Romane und Erzählungen von Alfred Bekker
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Romane und Erzählungen aus Raum und Zeit - von Ren Dhark-Autor Alfred Bekker - über 1200 Seiten Weltraumspannung!
Dies sind die Themen:
Nach einer großen Raumschlacht sollen die Überlebenden restlos ausgeschaltet werden - aber ein Raumkomandant wird zum Rebell...
Lange herrschte zwischen de Inneren Planeten und den Randwelten ein kalter Krieg - als man wieder Kontakt miteinander aufnimmt, hat sich vieles verändert...
Ein mörderischer Computervirus macht Jagd auf einen Privatagenten - und hetzt ihn durch die halbe Galaxis...
Ein Mann sucht die absolute Wahrheit - und finet sie auf einem Wasserplaneten...
Ein Agent des IMPERIUMS DER HUMANITÄT muss eine Mission auf einem Hinterweltlerplaneten erfüllen, wo sich das Schicksal des Universums entscheidet...
Unter dem Eispanzer eines abgelegene Planeten lauert eine interstellare Waffe von ungeahnter Stärke - und nur die umweltangepassten Planetarier haben den Schlüssel dazu. Doch für sie ist diese Waffe - ein göttliches Wesen.
Angehörige einer galaktischen Widerstandsorganisation landen auf der Erde - sie kommen im Auftrag von Außerirdischen...
Die Sternenreiche der Lakorniden und Aulaner liegen seit langem im Krieg. Doch gibt es einen weiteren Machtfaktor: Eine planetengroße Weltraumstadt.
Das Terranische Imperium wird durch eine Invasion von Androiden bedroht. Arn Polos letzte Hoffnung ist ein gewaltiges Raumschiff, die TERRA NOVA...
Dieses E-Book enthält folgende, auch einzeln lieferbare Romane und Erzählungen:
Rebellen zwischen den Sternen
Randwelten
Mega Killer - Hetzjagd im All
Der galaktische Faust
Die Skorpion-Reiter von Candakor
Planet der Eissegler
Angriffsziel Erde
ACAN – Die Weltraumstadt
Die Androiden-Chronik
Es gab eine Zeit, in der man die Erdmenschen Madanoi nannte. Das bedeutet im Allgemeinsprech der Fünf-Völker-Allianz KALIMPAN so viel wie „Eroberer“.
Aus der Galaktischen Chronik
*
Ein Trümmerhaufen! Mehr ist nicht geblieben! Der klägliche Rest einer großen Raumflotte... Und wir glaubten uns schon dem Sieg so nah, als wir das Heimatsystem der Madanoi erreichten!
Admiral Sekiros, Kommandant der STERN VON DAYNOR, dem daynidischen Flaggschiff der KALIMPAN-Flotte saß wie versteinert im Kommandantensessel der Zentrale.
Soeben war der Kontakt nach Caradal abgebrochen worden, weil ein starker Paliorac-Verband sich dem gegenwärtigen Standort der STERN VON DAYNOR näherte.
Die Lage war hoffnungslos. Zusammen mit einer Gruppe von insgesamt etwa 300 Allianzraumschiffen aus der ehedem nach zehntausenden zählenden Flotte, die an der Schlacht um das Madanoi-System mit der geheimnisumwitterten „Erde“, dem Hauptplaneten dieser verhassten Eroberer, teilgenommen hatte, schwebte die STERN VON DAYNOR zusammen mit diesem versprengten Rest im äußeren Bereich eines unbewohnten Sonnensystems. In den Allianz-Katalogen wurde es mit der Nummer 66789 geführt. Es handelte sich um eine Sonne im Stadium eines roten Riesen. Die inneren Planeten dieses Systems – so es sie denn irgendwann einmal gegeben hatte – waren vermutlich von Stern 66789 verschluckt worden, als dieser seine äußere Hülle aufblähte. Bei den noch vorhandenen Planeten handelte es sich um Gasriesen, die jeweils von einem Schwarm planetoidenhafter, oft unregelmäßig geformter Monde umgeben wurden, von denen im Laufe der Zeit einer nach dem anderen aus seiner Umlaufbahn gerissen und ins Innere des Roten Riesen gezogen wurde.
Mehrere dieser Gesteinsbrocken befanden sich gerade auf der letzten, irregulären Reise ins rote Höllenfeuer.
Und ihnen werden wohl auch einige unserer Raumschiffwracks folgen, ging es Sekiros bitter durch den Kopf.
Durch eine Serie von Nottransitionen hatte sich dieser bunt zusammen gewürfelte Verband retten können, nachdem die Paliorac in die Schlacht um das Madanoi-System eingegriffen und die versammelte Allianz-Flotte vernichtend geschlagen hatten. Nur wenige KALIMPAN-Einheiten hatten sich retten können. Und diese Versprengten wurden nun nach allen Regeln der Kunst gejagt.
Die anorganischen Paliorac und die mit ihnen verbündete Flotte der Madanoi wollten letztlich die vollkommene Zerstörung der KALIMPAN-Flotte, um die zur Allianz gehörenden Welten ungehindert einnehmen zu können. Monate würde die vollständige Inbesitznahme des gewaltigen Territoriums dauern, das bislang von den KALIMPAN-Völkern beherrscht worden war. Allein die den Madanoi zum Verwechseln ähnlich sehenden humanoiden Dayniden siedelten in über tausend Sonnensystemen.
Aber nach dem Sieg über die KALIMPAN-Flotte gab es nichts mehr, was die Sieger noch daran hätte hindern können, ihre Beute in Besitz zu nehmen.
Sie konnten sich sogar Zeit dabei lassen...
Eine Erschütterung durchlief das Flaggschiff.
„Beschuss durch herannahende Madanoi-Einheiten“, meldete der Ortungsoffizier. „Schutzschirme auf siebzig Prozent. Leistungsfähigkeit sinkt. Ein Konverter ist ausgefallen.“
„Feuer erwidern!“, befahl Sekiros. „Wir müssen dem Angriff eine Weile standhalten!“
„Wäre nicht eine weitere Nottransition zu empfehlen?“, fragte Estan, der Erste Offizier der STERN VON DAYNOR.
Das Gesicht des Admirals wirkte wie aus Stein gemeißelt. Die Haare waren grau, fast weiß und sehr kurz. Das schockgrüne Innere seiner Augen bildete dazu einen markanten Kontrast. „Den Befehl dazu werde ich nur geben, wenn es nicht anders geht“, erklärte er. „Erstens kennen die Gegner den Code unserer Schiff-zu-Schiff-Kommunikation, den irgendwelche verfluchten Verräter ihnen offenbar zugespielt haben! Wir würden am Zielpunkt der Transition wieder nur wenige Augenblicke später auf sie treffen. Und zweitens könnten mindestens 30 Prozent unserer Einheiten einen Transitionssprung nicht mehr mitmachen... Wir müssten sie zurücklassen...“
Der Funkoffizier meldete sich.
Es kam eine Nachricht des Sheeg-Schiffs MATAN-RO herein.
Das Gesicht des echsenköpfigen Kommandanten erschien auf einem der Nebenbildschirme.
„Hier Sang-Toy, Kommandant der MATAN-RO. Unser Schiff steht vor der Explosion. Die Fusionskonverter haben ein kritisches Stadium erreicht. Schutzschilde sind zusammengebrochen. Ein Drittel der Besatzung konnte in Beiboote evakuiert werden und ist unterwegs zu anderen KALIMPAN-Schiffen... Aber wir werden jetzt beschossen!“
Die Übertragung wurde gestört.
Schlieren wanderten über das Bild. Der Ton wurde von Rauschen und Pfeiftönen unterbrochen.
Schließlich brach die Nachricht ab.
„Kommunikationskanal unterbrochen“, stellte der Funkoffizier fest.
„Drei Paliorac-Schiffe und mehrere Madanoi-Einheiten sind in der Nähe der MATAN-RO aus dem Hyperraum materialisiert und haben das Schiff eingekreist“, meldete der Ortungsoffizier.
Auf dem großen Panoramaschirm der STERN VON DAYNOR war im nächsten Moment eine gewaltige Explosion zu sehen, die für Sekunden den roten Riesen 66789 bei weitem überstrahlte.
„Das war die MATAN-RO!“, meldete der Ortungsoffizier.
Neben dem Hauptschirm befand sich eine kleine, dreidimensionale schematische Darstellung des Systems 66789, in der die Positionen der einzelnen Schiffe markiert waren. Es war deutlich erkennbar, wie immer weitere Paliorac- und Madanoi-Einheiten materialisierten. Sie kreisten dabei den Verband der KALIMPAN-Überlebenden geschickt ein und nahmen jeweils einzelne Einheiten gezielt unter Feuer. Ein weiteres Schiff explodierte. Es handelte sich um ein pfeilförmiges ovoanisches Schiff, das kaum noch manövrierfähig war.
Alles ist jetzt ein Wettrennen gegen die Zeit!, dachte Sekiros.
Überall versuchten die Kommandanten der stark angeschlagenen und teilweise kaum noch einsatzfähigen KALIMPAN-Schiffe, ihren Mannschaften mit Hilfe von Beibooten auf noch einigermaßen funktionsfähige Einheiten zu transferieren. Aber das brauchte Zeit. Und bei ständigem Beschuss durch den übermächtigen Feind glich dieses Unternehmen einem Himmelfahrtskommando.
Die Allianz-Schiffe wehrten sich so gut es ging.
Admiral Sekiros hatte den Befehl gegeben, sämtliche Einheiten von kleinen Kampfjägern, über die vor allem die Verbundraumer der Dayniden sowie die Schiffe der Tropoaner verfügten, auszuschleusen und damit die Evakuierungen zu schützen.
Er war sich des Risikos durchaus bewusst.
Eine schnelle Flucht durch Nottransition war jetzt nicht mehr möglich, es sei denn, man ließ nicht nur sämtlich manövrierunfähigen Schiffe und ihre Besatzungen zurück, sondern auch noch die Kampfjäger samt ihren jeweils aus zwei Piloten bestehenden Besatzungen.
Wir sind ihnen im Augenblick vollkommen ausgeliefert!, ging es dem Admiral durch den Kopf.
Er wandte sich an Estan.
„Modifizieren Sie das Matrix-Programm zur Generierung neuer Codes, wie es von der KALIMPAN-Flotte benutzt wurde.“
„Das dauert einige Zeit. Und ich werde Unterstützung dabei benötigen.“
„Sie bekommen jede Unterstützung, die Sie brauchen, Estan.“
„Warum benutzen Sie nicht das vorhandene Matrix-Programm, um einen neuen Kommunikationscode zu generieren?“
„Weil ich fürchte, dass die andere Seite nicht nur im Besitz der Codes, sondern auch der Matrix-Programme ist.“
„Wie kommen Sie darauf?“
Sekiros erhob sich aus seinem Schalensitz und sah Estan einen Augenblick lang nachdenklich an. „Bislang ist es nur Vermutung. Aber schon bald werden wir es mit Sicherheit wissen.“
„Wissen Sie eigentlich, was das bedeuten würde?“
„Es würde bedeuten, dass die Verräter auf allerhöchster Befehlsebene zu finden sein müssen. Und zwar auf Caradal... Aber schon um lediglich in den Besitz der gültigen Codes zu kommen, müssen ein paar ganz hohe Nummern in der Flottenhierarchie mitgemacht haben.“
Sekiros begegnete Estans Blick.
Ja, ich weiß, was du sagen willst!, durchzuckte es den Admiral. Jemand wie ich zum Beispiel... Der Verdacht würde mir an Estans Stelle auch kommen. Aber ich werde unter Beweis stellen, dass meine Loyalität der Allianz KALIMPAN gilt. Uneingeschränkt und ungeteilt.
„Ich mache mich gleich an die Arbeit“, versprach Estan. „Beordern Sie Chefmathematikerin Branalii zu mir.“
„In Ordnung.“
Eine erneute Erschütterung durchlief die STERN VON DAYNOR. Sekiros musste sich festhalten, um nicht zu Boden geschleudert zu werden.
„Schadensbericht!“, bellte Sekiros.
„Schwerer Treffer in Sektion 7“, berichtete der Ortungsoffizier. „Außerdem sind zwei Fesselfelder der Ringsektion ausgefallen und die Leistungsfähigkeit der Schutzschilde ist auf 50 Prozent abgesunken.“
Mehrere Paliorac-Schiffe waren im Anflug auf die STERN VON DAYNOR. Einige der ausgeschleusten Jäger flogen dem Feind entgegen und nahmen ihn unter Beschuss. Eines der Paliorac-Schiffe zerplatzte unter dem massiven Angriff. Die anderen wurden kaum getroffen. Sie feuerten stattdessen ihrerseits auf die Jäger, nahmen einen nach dem anderen unter Beschuss und ließen sie explodieren.
„Ausweichmanöver!“, befahl Sekiros an den Steuermann und Navigator gewandt.
„Ein Teil der Systeme arbeitet nur mit halber Leistung!“, meldete der Steuermann. „Wir sind nur noch eingeschränkt manövrierfähig.“
„Versuche Sie einfach Ihr Bestes, Palados!“, wies Sekiros den Zweiten Offizier und Steuermann der STERN VON DAYNOR an.
Den Waffenleitständen gab der Admiral die Anweisung, nur gezieltes Punktfeuer einzusetzen. Die Energievorräte mussten sparsam verwendet werden. Es nützte der Besatzung der STERN VON DAYNOR nichts, wenn die Feinde am Ende in die Flucht geschlagen wurden, aber das Raumschiff nicht mehr zu einer Transition fähig war.
Während der grausamen Raumschlacht am Rande des Madanoi-Systems hatten die Besatzungen der Feuerleitstände und Geschützbatterien an Bord der KALIMPAN-Schiffe gelernt, wie sie ein Paliorac-Schiff am wirkungsvollsten treffen mussten, um es auszuschalten.
Die Schirmprojektoren stellten eine Schwachstelle dar. Sie waren an der Unterseite der Paliorac-Schiffe angebracht. Traf man sie gut genug, dann brach der Schutzschirm zusammen. Allerdings war es nicht leicht, sie zu treffen. Nur mit außerordentlich konzentriertem, mit einer Präzision von wenigen Zentimetern treffenden Punktfeuer war es möglich, den Schutzschirm kurzfristig so zu schwächen, dass der Energiebeschuss sein Ziel erreichte und den Projektor nachhaltig zerstörte. War der Treffer exakt genug, kam es zu einer Art Kettenreaktion. Die anderen Projektoren fielen für Sekunden ebenfalls aus. Ein Treffer in dieser kurzen Zeitspanne konnte ungehindert durch die Außenhülle dringen und führte meistens zur Explosion des Schiffes.
Einen der Gegner vermochten die Besatzungen der Geschützbatterien an Bord der STERN VON DAYNOR zu vernichten. Ein anderes Paliorac-Schiff bekam schwere Treffer durch die umherschwirrenden Jäger und musste zunächst abdrehen.
Die Madanoi halten sich im Hintergrund!, fiel dem Admiral auf. Warum? Gibt es eine Art Rollenverteilung zwischen diesen ungleichen Verbündeten?
Es sah fast so aus.
*
Das irdische Raumschiff ALHAMBRA stand unter dem Befehl von Commander Martin Mallory, der auch den Oberbefehl über den Flottenverband führte, der die ALHAMBRA begleitete.
Insgesamt 50 Einheiten waren es, die gemeinsam mit den verbündeten Paliorac Jagd auf Überlebende der großen Schlacht machten.
Mallory war ein Nachfahre des gleichnamigen und legendär gewordenen Raumschiffkommandanten und späteren Flottenadmirals, der vom Jahr 17 nach der Ankunft an mit besonderer Kompromisslosigkeit die Expansion des irdischen Machtbereichs vorangetrieben hatte.
Die Alien-Master hatten Mallory seinerzeit mit den höchsten Ehren bedacht. Sein Nachfahre stand in einer langen Tradition von Flottenoffizieren, die es aber alle nicht vergleichbarem Ruhm geschafft hatten.
Commander Martin Mallory IV. hatte sich vorgenommen, der erste Mallory zu werden, der es mit dem berühmten Ahnherrn aufnehmen konnte.
Sein Ehrgeiz war entsprechend.
Ein Muskel zuckte unterhalb seines linken Auges, während er auf dem Schirm verfolgte, wie die Paliorac bereits ihre blutige Ernte unter den geflohenen KALIMPAN-Schiffen einfuhren.
Auch einige Schiffe seines Verbandes hatten bereits in die Kampfhandlungen eingegriffen.
Erster Offizier an Bord der ALHAMBRA war Jay Garcia, ein junger Mann mit dunklen Haaren, den Mallory nicht mochte, weil er zu schnell Karriere gemacht hatte. Nicht mehr lange und Garcia zog an ihm vorbei und besetzte dann womöglich für Jahrzehnte einen jener Posten, von denen der Commander glaubte, dass sie für einen Mallory reserviert sein sollten.
Aber irgendwann würde auch eine so perfekte Karrieremaschine wie Garcia einen Fehler machen. Und dann konnte Mallory ihn abservieren. Der Commander wartete schon auf diese Augenblick.
Von Ron Ashton, dem Zweiten Offizier der ALHAMBRA erwartete Mallory keine Gefahr. Er war nur ein durchschnittlicher Offizier. Gut genug, um keine gravierenden Fehler zu begehen, die man am Ende dem kommandierenden Offizier anlasten würde, aber nicht so von Ehrgeiz zerfressen wie Garcia, der es einfach nicht abwarten konnte, bis er die Karriereleiter emporsteigen konnte.
Ashton hatte derzeit die Position des Piloten an Bord der ALHAMBRA.
Er saß an seiner Konsole und steuerte das Großkampfraumschiff in die Außenbezirke jenes Pulks von etwa dreihundert teilweise schwer beschädigten KALIMPAN-Schiffe hinein, die sich an den Rand des Systems der zu einem gigantischen, glühenden Ballon aufgeblähten roten Riesensonne befanden.
Ron Ashton tat erst seit drei Monaten Dienst auf der ALHAMBRA und seither bereute er es, sich jemals für eine Beförderung beworben zu haben.
Aber er hatte ja nicht ahnen können, seinen Dienst als Zweiter Offizier der ALHAMBRA antreten zu müssen.
Mallorys Schiff.
Seinen Ehrgeiz befriedigte Mallory IV. durchaus mit Vorliebe auf dem Rücken seiner Mannschaft. Immer wieder spornte er sie zu besonderen Leistungen an, deren Lorbeeren er dann gegenüber dem Oberkommando ganz allein erntete.
Ashton hatte eine harte Ausbildung als Raumsoldat hinter sich. Er hatte auf Dutzenden von Planeten gekämpft und kleinere Einheiten kommandiert, ehe er sich dazu entschlossen hatte, die höhere Offizierslaufbahn in der Flotte einzuschlagen.
Ich bin Soldat im Dienst der Erde!, dachte Ashton unwillkürlich, als er die ALHAMBRA noch weiter an den Feind heranschweben ließ und die Geschütztürme zu feuern begannen. Aber ich bin kein Schlächter!
„Schutzschirme auf hundert Prozent!“, berichtete Jay Garcia von seiner Konsole aus. „Da sind einige kleinere Beiboote, die zwischen einzelnen Einheiten hin und her pendeln...“
„Die Feuerleitstände sollen sie einzeln ins Visier nehmen und abschießen“, befahl Mallory.
„Es sind keine Jäger“, gab Garcia zu bedenken. „Wahrscheinlich versuchen sich damit Besatzungen von manövrierunfähigen Schiffen zu retten.“
„Unsere Befehle sind eindeutig“, sagte Mallory kalt. „Von der KALIMPAN-Flotte soll möglichst nichts übrig bleiben. Und mit Gefangenen werden wir uns nicht belasten.“
Ron Ashton kannte diesen Befehl.
Er war auf Alien-Master-Ebene ergangen, der höchsten Befehlsstufe.
Die Begründung dafür war einleuchtend, zumindest wenn man zu der dafür notwendigen Kaltblütigkeit fähig war. Das gewaltige Territorium der Allianz war einzunehmen und zu kontrollieren. Den Großteil dieser Last würde die Streitmacht der Erde auf sich nehmen müssen, denn die Paliorac hatten nicht die Absicht sich an der Eroberung am Boden oder an Kämpfen auf einzelnen Planeten zu beteiligen.
Die Erdmenschen – von den anderen galaktischen Völkern mit einer Mischung aus Schaudern und Abscheu Madanoi genannt – hatten einfach die größere Erfahrung in der Besetzung und Kontrolle von Planeten, die von organischen Intelligenzen bevölkert waren.
Abermilliarden von Dayniden, Klooogh, Tropoanern, Sheeg, Sapanorii und Marashkanen waren mit Implantaten zu versehen, so wie es die Eroberer von der Erde bisher auch auf all ihren annektierten Welten praktiziert hatten.
Ein Bereich von mehreren tausend Sonnensystemen musste der Kontrolle durch das Palioroc-Gemeinschaftshirn auf Nharabaan und den als „die Alien-Master“ bekannten Herrscher auf der Erde unterworfen werden.
Der Sieg über die unterlegene KALIMPAN-Flotte war dagegen vergleichsweise schnell errungen worden.
Ron Ashton war überzeugt davon, dass die Erde das Recht und die Pflicht zu ihrer grenzenlosen Expansion hatte, die sie in den letzten zwei Jahrhunderten unter den Mworrn-Alien-Mastern betrieben hatte und sie zum Zentrum eines gefürchteten Sternenreichs hatte werden lassen.
Immer neue Welten waren unterworfen worden und auch Ron Ashton hatte daran seinen, wenn auch kleinen, Anteil gehabt.
Aber es war eine Sache, einen Feind zu besiegen und ihn zu vernichten, weil er der Durchsetzung der eigenen Mission im Weg stand oder auf einen Haufen Geschlagener zu schießen, die kaum mehr als das nackte Überleben hatten retten können.
Und genau das geschieht hier!, ging es Ron Ashton durch den Kopf, auch wenn sich alles in ihm dagegen sträubte, das wahrzuhaben zu wollen.
Ein Raumschiff der verhassten KALIMPAN-Allianz nach dem anderen wurde getroffen, zerbarst oder trieb in einen unrettbar beschädigten Zustand auf einen der Gasriesen zu, der es irgendwann in den Bann seiner Gravitation ziehen würde.
Verzweifelt versuchten sich die Besatzungen von zerschossenen, teilweise in Brand geratenen Schiffen mit Beibooten zu ihren Schwesterschiffen zu retten. Aber nur wenige erreichten ihr Ziel.
Die Paliorac waren ebenso hart und kompromisslos wie die Streitkräfte, die unter dem Oberkommando der Erde standen.
„Al-Habibi!“, bellte Mallory.
„Ja, Sir!“, meldete sich Ahmed Al-Habibi, der Ortungsoffizier der ALHAMBRA.
„Versuchen Sie die STERN VON DAYNOR zu finden!“
„Jawohl, Sir.“
„Das Flaggschiff der ehemaligen KALIMPAN-Flotte muss sich in dieser Ansammlung von Wracks befinden – und ich will derjenige sein, der es zur Strecke bringt!“
Ein Vorsprung durch Information – das war unser entscheidender Vorteil, dachte Ron Ashton, während er ein Ausweichmanöver flog und sich seine Finger dabei routinemäßig über den Touch-Screen bewegten, mit dessen Hilfe er das Schiff in seiner Gewalt hatte. Bei der großen Schlacht um das Sol-System kannten wir die Kommunikationscodes unserer Gegner. Und auch jetzt sind ihre Absichten für uns ein offenes Buch... Aber dadurch ist es auch kein Kampf mehr.
Die Paliorac hatten die Führungselite der KALIMPAN-Allianz durch Klon-Agenten ausgetauscht.
Und jetzt wurde für dieses Vorgehen durch die Verbündeten die Ernte eingefahren.
Wir wissen alles über sie, dachte Ashton. Al-Habibi wird einfach in den Original-Daten der KALIMPAN-Flottenregistratur nachsehen können, um die STERN VON DAYNOR zu finden...
„Ich habe das Flaggschiff gefunden“, erklärte Al-Habibi. „Der Kommandant ist ein gewisser Sekiros, oberster Admiral der KALIMPAN-Flotte.“
„Warum haben unsere Verbündeten nicht auch ihn gegen einen ihrer Klon-Agenten ausgetauscht?“, wunderte sich Mallory.
„Er steht auf der Liste der dafür vorgesehenen Personen“, gab Al-Habibi an. „Es gab da wohl eine Planungspanne. Der Austausch ist nie durchgeführt worden. Man hielt es offenbar für unnötig, das nachzuholen.“
„Positionsdaten?“, fragte Mallory militärisch knapp.
„Sind ins System eingespielt. Ashton müsste sie zur Verfügung haben“, erklärte Al-Habibi.
„Ashton, nehmen Sie Kurs auf die STERN VON DAYNOR. Wir werden einen Haufen Weltraumschrott aus ihr machen!“
„Ja, Sir!“, bestätigte Ashton.
*
Admiral Sekiros hatte Gelendos und Seban-234 in die Zentrale der STERN VON DAYNOR beordert. Seban-234 trat im Schutz seines Schattenfeldes in den Raum. Das Feld schützte den Kommandanten des in der Schlacht um das Madanoi-System vernichteten marashkanischen Spähschiffs ALLIANZ vor der Helligkeit. Er schwebte unsichtbar unter diesem Feld an einem Antigravaggregat.
Gelendos war das einzige daynidische Besatzungsmitglied der ALLIANZ gewesen. Er war ein Gelehrter, der sich vor allem mit Forschungen über die Madanoi-Kultur hervorgetan hatte. Eine Tätigkeit, die in der Vergangenheit mit vielen Anfeindungen verbunden gewesen war. Von so manchem war es nur mit Unverständnis registriert worden, wie man angesichts der brutalen Eroberungszüge dieser Spezies überhaupt von einer Kultur sprechen konnte. Gelendos hingegen hatte immer die Ansicht vertreten, dass es besser war, seinen Feind zu verstehen. Viel war es allerdings nicht, was man bisher über die Madanoi wusste.
Nur, dass sie den Dayniden in ihrer Körperform und Physiologie frappierend ähnelten und von einer Instanz mit der Bezeichnung „die Alien-Master“ beherrscht wurden. Inzwischen hatte man durch eine abgefangene Funktransmission herausgefunden, dass es sich bei den so genannten „Alien-Mastern“ um Angehörige der Mworrn-Spezies handelte.
Selbst für Gelendos war das eine Überraschung gewesen.
Eine erneute Erschütterung durchlief das Schiff. Der Schadensbericht, den einer der daynidischen Offiziere herunterbetete, klang bedrohlich. Die Feldstärke des Schutzschirms war auf unter 40 Prozent abgesunken. Eine Geschützbatterie meldete einen Totalausfall der Elektronik auf Grund starker elektromagnetischer Wechselwirkungen. Das System der Batterie musste vollkommen neu gebootet und rekalibriert werden, was Stunden dauern konnte.
Sekiros wandte sich an die beiden ehemaligen Besatzungsmitglieder der Allianz.
Er wirkt erstaunlich ruhig!, ging es Gelendos durch den Kopf.
„Ich brauche Ihren Rat“, sagte Sekiros. In knappen Worten erläuterte er die Situation.
„Den können Sie haben“, sagte Seban. „Sofortige Nottransition an Positionen, deren Koordinaten von einem Zufallsgenerator bestimmt werden. Wir würden natürlich einen Teil, der Schiffe und Mannschaften verlieren aber, aber so wie ich die Situation beurteile, werden wir ansonsten vollkommen aufgerieben. Bis auf das letzte Beiboot!“
„Ihr Vorschlag ist gut“, stellte Sekiros fest. „Er hat nur einen Haken.“
„Und der wäre?“, fragte der Marashkane.
„Ich möchte diesen versprengten Flottenverband auf jeden Fall zusammen halten.“
„Warum das?“
„Weil er die Keimzelle einer Widerstandsorganisation sein könnte.“
Alle im Raum starrten Sekiros erstaunt an.
„Heißt das, Sie gehen davon, dass die Allianz KALIMPAN zu keinem nennenswerten Widerstrand mehr fähig ist?“, fragte Gelendos.
„So ist es“, bestätigte Sekiros. „Vor uns liegt ein langwieriger, harter Kampf aus dem Verborgenen heraus. Wenn wir den Flottenverband jetzt auflösen und uns in alle Winde zerstreuen lassen, dann werden sie uns früher oder später einzeln jagen und vernichten. Eine Raumschiffeinheit nach der anderen. Es dauert nur ein bisschen länger. Nach und nach werden Madanoi und Paliorac die Allianzwelten besetzen und kontrollieren, sodass uns nicht einmal ein Hafen zur Aufnahme von Treibstoff bleiben wird... Aber ich habe einen Plan, bei dem ich Ihre Hilfe brauche. Schließlich sind Sie als Kommandant eines Spähschiffs darin ausgebildet, getarnte Nachrichten zu versenden.“
„Was haben Sie vor?“
„Ein Täuschungsmanöver.“
Der Ortungsoffizier meldete sich. „Admiral! Ein Großkampfschiff der Madanoi materialisiert direkt vor uns und befindet sich auf Kollisionskurs!“
„Ausweichmanöver!“, brüllte Sekiros.
Aber offenbar war es dazu schon zu spät. Eine ganze Serie von Erschütterungen durchlief die STERN VON DAYNOR. Der daynidische Verbundraumer stand unter schwerem Beschuss. Die Stabilität der Schutzschilde ließ weiter nach.
Schwere Treffer in der Maschinensektion wurden gemeldet.
Das Madanoi-Schiff wurde auf dem Hauptschirm sichtbar.
Die Treffer durch die Geschützbatterien der STERN VON DAYNOR konnten den stabilen Energieschilden des Gegners so gut wie nichts anhaben. Die Energiereserven der STERN VON DAYNOR waren einfach schon zu sehr verbraucht, um noch Blasterfeuer von einer Intensität abfeuern zu können, die ausreichte, um die Schutzschilde des Gegners ernsthaft in Gefahr zu bringen.
„Admiral! Noch ein Konverterausfall und wir haben nicht einmal mehr genügend Energie für eine Nottransition!“, meldete Palados. Der Zweite Offizier und Steuermann flog erneut ein Ausweichmanöver.
Aber das Madanoi-Schiff ließ nicht locker.
Es folgte der STERN VON DAYNOR wie ein Schatten.
„Plasmatorpedo im Anflug!“, meldete der Ortungsoffizier „Status der Energiefesseln für die Ringsektion instabil.“
„Befehl an alle Gefechtsstände“, rief Sekiros. „Feindlichen Plasmatorpedo ins Visier nehmen und eliminieren! Diese Order hat höchste Prioritätsstufe!“
„Zu spät“, meldete Palados, der Zweite Offizier der STERN VON DAYNOR. „Die Distanz des feindlichen Plasmatorpedos ist bereits unterhalb des kritischen Wertes.“
*
„Jetzt haben wir sie!“, stellte Commander Martin Mallory VI. zufrieden fest. Er ballte die Hände unwillkürlich zu Fäusten. Der Commander krampfte sie dermaßen stark zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Ron Ashton blickte von den Anzeigen seiner Konsole auf und starrte wie alle anderen auf den großen Panoramaschirm in der ALHAMBRA-Zentrale.
„Die STERN VON DAYNOR versucht einen Ausweichkurs“, meldete Ahmad Al-Habibi, der Ortungsoffizier der ALHAMBRA.
„Dieses Manöver dürfte aber kaum Erfolgsaussichten haben“, äußerte Jay Garcia. Der Erste Offizier hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ein triumphierendes Lächeln stand in seinem Gesicht.
Auf einer Drei-D-Projektion neben dem Panoramaschirm war die Flugbahn des Plasmatorpedos zu verfolgen. Er verfügte über ein Steuermodul, das ihn seinem Ziel folgen ließ, so fern es einmal eindeutig identifiziert war.
Das Manöver des Gegners war chancenlos.
Die Distanz war bereits zu gering.
Nur Sekunden noch und es würde eine gewaltige Detonation auf dem Schirm zu sehen sein.
Die noch intakten Geschützbatterien des Flaggschiffs der KALIMPAN-Flotte feuerten, was die Energiereserven hergaben.
Ein Treffer erwischte den Torpedo an der Spitze.
Die Flugbahn wurde leicht abgelenkt.
„Sir, die STERN VON DAYNOR meldet einen codierten Befehl zur Nottransition des gesamten Verbandes!“, meldete der Funker.
„Koordinaten?“
„Sind im Umkreis von hundert Lichtjahren verstreut und scheinen willkürlich gewählt zu sein. Für jede Schiffseinheit ein anderer Zielpunkt!“
„Ein letzter Rettungsversuch!“, grinste Mallory. „Aber er kommt zu spät...“
Der Plasmatorpedo fraß sich in die Ringsektion des daynidischen Verbundraumers hinein. Die Energieschilde waren offenbar bereits auf einem derart niedrigen Energielevel, dass sie keinerlei Schutz mehr boten. Teile der Außenhülle platzten förmlich auseinander. Der Ring, der mit der kugelförmigen Zentraleinheit des Verbundraumer nur durch unsichtbare Energiefesseln verbunden war, veränderte seine Position. Scheinbar sackte er in Richtung des Südpols der kugelförmigen Zentraleinheit. Ein Zeichen dafür, dass die Projektoren der Energiefesseln nicht mehr intakt waren.
Die Explosionen fraßen sich immer weiter fort. An der Ringsektion platzten stetig größer werdende Areale auseinander.
Nach wenigen Augenblicken war auf dem Panoramaschirm der ALHAMBRA nur noch die grelle Lichtkugel einer gewaltigen Explosion zu sehen, die alles andere überstrahlte.
Ron Ashton wandte den Blick zur Seite, um nicht geblendet zu werden.
Im nächsten Moment war dort, wo sich die STERN VON DAYNOR befunden hatte buchstäblich nichts mehr.
Nichts außer verstreuten und radioaktiv verseuchten Trümmerteilen, die durch das All irrlichterten.
„Es war mir ein Vergnügen, Admiral Sekiros!“, meinte Martin Mallory IV. und deutete zynischerweise einen militärischen Gruß an. „Schade, ich hätte Sie gerne noch kennen gelernt, bevor Sie atomisiert wurden... Ich sehe meinen Feinden nämlich gerne ins Auge!“
Er lachte rau.
Al-Habibi meldete sich zu Wort. „Sir, ein Großteil der Feindschiffe hat eine Transition durchgeführt…“
„Es kommt eine Nachricht von unseren Verbündeten“, erklärte jetzt der diensthabende Funker. „Ausschließlich über ein akustischen Kom-Kanal.“
„Schalten Sie die Funkphase frei“, befahl Mallory.
Ein Translatorsystem übersetzte die Worte des Paliorac-Kommandanten.
„Hier spricht Irsaoc, Kommandant des Kampfverbandes 34511. Unsere Einheiten fliegen die Zielpunkte der Transitionen an, um die Feindeinheiten auszuschalten. Ich schlage vor, dass Sie mit Ihrem Kampfverband zunächst hier bleiben und für die Eliminierung jener Feindraumer sorgen, die nicht in der Lage waren, den Raumsprung mit zu machen. Anschließend sollten auch Sie die Verfolgung aufnehmen. Die Zielkoordinaten der Feindraumer, die wir nicht verfolgen können, wurden Ihnen überspielt. Irsaoc Ende.“
„War das nun eine Anweisung oder eine Bitte um Kooperation?“, fragte Jay Garcia.
Mallory verzog das Gesicht.
„Wir haben den Befehl, mit unseren Verbündeten in jeder denkbaren Weise zu kooperieren“, sagte er. „Also ist diese Nachricht von Irsaoc für uns fast so bindend wie ein direkter Befehl auf Alien-Master-Ebene!“
Es gefällt ihm nicht!, ging es Ron Ashton durch den Kopf. Mallory steht nicht gerne in der zweiten Reihe – aber genau dazu haben ihn unsere Verbündeten verdonnert! Allerdings gibt er sich wenig Mühe, sein Missfallen zu verbergen…
„Wie viele Feindeinheiten befinden sich noch im Kampfgebiet?“, fragte Mallory an Garcia gewandt.
Der Erste Offizier blickte auf das Display seiner Konsole.
„98 Großraumschiffe unterschiedlicher Herkunft. Dazu einige Beiboote und Jäger, die nicht rechtzeitig zu ihren Mutterschiffen zurückkehren konnten. Schätzungsweise zwei Drittel sind nur noch Wracks, stehen kurz vor der Explosion und wurden zumindest teilweise evakuiert. Das restliche Drittel ist in Kämpfe mit unseren Einheiten verwickelt und verfügt offenbar nicht mehr über die nötigen Ressourcen, eine Transition durchführen zu können.“
„Okay“, sagte Mallory. „Bringen wir das blutige Handwerk hinter uns und räumen hier auf.“
„Sir…“, meldete sich Al-Habibi verhalten zu Wort.
„Irgendwelche Einwände, Al-Habibi?“
„Nein, Sir.“
„Dann bringen Sie uns auf Gefechtskurs, Mister Ashton!“
„In Ordnung, Sir“, bestätigte Ron Ashton, während seine Finger über das Touchscreen glitten.
Die Feuerleitstände wurden anschließend von Mallory angewiesen, jedes Allianz-Schiff, in dem auch nur die geringste energetische Aktivität nachweisbar war, vollkommen zu zerstören.
„Ich möchte Sie auf etwas hinweisen, Sir!“, meldete sich abermals der Ortungsoffizier zu Wort.
Mallory ließ sich in seinen Kommandantensessel fallen und schlug die Beine übereinander.
„Was gibt es?“
„Erstens lassen sich an den Koordinaten, wo die STERN VON DAYNOR explodierte leichte Raum-Zeit-Verzerrungen anmessen.“
Mallory fiel der Kinnladen herunter.
„Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass Sekiros noch eine Nottransition gelungen ist!“
„Es spricht einiges dafür.“
„Lässt sich der Zielpunkt der Transition anmessen?“
„Könnte schwierig werden. Die starken Strahlungsdosen, die bei der Explosion der Ringsektion frei wurden, irritieren die Abtaster. Ich werde versuchen diese Störung herauszufiltern. Aber da ist noch etwas.“
„Raus damit!“, forderte Garcia.
„Der Befehl zur Nottransition, der von der STERN VON DAYNOR kurz vor dem Treffer durch den Plasmatorpedo abgegeben wurde, war von einer Interferenz leicht gestört.“
Mallory runzelte die Stirn.
„Eine Interferenz?“, echote er.
„Inzwischen habe ich herausgefunden, dass es sich um ein Signal handelte. Natürlich verschlüsselt!“
Mallory ballte die Rechte zur Faust und ließ sie auf den Armlauf seines Schalensitzes niedergehen.
„Die haben uns hereingelegt!“, schloss er. „Ich wette, es handelt sich bei dem Signal um den echten Befehl. Das andere war ein Ablenkungsmanöver!“ Ruckartig stand er auf, trat auf seinen Ersten Offizier zu und blickte auf dessen Konsole. „Haben Sie die Nachricht entschlüsselt?“, fragte er unwirsch,
„Nein, Sir. Aber es handelt sich um keinen der derzeit gültigen Flottencodes, die in den Streitkräften der Allianz KALIMPAN gebräuchlich sind. Das habe ich schon abgeglichen.“
„Soweit ich weiß, besitzen wir doch auch das Matrix-Programm, das in der Allianz zur Generierung der Codes benutzt wird. Versuchen Sie es damit!“
„Jawohl, Sir.“
Garcia machte sich an seiner Konsole zu schaffen.
Es herrschte für mehrere Augenblicke Schweigen in der Zentrale der ALHAMBRA.
Ron Ashton machte ein paar kleinere Kurskorrekturen.
Er lenkte das Schiff in Gefechtsposition.
Aber es gab derzeit keinen Gegner mehr. Die letzten versprengten Beiboote wurden getroffen vernichtet.
Die ALHAMBRA brauchte in diesen ungleichen Kampf nicht mehr einzugreifen.
Ron Ashton war erleichtert darüber. Diese Schlächterei hasste er zutiefst, auch wenn Kommandanten wie Mallory darin irgendeine militärische Notwendigkeit sahen. In seinen Augen waren diese Erklärungen an den Haaren herbeigezogen.
„Es treffen Nachrichten von den anderen Schiffen unseres Verbandes ein“, meldete der Funker. „Sie warten auf Befehle…“
„Dann sollen sie weiter warten“, knurrte Mallory.
Inzwischen hatte Jay Garcia das Verschlüsselungsprogramm der Allianz durchlaufen lassen. Ohne Ergebnis. „Der Code ist offensichtlich nicht mit dem Matrix-Programm erstellt worden. Das bedeutet, es kann…“
„…eine Ewigkeit dauern, bis unser Rechner den Code entschlüsselt hat!“, vollendete Mallory ärgerlich. Es musste eine schnellere Möglichkeit geben, an die Zielkoordinaten heranzukommen – jenem Treffpunkt an den die Allianz-Schiffe transitiert waren.
Mallory gab den Befehl, die Fernortung auf voller Kapazität laufen zu lassen.
Aber auf diese Weise zum Erfolg zu kommen glich der berühmten Suche einer Stecknadel im Heuhaufen.
„Gehen wir die Sache logisch an“, schlug Jay Garcia vor. „Admiral Sekiros und der Besatzung der STERN VON DAYNOR ist offensichtlich klar geworden, dass wir im Besitz sämtlicher Kommunikationscodes der KALIMPAN-Flotte sind. Das Matrix-Programm zur Code-Generierung wollten sie nicht mehr benutzen, weil sie wohl vermutet haben, dass sich dieses Programm ebenfalls in unserem Besitz befindet.“
„Aber wenn sie einen völlig neuen Code entwickelt haben, dann müssen sie den Schlüssel zuvor an die anderen Einheiten ihres Verbandes übermittelt haben, sonst hätte niemand den getarnten Befehl verstehen können!“, schloss Mallory.
Garcia nickte.
Seine Gedanken gingen in dieselbe Richtung.
„Das bedeutet, der Code-Schlüssel ist vorher übermittelt worden. Wahrscheinlich ebenfalls getarnt.“
„Durchsuchen Sie die gesamte von uns aufgezeichnete Kommunikation der STERN VON DAYNOR nach verdächtigen Signalen!“, befahl Mallory. „Ich vermute, dass wir auf diesem Weg schneller ans Ziel kommen, als wenn wir den irregulären Code zu entschlüsseln versuchen!“
„Aye, Sir!“ , bestätigte Garcia.
*
„Zweihundertunddrei Einheiten haben den Transitionssprung geschafft!“, meldete Seban-234. Der Marashkane assistierte dem Ortungsoffizier und hatte sich über ein neuronales Interface an dessen Konsole angeschlossen.
Admiral Sekiros atmete tief durch. Selbst dem hartgesottenen Admiral war die Erleichterung anzusehen. Zweihundert von insgesamt mehr als dreihundert Raumschiffen – mit mehr war wohl nicht zu rechnen, ging es ihm durch den Kopf. Ein Großteil der zurückgelassenen Einheiten war noch rechtzeitig evakuiert worden, sodass die Mannschaften an Bord anderer Schiffe Zuflucht gefunden hatten. Aber es gab auch genug Opfer zu beklagen. Schiffe, die noch bemannt gewesen waren und nun als wehrlose Wracks im All schwebten - der Aggression der vereinigten Madanoi und Paliorac hilflos ausgeliefert. Beiboote und Jäger, die durch Blaster-Treffer auf dem Weg zu ihren Mutterschiffen beschädigt worden waren und es nicht mehr rechtzeitig geschafft hatten, um den Raumsprung mitzumachen.
Sekiros versuchte die Gedanken an die Dramen, die sich da abgespielt hatten, zu verdrängen.
Zur Trauer war immer noch Zeit.
Jetzt ging es in erster Linie darum, das Überleben der vorerst Geretteten zu sichern.
„Ich gratuliere Ihnen, Estan“, wandte sich der Admiral an seinen Ersten Offizier. „Der Code, den Sie sich für unsere Verfolger ausgedacht haben, scheint denen einiges Kopfzerbrechen zu bereiten.“
„So fern sie inzwischen überhaupt gemerkt haben, dass der eigentliche Befehl getarnt war!“, gab Estan zu bedenken.
Sekiros hob leicht die Schultern. „Das werden sie spätestens dann bemerkt haben, wenn sie den durch den Zufallsgenerator ausgewählten Koordinaten gefolgt sind und sich jetzt irgendwo im interstellaren Raum wieder finden – ohne eine Spur von uns!“
„Bis sie uns durch die Fernabtastung gefunden haben, kann es Tage dauern. Der Raumkubus, den sie dafür durchsuchen müssen, ist so gewaltig, dass selbst die leistungsfähigsten Rechnersysteme dafür…“
„Seien Sie nicht zu optimistisch“, unterbrach Seban-234 den Ersten Offizier. Der Lautsprecher des Translatorsystems, das der Marashkane benutzte, trug diese Worte vollkommen emotionslos vor. „Die Schwachstelle unseres Plans war die getarnte Übertragung des Code-Schlüssels in einer gewöhnlichen Datentransmission.“
„Wir hatten keine andere Möglichkeit“, gab Sekiros zu bedenken. „Und soweit ich mich erinnere, beruhte dies auf Ihrem Vorschlag.“
„Korrekt“, erkannte Seban an. „Ich nehme an, dass die andere Seite unsere gesamte Schiff-zu-Schiff-Kommunikation aufgezeichnet hat. Wenn unsere Gegner schlau sind, durchforsten sie einfach sämtliche Transmissionen auf Merkmale einer verborgenen Nachricht. Dann haben sie den Schlüssel und wissen im Handumdrehen unsere Position.“
„Auch damit werden sie eine Weile beschäftigt sein“, gab Estan zu bedenken.
„Was ich sagen will, ist eigentlich nur, dass wir uns hier nicht allzu lange sicher fühlen sollten. Wir müssen damit rechnen, dass der Feind unser Täuschungsmanöver entdeckt und uns schneller folgt, als erhofft.“
Wenig später gingen die Schadensberichte der einzelnen Einheiten auf der STERN VON DAYNOR ein. Die Bilanz war niederschmetternd. Weitere 15 Einheiten waren nicht in der Lage, einen weiteren Raumsprung durchzuführen. Die Mannschaften mussten mit Hilfe von Beibooten auf andere Raumer evakuiert werden.
Eine Prozedur, die sich für Sekiros’ Geschmack viel zu lange hinzog.
Aber die Alternative wäre gewesen, die Mannschaften der betroffenen Schiffe einfach sich selbst und ihrem Schicksal zu überlassen.
Mit fieberhafter Eile wurden die betroffenen Raumer evakuiert.
An Bord der STERN VON DAYNOR gelangten auf diese Weise zweihundert Tropoaner des schwer angeschlagenen ovoanischen Großkampfschiffs KTAGARON, dessen Kommandant im Verlauf des Gefechts gefallen war. Ein Treffer in die Kommandosektion hatte kaum jemand unter den gerade diensthabenden Offizieren überlebt. Jetzt stand die Mannschaft unter dem Kommando des Ersten Offiziers namens Malrén, der die KTAGARON aus der Ersatz-Zentrale im Maschinenraum des pfeilförmigen Raumers heraus manövriert hatte.
Sekiros beorderte den Tropoaner gleich nach seiner Ankunft auf die Brücke der STERN VON DAYNOR.
„Meine Mannschaft räumt einen Tel ihrer Quartiere für Ihre Leute“, erklärte der Admiral. „Es wird ein bisschen eng werden.“
„Ich denke, das ist derzeit unsere kleinste Sorge“, gab der stämmig gebaute, fast zwei Meter große Tropoaner zurück. Die stark ausgebildeten Knochenschilde, mit denen sein Schädel ausgestattet war, gaben seinem Gesicht einen unbeweglichen, fast maskenhaften Ausdruck. Malrén verzog den lippenlosen Mund und entblößte dabei ein Raubtiergebiss. „Wir sollten die Reste der Flotte sammeln und uns erneut zum Kampf stellen“, schlug er vor.
„Das wäre unser Untergang“, erwiderte Sekiros. „Nein, wir brauchen einen Rückzugsort, von dem aus wir den Widerstand aus dem Verborgenen heraus organisieren können.“
„Es widerstrebt mir, dass sich die Flotte der Allianz feige zurückzieht“, gestand Malrén.
„Die Flotte der Allianz?“, echote Sekiros. „Davon existieren nur noch Bruchstücke. Der offene Kampf ist verloren, Malrén. Besser, wir gestehen uns das ein.“ Sekiros wandte sich an Estan. „Suchen Sie uns einen geeigneten Rückzugsort, Estan. Ich erwarte in Kürze Ihren Vorschlag.“
*
Nachdem die Evakuierung der beschädigen Einheiten abgeschlossen war, setzte die Flotte zu einer erneuten Transition an. Die Reichweite war dabei begrenzt. Die kaum zweihundert Raumschiffe, die noch zum Verband gehörten, verfügten teilweise nur noch über einen Bruchteil ihrer Energiereserven. Sekiros musste auf die nur noch eingeschränkt leistungsfähigen Antriebssysteme eines Teils der Schiffe Rücksicht nehmen.
Von Transition zu Transition bewegte sich dabei der arg dezimierte Verband auf die äußerste Grenze des von den Völkern der Allianz besiedelten Raums vor.
Gleichzeitig war abzusehen, dass immer mehr Schiffe dringend repariert werden mussten.
Nach jeder Transition gab es weitere Schiffe, die evakuiert und zurückgelassen werden mussten.
Aber eine der besiedelten KALIMPAN-Systeme anzufliegen, die entweder schon von den vereinigen Paliorac- und Madanoi-Streitkräften besetzt worden waren oder kurz davor standen, hatte wenig Sinn.
Estan unterbreitete schließlich einen Vorschlag.
In der äußersten Peripherie des von der Allianz beanspruchten Raumsektors befand sich Daranor, der dritte Planet der gelben Sonne Seras. Die Allianzkataloge führten das System unter der Bezeichnung 44123.
Estan aktivierte eine Drei-D-Projektion, die die Lage des Planeten veranschaulichte.
„System 44123 liegt etwa 200 Lichtjahre im Niemandsland. Es handelt sich um eine von etwa 20 Millionen Dayniden bewohnte Welt mit ausgedehnten Ozeanen. Außerdem leben noch ein paar Millionen Angehörige anderer KALIMPAN-Völker auf Daranor. Die Kolonie wurde ursprünglich als eine Art Horchposten des Geheimdienstes im Niemandsland gegründet. Daher gibt es noch immer ausgedehnte Stützpunkte, verborgene Raumschiffhangars, Werften und so weiter“, erläuterte Estan. „Im Laufe der Zeit siedelten sich daynidische Händler an, die mit den Fremdspezies des Sektors Handel zu treiben begannen.“
„Klingt nach einem idealen Unterschlupf“, äußerte Palados, der Steuermann der STERN VON DAYNOR. „Ich erinnere ungern daran, aber auch unser Flaggschiff bedarf dringend einer Generalüberholung.“
Sekiros wusste nur zu gut, dass der Steuermann Recht hatte. Die Explosion der Ringeinheit hatte trotz der noch rechtzeitig durchgeführten Nottransition erhebliche Schäden verursacht. Ganze Decks waren mit Eindämmungsfeldern abgeschottet worden und es gab mehrere Hüllenbrüche, die nur notdürftig hatten geschlossen werden können. Dabei war der Zustand des Flaggschiffs im Vergleich zu anderen Einheiten des Flottenverbandes noch recht gut. Immerhin funktionierten die Überlichttriebwerke einwandfrei.
„Aber irgendwann werden die Streitkräfte des Feindes auch dort auftauchen“, meinte Sekiros pessimistisch.
„Bis dahin haben wir zumindest einen Teil der Schiffe soweit überholt, dass sie wieder gefechtsbereit sind“, erklärte Seban-234 aus dem Dunkel seines Schattenfeldes heraus. „Ich denke, Madanoi und Paliorac werden Monate damit beschäftigt sein, alle Allianzwelten wirklich zu kontrollieren. Vermutlich nehmen sie sich zunächst die wichtigsten Knotenpunkte vor und arbeiten sich dann weiter voran. Daranor dürfte in ihrer Priorität ganz weit unten liegen.“
„Wie viele Transitionen werden wir noch brauchen, um Daranor zu erreichen?“, fragte Sekiros an den Steuermann der STERN VON DAYNOR gewandt.
„Zwei bis drei“, antwortete Palados. „das hängt davon ab, wie groß die Energiereserven der schwächsten Schiffe sind, die diesen Sprung mitmachen sollen. Ich bekomme gerade die Schadensmeldungen der einzelnen Einheiten herein. Wenn das abgeschlossen ist, kann ich Ihnen genaueres sagen, Admiral.“
Gelendos mischte sich jetzt in das Gespräch ein.
Der Madanoi-Forscher hatte bislang geschwiegen.
„Wir sollten bedenken, dass unser Aufenthalt auf Daranor die Bevölkerung des Planeten vielleicht einer gewissen Gefahr aussetzt“, gab er zu bedenken.
Sekiros senkte leicht den Kopf. Gelendos hatte genau jenen Punkt angesprochen, der auch dem Admiral Kopfzerbrechen bereitet hatte.
„Wir haben keine andere Wahl“, erklärte er. „Wenn wir unsere Schiffe in den Anlagen von Daranor nicht überholen können, dann gibt es keinen Widerstand mehr im Allianz-Gebiet, der diesen Namen verdient. Und was die Bevölkerung von Daranor angeht, so braucht niemand zu glauben, dass er ungeschoren davonkommen könnte, indem er einfach den Kopf in den Sand steckt und sich der Hoffnung hingibt, dass die Madanoi und die Paliorac diesen Planeten vergessen werden… Das wird nicht der Fall sein! Sie werden kommen und jedem Bewohner der Kolonie wahrscheinlich einen Chip implantieren, so wie Madanoi es auf all ihren eroberten Welten zu praktizieren pflegen.“ Er wandte ruckartig den Kopf in Gelendos’ Richtung. „Oder bin ich da etwa nicht auf dem neuesten Stand der Madanoi-Forschung?“
„Doch, doch, das sind Sie, Admiral.“
„Die Daranorer werden sich entscheiden müssen“, fuhr Sekiros fort.
„Und irgendwann vielleicht auch die Madanoi“, ergänzte Gelendos.
Sekiros hob die Augenbrauen.
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte der Admiral.
„Die Paliorac behandeln doch alle organischen Spezies mit gleicher Verachtung. Als Madanoi würde ich mich da schon fragen, ob ich auf die Dauer den richtigen Verbündeten gewählt habe!“
„Wie schätzen Sie das ein, Gelendos: Wer ist in diesem ungleichen Bündnis, da unsere Feinde miteinander eingegangen sind, der stärkere Partner?“
„Darüber habe ich mir den Kopf zerbrochen, seit das erste Paliorac-Schiff am Rand des Madanoi-Systems aus dem Hyperraum kam“, bekannte Gelendos. „Ich weiß es nicht…“
*
Auf einem der Nebenbildschirme in der Zentrale der ALHAMBRA erschien das Gesicht eines grünäugigen Dayniden. Das Translatorsystem des Bordrechners übersetzte seine Worte. „Hier spricht Estan, Erster Offizier der STERN VON DAYNOR. Admiral Sekiros fordert alle Kommandanten dazu auf, umgehend die Datenfiles ihrer Schadensberichte zu überspielen. Estan Ende.“
„Eine scheinbar belanglose Nachricht“, kommentierte Mallory.
„Ja, aber die Nachricht schon deswegen verdächtig, weil sie dreimal hintereinander innerhalb von einer Minute abgestrahlt wurde“, meinte Jay Garcia. „Im Datenstrom ist der Schlüssel für den Code versteckt – und zwar so, dass die Bordrechner der Allianz-Schiffe das sofort gemerkt haben, während unsere Funküberwachung die Mitteilung als belanglos eingestuft hat.“
„Dann haben wir sie!“, war Mallory überzeugt. „Sehen Sie zu, dass Sie die Daten entschlüsselt bekommen und geben Sie das Ergebnis dann an Mister Ashton weiter.“
„In Ordnung, Sir“, bestätigte Garcia.
Mallory wandte sich an Ashton.
„Sie haben ja kaum Farbe im Gesicht, Ashton. Ist Ihnen nicht gut?“
„Doch, Sir“, beeilte sich Ron Ashton zu erwidern.
„Die Jagd geht weiter!“ Mallory klatschte die Faust der Rechten in die Handfläche seiner linken Hand. In seinen Augen blitzte es. „Wir bringen sie doch noch zur Strecke, aber ich muss schon sagen, dass dieser Sekiros offenbar ein größerer Fuchs ist, als ich für möglich gehalten habe.“
Inzwischen trafen Meldungen von den Paliorac-Schiffen ein, die den versprengten Allianz-Einheiten zu deren vermeintlichen Zielkoordinaten gefolgt und offenbar ins Leere gesprungen waren. Nichts als leeren Raum hatten sie an den Zielpunkten ihrer Reise vorgefunden.
„Vielleicht ist der Hochmut unserer Verbündeten weit weniger gerechtfertigt, als sie zuzugeben bereit wären“, meinte Garcia.
„Koordinaten entschlüsselt?“, fragte Mallory.
„Ja, Sir!“, bestätigte Garcia. Er wandte sich an den Zweiten Offizier. „Die Daten sind auf Ihrer Konsole ablesbar, Mister Ashton!“
„Dann nichts wie los!“, befahl Mallory. „Alles fertig machen zur Transition. Funker?“
„Ja, Sir?“, meldete sich der diensthabende Funker, ein Inder namens Munjay Singh.
„Geben Sie den Befehl an alle Einheiten unseres Verbandes weiter.“
„In Ordnung.“
„Ich gehe auf maximale Beschleunigung“, erklärte Ron Ashton.
Nacheinander traten alle Einheiten des irdischen Flottenverbandes in den Hyperraum ein. In Nullzeit kehrten sie am Zielpunkt zurück in das Einstein-Universum.
„Ortung?“, bellte Mallory in militärischer Knappheit.
Al-Habibis Finger glitten nervös über das Terminal seiner Konsole. Er ließ die Abtaster auf Hochtouren lauen.
„Es gibt hier einige Allianz-Schiffe unterschiedlicher Bauweise. Aber es handelt sich ausnahmslos um unbemannter Wracks. In einem von ihnen schwelt ein nuklearer Brand in den Konverterkammern des Fusionsreaktors. Ich würde empfehlen, Abstand zu halten. Das Ding könnte uns in Kürze um die Ohren fliegen.“
Der Bildausschnitt des großen Panoramaschirms zoomte an eins der Wracks heran. Es handelte sich um ein marashkanisches Steinschiff, dass äußerlich die Form einer überdimensionalen Kartoffel aufwies und wie ein durch das All irrender, unregelmäßig geformter Asteroid wirkte. Das die Marashkanen Meister der Tarnung waren, war inzwischen längst auf den Raumstreitkräften der Erde bekannt. Erst eine genauere Abtastung machte deutlich, dass es sich nicht um einen interstellaren Gesteinsbrocken handelte, der von seinem Heimatgestirn auf einer Hyperbelbahn auf Nimmerwiedersehen in die Weiten des Weltraums geschickt worden war. Es war ein Raumschiff.
Eine geniale Konstruktion!, dachte Ashton, während sein Blick über die Displays seines Terminals ging auf denen die Ergebnisse der Masseabtastung angezeigt wurden. Mit aktiviertem Deflektorfeld sind diese Schiffe wahrscheinlich jetzt noch in der Lage bis ins Innere des Sol-Systems vorzudringen, ohne dass man sie bemerken würde…
„Neuen Kurs berechnen, Sir?“, fragte der Steuermann laut. Es war eine fast automatische Reaktion. Hier war nichts zu finden, außer einer Ansammlung von Weltraumschrot. Die flüchtigen Schiffe unter Admiral Sekiros hatten es offenbar geschafft, sich mit einem weiteren Raumsprung rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
In vorläufige Sicherheit!, korrigierte sich Ashton, denn er nahm nicht an, dass Mallory locker lassen würde.
„Es gibt hier zahlreiche Erschütterungen des Raum-Zeitkontinuums“, sagte Al-Habibi.
„Viele der Allianz-Raumer waren in erbärmlichem Zustand. Sie können keinen weiteren Langstreckensprung gewagt haben“, meinte Mallory. „Der Zielpunkt der Transition könnte daher anmessbar sein. Scannen Sie mit den Abtastern der Fernortung einen Raumkegel, der sich von hier aus Richtung der Peripherie des Allianzgebietes erstreckt.“
Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten.
Es gab eine Reihe von Erschütterungen des Raum-Zeit-Kontinuums, die auf Grund ihrer spezifischen Muster nur von Admiral Sekiros und den Resten seiner Flotte stammen konnten. „Die KALIMPAN-Schiffe versuchen offenbar, mit einer Serie kleiner Raumsprünge aus dem Allianz-Territorium zu fliehen“, stellte Al-Habibi fest.
„Verfolgungskurs programmieren?“, fragte Ashton.
„Ja, aber wir bleiben auf Distanz“, lautete überraschenderweise Martin Mallorys Befehl.
Was ist los mit ihm? Hat ihn der Ehrgeiz auf einmal verlassen?, fragte sich Ashton. Das konnte sich der Zweite Offizier der ALHAMBRAS beim besten Willen nicht vorstellen.
„Die haben irgend ein Ziel“, vermutete der Commander. „Einen Unterschlupf oder dergleichen… Vielleicht eine Rückzugsbasis, von der aus Sekiros den Widerstand zu organisieren gedenkt. Dieser Mann denkt strategisch, das hat er bewiesen.“
„Sir, soeben traf eine Alpha-Order des Flottenkommandos ein“, meldete Munjay Singh, der Funker. „Der gesamte Verband soll Kurs auf den Planeten Laschkan nehmen, um dort an einer Spezialoperation teilzunehmen. Die Order erging auf Alien-Master-Ebene und stammt vom Alien Master persönlich.“
Mallory zog die Stirn in Falten. So nah am Ziel und dann einfach abdrehen? Das ging ihm gegen den Strich.
„Laschkan? Was soll das sein?“
„Laut Sternenkatalog der Allianz handelt es sich um die Heimatwelt der Marashkanen. Eine trostlose Dunkelwelt“, erklärte Singh und hob die Schultern. „Offenbar gibt es dort ein paar Schwierigkeiten.“
Nicht mehr lange und all diese Planeten werden uns ebenso geläufig sein wie die Namen jener Welten, die jetzt schon zum Einflussbereich der Erde gehören!, ging es Ron Ashton durch den Kopf, der darauf wartete, einen Kurs einprogrammieren zu können. Diese Alpha-Order auf Alien-Master-Ebene muss der Himmel geschickt haben. Das bedeutet ja wohl nichts anders, als dass diese verfluchte Hetzjagd auf ein paar Überlebende in kaum noch manövrierfähigen Schiffen jetzt wohl vorbei ist und wir uns wieder wirklich wichtigen Aufgaben zuwenden können. Ashton ließ sich äußerlich von einer klammheimlichen Freude über das Eintreffen des Alien-Master-Befehls jedoch nichts anmerken.
Augenblicke lang herrschte Stille.
Mallory war förmlich anzusehen, wie er mit sich rang.
Es reicht ihm nicht, die KALIMPAN-Schiffe lichtjahrweit über die Grenzen des Allianz-Gebietes hinaus vertrieben zu haben!, ging es Ashton durch den Kopf. Er muss sie vernichten. Vorher ist er nicht zufrieden.
„Schicken Sie dem Oberkommando auf der Erde meine Antwort, Singh“, sagte Mallory schließlich.
„Sprechen Sie, Sir. Die Phase ist frei!“, forderte Singh ihn im nächsten Augenblick auf.
„Hier spricht Mallory, Commander der ALHAMBRA. Wir sind möglicherweise einem geheimen Unterschlupf auf der Spur, den versprengte Teile der KALIMPAN-Flotte zu erreichen versuchen. Erbitte Erlaubnis, diese Verbände weiter verfolgen und stellen zu dürfen. Mallory Ende.“
„Hyperfunkspruch ist abgesetzt“, bestätigte der Funker.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Mallory bekam, was er gewollt hatte.
Das Oberkommando erteilte im die Order, den versprengen KALIMPAN-Verbänden zu folgen und einen gegebenenfalls vorhandenen Unterschlupf mit allen als notwendig erachteten Mitteln auszuschalten. Alle anderen zum Flottenverband gehörenden Einheiten wurden jedoch wie im ursprünglichen Befehl angegeben nach Laschkan beordert.
Mallory schluckte seinen Ärger darüber herunter, dass das Oberkommando der irdischen Raumflotte die Vernichtung des unter dem Befehl von Admiral Sekiros stehenden versprengten Flottenverbandes nicht dieselbe Priorität zumaß, wie er selbst das tat.
Er atmete tief durch.
„Von nun an sind wir also auf uns allein gestellt“, knurrte er. Er wandte sich an Ashton. „Folgen Sie Sekiros’ Verband in sicherem Abstand. Ich möchte nicht, dass man uns bemerkt.“
„Aye, aye, Sir“, bestätigte Ashton und programmierte den Kurs.
Mallory wandte sich seinem Ersten Offizier zu.
„Mister Garcia?“
„Ja, Sir?“
„Für Sie habe ich eine Spezialaufgabe. Durchforsten Sie die Sternenkataloge der Allianz nach Systemen in dieser Gegend, die als Unterschlupf für Sekiros und seine Schiffe in Frage kämen.“
„In Ordnung, Sir.“
„Eins steht fest. Er braucht einen Planeten, auf dem es ausreichende Werftkapazitäten gibt, sonst könnte er sich den Weg gleich sparen!“
*
Stern 44123 war als großer, gelber Glutball auf dem Hauptschirm der STERN VON DAYNOR zu sehen. Insgesamt 17 Planeten besaß dieses System, von denen jedoch nur die Nummer III – Daranor – für Angehörige der KALIMPAN-Völker bewohnbar war. Außer den siebzehn Planeten, die das Zentralgestirn auf größtenteils regulären, elliptischen Bahnen umkreisten, existierten noch mehrere Gaswolken, die das System in etwas weiterem Abstand auf Bahnen umkreisten, die im Verhältnis zur Ebene der anderen Umlaufbahnen einen Neigungswinkel von fast 45 Grad aufwiesen. Dies hatten sie mit der ebenfalls irregulären Bahn von Planet XIV gemeinsam. Möglicherweise waren diese Anomalien Zeugnisse einer kosmischen Katastrophe, die sich vor Milliarden Jahren ereignet haben musste.
Auf Höhe der Bahn von Planet IV war der Verband aus dem Hyperraum getreten. Eines nach dem anderen waren Sekiros’ Schiffe materialisiert. Mit den Impulstriebwerken für den Unterlichtflug bewegten sie sich nun auf Daranor zu.
Wie ein blaugrüner Edelstein hob sich der zu achtzig Prozent von Ozeanen bedeckte Planet von der Dunkelheit des Alls ab.
Eine Projektion neben dem Hauptschirm veranschaulichte die Geografie des Planeten.
Es gab nur einen einzigen Kontinent in Äquatornähe, in dessen Inneren sich gewaltige Gebirge aufgefaltet hatten. Bis zu zwanzigtausend Meter hohe Felsmassive ragten bis in die obersten Schichten der Atmosphäre hinein.
Den verfügbaren Daten entnahm Sekiros, dass die Hauptstadt Rastagia an einer Meeresbucht lag. Es gab allerdings weitere Ansiedlungen im Küstenbereich, wobei das Landesinnere des einzigen Kontinents, der von den Kolonisten Daranors einfach nur DAS LAND genannt wurde, kam besiedelt worden war. Das Klima war hier extrem. Steinwüsten, Gebirge und Hochplateaus herrschten hier vor.
Und genau dort befand sich der ehemalige Hauptstützpunkt des KALIMPAN-Geheimdienstes auf Daranor.
Ein gut getarnter unterirdischer Horchposten, ausgestattet mit dem modernsten, was die Kommunikationstechnologie von Dayniden, Marashkanen, Klooogh, Sheeg und Sapanorii zu bieten hatte.
Ein Vorposten der Allianz, der eigentlich Teil eines Frühwarnsystems gegen Bedrohungen von außen dargestellt hatte.
Aber die Antennen dieses Horchpostens ließen sich wohl auch in eine andere Richtung drehen.
Vielleicht war es auf fiese Weise möglich, mehr über das zu erfahren, was sich derzeit im Allianz-Territorium abspielte.
„Derzeit gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass uns jemand gefolgt ist“, erklärte Seban-234. „Allerdings muss ich dazu sagen, dass in der Kürze der Zeit natürlich keine vollständige ortungstechnische Abtastung des in Frage kommenden Raumsektors möglich ist.“
„Die Eroberer haben jetzt Wichtigeres zu tun, als ein paar versprengten Schiffe ins Niemandsland zu folgen“, äußerte Palados seine Überzeugung.
Wollen wir hoffen, dass er Recht hat!, überlegte Sekiros. Er traute dem Braten noch nicht so recht. Die Paliorac hatten sich zwar sehr leicht täuschen lassen, aber die Madanoi waren sehr hartnäckig gewesen. Sie sind uns einfach sehr ähnlich, auch wenn das vielen von uns nicht gefällt!, dachte der Admiral.
Der Kommandant der Madanoi hatte sich geradezu beängstigend gut in Sekiros’ Lage hineinversetzt und die richtigen Schlüsse daraus gezogen.
Dass er einfach so von der Bildfläche verschwunden war, passte eigentlich nicht ins Bild.
„Zwei Raumschiffe befinden sich im Anflug“, meldete Seban-234. „Es handelt sich um kleine Patrouillenschiffe daynidischer Bauart, jeweils mit zwei mittleren Geschützbatterien besetzt.“
„Wahrscheinlich die gesamte Raumstreitmacht, die zur Verteidigung von Daranor zur Verfügung steht“ vermutete Estan.
Unter normalen Umständen wäre das auch ausreichend gewesen, dachte Sekiros bitter. Schließlich wäre die große, noch zehntausende von Raumschiffen zählende Flotte der Allianz innerhalb kürzester Zeit an jedem Ort innerhalb des KALIMPAN-Territoriums gewesen, um einen eventuellen Aggressor zurückzuschlagen.
Selbst hier, so weit im Niemandsland.
Aber diese Flotte existierte nicht mehr, abgesehen von einem kläglichen Rest, der es bis hier her geschafft hatte.
Die STERN VON DAYNOR wurde von den Patrouillenschiffen angefunkt.
Wenig später bestand eine audiovisuelle Kom-Verbindung. Das Gesicht einer Daynidin erschien auf dem Hauptschirm. Sie trug das dunkle Haar offen. Es fiel bis über die Schulterklappen ihrer Uniformkombination.
„Mein Name ist Tisambrii“, erklärte sie. „Ich bin Kommandantin der SCHILD VON DARANOR. Bitte senden Sie uns Ihre ID-Signatur.“
„Identifikationsdaten sind übertragen“, erklärte Sekiros, nachdem Estan ihm zugenickt hatte. „Ich bin…“
„…Admiral Sekiros, ich weiß“, vollendete Kommandantin Tisambrii den Admiral. „Seien Sie willkommen auf Daranor. Ihre Schiffe sind stark beschädigt und wahrscheinlich benötigt ein Teil Ihrer Mannschaft medizinische Hilfe.“
„Das ist richtig“, bestätigte Sekiros. „Wir beabsichtigen, in die Hangars der Station Daranor-Land einzufliegen.“
„Wir stellen Ihnen eine Kom-Verbindung her, wenn Sie möchten“, erklärte Tisambrii. „Davon abgesehen möchte unser Koloniepräsident ein paar Worte mit Ihnen wechseln.“
„Ich werde ihn zu gegebener Zeit in der Hauptstadt aufsuchen“, versprach Sekiros.
„Koloniepräsident Migalos würde es bevorzugen, jetzt mit Ihnen zu sprechen, Admiral.“
Sekiros atmete tief durch. Jetzt müsste man einen psibegabten Sapanorii-Erstbruder an Bord haben, der möglicherweise dazu in der Lage wäre, das Bewusstsein dieser Kommandantin zu erspüren, ging es dem Admiral etwas ärgerlich durch den Kopf. Um die Vorbehalte zu spüren, die ihm von der anderen Seite entgegengebracht wurden, brauchte man allerdings keinerlei Psi-Fähigkeiten. Wir haben in der Schlacht unsere Knochen für die Allianz hingehalten und jetzt… Sekiros scheuchte diese Gedanken zusammen mit der aufkeimenden Wut davon. Erst einmal abwarten, was dieser Migalos will!
„Ich stelle jetzt eine Kom-Verbindung mit Präsident Migalos her“, verkündete Tisambrii.
Ihr feingeschnittenes, nach daynidischen Maßstäben durchaus attraktives Gesicht verschwand vom Schirm.
Stattdessen tauchte das Portrait eines schon etwas älteren, grauhaarigen Dayniden auf, der einen grauweiß melierten Kinnbart trug.
Der Blick seiner schockgrünen Augen machte auf Sekiros einen wachen, sehr aufmerksamen Eindruck. Aber da war noch eine andere Note, die Sekiros von Anfang an in diesen Zügen zu erkennen glaubte. Einen Augenblick lang überlegte er, was es wohl sein konnte.
Dann hatte er es.
Angst.
„Seien Sie gegrüßt, Admiral!“, sagte Migalos.
„Die Freude ist ganz meinerseits, wie Sie sich angesichts der Situation, in der sich die Reste unserer Flotte befinden, sicher leicht nachvollziehen können.“
„Ich weiß nicht, in wie fern Sie über die aktuelle Lage im Allianzgebiet unterrichtet sind, Admiral?“, sagte Migalos. „Aber so wie es aussieht, werden die Flotten der Madanoi und Paliorac in Kürze zumindest alle wichtigen Welten der Allianz eingenommen und besetzt haben. Wir fischen schon seit geraumer Zeit jede Funknachricht aus dem Äther, die wir zu empfangen vermögen. Die Lage ist so ernst, wie nie zuvor in der Geschichte der Allianz, die mit dem heutigen Tag wohl ihrem Ende entgegen geht. KALIMPAN existiert nicht mehr, das muss uns allen klar sein, so sehr wie diesen Umstand auch beklagen mögen.“
Migalos holte tief Luft, biss sich anschließend auf die Lippe und schwieg dann einen Augenblick. Er wagte es einfach nicht, mir irgendeine unangenehme Wahrheit ins Gesicht zu sagen!, erkannte Sekiros.
So etwas konnte der Admiral nicht ausstehen.
Ihm war es lieber, direkt mit den Fakten konfrontiert zu werden, mochten sie auch noch so entmutigend sein.
„Sobald Ihre Schiffe gelandet sind, möchte ich Sie ersuchen, mich umgehend in einem Amtssitz aufzusuchen, Admiral.“
„Natürlich.“
„Wir haben viel miteinander zu besprechen, Admiral.“
„Das sehe ich auch so.“
„Insbesondere wird es darum gehen, welche Implikationen das Auftauchen Ihrer Flotte für die Zukunft unserer Kolonie hat.“
„Die Implikationen liegen auf der Hand“, erklärte Sekiros. „Wir werden Daranor auf den Tag vorbereiten, da hier die Flottenverbände der Madanoi und Paliorac auftauchen. Daranor muss in den Status der Verteidigungsbereitschaft versetzt werden.“
Eine Pause folgte.
Migalos’ Gesichtsausdruck drückte eine gewisse Skepsis aus, die sich wohl auf Sekiros’ letzte Aussagen bezogen.
„Wir reden später ausführlich darüber“, erklärte der Koloniepräsident.
Die Verbindung wurde unterbrochen.
„Das sieht für mich fast so aus, als wäre dieser Migalos von unserem Auftauchen nicht sonderlich begeistert“, kommentierte Estan das Geschehen.
*
Innerhalb der nächsten Stunde landeten die Raumschiffe aus Admiral Sekiros’ Verband in den Hangars der Station Daranor Land. Der Zugang zu den unterirdischen Anlagen war perfekt getarnt. Mitten auf einem Felsplateau entstand eine Öffnung, die groß genug war, um auch daynidische Verbundraumer aufzunehmen.
Allerdings war nicht für alle Einheiten des Verbandes Platz genug. Ein Teil von ihnen landete auf Hochplateaus in der Umgebung. Der Stützpunktkommandant war überraschenderweise ein Sheeg. Er hieß Goran-Tar und sorgte fürsorglich dafür, dass die Mannschaften jener Raumschiffe, für die in den Hangars kein Platz mehr war, von Gleitern abgeholt wurden.
Der echsenartige Sheeg empfing Sekiros und Estan gleich, nachdem die STERN VON DAYNOR im Hangar gelandet und der Admiral das Schiff verlassen hatte.
„Wir haben hier unten mehr als Platz genug für alle Ihre Leute“, erklärte der Sheeg. „Die Station Daranor Land ist zwar normalerweise nur von ein paar hundert Personen besetzt, aber die unterirdischen Anlagen sind gigantisch und bieten notfalls Platz für mehrere zehntausend Personen. Diese Kapazitäten stammen noch aus den Anfangstagen der Kolonie, als nur wenige tausend Siedler auf Daranor lebten, die großen Wert darauf legten, notfalls evakuiert zu werden.“
„Jetzt wäre das wohl kaum noch möglich“, meinte Sekiros.
Goran-Tar führte Sekiros und Estan in sein Büro. Es war spartanisch eingerichtet.
„Die Luftfeuchtigkeit ist für Ihren daynidischen Geschmack vielleicht etwas hoch“, gestand Goran-Tar zu.
„Es lässt sich aushalten“, erwiderte Sekiros.
„Wissen Sie, das gehört zu dem bescheidenen Luxus, den ich mir hier erlaube.“
Sekiros und Estan nahmen in den schlichten Schalensitzen Platz.
Goran-Tar hingegen schien keinerlei Neigung zu habe, sich zu setzen. Die Facettenaugen und das schuppenbedeckte, starre Gesicht des Echsenartigen wirkten vollkommen emotionslos. Dass Goran-Tar sehr wohl emotional aufgewühlt war, verriet die Verfärbung des Knochenkamms, den er auf dem Schädel trug. Allerdings wusste Sekiros diese physisch sichtbaren Zeichen der gefühlsmäßigen Verfassung eines Sheeg nicht zu deuten.
„Wir haben unsere Horchantennen in Richtung des Allianzgebietes ausgerichtet, wie Sie sich denken können“, erklärte er. „Die Lage ist hoffnungslos…“
Sekiros konnte diese Einschätzung nur bestätigen. „Die Eroberer werden nach und nach unsere Welten in Besitz nehmen. Möge die Macht des Pasao der Bevölkerung gnädig sein…“
Der Glaube an die Macht des Pasao war eine unter Dayniden weit verbreitete Religion, die die Verehrung einer allumfassenden spirituellen Macht zum Zentrum ihrer Lehre erhoben hatte. Sekiros war nicht sonderlich gläubig. Aber im Augenblick fühlte er sich in einer Lage, in der wohl nichts anderes als Gebete noch helfen konnten.
„Die Schiffe mit denen Sie hergekommen sind – ist das wirklich der gesamte Rest unserer Flotte?“, fragte Goran-Tar. Er benutzte die Verkehrssprache der Allianz und sprach in einer tiefen, kehligen Tonlage, die ihm etwas Souveränes gab, auch wenn so manches Wort in glucksenden Blubberlauten unterging, die tief im Kehlkopf des Sheeg durch Schleimabsonderungen erzeugt wurden. Die Lautverteilung der Allianz-Verkehrsprache war für die Physiologie des Sheeg-Kehlkopfes alles andere als günstig. Aber die Echsenartigen waren das Kleinste der fünf Hauptvölker. Gegen die humanoide Übermacht aus Sapanorii, Dayniden und Tropoanern hatte man sich seinerzeit nicht durchsetzen können.
„Ich halte es für möglich, dass im Laufe der Zeit vielleicht noch kleinere versprengte Verbände zu uns stoßen werden“, meinte Sekiros. „Aber viel mehr als der Schrotthaufen, den Sie zurzeit in Ihren Hangars besichtigen können, ist von der gigantischen KALIMPAN-Flotte nicht geblieben. Caradal ist in den Händen der Feinde! Es gibt nur eine Möglichkeit: Wir müssen den Widerstand aus dem Untergrund heraus organisieren. Ich setze dabei auch auf Ihre Hilfe, Goran-Tar. Sie und die Spezialisten, die hier in der Station Daranor-Land ihren Dienst tun, werden von entscheidender Bedeutung beim Aufbau einer Widerstandsorganisation sein, die diesen Namen auch verdient.“
„Sie sind mir vom Rang her übergeordnet“, stellte Goran-Tar fest.
Sekiros stutzte.
Er weicht einer Stellungnahme aus, erkannte er.
Der Echsenartige machte ein paar Schritte auf und ab. Schließlich blieb er stehen und wandte mit einer ruckartigen Bewegung den Echsenschädel in Sekiros’ Richtung.
„Wir haben vom Oberkommando auf Caradal die Anweisung bekommen, uns kampflos den neuen Herren zu ergeben“, stellte Goran-Tar schließlich fest. „Sie können sich die Transmission ansehen und meinetwegen auch die Sicherheitszertifikationen überprüfen. An der Echtheit dieser Nachricht kann überhaupt kein Zweifel bestehen.“
„Das Oberkommando besteht aus Verrätern!“, knurrte Sekiros grimmig. „Der Feind kannte sämtliche geheimen Kommunikationscodes. Eine Verräter-Bande in den höchsten Rängen muss den Paliorac und Madanoi geholfen haben, anders ist das alles nicht erklärbar.“ Sekiros atmete schwer. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen. Allein der Gedanke daran, dass es wahrscheinlich Verräter gewesen waren, die ihn und mehrere hunderttausend andere Angehörige der Flotte mit ihren Schiffen in eine Schlacht geführt hatten, die von Anfang an nicht zu gewinnen war, machte ihn wütend.
Die übergroße Mehrheit der Dayniden, Tropoaner, Marashkanen, Klooogh, Sapanorii und Sheeg, die in dieses Gemetzel am Rande des Madanoi-Systems geschickt worden waren, lebte längst nicht mehr oder trieb in hoffnungsloser Lage an Bord von Wracks durch das All.
„Wir haben Nachrichten von Regenten und Mitgliedern des Hohen Rates aufgefangen und entschlüsselt“, berichtete Goran-Tar. „Sie waren an die Einheiten der Madanoi und Paliorac gerichtet und dienten offensichtlich dazu, sie bei ihren Operationen auf einzelnen Allianz-Welten zu instruieren.“
Sekiros schluckte.
„Dann haben die Verräter jetzt ihre Maske fallen lassen“, stelle er fest. „Ich habe es doch gewusst!“
„Der ovoanische Regent Qarleinen scheint mit Sicherheit auf der anderen Seite zu stehen. In den aufgezeichneten Nachrichten verhält er sich wie ein Stadthalter der Paliorac.“
„Ich habe nicht vor, den Kampf aufzugeben und den Befehlen dieser Verschwörer Folge zu leisten!“, erklärte Sekiros. „Um keinen Preis!“
Die Facettenaugen des Echsenartigen musterten Sekiros scheinbar teilnahmslos.
„Kolonie-Präsident Migalos scheint in dieser Frage Ihre Ansichten nicht zu teilen, Admiral“, sagte er schließlich nach einer kurzen Pause.
„Das habe ich schon gemerkt“, bestätigte Sekiros. „Er hatte wohl nicht die Mittel dazu, mich an der Landung auf Daranor zu hindern, aber ich hatte fast das Gefühl, dass er uns am liebsten draußen im All gelassen hätte.“
„In Ihren Plänen für den Aufbau einer Widerstandsorganisation muss Migalos eine Gefahr für die Bevölkerung Daranors sehen“, gab Goran-Tar zu bedenken.
„Dieser Narr glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass er nur den Kopf in den Sand zu stecken braucht, damit die Eroberer Daranor vergessen!“
„Besprechen Sie das am besten so schnell wie möglich mit Migalos persönlich“, schlug Goran-Tar vor. „Ich stelle Ihnen jederzeit einen Gleiter zur Verfügung, der sie in die Hauptstadt bringen kann.“
In diesem Moment ertönte in schrilles Alarmsignal.
Goran-Tar aktivierte eine Interkom-Verbindung. In der Wand bildete sich eine Projektionsfläche, auf der das Gesicht einer Daynidin zu sehen war.
„Hier Kisandrée, astronomischer Offizier. In einer Entfernung von weniger als zehn Lichtjahren zum Seras System wurde ein getarntes Objekt geortet, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um ein Raumschiff der Madanoi handelt!“
„Gibt es Anzeichen für einen Angriff?“, fragte Goran-Tar.
„Bislang nicht.“
„Suchen Sie das Gebiet nach weiteren Feind-Einheiten ab. Ich bin gleich bei Ihnen in der Zentrale.“
Goran-Tar unterbrach die Verbindung. Das Gesicht der Daynidin verschwand. Der echsenartige Sheeg wandte sich an Sekiros und sagte: „Es sieht ganz so aus, als würden die Eroberer sehr viel schneller hier auftauchen, als erwartet.“
„Ich war überzeugt davon, diese Bluthunde zumindest für eine Weile abgeschüttelt zu haben“, meinte Sekiros.
Estan mischte sich nun ein. „Wenn ein Schiff Madanoi-Schiff geortet wurde, dann müssen da draußen noch mehr sein! Eine ganze Flotte war uns auf den Fersen.“
„Wollen wir hoffen, dass Sie sich irren“, meinte Goran-Tar.
*
Etwa einen halben Meter von Ron Ashtons Konsole entfernt war die Projektion eines Sonnensystems zu sehen. Achtzehn Planeten umkreisten eine gelbe Sonne, wobei Nummer IV auf einer ziemlich exzentrischen, gegen die Ebene der anderen Trabanten gerichtete Bahn lief.
Planet III wurde stärker herangezoomt.
„Das ist er also – Sekiros’ Zielpunkt“, murmelte Martin Mallory vor sich hin. Je weiter sie sich vom, eigentlichen Kerngebiet der Allianz entfernt hatten, desto geringer war die Auswahl der für einen Unterschlupf in Frage kommenden Planeten geworden.
Daranor war in mehrfacher Hinsicht ideal dazu geeignet, um eine Untergrundstreitmacht aufzubauen, die aus dem verborgenen heraus für einen Sturz der Eroberer kämpfen würde.
Zumindest nahm Mallory an, dass Sekiros’ Pläne genau darauf hinausliefen. Der Commander der ALHAMBRA glaubte zwar nicht, dass eine derartige Organisation in der Lage war, die Herrschaft der vereinigten Madanoi- und Paliorac-Streitkräfte ernsthaft in Gefahr zu bringen.
Aber auch einer permanenten Nadelstichtaktik konnte man vorbeugen.
Den Gegner ein für alle mal ausschalten – das war nach Martin Mallorys Ansicht Sinn und Ziel dieser Operation.
„Die Bevölkerungszahl beträgt insgesamt 23 Millionen, davon sind weit über neunzig Prozent Dayniden“, erläuterte Jay Garcia. „Laut den Datenfiles des KALIMPAN-Geheimdienstes, die uns vorliegen, gibt es auf Daranor ausgedehnte unterirdische Anlagen, die zu einem Stützpunkt mit der Bezeichnung Daranor- Land gehören. Er dient vornehmlich der Fernspionage. Ein zweiter Stützpunkt trägt die Bezeichnung Daranor-Ozean und befindet sich in einem Tiefseegraben in Äquatorhöhe, der allerdings geografisch in Opposition zum einzigen Kontinent steht.“
„Eine Art letzte Rückzugsmöglichkeit?“, fragte Mallory.
„Ja. Daranor-Ozean wird nur von wenigen Spezialisten bemannt, während es sich bei Daranor-Land um eine unterirdische Stadt handelt. Sekiros findet dort alles, was er braucht. Vor allem Werftkapazitäten und eine hochempfindliche Fernortungstechnik, die ihres gleichen sucht. Ich würde vorsichtig sein.“
„Mister Ashton?“, wandte sich Mallory an den Steuermann.
„Ja, Sir?“
„Das bedeutet, Sie müssen bei der Annäherung besonders vorsichtig vorgehen. Tarnmodus muss aufrechterhalten werden. Jede Emission von Energiesignaturen ist so weit wie irgend möglich zu unterdrücken.“
„In Ordnung, Sir.“
„Gehen Sie mit einer Serie kleiner Raumsprünge bis auf drei Lichtjahre an das Seras-System heran und warten Sie dann auf meine weiteren Befehle.“
„Ja, Sir.“
Munjay Singh meldete sich zu Wort. „Wir bekommen eine Nachricht des Raumkommandos der Paliorac-Flotte, Teilabschnitt 3, herein“, meldete der Funker pflichtgemäß.
Mallory verzog das Gesicht. Eigentlich konnte das nur Ärger bedeuten. „Ich wette, es handelt sich wieder mal nur um eine rein akustische Transmission!“
„Nein Sir, es wird um eine audiovisuelle Kom-Verbindung per Hyperfunk gefordert.“
Gefordert!, echote es bei Ashton. Ein Paliorac-Commander bat nicht etwa um eine Verbindung, er forderte sie. Ein kleines Detail, das für Ashton einmal mehr klarmachte, mit welcher Verachtung die Verbündeten der Erde der Menschheit gegenüber agierten. Die Tatsache, dass die Paliorac zumeist über rein akustische Verbindungen kommunizierten, interpretierte Ashton ebenfalls in diesem Licht. Sie befanden ihre menschlichen Verbündeten einfach nicht als wertvoll genug, als dass man sich ihnen hätte zeigen sollen, obwohl dies ohne größeren technischen Aufwand möglich gewesen wäre. Wie man die Sache auch drehte und wendete, es lief immer wieder auf diesen einen Punkt hinaus.
Offenbar hatte diesmal der Kontakt für die Paliorac-Seite eine weitaus höhere Priorität als sonst. Anders war das veränderte Kommunikationsverhalten nicht erklärbar.
„Auf den Schirm mit der Silizium-Schönheit!“, brummte Mallory. Er hielt das für witzig. Aber niemand in der Zentrale der ALHAMBRA teilte Mallorys Auffassung von Humor.
Das Bild auf dem Panorama-Schirm verschwand und machte einem zylinderförmigen, gesichtslosen Etwas Platz, das für menschliche Begriffe kaum wie Lebewesen, sondern eher wie ein Gegenstand wirkte. Erst bei genauerem hinsehen fielen dem Betrachter die sporenartigen Feinstrukturen an der Oberfläche dieses Körpers auf.
Es handelt sich tatsächlich um einen Körper. Allerdings nicht biologischen, sondern im geometrischen Sinn des Wortes!, durchzuckte es Ashtons Gedanken.
„Hier spricht Irsaoc, Flottenkommandant des Abschnitts 3. Wir brauchen die an Bord des Raumschiffs ALHAMBRA befindlichen Einheiten von Kohlenstoff-Strukturen umgehend zur Durchführung der notwendigen Spezialoperationen zur Befriedung des Planeten Laschkan.“
Einheiten von Kohlenstoffstrukturen!, echote es in Ron Ashtons Gedanken. Die Paliorac scheinen in uns Menschen bestenfalls Werkzeuge zu sehen. Werkzeuge, die sie genauso wenig als etwas Lebendiges ansehen, wie ein Mensch das bei einem Schraubenschlüssel oder einem Kalibrierungsmodul tun würden…
„Wir haben die Zuflucht von Admiral Sekiros’ Schiffen gefunden“, erwiderte Mallory. „Ich möchte verhindern, dass Sekiros und seine Brut es schafft, die beschädigten Schiffe wieder kampffähig zu machen!“
„Die Operation auf Laschkan hat absolute Priorität. Wir brauchen jede verfügbare Einheit, deren Besatzung über Erfahrung im Bodenkampf verfügt. Die Zuflucht des Kohlestofflebens aus der ehemaligen Allianz KALIMPAN kann auch später noch zerstört werden. Unserer Einschätzung nach besteht hier erst ein mittelfristiger Handlungsbedarf.“
„Es sind doch schon alle anderen Einheiten dieses Verbandes abgezogen worden“, erwiderte Mallory.
Die Entgegnung des Paliorac war außerordentlich kühl. „Soweit mir bekannt ist, entspricht es den Direktiven Ihres eigenen Oberkommandos, mit uns zu kooperieren. Diese Kooperation soll so weit wie möglich gehen. Es besteht diesbezüglich kein Bedarf an weiteren Diskussionen. Entweder es gelingt Ihnen, das Problem mit dem Unterschlupf des Admirals umgehend zu lösen oder es bleibt Ihnen nichts anders übrig, als sich später darum zu kümmern. Irsaoc Ende.“
Der Hyperfunkkontakt wurde abgebrochen.
Auf den großen Panorama-Bildschirm der ALHAMBRA waren wieder die funkelnden Sterne des Alls zu sehen.
Ron Ashton wandte den Blick von seiner Konsole und drehte sich zu seinem Kommandanten herum. „Sir, soll ich die Koordinaten von Laschklan eingeben?“
„Nein“, knurrte Mallory düster. „Wir bleiben hier und bringen unsere Mission zu Ende.“
„Sie riskieren Ärger mit unseren Verbündeten – etwas, dass unsere eigene Führung um fast jeden Preis zu vermeiden versucht“, gab Jay Garcia zu bedenken.
„Garcia, übernehmen Sie bitte den Platz von Mister Ashton“, befahl Mallory. „Bringen Sie uns auf ein halbes Lichtjahr an Daranor heran.“
Garcia war ebenso irritiert wie Ashton.
Der Steuermann der ALHAMBRA trat zur Seite und machte seinen Platz für den Ersten Offizier frei.
Mallory wandte sich jetzt an Ashton. „Sie hatten bei allen Tests Spitzenwerte, was die treffsichere Programmierung von Lenkwaffen aller Art angeht, nicht wahr?“
„Das ist richtig, Sir“, bestätigte Ashton.
„Sie übernehmen Feuerleitstand Alpha.“ Mallory deutete auf eine Konsole auf der anderen Seite der Zentrale. „Sobald Mister Garcia uns in Gefechtsposition gebracht hat, werden Sie eine Serie von XCA-Torpedos abschießen… Mister Al-Habibi wird Ihnen die nötigen Spezifikationen für eine DP-Konfiguration geben, sobald er mit der Fernortung genügend Datenmaterial über Daranor gesammelt hat.“
Ashton schluckte.
DP-Konfiguration – ein sehr neutral klingendes Wort, das nichts anderes als die Zerstörung eines ganzen Planeten beinhaltete.
Das Kürzel DP stand dabei für Death Points.
Dazu wurde für die schweren Fusionstorpedos eine Serie von Zielpunkten ermittelt, die geologisch besonders sensibel waren. Sofern ein Planet über aktiven Vulkanismus und heiße Magmaschichten verfügte, konnte man durch eine Serie genau gesetzter, gleichzeitig oder in kurzem Abstand erfolgender Treffer die planetare Kruste aufbrechen und den Planeten förmlich auseinanderplatzen zu lassen. Wenn die physikalischen Voraussetzungen im Fall von Daranor stimmten, so verwandelte sich der Planet innerhalb kürzester Zeit in einen Glutball. Die Wirkung der Sprengladungen, mit denen die Torpedos bestückt waren, mochte noch so gewaltig sein, in erster Linie waren es die im Inneren des jeweiligen Planeten tobenden Kräfte, die ihn zerstörten.
„Was schauen Sie mich so an, Ashton?“, fragte Mallory. „Wir haben nur diese eine Chance. Für eine zweite Torpedoserie in DP-Konfiguration reichen weder unsere Vorräte an verfügbaren Lenkwaffen noch unsere Zeit. Aber wenn einer das hinbekommt, dann sind Sie das!“ Er grinste. „Ich habe mich sehr genau über Sie informiert, Ashton. Was glauben Sie wohl, warum ich unbedingt wollte, dass Sie an Bord der ALHAMBRA versetzt werden? Jemanden mit Ihrem Talent ist hier genau richtig…“
„Sie wollen den gesamten Planeten vernichten“, stellte Ashton stockend fest.
„Richtig. Daranor wird für Sekiros nicht zur sicheren Zuflucht, sondern zu seinem Grab. Seine Schiffe sind zum Großteil vermutlich in den unterirdischen Hangars und können nicht einfach starten und davonfliegen. Diese Chance bekommen wir nie wieder! Mit einem Schlag ist das Problem gelöst.“
„Es leben 20 Millionen Menschen auf Daranor“, gab Ashton zu bedenken.
„Keine Menschen“, korrigierte Mallory. „Menschenähnliche Dayniden und ein paar Millionen abartige Monstren, deren Schicksal Ihnen nicht den Schlaf rauben sollte, Ashton.“
Fast kumpelhaft schlug Mallory seinem Zweiten Offizier auf die Schulter und fuhr fort: „In dem Moment, als die planetare Administration von Daranor Sekiros’ Flotte das Recht zur Landung gab, haben die Daranorer ihr Schicksal selbst besiegelt.“ Mallorys Blick bohrte sich förmlich in Ashtons dunkle Augen. „Machen Sie Ihren Job, Ashton.“
„Ja, Sir“, antwortete er.
Eine angedrillte Erwiderung.
Ashton kam sich wie ein Automat dabei vor. Ich habe keine andere Wahl, dachte er. Mallory hatte das Kommando und auch wenn ihm dessen Entscheidung noch so sehr gegen den Strich ging, so hatte er doch keine Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Oder redest du dir das nur ein, um dein Gewissen zu beruhigen?, meldete sich eine Stimme in seinem Hinterkopf, während er auf die Konsole des Feuerleitstands Alpha zu ging.
Seiichi Matasake, der eigentlich zurzeit an dieser Konsole diensthabende Offizier, trat zur Seite. Das Gesicht des Japaners wirkte auf den Betrachter immer leicht etwas maskenhaft. Aber Ron Ashton kannte Matasake inzwischen gut genug, um die Feinheiten erkennen zu können. Er ist froh, jetzt nicht an meiner Stelle zu sein!, dachte Ashton. Die Gedanken rasten nur so durch sein Hirn. Zwanzig Millionen Tote, die nichts dafür konnten, dass Sekiros sich ausgerechnet ihren Planeten als Unterschlupf ausgesucht hat… Es ist eine Schande!
Ron Ashtons Finger glitten über das Terminal. Er aktivierte ein Display, rief das Menue auf, mit dessen Hilfe er die Bahnen der schweren Torpedos programmieren konnte.
Die ALHAMBRA führte eine weitere Transition durch.
Jay Garcia brachte sie bis auf ein halbes Lichtjahr an den Zielplaneten heran.
„Die ALHAMBRA befindet sich in Gefechtsposition“, meldete der Erste Offizier.
Vor Ron Ashton erschien eine Projektion. Sie zeigte die blau-grün schimmernde Kugel Daranors. Nach und nach blinkten darauf auf.
Die Death Points!, durchzuckte es Ashton.
„Mit der Masseabtastung lässt sich der Verlauf der Magmaströme bestimmen“, erklärte Al-Habibi. Der Ortungsoffizier blickte mit äußerst angestrengtem Gesicht auf eines seiner Displays. „Die geologische Struktur des Planeten kommt uns auch sehr entgegen!“
„Na bestens!“, meinte Mallory kalt. „Mister Ashton, ich hoffe, Sie sind bald soweit!“
„Einen Moment noch“, antwortete der Zweite Offizier. Er hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Zwanzig Millionen Tote. Die werden dich bis ans Lebensende in deinen Albträumen verfolgen!
Ashton blickte auf seine Hand.
Sie war erstaunlich ruhig, während er fast wie automatisch die notwendigen Schaltungen vornahm.
*
In der Zentrale der Station Daranor-Land herrschte hektisches Treiben. Spezialisten aus allen KALIMPAN-Völkern bedienten von Konsolen aus die Ortungs- und Kommunikationssysteme der Station. Ein schmetterlingshafter Klooogh flog durch die Luft und landete neben dem Schattenfeld eines Marashkanen. Der Klooogh übergab dem Marashkanen ein Protokoll-Modul. Es verschwand im nächsten Augenblick in der abgrundtiefen Schwärze des Schattenfeldes, das den Marashkanen umgab.
Die Streitkräfte der Allianz waren in der Regel nach den einzelnen Völkern gegliedert gewesen.
Aber für den Geheimdienst hatte dieses Prinzip der Bündnistreue ohne Bevormundung, wie es in der legendären KALIMPAN-Gründungsurkunde hieß, schon seit längerem nicht mehr gegolten. Seine Struktur war immer schon hierarchischer gewesen und man hatte auf die Eitelkeiten der einzelnen Mitgliedsvölker kaum Rücksicht genommen.
Das einzige, was hier zählte, war Effektivität.
Aber auch das war nun alles Vergangenheit.
Vom KALIMPAN-Geheimdienst waren genau wie von der Raumflotte nichts als Trümmer geblieben.
„Berichten Sie!“, wandte sich Goran-Tar an Kisandrée.
„Das Verfolger-Raumschiff hat die Position gewechselt“, meldete die Astronomin und Ortungstechnikerin. Sie strich sich eine Strähne ihrer langen, bis über die Schultern reichenden schwarzen Haare zurück, die zu dem leuchtend grünen Augeninneren einen starken Kontrast bildeten. Die junge Frau ließ die Hände über das Terminal gleiten und nahm ein paar Feineinstellungen bei der Konfiguration der außerordentlich leistungsstarken Ortungstechnik vor. „Die gegenwärtige Position ist ein halbes Lichtjahr von Daranor entfernt“, fuhr sie fort. Ihr Gesichtsausdruck wirkte nachdenklich.
„Was ist mit weiteren Schiffen?“, fragte Estan ungeduldig. Er stand neben der Astronomin, die nebenbei offensichtlich eine hervorragende Ortungstechnikerin war und mit den außerordentlich sensiblen Abtastungssystemen geradezu virtuos umzugehen wusste.
„Bis jetzt gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass Ihnen mehr als nur diese eine Madanoi-Schiff gefolgt ist“, erklärte Kisandrée.
„Vielleicht verwenden die Madanoi nur eine besonders gute Tarnung“, vermutete Sekiros, der einfach nicht glauben konnte, dass es sich tatsächlich nur um einen einzelnen Raumer handelte, der ihrer Spur bis nach Daranor gefolgt war.
„Dann müssten trotzdem leicht Erschütterungen des Raum-Zeit-Gefüges anzumessen sein, die durch jede Transition verursacht werden“, entgegnete Kisandrée. Selbst wenn sie sich mit kleinen Raumsprüngen herangetastet hätten, so wie dieses einzelne Madanoi-Schiff es offenbar getan hat…“
Sekiros wandte sich an Goran-Tar.
„Setzen Sie mich bitte umfassend darüber in Kenntnis, welche Verteidigungsanlagen auf Daranor existieren“, forderte er.
„Den beiden Patrouillenschiffen sind Sie ja wohl schon draußen im All begegnet. Außerdem gibt es natürlich eine Staffel von kleineren Schiffen, Kampfjägern und dergleichen. Im Ganzen eine lächerliche Streitmacht. Bis vor Beginn der Krise um das Madanoi-System waren hier zwei schwere daynidische Kampfschiffe vom Verbundraumer-Typ stationiert. Aber sie wurden abgezogen, als die Schlacht um das Madanoi-System begann…“
„Ja, das war ein großer Fehler!“, murmelte Sekiros. In vielen anderen Systemen war ähnliches geschehen. Die Allianz KALIMPAN hatte alle Kräfte an einem einzigen Punkt gebündelt, weil es so ausgesehen hatte, als wäre eine Entscheidung möglich.
Die Entscheidung war gefallen.
Allerdings zu Ungunsten der Allianz.
Das alles ist Vergangenheit!, ging es Sekiros durch den Kopf. Es hat keinen Sinn, daran auch nur noch einen einzigen Gedanken zu verschwenden. Mag die Niederlage auch noch so schmerzhaft sein und der Verrat unserer Führung dir ein Gefühl geben, als ob dir jemand eine Schlinge um den Hals gelegt hätte – jetzt geht nur um die Zukunft. Um die letzte Chance, die uns bleibt!
„Was ist mit Abwehrmöglichkeiten vom Boden aus?“, fragte Sekiros.
„Es existieren insgesamt fünf Geschützbatterien. Aber gegen ein voll ausgerüstetes Kampfschiff der Madanoi haben wir kaum eine Abwehrchance.“
Ein Summton war zu hören.
Der Klooogh war inzwischen wieder zurück zu seiner Konsole geflogen. Die extrem zierlichen Greifhände an den Enden der zart wirkenden oberen Extremitäten glitten über das Terminal. Der Summton verstummte. „Koloniepräsident Migalos möchte eine Verbindung“, stellte der Klooogh fest.
Ein Gurgellaut entrang sich Goran-Tars Kehle.
„Das gibt Ärger“, murmelte der Echsenartige anschließend.
„Ist der Kolonie-Präsident über das Auftauchen des Madanoi-Schiffs bereits informiert?“, fragte Sekiros etwas überrascht.
„Nicht, dass ich wüsste“, erwiderte Goran-Tar.
Kisandrée drehte sich herum.
„Ich habe meinen Vater umgehend informiert“, erklärte sie.
Sekiros sah sie erstaunt an. „Koloniepräsident Migalos ist Ihr Vater?“, fragte er
„Ja“, bestätigte sie. Sie richtete ihren Blick auf Goran-Tar. „Ich denke nicht, dass es irgendwelche Bedenken dagegen gibt, den amtierenden Koloniepräsidenten über eine drohende Gefahr zu informieren!“
„Aktivieren Sie die Verbindung“, wies Sekiros den Kommunikationsoffizier aus dem Volk der Klooogh an, dessen Flugmembrane darauf ihre Färbung änderte.
Das Gesicht des Kolonie-Präsidenten erschien auf einem Nebenschirm.
„Admiral Sekiros, ich möchte Sie angesichts der aktuellen Lage ersuchen, mit Ihren Schiffen den Planeten wieder zu verlassen.“
„Das ist leider nicht möglich“, erklärte Sekiros. „Wir können froh sein, dass alle Einheiten ohne zusätzlichen Schaden gelandet sind.“
„Dann funken Sie das Madanoi-Schiff an, das am Rand unseres Systems aufgetaucht ist. Bieten Sie die Übergabe an und ergeben Sie sich.“
Kisandrée meldete sich plötzlich zu Wort. „Unsere Ortungsinstrumente haben etwas aufgezeichnet!“ Auf einem großen Panorama-Schirm war ein Ausschnitt des Weltraums zu sehen. Ein bestimmtes Gebiet war markiert. „Das ist eine der Gaswolken, die unser Zentralgestirn umkreist. Man sieht deutlich eine Unregelmäßigkeit. Inzwischen konnte ich Energiesignaturen anmessen, die wir aus unseren Datenbänken kennen.“
„Nun sagen Sie schon, was fliegt da auf uns zu?“, fragte Goran-Tar.
Kisandrées Gesicht wirkte sehr ernst.
„Es sind Raumtorpedos, wie sie von den Madanoi verwendet werden“, sagte sie tonlos.
„Abwehrmaßnahmen einleiten!“, befahl Sekiros.
„Zu spät“, erwiderte Kisandrée. „Die Torpedos verfügen über Überlichtantrieb und bewegen sich mit einer Serie von Kurz-Transitionen fort. In einer halben Minute schlagen sie auf Daranor ein.“
Sekiros starrte auf den Hauptschirm der Zentrale. Kisandrée hatte Recht. Nicht einmal die Abfangjäger der Geschützbatterien der Patrouillenboote hätte jetzt noch etwas ausrichten können.
© 2004 by A.Bekker
Die vorliegende Novelle erschien ursprünglich unter dem Titel DAS FESTIVAL in dem Magazin ANTARES NEWS, wo sie 1986 von den Lesern mit dem Antares Award für die beste Erzählung des Jahres ausgezeichnet wurde. Viele Jahre später sagte ich Heinz Mohlberg, dem Verleger des Mohlberg-Verlages zu, diese Novelle zum Roman auszuarbeiten. Ich erweiterte den Umfang von 40 auf etwa 80 Manuskriptseiten, was aber für einen Heftroman noch nicht ganz ausreicht. Das Schlimmste aber: Ich hatte in der 80 Seiten Fassung die Handlung zwar erweitert, brauchte aber nun ein neues Ende für den Roman und mir wollte einfach nichts Vernünftiges einfallen. Glücklicherweise sprang ein Freund und Kollege, der bekannte SF-Autor Wilfried A.Hary ein, erweiterte das Manuskript auf etwa 120 Seiten und gab der Geschichte einen völlig neuen Dreh. Das Ergebnis erschien als DAS FESTIVAL VON TASNER in der Sirius-Reihe des Mohlberg-Verlages. Hier liegt dem geneigten Leser nun nach vielen Jahren wieder erstmalig die (etwas geglättete) Ursprungsversion vor, die neben der späteren Romanfassung als völlig eigenständiges Werk bestehen kann.
A.B.
"Wie lange befinden Sie sich bereits im Territorium der Rand-Föderation, N'Gaba?"
"Um genau zu sein: Seit 6, 7 Standardeinheiten."
"Und nach so kurzer Zeit glauben Sie bereits, ein Urteil fällen zu können?"
"Ich nicht, aber mein Computer!"
"Ach was. Ich will Ihnen 'was sagen, N'Gaba: Sie sind genau wie alle anderen, die jetzt von den inneren Welten hierher kommen. Sie sind arrogant: Nur weil Alpha Centauri ein bisschen weiter weg vom intergalaktischen Nichts liegt als Centrum oder Tasner, glauben Sie, wir seien Halbprimitive"
"Verzeihen Sie, wenn ich Sie korrigieren muss, aber die Barretto-Yilmaz-Gerlard-Company hat ihren Sitz nicht in Alpha Centauri, sondern im Sol-System."
Xa LeCarré zuckte mit den Schultern.
"Aus dieser Entfernung sind solche Unterschiede unerheblich."
Israt N'Gaba hob die Brauen und rieb sich die Augen.
Er hatte nicht erwartet, in LeCarré einen umgänglichen Gesprächspartner zu finden, da er auf Centrum bereits von diesem Mann gehört hatte.
Der Erste Repräsentant von Tasner und Mitglied des Föderalen Rates war von kleiner und untersetzter Statur, hatte kaum noch Haare auf dem Kopf und wirkte aber dennoch keineswegs greisenhaft.
Seine grau-blauen Augen funkelten ein wenig und verrieten etwas von der Intelligenz, die hinter der hohen Stirn steckte. "Immerhin...", meinte er dann zu Israt. "Sie haben Rand-Lingua ziemlich gut gelernt."
"Hypnokurs. Damit geht das sehr schnell."
"In dieser Beziehung sind wir vielleicht doch Barbaren." LeCarré lächelte. "So etwas haben wir hier noch nicht. Der technologische Rückstand ist schwerlich zu leugnen. Aber wir hatten es auch nicht leicht. Die lange Zeit der Isolation hat den Rand schwer zugesetzt: Die Föderation war völlig auf sich allein angewiesen."
"Ich denke, dass das nun anders werden wird", gab Israt seiner Überzeugung Ausdruck.
Israt N 'Gabe war in Ibadan, Nigeria auf der Erde geboren worden, wovon seine schwarze Hautfarbe ein deutliches Zeugnis ablegte.
LeCarré hatte ihn zunächst voller Verwunderung und Erstaunen (und im übrigen auch völlig ungeniert) angestarrt.
Später sollte Israt merken, dass der Erste Repräsentant alle Menschen, die ihm begegneten, mit dieser übergroßen Neugier betrachtete und dass das keineswegs etwas mit der Hautfarbe zu tun hatte.
"Ja, jetzt kommen sie wieder", brummte LeCarré nun. "Leute aus dem Sirius-Imperium, Leute aus Alpha Centauri, aus Brasilien und aus China. Sie kommen, um uns wieder ihr Zeug zu verkaufen." Dann blickte er plötzlich auf. "Man hat mir Daten über Sie gegeben, N'Gaba. Sie sind Moslem..."
"Das ist richtig."
LeCarrés Mund verzog sich ein wenig und sein Gesicht nahm einen schwer zu deutenden Ausdruck an, der irgendwo zwischen Verachtung und Interesse lag.
"Glauben Sie an Allah? Glauben Sie an die Suren des Korans?"
Warum will er das wissen?, fragte sich Israt.
Er blickte auf, verengte ein wenig die Augen. Du hast diese Frage gefürchtet wie der Teufel das Weihwasser - wie es ein Anhänger der irdisch-reformiert-katholischen Kirche ausdrücken würde.
"Ich weiß nicht...", gab Israt unsicher zur Auskunft.
LeCarrés Blick wirkte stählern.
"Ja oder nein?"
Israt N'Gaba zuckte die Achseln.
"Ich bin irgendwo auf halbem Wege zwischen Glauben und Unglauben stehen geblieben, das ist die Wahrheit. Ich weiß es wirklich nicht. Ich meine auch nicht, dass das irgendeine Relevanz hat."
"Ich glaube, Sie täuschen sich."
"Nun, vielleicht hat es eine, vielleicht auch nicht. Wer kann das schon genau sagen?"
Sie befanden sich irgendwo in einem der unzähligen saalartigen Räume von LeCarrés riesigem Haus.
Israt war erst seit 1,9 Standardeinheiten (das entsprach etwa einem tasnerianischen Tag) Gast des Ersten Repräsentanten und konnte daher noch keinesfalls erwarten, sich in diesem ausgedehnten Gebäude zurechtzufinden.
Gleich, als sie diesen Raum betreten hatten, waren Israt die verschiedenen Schwerter an den Wänden aufgefallen. Eigentlich schien ihm sein Gastgeber nicht der Typ des romantischen Sammlers archaischer Reliquien zu sein. Die Klingen blitzten und schienen aus hochwertigem, modernen Stahl zu sein; gerade so, als würden sie von ihrem Besitzer noch zu anderen als dekorativen Zwecken gebraucht. Aber das war natürlich absurd.
Ist LeCarré ein Nostalgiker?, ging es Israt durch den Kopf. Auf der Erde gibt es eine ganze Subkultur, deren Anhänger sich der Prä-Weltraum-Ära auf der Erde verschrieben haben und solche antiken Reliquien sammeln.
Aber hier - in der Rand-Föderation?
Israt war überrascht.
"Sie haben mich nach Daten gefragt, N'Gaba...", fuhr der Erste Repräsentant jetzt fort.
"Das ist richtig. Bevor sich unsere Firma zu einer größeren Investition entschließt, werden im Allgemeinen die nötigen Daten eingeholt, um das Risiko auf ein Minimum zu senken."
LeCarré nickte verständnisvoll.
Er wandte seinem Gast den Rücken zu und verschränkte die Arme vor der Brust. "Die Sache ist nur die", sagte der Erste Repräsentant dann sehr langsam und akzentuiert, "dass ich Ihnen, selbst wenn ich es wollte, nicht unmittelbar helfen kann."
Israt runzelte die Stirn.
Er fühlte seinen Puls beschleunigen und Ärger in sich aufkeimen.
"Was soll das heißen?"
Er drohte tatsächlich, seine Selbstsicherheit und Gelassenheit zu verlieren. Rasch genug, um schlimmere Entgleisungen zu verhüten, gelang es ihm jedoch, sich wieder unter Kontrolle zu bringen.
Eigentlich darf mir so etwas nicht passieren, dachte er. Als Wirtschaftsmanager hatte er natürlich entsprechendes PsychoConditioning mitgemacht.
"Ich dachte", setzte er dann (inzwischen wieder wesentlich ruhiger) ein zweites Mal an, "Sie wären hier die maßgebliche Instanz, LeCarré."
LeCarré wandte sich wieder zu ihm um und lächelte müde.
"Was heißt schon maßgeblich? Ich bin kein Alleinherrscher oder Diktator, das scheinen Sie zu vergessen: Bei uns gibt es eine Gewaltenteilung: Gerichtsbarkeit - Administration - Datenwesen. Sie verstehen?"
"Sicher."
"Es hat sich im Lauf unserer Geschichte als vernünftig erwiesen und als vorteilhaft für den einzelnen Bürger, diese drei Bereiche strikt voneinander zu trennen und die entsprechenden Verantwortlichkeiten in verschiedene Hände zu legen. Ich bin der Chef der Administration und kann ohne die Genehmigung des Obersten Datenkontrolleurs nichts herausgeben. Verstehen Sie das bitte nicht als Schikane gegen Sie. So ist nun einmal, unser Gesetz und an dieses bin auch ich gebunden, ob Ihnen oder mir das nun passt oder nicht. Außerdem bin ich der festen Überzeugung, dass dieses Gesetz sehr wohl seinen Sinn hat, denn mit den Computerdaten kann - wie Sie sicherlich auch zugeben werden - viel Unfug getrieben werden."
Israt seufzte.
Wieder fiel sein Blick auf die Schwerter an der Wand.
Waffen für barbarische Wilde ---
Im Ganzen waren es fünf Klingen unterschiedlicher Länge und Schwere.
Das größte von ihnen war zweischneidig und ungebogen.
Der lange Griff deutete darauf hin, dass es sich tun einen Beidhänder handelte.
"Interessieren Sie sich für Waffen, N'Gaba?", fragte LeCarré, der das aufkeimende Interesse seines Gesprächspartners bemerkt hatte.
"Oh... Nein, nicht besonders..."
"Und doch können Sie den Blick nicht von den Klingen wenden."
Israt hob die Augenbrauen.
"Warum hängen diese Mordwerkzeuge hier?"
LeCarré zeigte seinem Gast ein etwas verkrampft geratenes Grinsen. "Wo sollte ich sie sonst hinhängen? Ich habe so viele davon... Soll ich Ihnen eines herunternehmen?"
"Nein, danke. Sind das historische Stücke?"
"Nein, natürlich nicht. Sie sind zum Gebrauchen da, wozu sonst? Aber bleiben wir bei der Frage der Datenbeschaffung. Das Amt des Obersten Datenkontrolleurs hat zur Zeit Alana Susstu-Garlis inne. Sie ist zwar eine ausgesprochene charmante und liebenswürdige Person, aber durchaus keine Heilige."
"Was meinen Sie damit?"
"Das man sie möglicherweise kaufen kann. Sie ist korrupt und zielstrebig. Vielleicht hat sie eine große Karriere vor sich. Ich werde sie mit Ihnen zusammenbringen --- bei Gelegenheit!"
"Bei Gelegenheit?"
"Ich verstehe durchaus, dass Sie ungeduldig sind, N'Gaba, aber bei uns verläuft die Zeit anders als bei Ihnen, auf den Inneren Planeten. Hier geht alles wesentlich langsamer und alles bedarf wohlüberlegter Vorbereitung. Wenn ich Sie mit Alana zusammenbringe, dann werde ich den Boden zu Ihren Füßen bereits teilweise beackert haben, um eine Entscheidung in gewünschtem Sinne zu forcieren."
"Und Sie meinen, es gibt keine 'einwandfreie' Möglichkeit, an diese Frau heranzutreten?"
"'Einwandfrei'? Sie meinen, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen?"
"Ja, so kann man es auch ausdrucken."
LeCarré lächelte nachsichtig und schüttelte bedächtig den Kopf. "Natürlich können Sie diese Sache auch auf 'einwandfreie' Art und Weise erledigen. Sie können zu ihr hingehen und sie um die notwendigen Daten bitten. Und sie wird sie Ihnen sogar geben - geben müssen, denn sie ist verpflichtet dazu. Aber das, was sie da bekommen würden, wäre nicht besonders viel - und nebenbei bemerkt auch nicht besonders brauchbar -‚ da unsere Datenschutzgesetze sehr streng sind. Ich denke zum Beispiel, dass Sie auch Individualdaten, detaillierte Angaben zur Person haben wollen, nicht wahr?"
"Ja, selbstverständlich."
Man konnte einfach das Risiko nicht eingehen, ein Produkt zu machen, das niemand kaufte. Man musste bereits im Voraus wissen, wer es unter Unständen abnehmen würde (was umfangreiches Datenmaterial über Vorlieben und Geschmack des Einzelnen erforderte). Auf diese Weise konnte man den potentiellen Kunden mit gezielten Werbemaßnahmen erreichen. Die Verschwendung, Werbekampagnen nach der Gießkannenmethode zu betreiben, gehörte der Vergangenheit an.
"Das Verbot der Weitergabe solcher Daten zu kommerziellen Zwecken ist nur eine der vielen Einschränkungen, die uns das Gesetz in diesem Bereich auferlegt. Sie sehen also, Alana wird eine lohnende Investition für Sie sein - selbst wenn sie sehr unverschämt sein sollte."
Es gab keine Alternative zu dem, was der Erste Repräsentant gesagt hatte, Israt sah das ein.
"Sagen Sie, LeCarré", meinte Israt ein wenig später, "Sie helfen mir doch sicherlich auch nicht nur aus selbstlosen Motiven?"
Der Erste Repräsentant zuckte mit den Schultern und setzte einen gleichgültigen Gesichtsausdruck auf. "Ich glaube", sagte er, "dass das egoistische Motiv das einzig reale ist."
*
Die Standardeinheiten vergingen und Israt N'Gaba begann, sich an verschiedene Besonderheiten Tasners zu gewöhnen, insbesondere an den langsameren Verlauf der Zeit. Im Übrigen gewann er zunehmend den Eindruck, dass Xa LeCarré, dessen persönlicher Gast er war, seine Ziele tatsächlich unterstützte. Es war gut, einen derart wichtigen Mann auf der eigenen Seite zu wissen, auch wenn Israt die Motive dieses Bündnisses noch nicht durchschaute.
Bis jetzt hatte der Erste Repräsentant noch keine Forderungen gestellt, aber vielleicht kam das auch erst später. Möglicherweise war er an materiellen Reichtümern auch nur sekundär interessiert, da er sie im Überfluss besaß, und es ging ihn in Wirklichkeit um etwas ganz anderes.
Es dauerte nicht sehr lange, bis er die Zeit nicht mehr nach Standardeinheiten, sondern nach den natürlichen Tagen Tasners maß, dem Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit (auf Grund der niedrigen Sternendichte und der Mondlosigkeit des Planeten, fiel dieser wesentlich drastischer aus, als im Inneren der Galaxis).
Tasner hatte ursprünglich keine atembare Atmosphäre gehabt. Die war erst nach einem künstlich eingeleiteten Terraforming-Prozess entstanden - ebenso wie das Wasser, das außerdem nur recht spärlich vorhanden war. Über neunzig Prozent der Planetenoberfläche bestand aus Land. Es gab nur zwei größere Binnenseen, beide auf der Osthalbkugel gelegen. Um diese herum gruppierten sich die wenigen Städte des Planeten mit ihnen zusammen nicht mehr als 1,2 Millionen Einwohnern.
Israt befand sich in Val-Duun, der Hauptstadt, dort, wo der Knotenpunkt der Macht auf Tasner lag.
Das Treiben auf den Straßen und am See-Ufer konnte man beim besten Willen nicht als hektisch beschreiben, alles schien mit einer eigentümlichen Ruhe und Gelassenheit erledigt zu werden.
Mit der Magnetbahn fuhr Israt einmal zum See, wo ihn ein breiter, künstlich angelegter weißer Sandstrand erwartete. Das Baden war allerdings (wie zahlreiche Hinweisschilder bekannt gaben) wegen der gefährlichen Raubfische, die nicht selten bis in die flachen Ufer-Regionen vordrangen, verboten.
Israt stand eine ganze Weile an diesem Strand, hörte dem Geflüster der leichten Wellen zu und schaute zu den schroffen Felsmassiven hinauf, die vor der Küste Val-Duuns aus dem Wasser ragten.
Es ist der Mensch gewesen, der diese Welt zu dem gemacht hat, was sie ist, dachte er.
Es war nicht Allah.
Manchmal schien es ihm so unerheblich zu sein, ob Allah existierte oder nicht. Doch ab und zu überkamen ihn auch Stimmungen ganz anderer Art.
Schuldgefühle waren das dann zumeist oder auch eine irrationale Angst vor dem Zorn seines Gottes.
Seltsamerweise vermochte es sein ansonsten aufgeklärtes Weltverständnis nicht, solche Dinge einfach wegzuwischen.
Erziehung, versuchte er sich dann zuweist zu sagen. Erziehung ist alles. Mein Vater und seine drei Frauen waren gläubige Moslems, sie haben mich erzogen und mein Inneres geformt. Und wie konnte es auch anders sein, als sie mir neben vielen anderen Dingen auch ihre Ängste als Erbschaft hinterlassen haben.
Aber wie immer auch seine Augenblicksstimmung war, er blieb doch stets in der Mitte zwischen Glauben und Unglauben. Das machte sein Leben natürlich nicht gerade einfacher, im Gegenteil.
Wenn ich mich nur für eine Seite entscheiden könnte, dachte er in diesem Moment (und zwar nicht das erste Mal). Egal für welche Seite, es hätte ihm vermutlich ein vermehrtes Gefühl innerer Einheit und Stabilität gegeben.
Aber das war nicht in Sicht. Es schien so, als sollte er sein Leben lang in diesem Zwiespalt leben müssen.
Der Strand war ziemlich menschenleer. Wind kam auf. Vielleicht würde es einen Wetterumschwung geben. Etwa dreihundert Meter von Israts gegenwärtiger Position entfernt lagen einige Boote an Land, an denen sich ein Mann zu schaffen machte.
Boote?
Vielleicht wurden sie vermietet und es bestand eine Möglichkeit hinauszufahren.
Israt blickte zu dem hochaufragenden, zackigen Felsmassiv vor der Stadt und verspürte plötzlich Lust dazu, eine Fahrt mit einem Boot zu machen. Als er sich dem Mann und seinen Booten näherte, bemerkte er, dass es sich um primitive Segelboote aus Holz handelte, deren Rümpfe mit kunstvoller Ornamentierung versehen waren.
"Hallo", rief Israt. Aber der Mann kümmerte sich zunächst nicht um ihn.
"Sind das Ihre Boote?" Wieder keinerlei Reaktion.
Erst jetzt blickte er von seiner Arbeit auf, verzog misstrauisch das Gesicht und wandte sich dann vollends zu Israt um. "Was wollen Sie von mir?"
"Kann man so ein Boot mieten? Möglichst mit Bedienungsmannschaft..."
"Sie spinnen wohl, Mann."
"Ich... Ich meine..."
Der Mann schüttelte den Kopf. "Sie sind nicht von hier, oder? Entweder Sie sind nicht von hier oder Sie sind verrückt. Diese Boote hier haben rituelle Bedeutung. Die Raubfischjagd im Zrachismus. Noch nie davon gehört?"
"Nein."
"Die ersten Siedler von Tasner gehörten dem Zrach-Kult an. Das ist auch der Grund dafür, dass verschiedene Raubfischarten importiert und in den künstlich angelegten Seen ausgesetzt wurden. Zu bestimmten Festtagen veranstalteten die Zrachisten rituelle Jagden, die nur mit diesen besonderen Booten durchgeführt werden dürfen." Er zuckte mit den Schultern. "Wie das alles genau zusammenhängt und welche metaphysische Bedeutung die einzelnen Dinge haben, danach dürfen Sie mich nicht fragen. Ich bin Hindu. Mein Job ist lediglich, diese Nussschalen hier in Ordnung zu halten."
*
LeCarré war ein großzügiger Gastgeber, Israt N'Gaba konnte sich keineswegs beklagen.
Zunächst hatte Israt geglaubt, diese Generosität beruhe einfach auf gemeinsamen ökonomischen Interessen. Wiederholt hatte der Erste Repräsentant sich dahingehend geäußert, dass ihm außerordentlich viel an der weiteren Erschließung Tasners liege. Die Barretto-Yilmaz-Gerland-Company sei ein erwünschter Handelspartner und Investor, und im Übrigen hoffe man, dass andere Firmen von den Inneren Planeten ihrem Beispiel folgten.
Aber dann kamen Israt Zweifel: Er bemerkte, dass LeCarre noch eine ganze Reihe anderer Gäste beherbergte; darunter Leute, die mit Sicherheit von weit geringerer Bedeutung waren als ein Vertreter von Barretto-Yilmaz-Gerland.
Einige von ihnen machten auf Israt sogar eher den Eindruck von Schmarotzern. Manche schienen ganz einfach etwas verrückt zu sein und es war nicht leicht zu sagen, in welcher Beziehung sie jeweils zu LeCarre standen; insbesondere deshalb, weil sie alle miteinander meistens sich selbst überlassen waren, da der Erste Repräsentant seinen Pflichten nachzugehen hatte.
Vielleicht war es eine Art Hobby dieses Mannes, interessante und merkwürdige Leute um sich zu scharen.
Er schien sie regelrecht zu sammeln, so wie andere eine Kollektion von Souvenirs anlegten. In einem der unzähligen Salons traf Israt dann einmal mit einem dieser Gäste zusammen und geriet in ein Gespräch. Er hieß Ming Yaobang und war Chinese. Aber er war kein Vertreter irgendeines Kombinats oder sonst ein offizieller Gesandter.
Er war privat hier.
Aus purem Vergnügen, wie er sagte. Israt konnte nur den Kopf schütteln.
"Was gibt es hier draußen am Rand schon zu sehen, das man nicht auch anderswo sehen könnte?"
"Ich gebe zu, Centropoli auf Centrum ist nicht gerade etwas Besonderes. Aber der Himmel auf Am-Abgrund: So etwas lohnt schon eine Reise:"
Israt war nie auf Am-Abgrund gewesen, hatte aber auf Centrum davon gehört. Dennoch.
"Und was finden Sie so attraktiv an Tasner?"
Ming Yaobang lächelte.
"Das Festival."
"Das Festival?"
Ming nickte.
"Genau das. Sie haben davon gehört?"
"Ich habe in Centropoli jemanden es erwähnen hören, aber keinerlei Vorstellung davon, worum es sich handelt."
"Es findet im Rhythmus von tausend Tasner-Tagen statt und dauert jeweils eine Woche. Ich habe bereits drei dieser Festivals... erlebt."
Er sprach das letzte Wort erst nach einem merkwürdigen Zögern aus, gerade so, als hätte er nach einem besseren Wort gesucht, es aber nicht gefunden.
Ein seltsames Leuchten erfüllte Mings Augen, als er begann, vorn Festival zu reden. Er sagte etwas von lizensierter Tötung und Vergewaltigung, von Mord, Blut und Schwertern, aber er erzählte es so, dass Israt die Zusammenhänge nicht begreifen konnte.
Der Kerl ist verrückt, dachte Israt als Erstes. Er musste einfach verrückt sein.
Dann erinnerte er sich der Schwerter seines Gastgebers, die ganz offensichtlich in einem Zusammenhang mit den Vorgängen während der Festivalszeit standen.
"Sie müssen das Festival einfach erleben, Mann. Sonst können Sie unmöglich verstehen, was ich Ihnen gesagt habe. Sie müssen die Faszination selbst spüren, niemand sonst könnte sie Ihnen vermitteln: Glauben Sie mir!"
In Israts Gesichtszügen mischte sich Skepsis mit Ablehnung.
"Sie glauben, dass ich verrückt bin, N'Gaba, nicht wahr?"
Israt nickte. "Ja."
Ming Yaobang seufzte, fasste sich mit der Linken an die Stirn und schüttelte leicht den Kopf.
"Ich kann verstehen, dass Sie so denken müssen, N'Gaba. Ich kann das verstehen. Aber Sie werden auch mich verstehen, wenn Sie das Festival erlebt haben."
*
Mit der Magnetbahn unternahm Israt in der Folgezeit mehrere Exkursionen zu anderen Städten Tasners, musste jedoch feststellen, dass sie kaum von Val-Duun variierten.
Ein langweiliger Planet, ohne besonderen landschaftlichen Reiz, ohne irgendwelche Attraktionen, wie es schien.
Ein Planet eben, dessen Terraforming nie ganz abgeschlossen worden war.
Von allgemein zugänglichen Datenspeichern zur Geschichte Tasners und der Föderation hatte er erfahren, dass die Unternehmen, die mit dem Terraforming dieses Planeten beschäftigt gewesen waren, von den Inneren Planeten gekommen waren.
Der technische Rückstand der Randwelten war auch auf diesem Gebiet bis heute sichtbar geblieben.
Jedenfalls war dann jenes Ereignis eingetreten, dass den Rand für lange Zeit in eine fast vollkommene Isolation führen sollte. Mehrere Rand-Kolonien der Inneren Planeten hatten sich einseitig für unabhängig erklärt, worauf die davongejagten Besitzer mit einem erbarmungslosen Wirtschaftskrieg und einer Blockade antworteten.
Da die Welten des Randes wirtschaftlich völlig auf ihre jeweiligen Mutterplaneten ausgerichtet gewesen waren, hatten sie diese Maßnahmen überaus hart getroffen. Das Resultat dieses großen äußeren Drucks war jedoch die Bildung der Föderation gewesen. Die Einigung dieser so unterschiedlichen Planeten wäre unter anderen Umständen völlig unvorstellbar gewesen.
Jedenfalls hatten sich die Terraforming-Unternehmen seit Beginn der Blockade von Tasner zurückziehen müssen und den Planeten gewissermaßen halbfertig hinterlassen.
Ein längerer Aufenthalt hier, so dachte Israt, lohnt sich keinesfalls.
Dann kam ihm das Festival in den Sinn...
Bei seinen Streifzügen stieß er einmal auf ein Geschäft, in dessen Schaufenster Schwerter und Dolche ausgestellt waren. Darüber stand in Rand-Lingua: "Sind Sie bereits genügend für das nächste Festival gerüstet?"
Israt betrat das Geschäft nicht und fragte auch später niemanden, was das bedeutete.
Er mischte sich gerne unter die Leute in den Straßen. Manchmal waren Prozessionen religiöser Gruppen zu sehen, die jedesmal allgemeine Attraktionen darstellten und mit unzähligen gaffenden Blicken bedacht wurden.
Es herrschte große Vielfalt auf diesen Straßen, nicht nur, was die Religion anging, sondern auch in ethnischer und sprachlicher Hinsicht. Rand-Lingua war nicht mehr als eine allgemein akzeptierte Handels- und Verkehrssprache.
In ihrem privaten Bereich sprachen die Menschen ihre Muttersprachen. Israt hörte Khmer, Sirianisch, Italienisch, Tainil und Dutzende anderer Idiome, die er nie zuvor gehört hatte.
Die Ruhe, mit der hier alles geschah, überraschte ihn bald nicht mehr. Sein Erstaunen darüber war bald verschwunden und nach kurzer Zeit empfand er es in gewisser Weise bereits als natürlichen Zustand. Woran er sich jedoch nur schwer gewöhnen konnte, war die Tatsache, dass ein Großteil der Tasnerianer körperliche Arbeit leistete.
Es waren Tätigkeiten darunter, die Israt als für Menschen ungeeignet, ja, als ihre Würde herabsetzend empfand, wie zum Beispiel das Bedienen in Restaurants und Cafés. Aus seinen Enzyklopädie-Dateien erfuhr er dann, dass es hier sogar noch Fabriken gab, die menschliches Personal zum Funktionieren brauchten:
Das Festival - Seine Enzyklopädie-Datei erwähnte nur, dass es sich um ein im tausend-Tage-Rhythmus abgehaltenes säkulares Fest handelte, in dessen Verlauf den Primitiv-Instinkten freien Lauf gelassen werde. Das war alles.
Ab und zu kehrten Israts Gedanken zu dieser ominösen Feierlichkeit zurück und er fragte sich, worin die Faszination bestehen mochte, die es auf Leute wie Ming Yaobang auszuüben im Stande war.
*
Einige Tage später wurde Israt von LeCarré empfangen. Es war wieder in jenem Raum, an dessen Wänden die Schwerter hingen. Die Tatsache, dass sie allein hier waren, sprach dafür, dass der Erste Repräsentant seinem Gast etwas Wichtiges mitzuteilen hatte.
"Wie Sie sich sicher denken können, habe ich Sie aus einem ganz bestimmten Grund hergerufen, N' Gaba."
Israt nickte.
"Es geht um Alana Susstu-Garlis."
"Die Oberste Datenkontrolleurin?"
"Genau." Xa LeCarré setzte ein wichtiges Gesicht auf, sah Israt jedoch nicht direkt an. "In einigen Tagen werde ich in meinem Haus eine Art Party geben."
"Diese Susstu-Garlis wird ebenfalls anwesend sein?"
"Sie haben es erraten, N'Gaba. Aber nicht nur sie, sondern darüber hinaus die gesamte Creme der tasnerianischen Gesellschaft. Eine gute Gelegenheit, um verschiedene Dinge zu regeln. Sowohl für Sie, als auch für mich."
"Nun...", meinte Israt, sichtlich von Unsicherheit heimgesucht.
"Keine Sorge, ich habe den Boden bereits 'beackert'. Sie verstehen? Susstu-Garlis kennt Ihr Problem, ich habe bereits mit ihr gesprochen."
"Und?"
"Ich denke, dass die Chancen nicht schlecht stehen, dass Sie Ihr Anliegen erfüllt bekommen."
"Das ist gut", murmelte Israt mehr zu sich selbst als zu seinem Gastgeber. "Das ist wirklich gut..."
"Ah, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, N'Gaba. Haben Sie gehört?"
*
Israt N 'Gaba war zu dieser Party (was immer auch darunter verstanden wurde) gegangen, zwar von Anfang an mit einem unguten Gefühl, das zwar mit der Zeit nachgelassen hatte, aber auch jetzt noch nicht gänzlich verflogen war. Alles schien schrecklich 'zivilisiert' zuzugehen, jedes Zucken der Augenbrauen, jede Regung der Mundwinkel schien abgewogen und bedacht zu sein und mit einer genau definierten Bedeutung befrachtet. Was für einen Kontrast lieferten dem gegenüber LeCarrés Schwerter!
"Es macht nichts, wenn Sie die überaus feinen Spielregeln und Konventionen dieser Gesellschaft nicht einhalten, beziehungsweise ihre Symbolik nicht entschlüsseln können. Man wird Ihnen das verzeihen, wenn bemerkbar ist, dass Sie sich Mühe geben", hatte LeCarré Israt zuvor erklärt.
Als erstes wurde er einem Mann von Am-Abgrund vorgestellt, dessen Rand-Lingua sehr akzentschwer war. Er war ein Beauftragter der Förderalen Aufsichtsbehörde. Dann war da ein Handelsvertreter aus Alpha Centauri, Oswaldo Heinrichs mit Namen, dessen Aufgabenstellung ähnlich war, wie Israts eigene - nur, dass sie für verschiedene Firmen arbeiteten und unterschiedliche Produkte verkauften: Israts Konzern stellte Konsumgüter aller Art her, die des anderen war für Terraforming zuständig.
Später lernte Israt dann noch Galnak Ion Tuy kennen, den Obersten Richter der Stadt Val-Duun - im übrigen ein Mann, den auf die eigene Seite zu ziehen sich in jedem Fall lohnte, wie LeCarré versicherte.
Als er schließlich mit Alana Susstu-Garlis, der Obersten Datenkontrolleurin, zusammentraf, war bereits fast eine Stunde vergangen.
"Das ist Israt N'Gaba", stellte LeCarré den Nigerianer einfach vor. "Sie werden sich erinnern, Alana: Der Mann von der Barretto-Yilmaz-Gerland-Canpany. Wir haben uns ja bereits über sein Problem unterhalten..." LeCarré wechselte einen kurzen Blick mit Susstu-Garlis, deren Augen für diesen Moment ein seltsames Funkeln annahmen.
Es war gewiss eine Frage des Geschmacks, ob man die Oberste Datenkontrolleurin 'schön' nennen konnte.
Ihre blauen Haare fielen in fettigen Strähnen herab auf ihre schmalen Schultern, ihr längliches Gesicht war ein wenig zu knochig und der Zug um ihre Mundwinkel zu verkrampft, um Liebenswürdigkeit auszustrahlen. Als sie Israt ansah, lockerte sich ihr Gesicht ein wenig und sie versuchte zu lächeln. Ob das eine Bedeutung hatte? Er hatte sich zuvor von LeCarré belehren lassen, dass zu Anlässen wie diesem, alles eine Bedeutung hatte.
Sie reichte Israt die Hand.
"Ich freue mich, Sie begrüßen zu dürfen, Herr N'Gaba", sagte sie, sehr leise zwar, aber sie hatte eine Stimme, die auch jetzt noch gut zu verstehen war. Ihr Rand-Linqua war zwar nicht akzentfrei, aber sie sprach es trotz allem mit großer Deutlichkeit und guter Artikulation.
"Tasner braucht Investitionen der Barretto-Yilmaz-Gerland-Company", erklärte LeCarré "Tasner hat unübersehbare Entwicklungsrückstände, die wir nur mit Hilfe von außen beseitigen können.
Susstu-Garlis wandte sich wieder dem Ersten Repräsentanten zu, wobei in ihrem Gesicht eine geringfügige Veränderung vor sich ging. "Es steht mir zwar kaum zu, zu solchen Fragen Stellung zu nehmen, Erster Repräsentant, da diese Dinge nicht in meinen Kompetenzbereich fallen und ich nichts davon verstehe; aber in diesem Fall liegt die Situation so eindeutig vor uns, dass sie sogar ein Einfacher von der Straße erkennen kann. Ich kann Ihnen nur zustimmen, LeCarré"
An Israt N'Gaba gewandt meinte sie dann noch: "Vielleicht begegnen wir uns im Laufe dieser Party wieder."
"Ich würde mich freuen."
Sie begann für einen Moment zu schmunzeln. Offenbar hatte Israt etwas Verkehrtes gesagt.
Als Susstu-Garlis mit dem Bemühen um Grazie davonstolzierte, sandte Le Carré ihr einen schwer zu deutenden Blick nach.
"Was meinen Sie?", fragte Israt etwas ungeduldig.
"Wie?" Der Gastgeber wandte sich um.
"Wie stehen die Aktien, Erster Repräsentant?"
LeCarré lächelte.
"Gut, N'Gaba. Ausgezeichnet."
"Aber warum ist sie dann davongegangen? Warum haben wir nicht gleich hier alles ausgehandelt? Es wäre doch ganz einfach gewesen, wo wir uns doch im Prinzip einig sind. Stattdessen: Nichteinmal ein konkretes Angebot, nicht einmal eine Zahl."
"Man sieht, dass Sie noch eine ganze Menge über die hier geltenden Konventionen zu lernen haben, N'Gaba. Nein, solche Dinge werden später abgehandelt. Es wäre unfein gewesen, wenn sie gleich auf die Details gekommen wäre."
LeCarré wirkte gelöst.
Das Zusammentreffen zwischen Israt und der Obersten Datenkontrolleurin schien zu seiner Zufriedenheit verlaufen zu sein.
"Glauben Sie mir", meinte er, "Sie werden bald von ihr hören."
*
Es war ein eigentümliches Fest; alles ging seltsam steif und gezwungen zu, jeder schien sich absolut in der Gewalt zu haben und selbst die kleinste Regung der Gesichtsmuskulatur zu kontrollieren. Nachdem LeCarré sich mit Hinweis auf seine anderen Gäste entschuldigt hatte, irrte Israt N'Gaba zunächst etwas verloren zwischen all diesen um straffe Haltung bemühten Männern und Frauen herum.
Es herrschte eine faszinierende Atmosphäre von Disziplin und Beherrschung, die gleichzeitig auch sehr bedrückend war. Israt gelang es nicht, sich wohlzufühlen und fast hatte er den Verdacht, dass Partys dieser Art auch nicht diesem Zweck dienten.
Einer der herumeilenden menschlichen Kellner (daran hatte Israt sich noch unser nicht vollständig gewöhnt - im Bereich der Inneren Planeten war das gastronomische Gewerbe zumindest auf der Service-Seite vollkommen in robotischer Hand) nahm ihm sein leeres Glas aus der Hand und ersetzte es durch ein Gefülltes.
Einige Minuten später traf er nochmals auf Oswaldo Heinrichs, den Handelsvertreter, der ihm bereits vorgestellt worden war. Auch er schien sich hier ganz offensichtlich nicht wohlzufühlen; das war ihm deutlich anzumerken. Dennoch versuchte er zu verhindern, dass sein Unbehagen und Missfallen allzu deutlich in den Zügen seines Gesichts standen.
Sie waren beide fremd hier, und so kamen sie fast unweigerlich miteinander ins Gespräch.
Der Terraforming-Konzern, für den Heinrichs arbeitete, versuchte davon zu profitieren, dass man Tasner gezwungenermaßen 'halbfertig' gelassen hatte.
Aber die Sache war nicht ganz so einfach gewesen, wie der Mann aus Alpha Centauri ursprünglich gedacht hatte. Der Erste Repräsentant wollte nicht, dass einfach die ursprünglichen Pläne aus der Schublade gezogen und vollendet wurden. Schließlich seien diese Entwürfe bereits über hundert Jahre alt.
"Na und?", fragte Israt in Verkennung der Lage. "Was ist daran so schlimm für Sie? Machen Sie ihm ein neues Konzept, eines, das die neuesten Erkenntnisse mitberücksichtigt und er ist zufrieden..."
"Weniger Profit", meinte Heinrichs. "Das Entwickeln neuer Pläne kostet natürlich Geld."
"Warum schlagen Sie das nicht auf den Preis auf? Das wäre schließlich legitim."
"Schon möglich, N'Gaba, aber darum geht es hier kaum. Wir können den Preis nicht höher setzen."
"Warum?"
"Wussten Sie noch nicht, dass die Föderation ziemlich pleite ist?"
"Nein. Woher wissen Sie es?"
"LeCarré hat es mir selbst gesagt. Er meinte, sie müssten sich hier sehr genau überlegen, wofür sie ihr Kapital ausgeben; jeden Scheck dreimal umdrehen, sozusagen. Aber das Unverfrorenste kommt noch."
"Was..."
"Es schien bereits alles mehr oder weniger abgemacht zu sein; okay, ich habe mit den Zähnen geknirscht, weil neue Entwürfe gemacht werden sollten, aber das Geschäft ist hart, die Konkurrenz unerbittlich - so ist das nunmal. Möglicherweise stimmten die Abgaben über die Finanzen der Föderation, die LeCarré machte nicht; vielleicht war es nur ein Trick, um den Preis zu senken, aber ich dachte mir, so kommen wir hier erst einmal ins Geschäft. Es schien also alles nur noch eine Frage endgültiger Formalitäten zu sein, da ließ der Erste Repräsentant - übrigens durch einen Gesandten und nicht einmal persönlich - verlauten, die Administration des Planeten Tasner sei nicht mehr sicher, ob sie an einer Fortsetzung des Terraforming-Programms interessiert. Alles werde einer erneuten Prüfung unterzogen. Klingt wie eine höfliche Absage, wie?"
Israt zog beide Brauen hoch.
Das war interessant.
Was mochte den Stimmungsumschwung in der tasnerianischen Führungsspitze berwirkt haben?
Ihm kam Susstu-Garlis in den Sinn und die Art, wie er (nach LeCarrés Voraussage) zu einer Übereinkunft mit ihr kommen würde. Hatte auch hier irgendwer mit Geld nachgeholfen? Israt hielt das für gut möglich.
"Ah, was soll's? Jeder hat so seine Probleme; Sie sicher auch, nicht wahr, N'Gaba?"
Israt nickte.
Er dachte daran, dass sich seine eigenen Probleme bis jetzt immer fast von selbst gelöst hatten - was unzweifelhaft darin begründet lag, dass er unter der Protektion des Ersten Repräsentanten stand. LeCarré schien an Israt interessiert zu sein, an Oswaldo Heinrichs jedoch weniger. Offensichtlich lag darin das Geheimnis von Erfolg und Misserfolg. Aber warum waren für LeCarré Konsumgüter wichtiger, als die Vollendung des Terraforming-Programms, das Tasner zu einer Welt gemacht hätte, die viele Milliarden aufnehmen und ernähren konnte?
War er an einer weiteren Erschließung des Planeten vielleicht nicht interessiert? (Oder war es doch ganz einfach das Geld? In diesem Fall stellte sich jedoch die Frage, wer hinter den Ersten Repräsentanten stand, wessen Marionette er war.)
Es war alles so verwirrend. Manchmal schienen die Motive der ihn umgebenden Tasnerianer klar und durchsichtig zu sein, leicht zu durchschauen für ihn, aber dann waren sie im nächsten Moment wieder rätselhaft...
"Das Dumme bei der ganzen Sache ist für mich persönlich nur", erklärte Heinrichs unterdessen, der immer wieder auf sein besonderes Problem zurückkam, "dass sich mein Aufenthalt durch diese Geschichte erheblich verlängert. Verstehen Sie?"
Israt verstand nicht.
"Was? Sagen Sie bloß, Sie wissen nicht..." Er schien ehrlich erstaunt und trank sein Glas aus.
"Was soll das, Heinrichs? Wovon sprechen sie?"
"Ich meine das Festival..."
"Das Festival?"
"Ja. Es ist nicht gerade angenehm, sich während der Festivalszeit hier aufzuhalten. Verdammt, ich habe bereits eines erlebt und es scheint so, als musste ich hierbleiben, bis das nächste stattfindet. Keine gute Aussicht..."
"Was geschieht während des Festivals?"
"Ach, lauter scheußliche Sachen. Eigentlich könnte man ja meinen, sich hier auf einem halbwegs zivilisierten Planeten zu befinden, aber wenn Sie einmal erlebt hätte...."
Jemand hatte sich zwischen den Umherstehenden hindurchgedrängelt, hatte schließlich den Mann aus Alpha Centauri erreicht und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Heinrichs Züge spannten sich daraufhin augenblicklich an. "Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, N'Gaba." Er schenkte dem Nigerianer noch ein gezwungenes Lächeln und folgte dann der Person, die ihn so unvermittelt angesprochen hatte.
*
Etwas später unterhielt Israt sich mit Nacini Changas, einer Frau van Planeten Am-Abgrund, die ein sehr akzentbeladenes Randlingua sprach. Später hätte Israt gar nicht sagen können, wie sie eigentlich aneinandergeraten waren.
Sie schien ihn willkürlich aus der Menge herausgepickt zu haben, um mit Dingen über ihn herzufallen, die ihn im Moment kaum interessierten.
Gedanklich war Israt noch immer beim Festival; bei dem, was Oswaldo Heinrichs angedeutet hatte - und schließlich auch bei Ming Yaobang, der so fasziniert davon war.
"Haben Sie schon einmal den Himmel von Am-Abgrund gesehen, wenn er ganz schwarz ist?", fragte Changas.
Nein, das hatte er natürlich nicht.
Sie begann in unvollkommener Sprache und mit funkelnden Augen von den Schönheiten und Wundern von Am-Abgrund zu berichten, von der Stadt-am-Abgrund, von der 'Finsternis' und anderen Dingen, die Israt zum Teil nicht begriff.
Manchmal verfiel sie aus Versehen in ihre Muttersprache (sie sprach Tagalog) von der Israt natürlich kein Wort verstand. Und wenn sie es dann merkte, begann sie herzhaft zu lachen (und Israt lachte mit ihr). Das lenkte jedesmal die Blicke einiger tasnerianischer Oligarchen auf sie beide und kennzeichnete sie als nicht von hier - denn sonst lachte hier niemand auf diese Weise.
Changas war katholisch (praktisch jeder auf Am-Abgrund war das) und als auf eine entsprechende Frage hin ihr Israt eröffnen musste, Moslem zu sein, konnte man ein unsicheres, von Verlegenheit gekennzeichnetes Lächeln über ihr Gesicht huschen sehen. Israt verzieh ihr das. Sie war auf einer Welt mit homogener Bevölkerungsstruktur aufgewachsen, wo Abweichungen von der Norm Außergewöhnlichkeiten darstellten - während sie anderswo die Regel waren.
"Nun...", brachte sie dann hervor.
Er erwiderte: "Bin ich vielleicht der erste Moslem, dem Sie begegnen?"
"Entschuldigen Sie vielmals, aber ich bin zum ersten mal auf einer anderen Welt als Am-Abgrund und ich muss mich erst daran gewöhnen, dass es hunderttausend verschiedene Lebensstile und Kulturen gibt - und anscheinend auch Götter."
"Ist der Gott der Moslems tatsächlich ein anderer, als der Gott der Christen?"
"Ich weiß es nicht... Soviel ich weiß, glaubt ihr jedenfalls nicht daran, dass Jesus von Nazareth der Sohn Gottes war - und ist."
"Das stimmt. Nach dem Islam ist es unlogisch, dass Gott einen Sohn gezeugt hat, denn er hat ja keine Lebensgefährtin..."
Natürlich erwiderte sie sogleich etwas, fast reflexartig, aber Israt hatte keine Neigung, den theologischen Disput fortzusetzen. Ein solcher Glaubensstreit musste stets fruchtlos bleiben, das wusste er. Außerdem konfrontierte er ihn wieder mit dem, was er hinter sich gelassen zu haben glaubte: Seinem islamischen Erbe.
Sie unterhielten sich dann über andere Dinge, wobei sie den größeren Teil beisteuerte. Sie schien es zu mögen, über sich selbst zu sprechen, über Am-Abgrund, über die Sünde und das Böse im Menschen, das ihrer Meinung nach nicht auszurotten war. Weshalb sie auf Tasner weilte, erfuhr Israt nicht. Sie war ein Gast LeCarrés und der Erste Repräsentant hatte recht eigenwillige Kriterien, nach denen er seine Gästezimmer füllte. (Changas war irgendeine niedere Beamtin einer föderalen Behörde, aber ob ihr Hiersein einen dienstlichen Grund hatte oder vielleicht einen anderen, fand Israt nicht heraus. Es interessierte ihn auch leidlich.)
Aber dann - Israt hatte bereits daran gedacht, das Gespräch auf höfliche Weise zu Ende zu bringen, da es ihn mehr und mehr ermüdete - kam sie unverhofft auf ein Gebiet, das ihn interessierte; er horchte auf.
Sie sprach davon, dass sie in zehn Tagen abreisen würde. Zurück nach Am-Abgrund.
Changas fragte plötzlich: "Wann werden Sie Tasner verlassen?"
"Oh, um ehrlich zu sein; ich weiß es noch nicht. Das hängt davon ab, wie schnell ich die mir gestellte Aufgabe erledigen kann."
"Ich weiß nicht, was für eine Aufgabe das ist, aber Sie sollten sehen, dass Sie in den nächsten Tagen eine Passage buchen."
"Weshalb?"
"Das Festival..."
"Das Festival?"
"Während der Festivalszeit sind die Raumhäfen geschlossen. Niemand kann diesen Planeten verlassen oder ihn betreten. Nehmen Sie meinen Rat ernst und buchen Sie jetzt. Das Festival ist zwar erst in einem Tasner-Monat, aber die Schiffe sind kurz vorher meistens stark überbelegt: Es wollen mehr Leute weg, als transportiert werden können."
"Warum ziehen Sie es vor, während der sogenannten Festivalszeit nicht auf Tasner zu sein?", fragte Israt.
Changas schien eine solche Frage absurd zu finden, das spiegelte sich überdeutlich in ihren Gesichtszügen (die sie angenehmerweise nicht mit jener Perfektion unter Kontrolle halten konnte, wie der Rest dieser hohen Gesellschaft). "Wissen Sie nicht, was während der Festivalszeit hier vor sich geht?"
"Ein Chinese hat mir einiges erzählt, aber es war zu wirr und verrückt. Ohne Zusammenhang, verstehen Sie? Er war vom Gedanken an dieses Festival einfach fasziniert. Nüchterne Auskünfte konnte man von ihm nicht bekommen."
"Dieses Festival ist die höllischste Ausgeburt heidnischer Barbarei. Sie können sich kaum vorstellen, was dann auf den Straßen dieser jetzt so friedlichen Stadt los sein wird."
"Haben Sie es bereits erlebt?"
"Nein, aber man kann überall Filmaufzeichnungen bekommen. Glauben Sie mir, dieses Festival übertrifft alles, was Sie sich an Barbarei und Grausamkeit vorstellen können: Selbst so noble und ehrenwerte Menschen wie unser gemeinsamer Gastgeber, der Erste Repräsentant von Tasner, werden dann zu unberechenbaren Bestien. Haben Sie seine Schwerter gesehen?"
"Ja."
"Er hängt sie nicht zur Zier an die Wand, nicht ausschließlich jedenfalls. Er benutzt sie."
"Sie meinen - er kämpft?"
"So ungefähr. Während der Festivalszeit ist das erlaubt. Dann ist fast alles erlaubt, die Gesetze gelten, mit ein paar Ausnahmen, nicht mehr. Jeder darf jeden töten, verletzen, vergewaltigen, wenn er stark genug dazu ist. Das Faustrecht gilt dann und die Schwerter sprechen. Niemand ist davor sicher, niedergestochen zu werden. Es ist legal."
"Ich verstehe - darum verlassen so viele den Planeten."
"Das sind vor allem die Leute von anderen Planeten. Die Einheimischen bleiben seltsamerweise in ihrer Mehrzahl hier und berauschen sich an dieser Orgie von Gewalt und Perversion."
"Seltsam", meinte Israt. "Wenn man sich die Leute auf den Straßen ansieht, oder auch diese Menschen hier - wirken sie nicht eher ausgesprochen ruhig und beherrscht?"
"Sie täten gut daran, meinem Rat zu folgen und Tasner während der Festivalswoche zu verlassen", sagte sie eindringlich.
"Sagen Sie, warum werden diese wilden Kämpfe eigentlich mit Schwertern ausgetragen?"
Changas war zunächst etwas verwirrt, da Israt nach Details dieser barbarischen Sitte fragte. Kurz darauf antwortete sie ihm jedoch, ohne noch etwas von ihrer Verwunderung zu zeigen: "Laser und andere Handfeuerwaffen sind zu gefährlich: Sie würden zuviel Sachschaden anrichten und man müsste Tasner nach jedem Festival zur Hälfte neu aufbauen. Das ist aber nicht der Sinn der Sache. Aus dem gleichen Grund gibt es auch gewisse Sperrzonen, zum Beispiel die Raumhäfen, die Datenbanken und ähnliches. Diese Gebäude werden vor Beginn der 'Feierlichkeiten' jeweils mit einem Festakt versiegelt und erst nach Ende des Festivals wieder geöffnet. Aber da sehen sie die ganze Menschenverachtung, die in diesem Festival liegt: Es existieren zwar gewisse Tabus, aber die sind lediglich zum Schutz von Sachwerten errichtet: Unglaublich, nicht wahr?"
"Ja, da haben Sie recht. Es klingt unglaublich..." Es war Israt natürlich klar,dass es unmöglich war, seine Aufgabe bis zum Beginn des Festivals erledigt zu haben. Aber wenn er wollte, könnte er eine 'Dienstreise' unternehmen. Vielleicht nach Ceritrum. Gier nach Ikarus. Einen Vorwand würde er leicht finden. Warum in aller Welt hatte man ihn in Lagos über die besonderen Sitten der Tasnerianer nicht unterrichtet? Wusste man vielleicht nichts davon? Das war gut möglich. Die Informationen über den Rand waren äußerst spärlich - und die, die man finden konnte, waren zumeist überaltert.
Vielleicht war es auch möglich, völlig legal um Sonderurlaub zu bitten, und den Planeten während der Festivalszeit verlassen zu können.
'Barretto-Yilmaz-Gerland sollte wissen, was hier vor sich geht', überlegte Israt, um seinen Vorgesetzten die Lage zu schildern, würde er einen Hyperfunkspruch absenden müssen. Und es war äußerst fraglich, ob die Antwort noch vor Beginn des Festivals eintreffen wurde.
In jedem Fall aber wollte er so schnell wie möglich eine Passage buchen, denn eines stand für ihn jetzt unverrückbar fest: Wenn auf Tasner die Zeit der Barbarei begann, wollte er nicht mehr hier sein. Das konnte niemand von ihm erwarten. So wichtig konnte nichts sein, auch die Planungen der Barretto-Yilmaz-Gerland-Company nicht.
Blieb nur zu hoffen, dass er sich mit Susstu-Garlis zuvor noch über den Datentransfer einigen konnte, um wenigstens einen Teilerfolg gesichert zu haben. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass die Oberste Datenkontrolleurin bei den zu erwartenden Wirren ums Leben kam und er sich mit ihrem Nachfolger vielleicht weniger leicht einigen konnte.
*
Israt verlor Naomi Changas wieder aus den Augen und drängte sich zwischen den illustren Gästen her, hörte, wie der ihm bereits vorgestellte oberste Richter der Stadt Val-Duun, Galnak Lon Tuy, sich über igendetwas heftig erregte - obwohl auch diese Erregung wohl einen genau definierten Zweck erfüllte -‚ schnappte einige Gesprächsfetzen auf und sah dann inmitten der Menge plötzlich die Gestalt Mings.
Der Chinese diskutierte eifrig mit einer Frau und einem Mann und während Israt ihn beobachtete, begann ihn tiefe Abneigung zu erfüllen.
Andere liefen vor dem Festival davon, aber Ming war nur seinetwegen hier: Wie konnte es so etwas geben? Ein leichter Kälteschauer überfiel Israt, als er daran dachte, was aus diesen so zivilisierten Menschen während der Festivalswoche werden würde.
*
Später dann erfüllte sich tatsächlich LeCarrés Voraussage: Alana Susstu-Garlis sandte einen Boten zu Israt, der diesen diskret in ein Nebenzimmer führte, wo die Oberste Datenkontrolleurin bereits auf ihn wartete.
Man wurde sich schnell einig, obwohl ihre Forderungen sehr unverschämt waren. Aber Israt hatte keine andere Wahl. Die einzelnen Modalitäten wurden geregelt, wobei Israt darauf bestand, dass alles so schnell wie möglich und vor Festivalbeginn vonstatten ging.
"Ah, wie ich sehe, scheinen Sie sich bereits etwas in unsere lokalen Verhältnisse eingearbeitet zu haben, Herr N'Gaba. Sie scheinen zu fürchten, dass ich während der Festwoche umkomme. Habe ich recht?"
"Nun, das wäre doch möglich, oder nicht?"
Sie trat nahe an ihn heran und ihre Augen nahmen für einen kurzen Moment einen drohenden, gefährlichen Ausdruck an. "Ich habe gelernt, wie man mit einem Schwert umgeht, Herr N'Gaba. Sie brauchen sich nicht zu sorgen."
"Nun, dennoch wäre es mir lieber, wenn alles vorher über die Bühne gehen würde."
Die Oberste Datenkontrolleurin gab nach. Es brachte ihr auch keinerlei Vorteile, auf ihrem Standpunkt zu beharren; außerdem war sie viel zu geldgierig.
Hinterher hoben sie dann die Gläser und stießen an. "Sie scheinen ein bemerkenswerter Mann zu sein, N'Gaba", meinte Alan Susstu-Garlis, nachdem sie etwas getrunken hatte. "Xa LeCarré hat mir viel von Ihnen erzählt. Er scheint Sie zu mögen."
Israt wusste nicht, was er darauf zu erwidern hatte. Irgendwie schien sich seine momentane Ratlosigkeit auf seinem Gesicht widergespiegelt zu haben, denn Alana meinte plötzlich: "Es ist schon gut, Sie brauchen nichts dazu sagen. Aber gestatten Sie mir, wenn ich Ihnen einen guten Rat gebe: Verscherzen Sie sich die Sympathien LeCarrés nicht. Unter seiner Protektion werden Sie es leicht haben, aber gegen ihn..."
"Ich verstehe..."
"Das ist gut. Ich mag Sie und es würde mich freuen, Sie erfolgreich zu sehen." Dann gingen sie auseinander, verließen das Nebenzimmer und mischten sich wider unter die Gäste.
Im Hintergrund war jetzt Musik zu hören, leise, dumpf und einschmeichelnd und Israt musste an den Mann aus Alpha Centauri denken: Oswaldo Heinrichs... Ja, so konnte es einem ergehen, wenn man nicht den richtigen Protektor hatte. Das war fast überall so. Die Spielregeln unterschieden sich nur in Details, nicht vom Prinzip her. Israt fühlte, dass er es auf Tasner zu etwas bringen konnte. Wenn er seine Aufgabe mit Erfolg abschloss, würde ihn die Company vielleicht zum Verkaufsleiter für diesen Planeten bestimmen. Und mit Hilfe von LeCarré würde es ihm nicht nur gelingen, persönlichen Wohlstand anzuhäufen, sondern auch Macht. Dach diese Gedanken erfüllten ihn nicht nur mit Freude.
Ihm kam das Festival in den Sinn, die Schwerter des Ersten Repräsentanten sah er plötzlich vor sich und er dachte an die Toten. Mit all dem würde er sich irgendwie arrangieren müssen, daran führte kein Weg vorbei. Grauen überkam ihn, als er an diese Dinge dachte, aber es gelang ihm, sie beiseite zu schieben.
Heute war sein Erfolgstag
Er wollte ihn genießen, wollte sich in die Flut der Gäste hineinstürzen und sich an dem Austausch von Banalitäten beteiligen. Wer wusste schon, wie der nächste Tag sein würde.
*
Am nächsten Morgen sandte Israt einen Hyperfunkspruch nach Lagos ab, mit Angaben zum Festival und der Bitte, man möge ihn für die Dauer dieser besonderen Woche von seinen Pflichten entbinden.
Wann würde die Antwort eintreffen? Anderthalb Wochen brauchte ein Nachricht von hier nach Lagos.
Als Israt dann etwas später in einem der Salons seines Gastgebers den Ersten Repräsentanten traf, konnte er an dessen Gesicht ablesen, dass sie beide durchaus nicht zufällig zusammentrafen.
Sie begrüßten sich, aber LeCarré war ausgesprochen kühl. Israt erschrak ein wenig. Was mochte geschehen sein?
"Glücklicherweise konnte der Abgang Ihrer Funknachricht noch rechtzeitig verhindert werden, N'Gaba", stellte LeCarré mit einem Hochziehen der linken Augenbraue fest. Seine Züge wirkten konzentriert, seine Augen angriffslustig.
"Was...?" Israt konnte einfach nicht fassen, was er da gehört hatte.
"Sie haben vollkommen richtig gehört. Ihr Funkspruch ist nur von dem Gerät in Ihrem Quartier zur Hyperfunkzentrale Val-Duun gegangen. Nicht weiter - wir konnten es glücklicherweise verhindern."
"Sie hören mich ab! Sie lassen mich überwachen!" Israt war entrüstet. Er hatte geglaubt, seinen Gastgeber fest auf seiner Seite zu haben und ihm bis zu einem gewissen Grad vertrauen zu können - worauf er im übrigen aus mehreren Gründen auch angewiesen war. "LeCarré, das ist eine unglaubliche Tatsache: Bedenken Sie, dass Sie Tasner brauchen."
"Herr N'Gaba, verstehen Sie das ganze am besten als eine Art Fürsorge-Maßnahme. Ich habe Sie davor bewahrt, großen Schaden anzurichten."
"Ich verstehe nicht..."
"Das habe ich mir gedacht und deshalb will ich Ihnen auch verzeihen. Sehen Sie, die Festivals-Sitten von Tasner sind auf den inneren Welten so gut wie unbekannt. Sie werden höchstens in Anthropologen-Kreisen diskutiert. Ich habe kein Interesse daran, dass dieser Zustand verändert wird. Wenn eine Firma wie die Barretto-Yilmaz-Gerland Company ihren Vertreter wegen des Festivals vorübergehend von Tasner zurückziehen muss, kann das für uns negative Publicity bedeuten, die wir zurzeit nicht gebrauchen können. Wissen Sie, es herrschen da gewisse Vorurteile gegenüber Dingen, die hier praktiziert werden... Sie wissen sicher, was ich meine, nicht wahr? Ich verlange von niemandem, der es nicht will, an diesem Fest teilzunehmen und ich habe durchaus Respekt für die ethischen Positionen anderer. Aber ich verlange diese Toleranz auch für mich und Tasner. Ich möchte nicht, dass Greuelmärchen über diesen wunderbaren Planeten und seine Menschen das Geschäftsklima verderben, bevor die zarten Pflänzchen, die wir gesetzt haben, überhaupt aus der Erde gekommen sind. Im Augenblick kann uns ein solches Negativ-Image noch sehr schaden - in einigen Jahren sind wir vielleicht weniger verwundbar, wer weiß? Jedenfalls möchte ich nicht, dass über gewisse Tatsachen mehr bekannt wird, als unbedingt notwendig ist. Es steht Ihnen frei, den Planeten jederzeit zu verlassen, aber Ihre Firma muss davon nicht unbedingt unterrichtet werden. Wenn Sie wollen, trage ich sogar die Unkosten, damit Sie Ihr Spesen-Konto nicht über Gebühr strapazieren brauchen."
"Barretto-Yilmaz-Gerland wird ohnehin alles erfahren, LeCarré. Schließlich bin ich nicht der einzige Mann von den inneren Welten hier draußen."
"Schon möglich, N'Gaba. Schon möglich. Aber Sie können mir ruhig abnehmen, dass ich es keinesfalls nötig habe, mich auf irgendeinem Gebiet von Ihnen belehren zu lassen. Also... Sind Sie nun an guten Geschäftsbeziehungen zwischen Tasner und der Barretto-Yilmaz-Gerland, Company interessiert oder nicht?"
"Natürlich."
"Dann unterlassen Sie Scherze wie den heutigen in Zukunft. Ich habe Ihnen einmal verziehen, weil Sie unwissend waren. Das heißt aber nicht, dass ich es das nächste Mal auch tue. Vergessen Sie nie, dass ich es bin, der hier die Bedingungen diktiert. Die Marktlage ist nun einmal so, dass es Dutzende von Konzernen und Kombinaten gibt, die exakt das selbe herstellen, wie ihr Company und ebenfalls liebend gerne auf diesen Planeten Geschäfte machen würden. Ich brauche nur mit den Fingern zu schnippen und sie sind hier. Das wäre doch sicherlich nicht in Ihrem Sinne, oder?"
Sie schwiegen beide eine Weile. Israt musste an Alana Susstu-Garhis denken, die ihm geraten hatte, die Protektion des Ersten Repräsentanten auf keinen Fall zu verlassen... Es schien tatsächlich unklug, das zu tun; Israts Erfolg war zu eng mit den Wohlwollen LeCarrés verbunden. Er musste sich fügen.
"Ich bin Ihr Freund, N'Gaba. Vielleicht glauben Sie mir das jetzt nicht mehr, aber es ist tatsächlich so." Er sprach jetzt leiser, war näher an sein Gegenüber herangetreten und hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. "Aber das würde mich nicht daran hindern, eventuell erbarmungslos gegen Sie vorzugehen, wenn es die Situation und mein Interesse erfordert."
Israt spürte, dass LeCarré die Wahrheit sprach. Nein, er musste unter allen Umständen einen Bruch verhindern...
*
Als er später per Videophon eine Passage nach Ikarus gebucht hatte und ohne etwas zu tun zu haben durch die Straßen Val-Duuns schlenderte, hatte sich vom äußeren Bild her nichts geändert. Es herrschte immer noch dieselbe Ruhe, in der Magnetbahn drängelte niemand, man schien Zeit zu haben. Alles ging seinen geordneten Gang, so wie jeden Tag, aber was sich geändert hatte, war Israts Einstellung zu dem, was er sah.
Einige zrachistische Mönche gingen an ihn vorbei. Sie fielen in der Menge durch ihre grauen Roben und geschorenen Köpfe auf. Wenn Israts länger hierblieb, würde er die rituellen Raubfischjagden dieser Leute miterleben können.
Es war seltsam, aber er hatte sich in seinen Innersten bereits darauf eingestellt, für länger hierzubleiben. Natürlich würde er für die Festivals-Woche Tasner verlassen; das stand fest. Aber danach...
Er hatte unbestreitbar gute Karten, nicht nur, was die Erledigung seines Auftrages für Barretto-Yilmaz-Gerland anging. Ja, er hatte gute Karten, aber sie waren ihm zugesteckt worden und das machte die ganze Sache noch komplizierter, als sie ohnehin schon war.
Er trieb sich am Strand herum, in der Stadt, überall. Er ließ sich einfach in diesem Menschenmeer, das Val-Duun war, treiben und versuchte vergeblich die Vorstellung abzuschütteln, wie aus all diesen friedlichen und zivilisierten Menschen Bestien wurden. 'Es scheint, als hätte ich das besondere Wesen der tasnerianischen Gesellschaft noch nicht verstanden', dachte er.
Zurückgekehrt in sein Quartier bei LeCarré sah er sich Video-Aufzeichnungen verschiedener früherer Festivals an und er war zutiefst entsetzt. Unter anderem erkannte Israt die Gestalt seines Gastgebers wieder, wie sie an der Spitze einer mit Hieb- und Stichwaffen bewaffneten Horde von Männern und Frauen auf Angehörige einer anderen, ebenfalls bewaffneten Gruppe eindrosch.
Mehrmals hielt Israt dabei die Bildfolge der Videobänder an, um sich ganz sicher sein zu können. Aber es konnte da keine Zweifel geben - es war LeCarré. Alles Zivilisierte war auf diesen Bildern von ihm abgefallen, sein Gesicht war grotesk verzerrt und ein wildes Tier schien von ihm Besitz ergriffen zu haben.
*
Die Tage schleppten sich in gewohnter Zähflüssigkeit dahin. Einmal wurde ihm ein Koffer mit Magnetbändern gebracht. Mindestens siebzig Prozent der in den Dateien von Tasner gespeicherten Fakten. Von allgemeinen Strukturdaten bis hin zu detaillierten Angaben über die Gewohnheiten jedes einzelnen Bürgers war alles vorhanden. Als er den wertvollen Handkoffer bekam, strich Israt fast zärtlich über den grauen Kunststoff. Hier hielt er den Schlüssel zur ökonomischen Eroberung einer Welt in den Händen. Seine Karten waren jetzt wirklich sehr gut - aber unweigerlich kehrten seine Gedanken immer wieder zu seinem Mentor zurück, zu LeCarré, in dessen Händen unbestrittenermaßen die Macht lag.
Ab und zu traf er Naomi Changas in den Salons und sie unterhielten sich ein wenig. Meistens sprach sie von den religiösen Erfahrungen, die man auf Am-Abgrund machen könne. Sie erzählte ihm immer und immer wieder dieselben Dinge und er begriff sie jedes Mal gleichwenig. Aber er spürte etwas von der Faszination, mit der Changas von ihrer Heimatwelt sprach und etwas davon übertrug sich auch auf ihn, so dass er sich vornahm, irgendwann, wenn er dies alles hinter sich hätte, diesen Planeten am Rande des untergalaktischen Nichts zu besuchen.
"Haben Sie bereits eine Passage gebucht, N'Gaba?"
"Ja, nach Ikarus." Ikarus umkreiste dieselbe Sonne wie Tasner, die Passage war kurz.
Sie lächelte etwas geringschätzig. "Ikarus ist eine unbedeutende und uninteressante Welt."
"Schon möglich, aber ich kann es mir nicht leisten, mich zu weit von Tasner zu entfernen."
"Wenn Sie mit mir nach Am-Abgrund gehen würden..." Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
"Ich werde sicherlich einmal dorthin kommen. Aber zunächst einmal habe ich eine Aufgabe..."
"Eine Aufgabe? Die einzige Aufgabe ist das Leben selbst, ist Erfahrung, wissen Sie?"
Israt verstand schon, oder glaubte es zumindest, aber er war an der Art Erfahrung, die Changas meinte, nicht interessiert. Das gehörte alles zu den Dingen, die er hinter sich lassen wollte.
"Für wen erfüllen Sie diese Aufgabe?", fragte sie dann plötzlich. "Für wen? Für Barretto-Yilmaz-Gerland?"
Woher wusste sie diesen Namen? Hatte er ihn ihr gegenüber erwähnt? Er wusste es nicht mehr genau.
"Oder für LeCarré?"
"Alles, was ich tue, tue ich für mich selbst", meinte er leise. Und noch etwas leiser: "Ich möchte etwas werden, verstehen Sie?" Man konnte nicht sagen, ob sie verstand. Ihr Gesicht war entspannt wie immer, es war keinerlei Veränderung feststellbar.
"Sind Sie nicht genug?", fragte sie dann schließlich in die entstandene Stille hinein.
Israt schüttelte leicht den Kopf.
"Nein. Ich möchte mehr sein, als ich bin."
"Sie möchten Macht..." Es war eine Feststellung, die da über die Lippen der Frau von Am-Abgrund ging, keine Frage.
Israt schwieg.
Changas sah das Erstaunen in seinem Gesicht und lächelte. "Sie können es ruhig zugeben. In Ihrem Innersten wissen Sie, dass ich recht habe."
"Woher...?"
"Ich weiß es eben. Und LeCarré weiß es eben auch."
"LeCarré?"
"Ja. Durch Ihren Machthunger sind Sie käuflich, N'Gaba. LeCarré weiß das. Das ist der Grund für ihn, Ihnen das entgegenzubringen, was er 'Freundschaft' nennt. Sie wollen Macht, wissen aber, dass Sie nur aufsteigen können, wenn LeCarré seine starken Arme über Ihr Haupt hält - darum sind Sie ihm hörig und werden es so lange bleiben, wie diese Abhängigkeit besteht." Sie seufzte, strich mit der Hand über ihr Kinn und lächelte dann erneut. "Vielleicht ist das das Geheimnis von LeCarrés Erfolg. Er hat eine phänomenale Gabe, die Schwachpunkte von Menschen auszumachen. Ich glaube, es gibt niemanden, den er nicht kaufen könnte..."
"Ich bin etwas verwirrt", gestand Israt.
"Das kann ich verstehen."
"Ich verstehe zum Beispiel nicht, weshalb er mich, und damit die Company, so fördert."
"Sie stellen Konsumgüter her, nicht wahr?"
Israt nickte.
"Sehen sie, wenn LeCarré dafür sorgt, dass es endlich ein billiges Konsumgüterangebot auf Tasner gibt, dann hilft ihm das, die nächste Wahl zu gewinnen und sein Amt zu behalten."
"Sie scheinen hier gut informiert zu sein. Stehen Sie in engerem Kontakt zum Ersten Repräsentanten? Warum sind Sie hier auf Tasner? Was tun Sie hier und..."
"Bitte..." Sie schaute ihn ernst an. "Keine solchen Fragen. Das braucht Sie nicht zu interessieren."
*
Ein anderes Mal fragte Israt sie, weshalb LeCarré eine Vollendung des Terraforming-Programms offensichtlich boykottiere.
"Können Sie sich das wirklich nicht denken, Herr N 'Gabe? Sehen Sie, solange Tasner nicht 'fertig' ist, wird die Bevölkerung nur unwesentlich wachsen. Wenn dies aber eine erdgleiche Welt geworden ist, werden Millionen hierher strömen, um sich hier niederzulassen. Nach dem Föderationsvertrag haben sie das Recht dazu, denn es gibt auch hier im Rand-Gebiet übervölkerte Planeten. Aber das würde bedeuten, dass die nicht einmal zwei Millionen Tasnerianer sehr schnell majorisiert würden. Die Neuankömmlinge hätten sicherlich kaum Verständnis für diese Kultur, was zum Beispiel das 'Festival' angeht. Irgendwann würde es vermutlich verschwinden, weil die Mehrheit dagegen wäre. Und das will LeCarré verhindern. Er liebt das Festival."
*
Während dieser Tage (die Zeit des Festivals rückte unaufhaltsam heran) begannen die Tasnerianer damit, ihre öffentlichen Gebäude zu versiegeln. Auf Empfehlung LeCarrés hin nahm Israt an einigen der dazugehörigen Festakte teil. So unter anderem bei der Versiegelung des Obersten Gerichtshofs von Val-Duun (wo er Galnak Lon Tuy wiedertraf) und der Datenbank, wo er sich der Aufmerksamkeit Alana Susstu-Garlis' gewiss sein konnte.
Überall, in den Straßen, in den Cafés, in der Magnetbahn, war jetzt die Nähe des Festivals zu spüren. Festivalwaffen erlebten einen Boom und natürlich stiegen die Preise. Ein allgemeines Fieber breitete sich auf dem Planeten aus und störte die sonst übliche Ruhe. Plötzlich sah man Menschen sich beeilen, sich hektisch umdrehen, Feindseligkeit und Angst glänzten in vielen Augen. Es war eine Seuche und niemand schien sich der Ansteckung entziehen zu können. Eine große Veränderung hatte Tasner erfasst und jeder Tag brachte neue Vorboten der künftigen Barbarei.
Auf den Straßen und in den Cafés konnte man Drohungen hören, die Magnetbahnwagen waren von zänkischen Stimmengewirr erfüllt. Man spürte den in der Luft liegenden Hass, der von Tag zu Tag zuzunehmen schien und nur darauf wartete, sich entladen zu können. Aber so abstoßend die allgemeine Verwandlung auch war, auf einer anderen, unterschwelligen Ebene wirkte sie auch wieder faszinierend auf Israt. Die Zivilisation schien sich von Tasner zurückzuziehen, um für eine Weile wieder einem früheren Zustand Platz zu machen.
Schließlich kam der Tag, an dem Naomi Changas zurück nach Am-Abgrund flog. Israt hatte kaum erwartet, dass sie sich vorher noch von ihm verabschieden würde, aber sie tat es und suchte ihn in seinen Quartier auf.
"Sie haben doch eine Passage nach Ikarus gebucht, nicht wahr?", fragte sie völlig unnötigerweise.
"Ja. Warum?"
"Wenn Sie Ihren Aufstieg ein wenig fördern wollen, dann sollten Sie nicht fliegen."
"Sie meinen, es wäre günstig für mich, wenn ich während des Festivals hier auf Tasner bliebe?"
"Ja."
"Aber..."
"Ich weiß, was Sie jetzt erwidern wollen. Aber bedenken Sie, um wie viel Grade Sie in der Gunst des Ersten Repräsentanten steigen würden... Sie können mir vertrauen, N'Gaba. Ich kenne LeCarré, vielleicht sogar besser als er sich selbst." Sie zuckte mit den Schultern. "Sie müssen selbst wissen, was Sie tun, N'Gaba. Ich wollte Ihnen diesen Aspekt des Problems jedoch nicht vorenthalten haben."
Als sie gegangen war, ließ sie ihn etwas ratlos zurück.
'Nein', dachte er schließlich. 'Ich habe keine Lust, als zerfetzter Leichnam hier irgendwo in den Straßen Val-Duuns zu enden.'
Nichts schien dieses Risiko rechtfertigen zu können; auch der Erfolg nicht. Und doch... Er war sich nicht vollends sicher.
*
Einige Tage später übermittelte er per Hyperfunk und mit ausdrücklicher Genehmigung des Ersten Repräsentanten den Inhalt der Datenbänder an seine Zentrale in Lagos.
Weitere Tage vergingen und seine Passage nach Ikarus rückte in bedrohliche Nähe. Schließlich verging auch der Tag, an dem sein Schiff ihn zum Nachbarplaneten Tasners hatte bringen sollen, ohne dass er Val-Duun verlassen hatte.
Als Israt LeCarré von seinem endgültigen Entschluss berichtete, während des Festivals den Planeten nicht zu verlassen, schien dieser zunächst überrascht und dann erfreut zu sein.
Israt fragte seinen Gastgeber auch, an wen man sich wenden müsse, um ein gutes Schwert zu bekommen. Daraufhin schwieg LeCarré zunächst. Langsam breitete sich ein freundliches Lächeln auf seinem Gesicht aus. Ein seltsamer Glanz lag in seinen sonst so nüchternen, Intelligenz ausstrahlenden Augen.
"Sie scheinen langsam das Wesen dieser Gesellschaft zu begreifen, N'Gaba. Das freut mich."
Israt wusste nichts zu erwidern.
Er erinnerte sich der Video-Aufzeichnungen, die er gesehen hatte, an die abscheulichen Bilder und an die Bestie, die sein Gastgeber sein konnte... Ein fremdes, ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengegend bemerkbar; irgendetwas schien sich zusammenzukrampfen. Er wusste, was es war.
'Ich kann keine Rücksicht nehmen', dachte er.
"Ich werde Ihnen ein Schwert schenken, N'Gaba", sagte LeCarré plötzlich. "Betrachten Sie das als Zeichen meiner Gunst."
*
Die Tage der Barbarei waren wie ein atavistischer Alptraum, aber es stellte sich heraus, dass das Überleben wesentlich einfacher war, als Israt ursprünglich gedacht hatte. Es war nicht so, dass in jedem Fall willkürlich irgendwer auf irgendwen einschlug, sondern es existierte ein kompliziertes System von Koalitionen.
LeCarré, der Israt auch in den Gebrauch seiner Waffe einführte, bot seinen Favoriten die Koalition an, ebenso Ming Yaobang, als er erfuhr, dass der Nigerianer den Planeten während des Festivals nicht verlassen würde.
Während des ganzen Tages tobten in den Straßen Val-Duuns wilde Schlachten, bei denen mehr Blut floss, als Israts empfindliches Erdmenschen-Gemüt ertragen konnte.
Allein am ersten Festivaltag musste er sich dreimal übergeben. Man schien keine Anlässe zum Kämpfen zu brauchen, man kämpfte um des Kämpfens willen.
Nach Sonnenuntergang war Waffenruhe und die Verletzten wurden von Medo-Robotern aufgelesen und in die umliegenden Kliniken gebracht, wo man sie wieder zusammenflickte, soweit das noch möglich war.
Innerhalb der Häuser wurde nur selten gekämpft. Die Gefahr, Sachschaden anzurichten, war einfach zu groß, das finanzielle Risiko für den Kämpfer ebenfalls, denn nach dem tasnerianischen Gesetz mussten zerstörte Sachwerte auch während des Festivals dem Geschädigten (beziehungsweise dessen Erben) ersetzt werden, man ging auf die Straße.
Der erste Tag hatte Israt schwer mitgenommen. Das einzige, das er nach Eintritt der Waffenruhe noch empfinden konnte, war eine gewisse Befriedigung darüber, dass er überlebt hatte.
Er hatte sich ziemlich orientierungslos durch die mit geballten Hass gefüllten Straßen bewegt, war eher ausgewichen, als sich zu stellen, hatte sich mehr verteidigt als aggressiv angegriffen. Für einen kurzen Augenblick hatte er Alana Susstu-Garlis mitten im Getümmel zu sehen vermeint, war sich später jedoch nicht mehr hundertprozentig sicher, ob es tatsächlich sie gewesen war.
Der zweite Tag war bereits einfacher. Israt hatte an Härte zugenommen, wenn er auch des inbrünstigen, unbegründeten Hasses, der ihm überall entgegenschlug, selbst nicht fähig war.
In der Nähe des Seeufers erschlug er einen zrachistischen Mönch, der sich ihm drohend in den Weg gestellt hatte. Es schien so einfach, das Töten.
In der Magnetbahn metzelte er einen Mann und zwei Frauen hin, die, zuvor noch im gegenseitigen Streit verwickelt, sich plötzlich gegen ihn zusammengeschlossen hatten.
Ja, ohne Zweifel war LeCarré ein guter Fechtlehrer. Mochte Allah ihn schützen.
*
Am dritten Tag erwischte es ihn. Ein Schwert verwundete ihn am Kopf und er war mehrere Tage bewusstlos.
Als er in der Klinik erwachte, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er fühlte kaum etwas, nur, dass er noch lebte und dass etwas mit ihm nicht stimmte. Ansonsten war er völlig ausgeleert.
Dieses erste Erwachen nach der Verwundung, die man ihm zugefügt hatte, kam ihm wie eine Art Geburt vor. Er musste es immer wieder denken, es war das einzig Klare, das sich in seinen Gehirn manifestierte: Eine Geburt. Dann dämmerte er wieder in die Bewusstlosigkeit.
Als er das nächste Mal erwachte, ging es ihm bereits besser. Das Erste, das er wahrnahm, war das große Insektenauge des Medo-Robots neben seinen Bett. 'Ein primitives Modell', dachte Israt. 'Auf den inneren Planeten stände es wahrscheinlich im Museum'.
"Wie geht es Ihnen, Herr N'Gaba?", fragte die Maschine in akzentfreiem Rand-Linqua.
"Ich weiß nicht - besser, wie es scheint."
"Haben Sie irgendwelche Wünsche?"
Israt antwortete nicht sogleich.
"Soll ich Ihnen etwas bringen lassen?"
"Nein."
Als er von der Maschine erfuhr, dass das Festival bereits vorüber war, atmete er erleichtert auf. 'Ich denke, jetzt wird mich niemand mehr aufhalten können', dachte er von Euphorie ergriffen. Er fühlte sich paradoxerweise sehr stark. Er hatte das Festival überlebt. Das war wichtiger, als alles andere.
*
Israts Zustand verbesserte sich zusehends (obwohl der Standard der Tasnerianischen Medizin niedrig war) und bald konnte er bereits wieder sein Quartier bei LeCarré einnehmen.
Eine Hyperfunknachricht kam aus Nigeria. Die Barretto-Yilmaz-Gerland-Company hatte die Daten ausgewertet, man war mit Israts Arbeit zufrieden. Ganze Produktionsanlagen würden nach Tasner geschickt werden und er, Israt N'Gaba, würde (da er sich so intensiv mit den lokalen Verhältnissen vertraut gemacht habe) der Leiter von allen. Sein Traum begann, Wirklichkeit zu werden.
Xa LeCarré gratulierte ihm. "Ihre Vorgesetzten haben in der Tat recht. Sie sind ein fähiger Mann, N'Gaba" Israt suchte vergebens nach' einem ironischen Unterton.
*
Oswaldo Heinrichs weilte noch immer auf Tasner, wenn auch seine Hoffnungen, bezüglich eines geschäftlichen Erfolgs inzwischen auf Null gesunken waren. Während des Festivals hatte er sich mehr oder weniger ständig in seinem Quartier verbarrikadiert; jetzt hing er meistens in den Straßenlokalen herum, seltener fand man ihn auch in den Salons LeCarrés.
Als Israt ihn nach seiner Genesung zufällig in einen Café traf, konnte der Mann aus Alpha Centauri seinen Neid nicht verbergen. Heinrichs wirkte matt und müde, seine Wangen waren eingefallen, sein Gesicht hatte die Farbe verloren.
"Wie geht es Ihnen, Heinrichs?"
"Nicht gut, N'Gaba. Nicht gut, wirklich..."
"Das tut mir leid."
Heinrichs zuckte mit den Schultern und machte mit der Hand eine wegwerfende Geste. "So ist das Leben. Ich hatte einfach kein Glück, das muss ich akzeptieren."
"Werden Sie zurückfliegen?"
"Ja, ich werde zurückfliegen. Ich habe eingesehen, dass es keinen Sinn mehr hat, hier weiterzumachen. Der Erste Repräsentant empfängt mich nicht einmal mehr persönlich." Sie schwiegen einige Momente. Heinrichs blickte in sein Glas. "Wie ich höre, waren sie verletzt, N'Gaba."
"Das ist richtig, ja."
Er blickte wieder auf, in seinen Augen funkelte es angriffslustig. "Ziemlich gefährlich, dieses Festival, nicht wahr? Habe ich Ihnen ja gesagt." Eine höchst unangenehme Atmosphäre kam plötzlich zwischen ihnen auf. Israt spürte die unterschwellige Feindseligkeit des anderen. "Alles gut verheilt?"
"Ja."
"Sie haben unverschämt viel Glück, N'Gaba. Viel mehr, als Ihnen eigentlich zusteht."
*
Langsam begann das öffentliche Leben auf Tasner aus seinem Festivalschlaf zu erwachen. Die öffentlichen Gebäude wurden ebenso feierlich wieder eröffnet, wie sie vorher versiegelt worden waren; das Fieber in den Straßen war verschwunden und die alte Ruhe breitete sich wieder aus. Diese zweite Verwandlung war nicht weniger erstaunlich als die erste.
Es war eine gute Zeit für Israt. Es gab für ihn nichts zu tun, als Land zu kaufen und auf die Fabrikationsanlagen zu warten.
LeCarré bot ihn eines Tages das planetare Bürgerrecht an. "Damit können Sie öffentliche Ämter bekleiden, wählen, sich hier unbegrenzt lange aufhalten, etcetera."
Während die Tasner-Monate vergingen, trafen laufend Schiffe mit Maschinenteilen der Barretto-Yilmaz-Gerland Company ein. Robotische Produktionsanlagen schossen aus den Boden und begannen zu produzieren.
*
Oswaldo Heinrichs hätte nie gedacht, in seinem Leben noch einmal in diese Gegend der Galaxis zu kommen.
Tasner...
Er dachte nicht gerne an das zurück, was für ihn mit diesem Namen verbunden war.
Fast zehn Standardjahre waren seit damals vergangen und Heinrichs war noch immer in der selben Position, tat exakt die selben Dinge. Es schien so, als würde das bis zu seinen Lebensende so bleiben. Er war in jeder Beziehung mittelmäßig: zu schlecht, um aufzusteigen, zu gut um abzufallen. In sein Leben war Stillstand gekommen, es hatte sich im Zustand eines unbefriedigenden Gleichgewichts eingependelt.
'Nichts Neues mehr im Universum', dachte er. Er konnte den weiteren Verlauf seines Lebens so scharf und exakt voraussagen, dass es innerlich schmerzte.
Heinrichs wohnte seit 1,1 Standardeinheiten im Grand-Hotel von Ikarus-Stadt. Wenn es auf Ikarus je sternenklare Nächte gegeben hätte, hätte man von hier aus Tasner als leuchtenden Punkt am Himmel sehen können...
Er war auf der Durchreise und würde einige Standardeinheiten auf eine Schiffsverbindung warten müssen.
Auf dieser Seite von Ikarus war gerade Nacht und deshalb befand er sich auch fast allein in der Bar des Grand-Hotels. Der Gin wurde in viereckigen Gläsern serviert und es war eine eigene Kunst, daraus zu trinken. Die bis zu dieser späten Stunde in der Bar verbliebenen Gäste brüteten mehr oder weniger alle schweigsam vor sich hin und schienen an einem Gespräch wenig interessiert zu sein.
Daher sprach Heinrichs den Barmann an, der große Tränensäcke und hervorstehende Augen hatte. "Sagen Sie..."
Dar Barmann starrte ihn an, eine Flasche in der Hand und zog die Brauen hoch. Dann kam er ein paar Schritte heran. "Was?"
"Wissen Sie, ob man auf Tasner inzwischen das Terraformingprogramm beendet hat?"
"Was?"
"Verstehen Sie nicht?" Heinrichs versuchte, es ihm zu erklären, aber es nützte nichts. Er hatte keine Ahnung.
'Schade', dachte Heinrichs. 'Ich hätte gerne gewusst, ob jemand anders diesen Auftrag ergattern konnte. Damals, als er Tasner verlassen hatte, er erinnerte sich noch genau, war er vollkommen fertig gewesen. Selbst die Erinnerung daran war niederschmetternd.
Tasner war das letzte Glied in einer Kette von Misserfolgen gewesen. Heinrichs hatte an sich selbst zu zweifeln begonnen und war durchgedreht. Psychische Erschöpfung war die Diagnose gewesen. Es hatte Monate gedauert, bis er seine Arbeit wieder hatte aufnehmen können.
Inzwischen hatte er seine Hoffnungen auf einen Aufstieg in die obersten Etagen endgültig aufgegeben. Er hatte resigniert.
Sein Glas war leer und der Barmann füllte nach. Heinrichs' Blick blieb an einem der verbliebenen, vor sich hinbrütenden Gäste hängen. Dieses Gesicht... Nein, das konnte nicht sein.
Der Mann, auf den sein Blick gefallen war, saß in einer Nische vor seinem Glas und starrte stumm vor sich hin. Tiefe Falten furchten sein Gesicht, sein Haar war ergraut, sein Gesicht tiefschwarz. Konnte es möglich sein? Heinrichs rief den Barmann abermals zu sich und fragte leise nach der Identität des Schwarzen.
"Sein Name ist N'Gaba."
"Wohnt er hier im Hotel?"
"Schon seit einem halben Jahr."
Heinrichs schaute zu dem allein an seinem Tisch sitzenden hinüber und musterte ihn eingehend. Ja, es war unzweifelhaft das selbe Gesicht. Er hatte sich nicht getäuscht.
"Was tut er hier?", fragte er den Barmann, ohne sich umzudrehen.
"Ich weiß es nicht. Wir pflegen unsere Gäste nicht auszufragen. Ich weiß nicht einmal, woher er kommt."
N'Gaba hatte Heinrichs nicht bemerkt. Unzweifelhaft schien der Schwarze stark gealtert zu sein und zwar unverhältnismäßig zu den Jahren, die vergangen waren. Er sah nicht glücklich aus.
In Heinrichs' Bewusstsein war N'Gaba seit ihrem Zusammentreffen auf Tasner immer eine Art Sinnbild des Erfolges gewesen. Neid und unterschwelliger Hass hatten an ihm genagt. Er hatte verzweifelt versucht, diesen Namen aus seinem Bewusstsein zu verbrennen.
Nachdem Heinrichs Tasner verlassen hatte, hatte er kaum noch etwas von dem Mann der Barretto-Yilmaz-Gerland-Company gehört. Einmal war eine Meldung in seine Hände gelangt, ein gewisser N 'Gaba sei zum Ersten Repräsentanten von Tasner aufgestiegen... Er konnte sich nicht mehr genau entsinnen, wann das ungefähr gewesen war. Einige Jahre waren sicherlich vergangen. Und nun sah er ihn hier vor sich, ganz und gar nicht in der Pose des strahlenden Siegers. Was mochte inzwischen geschehen sein?
Heinrichs war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, zu N'Gaba hinzugehen, mit ihm zu sprechen und seine Neugier zu befriedigen und seiner Furcht vor ihm.
*
Als Israt plötzlich die Gestalt Oswaldo Heinrichs' vor seinem Tisch auftauchen sah, erschrak er ein wenig. Er hatte nicht geglaubt, dass er den Mann aus Alpha Centauri noch einmal wiedersehen würden.
Heinrichs hatte sich nach seinem Äußeren kaum verändert, was wohl darauf zurückzuführen war, dass er sich kosmetische Behandlungen leistete; im Gegensatz zu Israt, dem seine äußere Erscheinung in den letzten Jahren immer gleichgültiger geworden war.
Eine Weile schauten sie sich gegenseitig nachdenklich an, wobei jedem von ihnen bewusst war, dass der andere ihn erkannt hatte.
"Warum setzen Sie sich nicht, Heinrichs?"
Heinrichs setzte sich zu ihm an den Tisch, noch immer stumm. "Wie geht es ihnen, N 'Gaba?"
Israt zuckte mit den Schultern.
"Ich habe gehört, Sie wären zum Ersten Repräsentanten avanciert."
"Das ist wahr, ja. Ich war eine Zeitlang Erster Repräsentant von Tasner." Israts Stimme klang müde, seine Art konnte man fast apathisch nennen. Er schien mit den Gedanken nicht wirklich beim Gespräch zu sein.
"Haben Sie dieses Amt jetzt nicht mehr inne?"
"Nein."
"Sie haben Tasner verlassen?"
"Ja." Und nach einer Pause: "Was wollen Sie von mir, Heinrichs?" Er trank sein Glas aus. "Wollen Sie mich quälen?"
Ohne auf das von Israt gesagte einzugehen fragte Heinrichs: "Was machen Sie hier auf Ikarus, N'Gaba?"
"Ich lebe hier."
"Hier?"
"Warum sollte ich nicht hier leben? Es ist im Grunde genommen vollkommen gleichgültig, wo ich lebe. Ich bin nun einmal hier hängengeblieben. Es ist das Bequemste, hier zu bleiben."
'Welch eine Veränderung', dachte Heinrichs. Und plötzlich begann er, fast so etwas wie Mitleid zu empfinden. "Warum haben Sie Tasner verlassen? Sie waren doch ziemlich erfolgreich, wenn ich mich recht entsinne..."
"Oh, ja, das stimmt. Ich war sehr erfolgreich. Mir unterstanden mehrere Dutzend Fabriken für Konsumgüter aller Art. Ich konnte soviel Geld scheffeln, dass ich mich bald nebenher auch unabhängig von Barretto-Yilmaz-Gerland als Geschäftsmann betätigen konnte." Er grinste flüchtig, dabei seinen abwesenden Blick beibehaltend. "Ich lebe in der Gewissheit, nie wieder Arbeit annehmen zu müssen. Ich habe mehr Geld, als ich ausgeben kann."
"Wie kam es, dass Sie erster Repräsentant wurden?"
"Ich wurde dazu gewählt, nachdem LeCarré nach Am-Abgrund emigrierte."
"LeCarré nach Am-Abgrund?"
"Ja. Da war eine Frau, eine Katholikin, die hatte einen großen Einfluss auf ihn. Er hat sich bekehren lassen und versucht nun, Buße zu tun." Ein heiseres Lachen kam aus seinen Mund.
"Und Sie sind ebenfalls ausgewandert, nicht wahr, N'Gaba?"
"Was soll eigentlich die ganze Fragerei?"
"Warum eigentlich? Hatten Sie keinen Spaß mehr an diesen... Festivals? Haben diese Dinge für Sie allmählich ihren Kitzel verloren? Ist Ihnen mit der Zeit sogar die Macht langweilig geworden?" Ein spöttisches Lächeln zeigte sich bei Heinrichs, aber Israt schaute ihn nicht an. "Oder ist es bei Ihnen dasselbe wie bei LeCarré und Sie sind von Ihren Schuldgefühlen und Ihrem schlechten Gewissen schließlich vom Sockel gestoßen worden?" Heinrichs nickte überheblich und im Gefühl moralischer Überlegenheit. Er fühlte die Chance, N'Gaba in den Dreck zu treten, den Aufsteiger und Günstling so klein zu machen, wie tun zu können er nie zu hoffen gewagt hätte. "Der Aufstieg hat seinen Preis gefordert, nicht wahr? Sie haben sich an ein Gesellschaftssystem barbarischster Sorte anpassen müssen, um nach oben zu kommen. Sie haben Ihre Identität und Ihr Gewissen verraten, aber das ist schließlich alles wieder auf Sie zurückgefallen. Dieses Geschlachte in den Straßen..."
Plötzlich blickte Israt auf. Er war jetzt vollkommen wach, die Apathie schien verschwunden. Die Augen des Schwarzen bohrten sich in die seines Gegenübers und Heinrichs verstummte. Dann stand Israt auf und wankte davon. Er schien etwas zuviel getrunken zu haben und sein Gang machte auf Heinrichs einen würdelosen Eindruck.
Nach einigen Metern wandte Israt sich noch einmal um. "Sie haben nicht das Recht, mich zu verurteilen", sagte er. "Sie nicht. Wenn Sie die Gelegenheit dazu gehabt hätten, hätten Sie ebenso gehandelt wie ich, da bin ich mir sicher. Sie sind ganz einfach nichts weiter als ein schlechter Verlierer."
© 1986 by A.Bekker
Die einzelnen Teile erschienen als Serial.
Eine Gesamtausgabe erschien unter dem Titel "Hetzjagd im All – Die Mega-Killer-Romane in einem Band".
Eine vierbändige Ausgabe erschien unter den Titeln "Galaktischer Jäger", "Galaktischer Mörder", "Galaktische Beute", "Galaktische Zuflucht".
Printausgaben desselben Inhalts erschienen im Mohlberg-Verlag unter den Titeln "Rache aus dem Cyberspace", "Die Zone der Gesetzlosen" und "Fluchtpunkt Laika-System".
Ich bin Dak Morley.
Ich bin auch andere.
Ich bin viele.
Ich bin ein Schatten unter Schatten.
Ich bin niemand und jeder.
Der namenlose Träger vieler Namen.
Ich …
*
Ich warf mich zu Boden, rollte mich herum, während der Laserstrahl aus der Waffe meines Gegners dicht an mir vorbeizischte. Dort wo er aufkam, brannte er ein faustgroßes Loch in den Stein. Ein eigenartiger Geruch stieg mir in die Nase. Ich riss meinen Strahler hoch, feuerte und traf meinen Gegner mitten in die Brust – sofern man das so bezeichnen mochte. Es handelte sich bei meinem Gegner nämlich um einen vierarmigen, etwa zwei Meter fünfzig großen Sampor, dessen Haut so hitzebeständig war, dass ich meinen Strahler auf die höchste Energiestufe hatte einstellen müssen, um bei ihm überhaupt eine Wirkung zu erzielen. Ich brannte ihm ein Loch in das dunkelgrüne, tunikaartige Gewand, das er trug. Darunter kam die schuppig wirkende Haut (oder sollte man Panzer dazu sagen?) zum Vorschein. Die Energie meines Schusses schleuderte den Sampor gegen die grauweiße Wand einer nahen Ruine. Er rutschte zu Boden. In drei seiner vier prankenartigen Hände trug er Waffen. Einen Strahler, einen Nadler und eine Big-Bang-Gun genannte Pistole. Sie war in der Lage Explosionsgeschosse abzufeuern, die ihr Ziel selbständig verfolgten.
Die Sampor standen im Ruf, die besten Soldaten der Galaxis zu sein. Sie waren aus genetischen Experimenten auf dem Planeten Cartax hervorgegangene Klone. Der zynische Geist, der das Patent ihres Gen-Musters besaß, musste sich inzwischen daran dumm und dreckig verdient haben.
Ich verzog das Gesicht.
Wer hätte das gedacht, du kannst es sogar mit Sampor aufnehmen!, ging es mir durch den Kopf.
Mein Gegner bewegte sich noch – trotz des daumendicken Lochs, das ich ihm in seine Panzerhaut gebrannt hatte. Zwei seiner Waffenarme hingen schlapp herunter, schienen ihm nicht mehr zu gehorchen. Der Strahler war ihm entfallen. Eine weitere Pranke drückte er gegen die Stelle, an der ich ihn getroffen hatte. Sein schuppiges Gesicht war kaum mehr als eine Maske. Die Augen am Kopf wirkten starr. Es gab ein weiteres, geschlossenes Augenpaar am Hals, das zu einer zweiten Gehirnsektion im oberen Brustbereich gehörte. Diese zweite Gehirnsektion konnte im Fall eines Kopftreffers die Aufgaben des Haupthirns übernehmen.
Perfekte Söldner.
Wahrscheinlich hatte mein Treffer dieses Zweithirn zerstört oder zumindest stark in Mitleidenschaft gezogen.
Ich beschloss, auf Nummer sicher zu gehen, hob den Strahler und brannte meinem Gegner auch noch ein Loch in den Kopf. Genau zwischen die Augen.
Delete High Memory, so hätte das vielleicht ein antiker Meister der Programmierkunst in gleichermaßen schlichte wie wie ergreifende Prosa gebracht. Oder auch: Central Processor Unit Error. Ich habe ein Faible für ausgestorbene irdische Sprachen und dieses ganze uralte Zeug, das man in antiken, schon halbentmagnetisierten Datenspeichern so finden kann.
Der Sampor zuckte noch einmal.
Seine letzte Bewegung.
Unglücklicherweise löste er damit einen Schuss der Big-Bang-Gun aus.
Das Geschoss war ziemlich langsam. Viel langsamer als es ein Projektil des Nadlers gewesen wäre, ganz zu schweigen vom Laserblitz des Strahlers. Aber gemessen an der Reaktionsfähigkeit eines Menschen war auch die Geschwindigkeit des Big-Bang-Geschosses noch rasend schnell.
Ich warf mich zur Seite. Eine Reflexreaktion, die man mir eintrainiert hatte. Eine Art posthypnotisches Programm, das ich mir über den drahtlosen CyberSensor in meinem Nacken direkt ins Gehirn geladen hatte. Es war nicht das erste Mal, dass mir diese Konditionierung das Leben rettete. Man war einfach den Bruchteil einer Sekunde schneller.
Ich kam ziemlich hart mit der Schulter auf, das Projektil jagte an mir vorbei auf eine der unzähligen Ruinen zu, die diese trostlose Trümmerlandschaft prägten. Die Trümmer irgendeiner dieser alten Riesenstädte, die es in der Vergangenheit gegeben hatte. Old L.A., Old N.Y., Old London oder dergleichen mehr. Ich hatte es vergessen, welchen Namen DIESER Trümmerhaufen trug. Spielte auch keine Rolle. Das einzige, was in diesem Moment zählte war, dass ein paar Sampor mich töten wollten und ich es geschafft hatte, den ersten von ihnen zu erledigen.
Das Projektil bremste vor der Ruinenmauer ab.
Er verfügte über einen autonomen Antrieb und eine elektronische Gegnererfassung. Einfach ausgedrückt: Es jagte alles, was sich bewegte. Naja, etwas komplizierter war es schon. Jedenfalls war das Ding in der Lage mich zu erkennen und zu verfolgen wie ein Insekt.
Es beschleunigte, surrte mit einem unangenehmen Brummton in meine Richtung.
Mir blieb kaum mehr als ein Augenaufschlag.
Ich griff an meinen Gürtel und aktivierte den Magnet-Schocker.
Gerade noch rechtzeitig.
Das mikroelektronische Innenleben des Projektils wurde erheblich verwirrt. Genau dafür waren diese Magnet-Schocker auch gemacht, obwohl man jedem nur abraten kann, sich auf sie zu verlassen. Das Big-Bang-Projektil surrte an mir vorbei und ich betete.
Wenn es jetzt in die nächste Ruine hineinkrachte, nützte mir das überhaupt nichts. Die Explosion wäre gewaltig genug gewesen, um mich trotzdem in Stücke zu reißen. Ich hätte schon Sampor sein müssen, um eine Detonation jener Größenordnung aus dieser geringen Distanz überleben zu können. Und selbst ein Sampor hätte wahrscheinlich auf das Funktionieren seiner zweiten Hirnsektion vertrauen müssen.
Der Unterschied war nur, dass Sampor psychisch so konditioniert waren, dass ihnen der Tod nichts ausmachte.
Mir allerdings schon.
Ich war schließlich erst hundert Jahre alt, also in den besten Jahren.
Das Ding raste auf die Ruinenwand zu.
Eigentlich war der Magnet-Schocker so programmiert, dass er Geschosse wie das Big-Bang-Projektil auf eine ausreichende Distanz brachte.
Eigentlich ...
Wie gesagt, man darf sich nicht darauf verlassen. Manchmal klappte das nicht. Ich zählte die Sekunden. Dann zog das Big-Bang-Projektil im letzten Moment nach oben, in einer schrägen Linie direkt in den aschgrauen Himmel hinein.
Einige Augenblicke lang geschah gar nichts. Dann hörte ich die Detonation. In den Wänden der umliegenden Ruinen entstanden Risse. Hier und da bröckelten Steine aus dem Mauerwerk. Betonbrocken lösten sich, brachen herunter. Ich taumelte durch diese Erdbebenlandschaft, atmete auf und deaktivierte den Magnet-Schocker.
Dann überprüfte ich die Justierung meines Strahlers. Wenn ich Pech hatte, machte sich die Wirkung des Schockers auch dort bemerkbar. Se etwas kam immer wieder vor, auch wenn die Herstellerhinweise vorgaben, das mit angeblich über 99prozentiger Sicherheit ausschließen zu können.
Ich entfernte mich vom Ort der Detonation. Schließlich wollte ich keine giftigen Rückstände mitbekommen. Dann überquerte ich eine breite Straße, die sich wie eine Schneise durch die Ruinenlandschaft zog. Irgendwo in der Ferne waren Trommeln zu hören.
Ich grinste unwillkürlich.
Ja, die Trommeln ...
Die hatten eigentlich auch noch gefehlt zur typischen akustischen Kulisse eines OutlawSectors oder kurz OS. Bewaffnete Gangs in martialisch wirkender Kleidung, die sich um eine Feuerstelle herum gruppierten, im Hintergrund der dumpfe Klang der Trommeln. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sich bei den Angehörigen dieser Gangs die Muster altirdischer Stammesgesellschaften wieder durchgesetzt hatten.
Aber das war ein Zusammenhang, der wohl nur denen auffiel, die sich etwas intensiver mit der Vergangenheit dieses Planeten befasst hatten. Auf mich traf das zu. Es war eine Art Hobby.
Ich befand mich in der Mitte der Straße und fragte mich einen Sekundenbruchteil lang, ob ich vielleicht in die falsche Richtung ging – den trommelnden OS-Bewohnern direkt in die Arme. Und die gingen nicht unbedingt zimperlich mit denjenigen um, die sich in ihre Gebiete verirrten. Ins OutlawLand. Andererseits waren sie sicherlich angenehmere Gegner als die beiden Sampor, die hier noch irgendwo in den Trümmern herumstrichen und auf der Jagd nach mir waren.
Ich hatte die andere Seite schon fast erreicht, wollte mich in einem verfallenen Hochhaus in Deckung begeben, da nahm ich an einem der glaslosen Fenster im Erdgeschoss dieses monströsen Betonskeletts eine Bewegung wahr.
Ein kurzer Moment der Erstarrung folgte.
Eine Art Lähmphase, gemeinhin auch Schrecksekunde genannt, die meine Konditionierung zwar reduzieren, aber nicht völlig aus der Welt schaffen konnte. Ich war ein Mensch. Was immer das im fünfunddreißigsten Jahrhundert auch sein mochte. Ein Mensch mit allen Nachteilen seiner Gattung. (Und die Sampor?, dachte ich in irgendeinem hinteren Winkel meines Bewusstseins. Du teilst mehr als 99 Prozent deiner Gene mit ihnen ...)
"Verdammt, irgendwie habe ich keine Lust mehr auf den Mist!", sagte ich laut.
ETWAS kam aus dem Fenster herausgesprungen. Die Gestalt eines Sampor. Er rollte sich auf dem Boden ab, riss seine Waffen empor und feuerte dann gleichzeitig mit Strahler, Nadler und Big-Bang-Gun auf mich.
Ich verzichtete darauf, den Schocker zu aktivieren oder meinen Strahler abzufeuern.
Warum auch?
Ich stand einfach da und ließ mich erschießen, denn ich wusste, dass es dann am schnellsten vorbei war.
Zuerst traf mich der punktgenaue Laserstrahl. Zischend brannte er mir ein Loch in die Herzgegend, den Aufprall des Nadelgeschosses bekam ich überhaupt nicht mehr mit. Dass der Sampor danebengeschossen hatte, konnte ich allerdings kaum annehmen. Und dann folgte das Big-Bang-Projektil.
Die Explosion war verdammt grell.
Ich schloss die Augen, aber das nützte nichts. Eine sinnlose Reflexreaktion, denn die Daten dieses interaktiven Spiels wurden über den drahtlose CyberSensor in meinem Nacken direkt auf meine Sinnesnerven übertragen. Nicht einmal eine Netzhautentfernung hätte mir diesen grellen Blitz ersparen können.
Mein Cyber-Ich wurde in dieser furchtbaren Detonation förmlich zerrissen. Ich konnte die Hitze spüren, den Druck. Es war sehr realistisch.
Ich konnte das beurteilen, schließlich hatte ich auch in der corporalen Realität (der Begriff 'corporal' war irgendwann im 22. Jahrhundert als Gegenbegriff zur sogenannten 'virtuellen' Realität entstanden) schon in ähnlichen Situationen gesteckt. Ich hatte sogar bereits gegen coroporale – körperlich existierende – Sampor gekämpft und überlebt.
Ihre virtuellen Counterparts waren vielleicht sogar noch etwas cleverer als ihre corporalen Vorbilder.
>Das Programm endete mit Ihrem virtuellen Tod, Benutzer Dak Morley>, klärte mich eine Cyberstimme auf. Es war keine echte Stimme, nichts was jemand außer mir hätte hören können. Genau genommen handelte es sich lediglich um eine Impulsfolge, mit der meine Hörnerven stimuliert wurden, wodurch ich in der Illusion lebte, diese Stimme zu hören. (Illusion?, dachte ich. Du denkst immer mehr in den Denkmustern deiner Vorfahren, mit deren Geschichte du dich so gerne beschäftigst. Sonst würdest du dieses Wort nicht benutzen. Du würdest statt dessen corporale und virtuelle Realität als gleichwertige Ebenen in gegenseitiger Abhängigkeit betrachten. Der Begriff Illusion beinhaltet eine Wertung ... Eines Tages wirst du auf das Denk- Niveau der OS-Bewohner hinabsinken, die jegliche Cyber-Technik für Teufelszeug halten!)
>Möglicherweise sollten Sie bei einer nochmaligen Verwendung des Programms MEGA KILLER darauf achten, ein niedrigeres Anspruchs- und Reaktionslevel auszuwählen>, riet mir die Cyberstimme. >Benutzer Dak Morley, wollen Sie jetzt die Optionen für eine zukünftige Benutzung des MEGA KILLER definieren?>
"Ich möchte das Programm deaktivieren", sagte ich laut. Ein entsprechender Gedankenimpuls hätte genügt, aber irgendwie fühlte ich mich etwas müde und es fiel mir leichter, mich zu konzentrieren, wenn ich laut sprach.
>Deaktivierungssequenz wird eingeleitet, Benutzer Dak Morley. Möchten Sie, dass eine persönliche Version des Programms MEGA KILLER mit allen persönlichen Features für Sie in den Zentralspeichern des GalaxyNet gespeichert und ständig über den Code ihres persönlichen CyberSensor abrufbar sein wird?>
>Nein. Löschen>, erwiderte ich in Gedanken und wiederholte es gleich darauf noch einmal laut: "Löschen."
"Hat Ihnen das Programm MEGA KILLER nicht gefallen, Benutzer Dak Morley? Wenn Sie Kritik oder Anregungen haben, so geben Sie diese bitte in den GalaxyNet-Zugang Ihres Mentalspeichers ein."
"Ich habe nichts auszusetzen."
Diese Abfragerei während der Deaktivierungssequenz von Spielprogrammen war ziemlich nervig. Und man musste außerdem noch höllisch aufpassen, dass die Hersteller oder Vertreiber einem nicht an den Systemeinstellungen des CyberSensor herummanipulierten. Bei unseriösen Anbietern konnte es schonmal vorkommen, dass man dann völlig unerwartet (und natürlich in den ungünstigsten Momenten) Werbeeinblendungen auf die Netzhaut projiziert bekam.
Ich hatte meine Tricks, um die Abfrage-Prozedur abzukürzen. Über den GalaxyNet-Zugang meines Mentalspeichers gab ich eine entsprechende codierte Sequenz ein. Es handelte sich um eine Art Datenvirus, der über das Hyperfunknetz von Iplan (der Föderation der Inneren PLANeten) den Zentralrechner des Vertreibers aufspürte und dafür sorgte, dass alle meine Daten aus dessen System verschwanden, so als hätte es den BENUTZER DAK MORLEY nie gegeben.
Auf diese Weise brauchte ich für den Gebrauch eines Spielprogramms wie dem MEGA KILLER noch nicht einmal zu bezahlen.
Ich befand mich in meiner Wohnung in Barcana, einer aus dem Meer hervorragenden ultramodernen Turmstadt. Eine bevorzugte Wohngegend, so konnte man selbst ein kleines Appartment in Barcana nennen. Ich hatte eine große Suite mit angrenzenden Büroräumen. Ich hasse nichts mehr als Enge. Man muss sich in den eigenen vier Wänden bewegen können. Man sollte diese Wände sogar verschwinden lassen können, wenn einem danach ist.
Mir war danach.
In der Sichtanzeige in meinem linken Auge verblasste gerade das Logo der Herstellerfirma des MEGA KILLER. Über meinen CyberSensor stellte ich Verbindung zum Wohnungsrechner her. Die Wand, die sich etwa fünf Meter von mir entfernt befand, schien sich aufzulösen, wurde transparent und einen Augenblick später hatte ich eine fantastische Aussicht auf das Meer, das irgendein antiker Namensgeber das MITTELMEER genannt hatte, weil es gewissermaßen den Mittelpunkt der damals bekannten Welt dargestellt hatte.
Die Küste lag im Nebel.
Von Barcana aus – zumindest, wenn man nicht gerade in den untersten, deutlich preiswerteren Stockwerken wohnte – konnte man bei besserem Wetter bis zu den Ruinen von Alt-Barcelona hinübersehen. In antiker Zeit war Alt-B, wie man den Steinhaufen auch nannte, angeblich eine blühende Stadt gewesen. Ich halte das für ein Gerücht. Genauso wie die Behauptung, dass es bis ins dreiundzwanzigste Jahrhundert dort einen Schiffshafen gegeben habe. Aber ich bin ja auch nicht mehr als ein Amateurhistoriker.
Jetzt gehörten die Ruinen von Alt-B jedenfalls zu einem OS – einem OutlawSector. Wenn man die akustischen Sensoren, die auch das Meeresrauschen ins Innere der Wohnung übertragen konnten, auf das höchste Level einstellte und außerdem genügend Filter aktivierte, dann konnte man sogar die Trommeln der OS-Leute hören ...
Für sie gab es kein GalaxyNet, keine Cyberspiele, keine galaxisweite Vernetzung mit allem und jedem – zumindest im Bereich von Iplan. Was die Rand-Föderation, die Äußeren Kolonien oder die Autonomen Welten anging, war das zum Teil ja etwas schwieriger. Aber das GalaxyNet breitete sich immer weiter aus. Es wuchs wie ein Spinnennetz aus Hyperfunklinien und Transmitterstraßen. Jedes Raumschiff, dass weiter in unbekannte Gebiete vordrang, gehörte dazu, war über dieses Netz mit den zivilisatorischen Zentren der Menschheit verbunden.
"Ich sehe, du bist endlich fertig mit deinem Baller-Spiel", hörte ich eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich langsam um und sah die grazile Gestalt einer jungen Frau. Sie trug das Haar offen. Es reichte ihr bis weit über die Schultern. Ein beinahe knielanges Gewand aus einem fließenden Stoff schmiegte sich an ihren Körper. Sie lief barfuß, lächelte.
Ich erwiderte ihr Lächeln.
"Ich verstehe nicht, was dir das gibt", meinte sie.
"Man bleibt im Training."
"Ach, Quatsch!"
"Nein, es ist wirklich so."
Sie näherte sich lautlos, berührte mich leicht am Unterarm. Ihre wohlgerundeten Brüste hoben und senkten sich, während sie atmete, und drückten sich dabei gegen den Stoff ihres Gewandes.
Sie war die Frau, mit der ich seit fast zwei Jahren zusammenlebte.
Sorana Zanuck, 32 Jahre alt, was bedeutete, dass sie nicht einmal ein Drittel meines Alters hatte. Durch meine Beschäftigung mit der grauen Vorzeit des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts wusste ich, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der so etwas von Bedeutung gewesen war. Das allgemeine Gen-Tuning hatte den Tod, das Alter und den Verfall zwar nicht abgeschafft, aber es war gelungen, diese Dinge erheblich weiter hinauszuschieben, als das unseren kurzlebigen Vorfahren vergönnt gewesen war.
Ich strich über Soranas seidiges Haar.
"Wie hieß das Programm, dass du dir auf die Netzhaut gedröhnt hast?", fragte sie.
"Nicht auf die Netzhaut. Auf die Sehnerven."
"Ist doch egal, oder?"
"Netzhautübertragungen haben nicht die nötige Qualität, die taugen nur für Kontrollanzeigen und Info-Programme."
Sie stubste mich leicht. "Du willst mich ärgern, was?"
"Necken."
"Wie auch immer." Sie sah mich an, wirkte nachdenklich. Ein Gesichtsausdruck, den ich nur zu gut bei ihr kannte. "Manchmal denke ich, dass du eines Tages genauso spurlos verschwindest wie eine dieser GalaxyNet-Applikationen und mir die Cyber-Stimme in die Hörnerven flüstert: 'Benutzerin Sorana Zanuck, die Anwendung DAK MORLEY musste aufgrund eines fehlerhaften Zugriffs geschlossen werden ...' und du dich einfach in Luft auflöst."
"Ich bin aus Fleisch und Blut. Beziehungsweise aus DNA und Wasser."
Es sollte ein Witz sein.
Sie lachte nicht.
"Du bist hier vor zwei Jahren so plötzlich aufgetaucht, Dak. Wie aus dem Nichts. Und wenn ich ehrlich bin, dann weiß ich immer noch kaum etwas über dich – außer, dass du eine Sammlung halborganischer Fingerkuppen besitzt, um Finger-Print-Scanner zu betrügen, wenn du in einer anderen Identität unterwegs bist."
Ich hob die Augenbrauen.
"Willst du mich jetzt über meine Vergangenheit ausfragen?"
Ihre Hand glitt die Strukturen meiner Kombination entlang.
"Nein, ich weiß, dass das keinen Zweck hat. Du bist ein Phantom."
"Hängt mit meinem Job zusammen."
"Das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit ..."
Ich legte den Arm um sie. Unsere Lippen berührten sich flüchtig.
Ein mildes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. "Ein Ablenkungsmanöver", stellte sie fest.
"Das bildest du dir ein."
"Nein, ich glaube nicht. Ich kann nämlich deine Gedanken lesen, Dak Morley – oder wie immer du wirklich heißen magst."
"Was du nicht sagst ..."
"Ja – und zwar ganz ohne telepathische Psi-Begabung wie bei den pflanzlichen Intelligenzen von Gataran!"
"Ich habe den Namen schonmal gehört ..."
"Bestimmt von mir." Sie schlang ihre Arme um meinen Hals. "Ist eine Iplan-Welt. Wir schicken von unserem Reisebüro aus regelmäßig Psychotouristen dorthin, damit sie auf Gataran an Encounter-Gruppen teilnehmen können. Manche Unternehmen schicken ihre kompletten Belegschaften kostenlos zu diesen Psychohygiene-Kursen."
"Die Begegnung mit sich selbst – auf dem Umweg über eine telepathisch begabte Pflanzenintelligenz."
Sie strich mir über die Stirn, fuhr mit ihren Fingern die Schläfe, dann das Kinn entlang und landete schließlich auf meiner Schulter.
Ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. Ein Lächeln, so einzigartig wie sonst kaum etwas im Universum. Meine persönliche Sonne, um die im Augenblick das ansonsten etwas instabile System meines privaten Glücks kreiste.
"Manche Leute brauchen diese Art Umwege, um sich selbst zu erkennen, Dak."
"Manche Leute können halt nicht genug davon bekommen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, Sorana."
"Manche Leute sagen so etwas nur, weil sie in Wahrheit eine Heidenangst davor haben, sich einem anderen Menschen wirklich zu öffnen."
Ein kurzes Signal zeigte mir an, dass Sorana offenbar durch einen Impuls ihres CyberSensor das Antigravfeld aktiviert hatte. Es füllte etwa sechs Quadratmeter dieses Raums aus und flimmerte in verschiedenen Farben. Eine rein optische Markierung, die Unfälle durch ein versehentliches Hineintreten verhindern sollte. Sie zog mich mit sich. "Komm", sagte sie. "Ich muss für zwei Tage weg und werde furchtbar Sehnsucht nach dir haben."
"Wohin geht's denn?"
"Tywyn. Ich treffe mich da mit einem unserer Lizenznehmer, mit dem es Ärger gibt ..."
"Kann man so etwas nicht durch eine virtuelle Reise regeln?"
"Ich möchte verhindern, dass meinem Cyber-Ich irgendwelcher Mist vorgegaukelt wird."
"Verstehe ..."
Wir sanken auf das Antigravfeld, schwebten dann im nächsten Augenblick engumschlungen in dem farbigen Geflimmer. Vielleicht war das eine der stärksten Gemeinsamkeiten zwischen uns: Wir teilten die in den Augen mancher Leute schon altmodisch erscheinende Vorliebe für corporalen Sex.
*
Als ich am nächsten Tag erwachte, war Sorana schon nicht mehr da. Sie hatte mir eine Nachricht hinterlassen, die mir über den CyberSensor eingespielt wurde. Ich ließ sie mir auf der Netzhaut des linken Auges anzeigen, während ich zum Duschen ging.
Sorana vermisste ich jetzt schon. Irgendwie herrschte in der Wohnung ein anderes Fluidum, wenn sie auch dort war. Selbst wenn wir uns gar nicht die ganze Zeit miteinander beschäftigten.
Noch ein paar Wochen und du bist 100 Jahre alt, ging es mir durch den Kopf. Ein Mann in den besten Jahren, so sagt man. Kein besonderes Ereignis, aber Zahlen haben ihre eigene Magie. Ich kenne einige, für die das Erreichen eines dreistelligen Alters ein erster Anlass war, zurückzublicken, in gewisser Weise Bilanz zu ziehen. Was habe ich erreicht, was soll die Zukunft bringen?
Ich hatte die letzten Jahrzehnte dazu genutzt, einen bescheidenen Wohlstand zu erreichen. Die Wege, auf denen mir das gelungen war, waren nicht unbedingt immer gerade gewesen. Als Söldner, Geheimagent und Industriespion hatte ich oft genug meinen Kopf hingehalten. Jetzt wollte ich etwas kürzer treten. Privatagent, so nannte ich meinen Beruf. Ich führte hin und wieder noch Spezialaufträge aus. Mal waren es Ermittlungstätigkeiten, mal Industriespionage. Letzteres wurde nach wie vor am besten bezahlt, auch wenn es das höchste Risiko beinhaltete. Klar, dass sich jemand mit meinem Lebenslauf eine Menge Feinde gemacht hatte. Mächtige Feinde, die sich nicht scheuten, einem ihre Killermeute auf den Hals zu hetzen. Schon deswegen war ich immer wieder gezwungen gewesen, meine Identität zu wechseln. Auch jetzt war ich jederzeit darauf vorbereitet. Ein paar Handgriffe und ich war ein ganz anderer, hatte die dazugehörigen halborganischen Fingerkuppen und Bio-Kontaktlinsen, die jeden Iris-Scanner in die Irre führen konnten. In unserem gesegneten 35. Jahrhundert konnte man sich kaum einen Schritt bewegen, ohne sich auf irgendeine Art identifizieren zu müssen. Alles war codiert, Signale des CyberSensor wurden mit den gescannten Fingerprints oder Iris-Diagrammen abgeglichen und wehe, etwas passte da nicht zusammen.
Ich ging in mein Büro und aktivierte die Fensterwand, bevor ich mich in einen der Ledersessel flezte. Mein Blick streifte über die fernen Ruinen von Alt-B. Ein Turm ragte hoch empor. Ich hatte mich immer schon gefragt, ob das vielleicht ein Überbleibsel von LA SAGRADA FAMILIA war, einer Kathedrale, die ein antiker Architekt mit dem Namen Antonio Gaudi einst geschaffen hatte.
Möglich wäre es, überlegte ich. Aber man hätte an Ort und Stelle genauere Untersuchungen anstellen müssen. Dann wäre es eine Kleinigkeit gewesen, das genau festzustellen. Aber es gab niemanden, der sich zur Zeit nach Alt-B traute. Davon mal abgesehen war die frühterranische Archäologie und Geschichte ohnehin ein Stiefkind der Wissenschaft. Wer Karriere machen wollte, suchte sich andere Gebiete, um sich gegenüber der Konkurrenz hervortun zu können. Wen interessierten schon diese alten Steinhaufen, von denen die Erde nur so übersät war? Das Leben auf dem Festland war in den letzten dreihundert Jahren immer unmoderner geworden. Und gegen diesen Trend war wohl kein Kraut gewachsen.
In gewisser Weise sind sie zu beneiden, diese Leute aus dem OutlawSector, ging es mir durch den Kopf. Bei ihnen gab es jedenfalls all diese Identitätskontrollen nicht. Die wildesten Geschichten waren über die OS-Leute in Umlauf. Das meiste davon stimmte noch nicht einmal im Ansatz. Ich selbst war bereits in einer diese OutlawSectors gewesen. In Old L.A.. Ich hatte ein paar gute Bekannte dort, bei denen ich eine Weile verbracht hatte. Das war bereits ein paar Jahre her gewesen. Ich hatte von einem Augenblick zum anderen verschwinden müsen, weil ich dem Boss eines mächtigen Kartells bei meinen Ermittlungen zu sehr auf die Füße getreten war und zusätzlich noch dafür gesorgt hatte, dass ein milliardenschweres Patent an die Konkurrenz ging.
Ich drehte mich in dem Ledersessel herum. Es handelte sich um ein Stück, das antiken Vorbildern nachempfunden war. Auf Alpha Centauri 2 gab es einen Hersteller, der sich auf Mobiliar aus der irdischen Prä-Weltraum-Ära spezialisiert hatte. Ein paar Augenblicke lang überlegte ich, ob ich mir einen alten Kino-Film aus dem zwanzigsten oder 21. Jahrhundert ansehen sollte. Natürlich in der primitiven 2-D-Originalfassung, wie es sich für einen echten Antik-Freak gehörte. Ich hatte mir dafür eine Original-Leinwand in die Wohnung geholt. Aber dann stand mir der Sinn doch mehr nach einem Gleiter-Rundflug über die weitgehend unbesiedelte iberische Halbinsel.
Zu meiner Wohnung gehörte neben einer eigenen Transmitter-Station auch ein separater Gleiter-Hangar mit mehreren Fahrzeugen für unterschiedliche Zwecke.
Ich durchschritt das Schott, der den Hangar vom Rest meiner Residenz trennte.
Die Schiebetür teilte sich, ich machte einen Schritt. Irgendetwas warnte mich. Eine Art unterbewusster Instinkt für Gefahr. Vielleicht war es auch die Bewegung, die ich aus den Augenwinkeln herum wahrnahm. Und das eigenartige Geräusch. Hier stimmte etwas nicht. Die beiden Hälften des Schiebeschotts rasten auf mich zu. Ich warf mich nach vorn, während die beiden Hälften mit einem krachenden Laut gegeneinanderstießen. Dies geschah mit einer geradezu mörderischen Heftigkeit.
Ich hatte mich einigermaßen auf dem Boden abrollen können und rappelte mich wieder auf.
"Systemkontrolle", forderte ich. Mein CyberSensor würde den Wohnungsrechner ansteuern und nach Fehlfunktionen im Programmbereich untersuchen.
Es hatte nicht viel gefehlt und die Tür wäre zu einer Todesfalle für mich geworden. Fehlfunktionen kamen vor – aber andererseits ...
Sie waren extrem selten. Vor allem in einer ziemlich perfekt organisierten Stadt mit erhöhtem Komfortniveau wie Barcana.
Ich atmete tief durch, registrierte dabei die Anzeige, die mir in dieser Sekunde im linken Auge angezeigt wurde und mich über den Fortschritt der Überprüfung informierte.
>Es wurde eine Störung im Programmsektor WACMXXX festgestellt.>
"Bitte genauer identifizieren."
>Genaure Identifizierung bislang nicht möglich>, erklärte mir die Pseudostimme in meinen Hörnerv hinein. >Fehler beheben und Untersuchung der Ursache fortsetzen?>
"Ja."
>Sie befinden sich im Gleiter-Hangar. Von einer Benutzung der Gleiter wird abgeraten, so lange der aufgetretene Fehler nicht behoben ist.>
"In Ordnung. Aber vielleicht könntest du dafür sorgen, dass der Schott wieder passierbar ist. Ich bin hier ja gewissermaßen gefangen", erwiderte ich. Und dabei fiel mir ein, dass ich soeben ein Computerprogramm mit 'du' angeredet hatte. Wie eine Person, obwohl es sich eigentlich um nichts weiter als eine Folge codierter Befehle handelte. Es gab Leute, die ihren Systemen Namen gaben. Ich gehörte nicht dazu.
Irgendwie ist deine Haltung nicht ganz konsequent, meldete sich eine sarkastische Stimme in mir. Wer der Meinung ist, dass es zwischen Maschinen und biologischen Lebewesen eine natürliche Grenze gibt, sollte nicht mit einem CyberSensor im Nacken herumlaufen ...
Das SYSTEM meldete sich einige Augenblicke lang nicht.
Niemand kitzelte meine Hörnerven.
Auch auf dem Anzeigenfeld in meinem linken Auge tat sich nichts.
Mir war nicht klar, ob ich das für ein gutes oder ein schlechtes Zeichen halten sollte.
Dann öffnete sich plötzlich der Schott.
Er ruckelte eigenartig dabei und blieb dann schließlich offen.
>Sie können passieren. Der Fehler ist behoben.>
"Und das Analyseergebnis?"
>Noch unklar. Wollen Sie die Protokolle angezeigt haben?>
"Später."
Ich passierte den Schott mit einem schnellen Schritt. Die beiden Hälften bewegten sich nicht dabei, was ich für ein gutes Zeichen hielt.
Ich ging zurück ins Büro und aktivierte eine der alten 2-D-Fassungen von THE MALTESE FALCON, einem uralten Film aus dem zwanzigsten Jahrhundert, bei dem sich die Experten darüber stritten, ob er nun aus künstlerischen Gründen in Schwarzweiß gedreht worden war oder nur deswegen, weil der Aufwand an finanziellen Ressourcen für einen Farbfilm zu groß gewesen wäre. Denn dass der Farbfilm um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bereits erfunden gewesen war, das galt als allgemeine Lehrmeinung der Historiker. Aber vielleicht hatten ja auch die Außenseiterpositionen recht, die behaupteten, dass man den Farbfilm erst im einundzwanzigsten Jahrhundert erfunden hatte und alles, was an archäologischen Gegenbeweisen die Jahrtausende in irgendwelchen Datenspeichern überdauert hatte, in Wahrheit nachträglich koloriert worden war.
Ich blickte auf die Leinwand und verfolgte die Geschichte um den zwielichtigen Detektiv Sam Spade, die noch zwielichtigere Bridgid O'Shaughnessy und einen komischen angemalten Vogel, der für alle Beteiligten von unschätzbarem Wert war. Angeblich war der Film gar nicht die erste Fassung dieses Stoffes. Es sollte ein Roman von einem gewissen Dashiell Hammett existiert haben, der der Verfilmung zu Grunde gelegen hatte. Aber das war kaum mehr als eine Legende, für die es bislang nicht den Hauch eines Beweises gab.
Das SYSTEM meldete sich über die Anzeige in meinem linken Auge.
So wie ich gerade saß und auf die Leinwand sah, überdeckte die Meldung des Systems den Hut von Sam Spade.
>Sämtliche Fehlfunktionen sind behoben. Ursache der Störung war ein eingeschleustes reproduktionsfähiges Fremdprogramm.>
"Ein Virus ...", murmelte ich.
>Die fremden Programmkomponenten konnten sämtlich entfernt werden. Mit weiteren Fehlfunktionen ist nicht zu rechnen. Alle Programme arbeiten wieder einwandfrei.>
"Gut", nickte ich zufrieden.
Währenddessen sah ich auf dem gewohnt wackeligen Bild auf der Leinwand ein paar Schlieren. Aber die hatten nichts mit irgendwelchen Systemfehlern oder Viren zu tun. Diese Schlieren machten den Reiz des alten 2-D-Materials aus und zeigen an, dass es sich nicht um eine Fake-Datei handelte, wie man sie manchmal als preiswerte Sonderangebote in GalaxyNet-Flohmärkten angeboten bekam.
Ich saß da, grübelte etwas darüber nach, wieso man in den zweieinhalb Jahrtausenden seit Erfindung des Computers kein wirksames Mittel gegen Viren erfunden hatte, dachte an Sorana und die vergangene Nacht und fragte mich, ob ich mein Leben in Zukunft einfach so weiter laufen lassen sollte wie bisher oder ob es nicht an der Zeit war, etwas zu ändern. Eine ziemlich bunte Mischung von Gedanken und Empfindungen, die sich da gegenseitig überlagerten, dazwischen die federnden Dialoge aus THE MALTESE FALCON, die großen Augen von Joel Cairo, der von einem Mann namens Peter Lorre gespielt worden war; dazu das dicke feiste Gesicht von jemandem, der sich Gutman nannte und die grauen Eminenz im Hintergrund darstellte.
Irgendwann meldete mir meine Sichtanzeige im linken Auge Besuch. Die Buchstaben verdeckten Humphrey Bogarts alias Sam Spades V-förmiges Gesicht.
Ein gewisser Palmon Jarvus aus New Manhattan wollte mich sprechen.
Persönlich und ...
... corporal!
Ich gab ihm die Erlaubnis, mein Transmitterportal anzusteuern und deaktivierte THE MALTESE FALCON.
Wenn jemand mich in meinem Büro aufsuchen – und nicht nur über Bildschirm, Holoprojektion oder im Cyberspace mit mir sprechen wollte – dann musste es um etwas sehr Wichtiges gehen. Bei den Klienten, die meine Dienste suchten, war das durchaus keine Seltenheit. Die meisten wollten absolute Diskretion, so weit die überhaupt zu gewährleisten war. Sie wollten verhindern, dass irgenwelche Datenströme unterwegs von interessierter Seite herausgefiltert wurden.
Auf einer der Wände ließ ich mir das Transmitterportal meiner Wohnung anzeigen. Konturen bildeten sich. Ein hagerer Mann mit deutlich hervortretenden Wangenknochen materialisierte und trat aus dem Flimmerlicht des Transmitters heraus.
>Der Ankömmling ist unbewaffnet>, meldete mir das SYSTEM.
"Er soll hereinkommen."
Augenblicke später trat Palmon Jarvus aus New Manhattan ein.
"Schön, dass Sie Zeit für mich haben, Morley!", erklärte er.
Ich deutete auf einen der Ledersessel.
"Bitte, nehmen Sie Platz, Jarvus!"
"Danke."
Er setzte sich und schlug die Beine übereinander. Sein Gesicht wirkte angespannt. Er tickte nervös mit den Fingern auf der Armlehne herum.
"Es muss einen wichtigen Grund dafür geben, dass es Ihnen nicht genügt, meinem Cyber-Ich zu begegnen", stellte ich fest.
"Ja, das ist wahr", sagte er. "Sie sind jemand, der auch heikle Aufträge zuverlässig ausführt ..."
"Darf ich fragen, wer Ihnen meine Adresse gegeben hat?"
"Um ehrlich zu sein: Ich habe sie mir selbst beschafft."
"Ach ..."
"Ich bin Management-Mitarbeiter der Firma GADRAM. Sie erinnern sich vielleicht. Vor etwa einem Jahr haben Sie für GADRAM ein sehr schwerwiegendes Problem – wie soll ich mich da ausdrücken? – gelöst."
"Ich erinnere mich. Aber eigentlich hatte ich mit GADRAM abgemacht, dass außer meinem Kontaktmann niemand etwas von mir erfährt."
"Das ist auch nicht geschehen."
"Offenbar sind meine Daten aber immer noch in den GADRAM-Speichern abrufbar."
"Nur in geheimen Speicherbereichen."
"Auch das entsprach nicht den Abmachungen."
"Ich bedaure, aber dafür bin ich nicht verantwortlich."
"Mag sein. Aber es ist trotzdem ärgerlich. Und besonders geheim scheinen die erwähnten Speicherbereiche ja auch nicht zu sein – schließlich sind Sie an die entsprechenden Informationen ja problemlos herangekommen."
Jarvus lächelte dünn. "Problemlos nicht, aber mit gewissen Tricks. Und mit gewissen Tricks könnte ich auch dafür sorgen, dass Ihr Datenmaterial völlig aus den GADRAM-Speichern verschwindet."
"Ah, daher weht also der Wind!"
"Nein, Sie missverstehen mich. Ich will Sie nicht erpressen, Morley! Ganz bstimmt nicht. Ich biete Ihnen lediglich meine Hilfe an. Das ist alles. Für die Erfüllung Ihres Auftrages werden Sie von mir gut bezahlt."
"Was bedeutet 'gut'?"
"Sie bekommen 200 000 Galax."
Ich hob die Augenbrauen.
Das war wirklich ein sehr beachtliches Honorar, mehr als ich damals bekommen hatte, als ich für GADRAM ein Verfahren des Konkurrenzunternehmens BARETTO zur Optimierung von CyberSensoren gestohlen hatte und dabei um ein Haar vom Security Service umgebracht worden war.
Ich konnte nur dafür beten, dass BARETTO niemals meine Identität herausbekam.
In dem Fall war ich so gut wie tot.
Leider hatten BARETTO und GADRAM ihre Zentralen gegenseitig mit Spionen durchsetzt, so dass ich befürchten musste, dass BARETTO doch irgendwann in den Besitz meiner Daten gelangte, mochten die Sektoren in den GADRAM-Rechnern, in denen sie gespeichert waren, auch noch so geheim sein. Es war nur eine Frage der Zeit.
Diee verdammten Hunde!, durchzuckte es mich. Ich hätte es wissen müssen, dass sie eine krumme Tour versuchten!
Jarvus sprach es nicht aus, aber ich zweifelte keine Sekunde daran, dass ihm meine Zwangslage vollkommen bewusst war. Um ganz sicher zu gehen, dass sie MIR bewusst war, hatte er mich noch einmal sehr nachdrücklich darauf hingewiesen.
Vielleicht war er es sogar, der seinerzeit die endgültige Löschung ALLER Daten, die mit der Aktion in Zusammenhang standen, verhindert hat, überlegte ich. Die Möglichkeit dazu hätte er vermutlich gehabt.
Ich erhob mich aus meinem Sessel, lehnte mich mit der Hüfte gegen eine Konsole und verschränkte die Arme.
Es war sinnlos, darüber nachzugrübeln. Ich war in seiner Hand, je gründlicher ich mir das eingestand, desto besser. Und offensichtlich war Jarvus daran gelegen, mir tatsächlich eine goldene Brücke zu bauen. 200 000 Galax. Das war wirklich außergewöhnlich.
"Worin besteht der Auftrag?", fragte ich.
"Es geht um eine rein private Sache."
"Es hat nichts mit GADRAM oder BARETTO zu tun?"
"Nein."
Um so besser, dachte ich.
"Schießen Sie los."
"Wie bitte?"
"Oh, sorry, eine alte Redewendung, wie sie in antiken 2-D-Filmen manchmal verwendet wird."
"Ach so. Wie man hört, ist das alte Zeug ja wieder mächtig populär geworden."
"Nur innerhalb einer kleinen Szene von Freaks", korrigierte ich etwas ungeduldig. Ich hatte nämlich nicht die geringste Lust, mit meinem Gegenüber weiter Smalltalk zu führen. Jarvus hingegen zögerte noch, mir seine Karten auf den Tisch zu legen. Er schien Zeit gewinnen zu wollen, um sich letztendlich zu entscheiden, inwieweit er mir vertrauen wollte.
Du sitzt genau so in der Falle wie ich!, ging es mir durch den Kopf, während ich Jarvus' Gesichtsausdruck studierte. Was würdest du tun, wenn ich mich aus der Sache einfach raushalten, meine Sachen packen und untertauchen würde? Wahrscheinlich hast du keine Ahnung, wie schnell das geht ...
Ich war jederzeit darauf vorbereitet.
Allerdings gefiel mir der Gedanke nicht.
Schon Soranas wegen. Ich hing sehr an ihr und vermutlich hätte das eine Trennung bedeutet. Zumindest für eine Weile.
"Haben Sie schonmal etwas von der Kirche des reinen Lichts gehört?", fragte er.
Ich zuckte die Achseln.
"Nein, tut mir leid."
"Es handelt sich um eine radikale Sekte, die gewisse astronomische Gegebenheiten so interpretiert, dass das Ende des Universums unmittelbar bevorstünde. Der Kosmos, so die Lehre dieser Leute, stehe kurz vor einer Art Transformation in einen anderen Daseinszustand, den aber natürlich nur die Jünger des reinen Lichts erreichen können. Alle anderen Menschen gehören zur sogenannten satanischen Sphäre und werden als seelenlose Diener des Bösen angesehen, die man bedenkenlos töten darf ..."
"Klingt nicht gerade besonders sympathisch."
"Dieser Sekte gehört die Pazifikinsel Makatua. Dort befindet sich das sogenannte Zentrum des reinen Lichtes. Die Insel ist von der Außenwelt abgetrennt. Es gibt keine Transmitterverbindungen und keinen AnSchluss ans GalaxyNet. All das lehnen die Jünger des reinen Lichts als Teufelszeug ab."
Ich hob die Augenbrauen.
"Worin besteht jetzt meine Aufgabe?", hakte ich nach.
Jarvus presste die Lippen aufeinander. Sein Gesicht bekam einen starren Ausdruck. "Mein Sohn ist auf dieser Insel. Sie sollen ihn dort herausholen."
"Ist Ihr Sohn Mitglied dieser Licht-Jünger?"
"Ja. Wissen Sie, diese Leute versprechen einem die Geborgenheit einer Gemeinschaft und die Gewissheit, zu den Auserwählten zu gehören, das wirkt auf labile Persönlichkeiten äußerst attraktiv."
Ich hob die Schultern. "Wie stellen Sie sich das vor? Ich soll Ihren Sohn von Makatua entführen und dann zu Ihnen nach New Manhattan bringen?"
"Es ist ihm gelungen, eine Botschaft abzusenden."
"Ich dachte, es gäbe dort keine Verbindung zum Netz."
"Er verwendete das Navigationssystem eines Gleiters. Darauf können selbst diese Fanatiker nicht verzichten. Brondin, mein Sohn, unternahm offenbar einen Fluchtversuch und wurde dabei von Lichtjüngern gestellt. Morley, er will die Insel verlassen und wird dort gefangengehalten. Diese Sekte ist berüchtigt dafür, austrittswillige Mitglieder einzuschüchtern. Angeblich soll es sogar Fälle von Gehirnwäsche und Mord geben."
"Sie verzeihen es einem einfach nicht, wenn man sich vom rechten Glauben abwendet", stellte ich fest.
"Sie sagen es, Morley. Glauben Sie mir, Brondin ist in akuter Gefahr!"
"Warum gehen Sie nicht zur Polizei?"
"Ich habe mich beraten lassen. Seit Einführung der sogenannten Toleranzgesetze gibt es so gut wie überhaupt keine legale Zugriffsmöglichkeit auf Makatua."
Ich ging etwas auf und ab, aktivierte über den CyberSensor eine Fensterwand. Der Anblick des Meeres half mir bei der Konzentration.
Hatte ich überhaupt eine andere Wahl, als den Auftrag anzunehmen.
Warum zögerst du?, meldete sich eine leicht sarkastische Stimme in meinem Inneren. Du hast ohnehin keine Wahl.
Ich war alles andere als begeistert von der Aussicht, eine Insel anzufliegen, auf der ich praktisch Freiwild für die Angehörigen einer Sekte war.
Und die Methoden dieser Lichtjünger schienen alles andere als zimperlich zu sein. Vorausgesetzt, die Informationen, die Jarvus mir gegeben hatte, stimmten. Ich würde jeden Halbsatz davon zunächst genauestens überprüfen, bevor ich einen Gleiter bestieg, um den armen Brondin herauszuhauen.
"Okay", sagte ich also, "ich werde diesen Auftrag annehmen."
"Sie wissen nicht, was für ein Stein mir da vom Herzen fällt. Haben Sie Kinder?"
"Sie müssen nicht mehr über mich wissen, als unbedingt nötig", erwiderte ich kühl.
"Wie auch immer. Vielleicht haben Sie ja Fantasie genug, um sich vorstellen zu können, wie es in einem aussieht, wenn ein Mensch, der einem sehr nahesteht, zu Grunde gerichtet wird."
"Ich brauche sämtliche relevanten Daten über Ihren Sohn und diese Lichtjünger", erklärte ich.
Jarvus nickte. Er griff in eine Tasche, die sich am Gürtel seiner Kombination befand, holte einen etwa daumengroßen Datenträger hervor, den er mir übergab.
"Ich dachte, diese Dinger werden schon gar nicht mehr hergestellt", meinte ich.
"Ich wollte vermeiden, dass später irgendein Datenstrom zwischen unseren Systemen nachweisbar ist.
"Ich verstehe ..."
Durch einen Gedankenbefehl über den CyberSensor aktivierte ich den Datenträger. Eine winzige 3-D-Projektion der Insel Makatua erschien.
"Das ist alles, was ich in Erfahrung bringen konnte. Die persönlichen Daten meines Sohnes sind natürlich enthalten."
"Inklusive von Identifizierungsmustern für Bio-Scanner?"
"Ja."
"Sorgen Sie dafür, dass die 200 000 Galax meinen Konto gutgeschrieben werden. Anschließend beginne ich mit der Vorbereitung der Aktion."
"Ich kann die Summe sofort anweisen."
"Über Ihren CyberSensor? Tun Sie das bitte erst, wenn Sie wieder in New Manhattan sind."
"Ah, ja. Ich vergaß! Die Spuren ..."
"Genau."
"Schließlich soll später niemand nachweisen können, dass ich jemals hier war. Das Geld wird zur Tarnung ein paar Umwege nehmen müssen, aber Sie können sich darauf verlassen, dass es ankommt."
"Das freut mich."
Jarvus erhob sich, trat dann etwas näher an mich heran.
"Ich möchte Sie beschwören, die Aktion so schnell wie möglich zu starten! Sonst kann es für Brondin zu spät sein. Wer weiß, was sie inzwischen schon alles mit ihm angestellt haben!"
"Ich lasse mich nicht drängen", erwiderte ich mit Bestimmtheit. "Die Sache muss sehr sorgfältig vorbereitet werden. Das Schlimmste, was Ihrem Sohn passieren könnte wäre ein Scheitern der Aktion."
Er nickte leicht.
In seinen Augen flackerte es unruhig. Dieser Mann hatte Angst.
"Ich verlasse mich auf Sie, Morley", flüsterte er.
"Und ich hoffe, dass Sie Ihr Versprechen nicht vergessen, meine Daten diesmal wirklich aus den GADRAM-Rechnern zu löschen."
"Keine Sorge!"
Ich zuckte die Achseln.
"Das sagt sich leicht ..."
Wir verabschiedeten uns. Er ging hinaus zum Transmitter. Ein paar Sekunden später war er entmaterialisiert. Ich rief unterdessen über meinen CyberSensor das SYSTEM der Wohnung auf. "Bitte den Inhalt des Datenträgers in meiner Hand überprüfen", befahl ich.
*
Ich besorgte mir alles, was an Informationen über die sogenannte Kirche des reinen Lichtes gab, dazu natürlich genaueste geographische Daten über die Insel Makatua, die einen kleinen Punkt im Pazifik darstellte. Einen unter Tausenden.
Es gab ein sensorisches Ortungsfeld, das die Insel wie eine Käseglocke umgab und es mehr oder weniger unmöglich machte, irgendwo unbemerkt mit einem Gleiter zu landen. Jedes sich bewegende Objekt wurde registriert. Die religiös motivierte Ablehnung der Technologie hatte bei der Kirche des reinen Lichtes offenbar ein paar signifikante Ausnahmen.
Da würde ich mir was überlegen müssen.
Ich überprüfte auch den Lebenslauf meines Klienten sowie seines Sohnes Brondin. Ich wollte einfach wissen, mit wem ich es zu tun hatte. Dabei verließ ich mich nicht nur auf das Datenmaterial, das sein Vater mir überlassen hatte, sondern hackte mich auch in diverse Datenbanken ein, bei denen ich vermuten konnte, etwas über Brondin Jarvus zu finden. Er war 19 Jahre alt, hatte die staatlichen Hypnoschulungen nicht bis zu Ende absolviert und war wegen Besitzes illegaler Drogen mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Dem Einfluss seines Vaters war es zu verdanken gewesen, dass er glimpflich davongekommen war.
Brondins Mutter war durch eine Transmitterfehlfunktion ums Leben gekommen. Seitdem war Brondin in psychologischer Behandlung gewesen.
Geborgenheit und die Wärme einer Gemeinschaft hatte er dann bei der Kirche des reinen Lichtes zu finden gehofft. Aber der verzweifelten Mail nach, die er von Makatua aus an seinen Vater geschickt hatte, war das ein Trugschluss gewesen.
Am Nachmittag schlief ich ein paar Stunden, dann bekam ich eine Nachricht von Sorana.
"Tut mir leid, ich muss hier wohl noch einen Tag länger bleiben", meinte sie. "Es gibt hier etwas mehr zu tun, als ich ursprünglich gehofft habe ..."
"Ich hoffe, du meinst nur einen Erdtag, keinen Tywyn-Tag", erwiderte ich, denn Tywyn brauchte ganze 96 Stunden, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen.
Sie lächelte sanft. "Ich meine einen Erdtag", versicherte sie mir.
Ich sah sie vollkommen realistisch vor mir.
Sie – oder besser gesagt ihr Cyber-Ich.
Die Signale, die mein CyberSensor erhielt, gaukelten das zumindest meinen Sehnerven vor. Nur eine winzige Anzeige ganz unten links im Gesichtsfeld meines linken Auges wies mich darauf hin, dass es sich um eine Datenübertragung handelte.
Ich ging auf sie zu, berührte sie, aber meine Hand glitt duch ihre Schulter hindurch.
"Tut mir leid", sagte sie, "aber die Kapazität dieser Hyperfunkfrequenz scheint für eine taktile Illusion nicht auszureichen."
"Schade."
"Ich scheine gerade eine Rush Hour-Zeit erwischt zu haben, dann kann es schon mal derartige Probleme im GalaxyNet geben, wenn man auf große Entfernung sendet."
Unsere Hände – oder besser: die Hände unserer Cyber-Ichs – berührten sich, aber es entstand keine taktile Empfindung dabei. Sie überlagerten sich wie übereinander projizierte 2-D-Filme aus dem zwanzigsten und einundzwanzigten Jahrhundert.
Ich ahnte in diesem Moment nicht, dass diese flüchtige Begegnung unsere letzte war.
Noch Jahre später wiederholte sich diese Szene Nacht für Nacht in meinen Träumen.
Dieses Lächeln.
Dieser letzte Blick.
*
Die Tür des Gleiter-Hangars funktionierte einwandfrei. Ich nahm mir den Langstreckengleiter vom Typ VXR, der neben der Fahrerkabine auch noch zwei Schlafkabinen aufwies. Außerdem hatte ich ein Lasergeschütz einbauen lassen, dass verdeckt angebracht war, so dass es optisch nicht auffiel. Elektromagnetische Störsignale verhinderten auch weitgehend, dass jeder x-beliebige Ortungsscanner auf das Ding aufmerksam wurde.
Ich wechselte meinen CyberSensor aus, zog halborganische, enganliegende so gut wie unsichtbare Handschuhe an, die meine Handlinien und Fingerabdrücke veränderten, und legte außerdem Kontaktlinsen mit veränderten Iris-Mustern an. Ich hatte jetzt die Identität eines anderen angenommen. Tom Forano, wohnhaft in Mars Port, Mars, 77 Jahre alt, wie mir die Anzeige verriet, als ich den anderen CyberSensor in die kleine, steckerartige Öffnung an meinem Nacken eingeführt hatte. Wenn es jemandem gelang, die Datenströme an Bord des Gleiters abzuhören, sollte die Spur nicht gleich zu einem gewissen Dak Morley aus Barcana, Erde führen. Selbst an die identifizierbaren Stimmmuster hatte ich gedacht. Der Rechner des Gleiters war so programmiert, dass er mein Stimmmuster in das von Tom Forano umwandelte, bevor er mit einer internen Abfrage meine Autorisierung zur Lenkung dieses Gleiters festellte. Wenn also irgend etwas schiefging und man die Überreste des VXR aus dem Pazifik fischte, so würde die Polizei dann feststellen, dass der Gleiter nur von einem Mann gelenkt worden sein konnte, dessen Stimme nicht die leiseste Ähnlichkeit mit dem Organ eines gewissen Dak Morley besaß.
Und dasselbe würde für Handlinienmuster, Fingerprints und Iriserkennung gelten.
(Seit den massiven Fortschritten der plastischen Chirurgie war man glücklicherweise schon vor einigen Jahrhunderten davon abgekommen, das Gesicht als Hauptidentifizierungsmerkmal eines Menschen zu betrachten).
Sorana würde meinen abgelegten Dak-Morley-CyberSensor nicht erreichen können. Ich hoffte nur, dass sie genug zu tun hatte, um sich keine Sorgen zu machen. Ich bedauerte es, dass ich ihr nichts über den Job hatte sagen können, den ich übernommen hatte. Aber das Risiko wäre einfach nicht vertretbar gewesen. Hyperfunkverbindungen abzuhören war nun wirklich ein Kunststück für Amateure.
*
Die Pazifikinsel Makata tauchte aus dem Licht der Morgendämmerung auf. Ein kleines Paradies, das sich die Kirche des reinen Lichts als ihren Hauptsitz ausgewählt hatte. Wie ein blaues Auge leuchtete eine große Lagune. An dieser Lagune befand sich eine Siedlung aus kuppelförmigen Gebäuden. Eckige Formen wurden von der Kirche des reinen Lichtes als satanisch abgelehnt. Nur das Runde sei in Harmonie mit dem Kosmos.
Ich hielt den Gleiter außerhalb des Ortungsfeldes, dass Makatua umgab und schaltete ihn auf Autopilot. Das Rechnersystem übernahm die Steuerung und ließ das Gefährt ein wenig herumkreisen.
Du kannst von Glück sagen, dass es keinen Hochenergieschild um Makatua gibt!, rief ich mir ins Gedächtnis.
Aber Hochenergieschilde waren seit hundertdreißig Jahren auf der Erde verboten. Seit der Katastrophe von Dar-es-Sahara, die um ein Haar dazu geführt hatte, dass die Erdatmosphäre nahezu ihren gesamten Sauerstoff verlor. Aber das war lange her und ich war froh in einer Zeit zu leben, in der die Vernunft zumindest in diesem einen Punkt gesiegt hatte.
Jetzt musste ich nur einen Weg finden, das Ortungssystem von Makatua auszutricksen.
Aber da hatte ich mir schon etwas überlegt.
Ich rief das SYSTEM des Gleiters auf.
"Bitte Makatua nach den Biomustern von Brondin Jarvus abscannen", forderte ich in die Stille hinein, die um mich herum herrschte.
Der Betrieb des Gleiters verursachte so gut wie keinen Laut.
Mir fiel der schreckliche Krach ein, den Fahrzeuge früherer Zeiten verursacht hatten. Nach wie vor war es allerdings umstritten, ob der Krach eines Automobils, wie er in den 2-D- Filmen jener Zeit dokumentiert wurde, wirklich durch das Fahrzeug verursacht wurde oder es sich um Datenfehler auf den Akustik-Files handelte.
Ich aktivierte ein Holodisplay, das ein exaktes 3-D-Abbild der Insel zeigte. Eine Anzeige informierte mich über den Fortschritt bei der Suche nach Brondin Jarvus' Biomustern.
Die Suchgeschwindigkeit war auf das niedrigste mögliche Level eingestellt. Ansonsten bestand nämlich die Gefahr, dass der Scanvorgang unten auf Makatua bemerkt wurde.
Ich wartete, ging ungeduldig auf und ab. Dann kam endlich das erlösende Signal. Brondin war gefunden. Auf der Darstellung des Holodisplays wurde seine Postion genau markiert. Er befand sich im größten der insgesamt etwa ein dutzend Kuppelbauten.
Ich vergrößerte die Darstellung.
Selbst die Einteilung der Räume war jetzt erkennbar. Brondin wurde in einer Art Arrestzelle gefangengehalten. Ein winziger Raum. Brondin bewegte sich nicht. Vielleicht war er gefesselt oder schlief.
"Scan-Daten in den internen Speicher des CyberSensor von ...", ich musste mich einen Moment konzentrieren, damit mir der Name wieder einfiel, den ich zur Zeit trug, "... von Tom Forano laden."
"Wird ausgeführt", sagte die Stimme des SYSTEMs. Diesmal nicht als Pseudo-Voice, die nur eine Kitzelei meiner Hörnerven mit entsprechenden Impulsen war, sondern als Kunststimme aus einem Lautsprecher. Hier im Gleiter hatte ich das SYSTEM so konfiguriert. Den eigentlichen Grund dafür konnte ich nicht mehr angeben. Vielleicht stand der unbewusste Wunsch dahinter, doch nicht ganz allein bei so einer Mission zu sein. Andererseits wäre die Illusion der Pseudostimme eigentlich perfekt genug gewesen, um denselben Effekt zu erzielen.
Und doch ...
Ich beschloss, nicht länger darüber nachzudenken.
Wenn die Scan-Daten über die Anlagen auf Makatua im internen Speicher meines CyberSensors waren, konnte ich sie jederzeit in meinem Auge anzeigen lassen, ohne dafür ein Signal zum Gleiter senden zu müssen. Letzteres konnte mich ja eventuell verraten.
"Frage: Gibt es auf Makatua einen Transmitter?", wandte ich mich an das SYSTEM.
"Positiv", sagte die Kunststimme. Sogleich wurde die Transmitterstation auf der Holo-Darstellung markiert.
"Gibt sonst irgendwelche Verbindungen zur Außenwelt?"
"Negativ. Keine Datenverbindungen, kein Zugang zum GalaxyNet, keine Hyperfunkverbindungen."
Die Transmitterstation war also so etwas wie das Tor zur Welt, das die Angehörigen der Kirche des reinen Lichtes unterhielten. Eine Art Hintertür, mehr nicht. Vielleicht kamen über diese Station die Neuankömmlinge hier her.
"Programm CXA aktivieren", befahl ich. Das war ein illegales Hackerprogramm. Ein guter Bekannter hatte es für mich entwickelt. Ich wollte damit in den Rechner der Transmitterstation hineinkommen und es gab eigentlich kein Argument, das dagegen sprach.
Es musste möglich sein.
Das CXA-Programm arbeitete nach einem uralten, sehr einfachen und nach wie vor äußerst wirksamen Prinzip. Es mied die gut gesicherten 'Haupteingänge' eines Systems und konzentrierte sich darauf, Sicherheitslücken auf Nebenrechnern zu finden. Dort wurde auf Sicherheit nicht so geachtet und es war eigentlich nur eine Frage der Statistik, wann man auf einen Rechner stieß, dessen Codes noch Werkseinstellung aufwiesen, weil sich niemand die Mühe gemacht hatte, sie bis in die letzte Kleinigkeit hinein zu konfigurieren. In diesem Fall war diese 'Hintertür' in New L.A., wo die Kirche des reinen Lichtes eine Dependance besaß, mit der sie über Transmitter verbunden war.
"Kontrolle der Transmitterstation auf Makatua herstellen?", fragte das SYSTEM.
"Noch nicht", erwiderte ich.
Ich legte einen Deflektor-Gürtel an. Man konnte damit einen Deflektor-Schirm aktivieren, der den Träger unsichtbar machte. Der Schirm projizierte für einen Betrachter die perfekte Holographie des Hintergrundes, so dass der Träger des Schirms nicht zu sehen war. Allenfalls bei ruckartigen Bewegungen (und bei mangelhafter Rechnerleistung des Deflektors) konnte der Betrachter eventuell eine Art Zittern oder den Eindruck einer Kontur erkennen.
An den dafür vorgesehenen Magnethalterungen an meiner Kombination befestigte ich einen Nadler und einen Strahler.
Der Strahler war auf Betäubung eingestellt.
Ich hoffte, dass ich niemanden töten musste.
Zu meiner Ausrüstung gehörten außerdem noch ein Magnet-Schocker und ein Decoder für elektronische Schlösser.
Darüber hinaus schnallte ich mir noch einen zweiten Deflektor-Gürtel um, den ich vorerst nicht zu aktivieren gedachte. Er war für Brondin Jarvus bestimmt. Schließlich musste ich ihn ja irgendwie aus seinem Gefängnis herausholen können, ohne dass er dabei zur Zielscheibe wurde.
Ich wies das SYSTEM an, die Kontrolle über die Transmitterstation auf Makatua in einem Augenblick herzustellen, da sich in den entsprechenden Räumen niemand aufhielt. Danach sollte der VXR-Gleiter sich so weit wie möglich vom Ort des Geschehens entfernen. So weit, dass ich ihn im Notfall noch schnell genug zur Insel beordern konnte.
"Anweisungen bestätigt", sagte die Stimme des SYSTEMs.
Ich aktivierte den Deflektor-Gürtel.
Für einen hypothetischen Beobachter wäre ich in dieser Sekunde verschwunden. Der Schirm umgab mich wie eine Glocke. Das einzige Problem war, dass der Energieverbrauch zwar verschwindend gering war, aber nicht gering genug dafür, um von entsprechenden Sensoren nicht aufgezeichnet werden zu können.
Aber das Risiko musste ich eingehen.
Ich begab mich zur Transmitterstation des VXR-Gleiters. Sie befand sich gleich neben der Toilette und war von der Quadratmeterzahl etwa gleich groß. Ich stellte mich unter den Strahler, der mich hinüberbeamen würde und wartete ab.
Dann sorgte das SYSTEM dafür, dass mein Körper sich in seine Moleküle auflöste, die dann einzeln zum Bestimmungsort transmittiert wurden, um sich dort wieder zusammenzusetzen.
Angewandte Quantenphysik, sonst nichts.
*
Ein leichtes Prickeln durchlief meinen Körper, als ich in der Transmitterstation auf Makatua rematerialisierte. Das lag an dem Deflektor-Schirm, den ich während des Beamvorgangs eingeschaltet gelassen hatte.
Ich blickte mich um, nahm den Strahler in die Rechte. Ich durfte ihn nur nicht so weit vom Körper wegstecken, dass er außerhalb des Deflektorfeldes geriet, wenn jemand dabei war.
In der Transmitterstation war ich allein.
Genau wie geplant.
Unten links in meinem Gesichtsfeld ließ ich mir den 3-D-Plan des Kuppelgebäudes anzeigen, in dem ich mich befand. Es würde kein Problem sein, mich hier zurecht zu finden.
Ich wandte mich der Schiebetür zu, die die Transmitterstation mit dem Rest des Gebäudes verband.
Die Tür reagierte nicht – obwohl die dazugehörigen Sensoren ganz sicher nicht durch einen Deflektorschirm getäuscht werden konnten.
Abgeschlossen, dachte ich.
Das war bei einer Organisation, die offenbar peinlich darauf bedacht war, dass abtrünnig gewordene Mitglieder nicht einfach in alle Winde verschwanden, auch naheliegend. Vermutlich hatten nur besonders autorisierte Personen unter den Jüngern des reinen Lichtes Zugang zur Transmitterstation.
Ich holte einen Türschlossdecoder aus der Brusttasche meiner Kombination. Innerhalb weniger Sekunden
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alfred Bekker, CassiopeiaPress
Bildmaterialien: Alfred Bekker
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2014
ISBN: 978-3-7368-2084-5
Alle Rechte vorbehalten