte Harald. „Davon habe ich auch schon gehört.“
„Und weshalb werden dann die Jarle im Süden keine Muslime?“, mischte sich Ragnar ein und wandte sich damit an den alten Thorstein. „Schließlich kommen doch die meisten Waren, die Holmgard erreichen, aus dem Reich des Kalifen von Bagdad! Und dort ist der Islam die beherrschende Religion.“
Thorstein lächelte. „Dein Gedanke ist gar nicht so dumm, Junge! Darüber wurde sogar nachgedacht!“, bestätigte der Skalde. „Allerdings hat der Islam einen Nachteil, der nicht aufzuwiegen ist! Selbst durch das schönste Paradies nicht – oder dadurch, dass die Welt doch gerettet wird!“
Ragnar zuckte die Schultern. „Wovon sprichst du?“
Thorstein hob sein Trinkhorn. „Davon“, sagte er. „Der Islam verbietet Met und Wein! Und ich glaube, dieses Opfer würde kaum ein Wikinger bringen!“
Am nächsten Morgen wurde das Lager in aller Frühe aufgeräumt und man ging wieder an Bord des Schiffes. Der Wind hatte nachgelassen und etwas gedreht. Er kam jetzt sehr ungünstig. Die Männer setzten sich an die Ruderriemen. Dann ging es am Seeufer entlang, bis die Mündung eines Flusses gefunden wurde, auf dem man sich mit der Strömung treiben ließ. Nur der Steuermann Harald hatte buchstäblich alle Hände voll zu tun. Schließlich erreichten sie das offene Meer – die Ostsee.
Ragnar nahm der Anblick völlig gefangen. So weit er auch sah – das Wasser schien überhaupt kein Ende zu haben. Selbst am Horizont war kein Ufer zu sehen. Das große, oft geflickte Segel wurde gesetzt und festgezurrt.
Der Wind kam von der Seite, aber die schnittige Form des Wikingerschiffs lenkte die Kraft nach vorn. Es pflügte durch das Meer. Die Wellen kamen schräg von der Seite und schaukelten das Schiff immer wieder hin und her.
Der Geruch von Salzwasser und Seetang hing in der Luft.
„Jetzt geht es nach Haithabu!“, meinte Ragnar.
„Mit einem kleinen Zwischenhalt“, erwiderte Björn Olavson.
„Was meinst du damit?“, hakte der Junge nach.
„Wir fahren zuerst nach Gotland. Von dieser Insel wirst du ja wohl schon gehört haben!“
„Natürlich!“, bestätigte Ragnar. „Sehr viele Schiffe, die in Holmgard anlegen, kamen von dort.“
Gotland war eine Insel mitten in der Ostsee. Das wusste Ragnar. Und ihm war auch bekannt, dass sich dort einer der größten Märkte überhaupt befand. Hin und wieder kamen auch Wikinger von der Insel nach Holmgard und brachten die eine oder andere Neuigkeit von dort mit.
„Wir werden in Gotland zusätzliche Ware an Bord nehmen und vielleicht auch etwas von dem verkaufen, was wir gegenwärtig an Bord haben“, kündigte Björn Olavson an. Er zwinkerte Ragnar zu. „Drück mir die Daumen dafür, dass mir Njörd seinen Segen für meine Geschäfte gibt.“
„Worauf du dich verlassen kannst“, erwiderte Ragnar.
Für lange Zeit gab es nichts anderes zu tun, als sich irgendwo im Schiff einen Platz zu suchen und sich gut festzuhalten, damit man nicht bei einer mächtigen Welle über Bord geschleudert wurde.
Der Wind wurde immer heftiger und zeitweilig drückte er so stark ins Segel, dass der Knorr sehr schief im Wasser lag. Jetzt bewährte es sich, dass die gesamte Ladung gut festgebunden war, denn sonst wäre sie ins rutschen geraten. Das hätte womöglich zum Kentern führen können.
Immer heftiger wurde der Wind und Harald der Steuermann konnte das Steuer nicht mehr alleine halten. Ein anderer Mann half ihm. Er hieß Herjolf und man nannte ihn auch Herjolf Ohnehaar, weil er kaum noch Haare auf dem Kopf hatte, obwohl er erst dreißig Jahre alt war. Aber Herjolf Ohnehaar war sehr kräftig. Ragnar hatte mitbekommen, wie die anderen darüber redeten, dass es niemanden gäbe, der Herjolf im Armdrücken besiegen könnte.
„Los, hilf auch mit, Junge!“, forderte Harald der Steuermann Ragnar auf, nachdem der Wind besonders heftig ins Segel fuhr.
„Ich?“, fragte Ragnar verdutzt. Er kauerte bei einem der Packen mit Fellen und klammerte sich fest. Jeder an Bord hatte sich einen sicheren Platz gesucht, an dem man sich gut festhalten konnte.
„Gibt es noch einen Jungen hier?“, fragte Harald.
„Lass ihn!“, meinte Herjolf Ohnehaar. „Der Knirps hängt sich doch höchstens noch ans Steuer dran, anstatt dass er schon kräftig genug wäre, um es halten zu können!“
„Du unterschätzt ihn!“, meinte Harald.
Ragnar erhob sich. Das Schiff stand schief. Es hob und senkte sich, und Ragnar musste sehr gut balancieren, um nicht sofort zu Boden zu taumeln. Nach ein paar Schritten erreichte er das Steuer und klammerte sich am Steuer fest. Wieder drückte der Wind ins Segel und Ragnar hielt ebenso wie Harald der Steuermann und Herlof Ohnehaar mit aller Kraft und dem ganzen Körpergewicht dagegen.
„Na, hast du dir die Fahrt auf dem offenen Meer so vorgestellt?“, fragte Harald an Ragnar gerichtet, nach dem der Druck auf das Steuer für kurze Zeit etwas nachgelassen hatte.
„Es ist schon etwas wüster als auf den Flüssen und Seen um Holmgard“, gab er zu. „Aber auch dort kann der Wind ziemlich heftig blasen.“
„Die Segelfläche ist zu groß!“, rief Harald. „Wir müssen reffen!“
Wenn ein Segel gerefft wurde, wickelte man es ein paar Mal um den Quermast. Dadurch wurde die Segelfläche kleiner und der Wind konnte nicht so viel Kraft entfalten.
Aber Björn Olavson war mit dieser Lösung nicht einverstanden.
„Wir lassen das Segel, wie es ist!“, rief er. „Ich will nicht, dass wir an Fahrt verlieren!“
„Und wenn wir ersaufen?“, rief Harald.
Björn machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ein Steuermann wie du wird das ja wohl zu verhindern wissen!“, war er überzeugt.
Aber schon im nächsten Moment spritzte kalte Gischt über den Schiffsrand, an dem die Schutzschilde der an Bord befindlichen Krieger festgemacht waren. Björn Olavson bekam das Wasser genau ins Gesicht.
Er schüttelte sich wie ein nasser Hund.
„Das war Njörds Antwort!“, rief der alte Thorstein, der ganz in der Nähe kauerte. „Er ist der Gott von Meer und Wind und wenn er dir so deutlich dazu rät, das Segel zu reffen, solltest du auf ihn hören!“
„Pah!“, machte Björn Olavson. Er deutete auf ein hammerförmiges Amulett, das er um den Hals trug. Es bestand aus dem Elfenbein eines Walrosszahns. „Es ist Thor, den ich mir als Schutzherrn auserkoren habe! Nicht Njörd, auch wenn ich ihm den Namen dieses Schiffes widmete! Aber Thor ist mächtiger als Njörd! Jeder weiß das hier!“
Björn Olavson setzte sich durch. Obwohl einige der Männer am liebsten das Segel gerefft hätten, um die Fahrt zu verlangsamen, ließ Björn das nicht zu.
Aber nach und nach ließ der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alfred Bekker
Bildmaterialien: Hubert Schweizer
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2014
ISBN: 978-3-7368-2048-7
Alle Rechte vorbehalten