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Mörderferien - Das Krimi Ferien-Paket

von Alfred Bekker

 

Eine junge Frau verliebt sich und muss erkenen, dass der Mann, mit dem sie ihr Leben teilen will, ein Profi-Killer ist, der sie nach dieser Entdeckung unmöglich am Leben lassen kann. Ein Mann glaubt den perfekten Mord geplant zu haben - aber einen Faktor hat er nicht bedacht: Das Wetter. Ein in die Jahre gekommener Junggeselle lebt bei seiner Mutter. Als er endlich wieder eine Freundin findet, verschwindet diese plötzlich - so wie ihre Vorgängerinnen...

 

 

Das Krimi Ferien-Paket enthält:

2 Romane und 35 Kurzgeschichten, zusammen ca. 450 Taschenbuch-Seiten

 

Eis in den Bergen

Tod in Tanger

Ein Profi gibt nicht auf

Das linke Bein

Zum Dessert: Ein Mord

Tödliche Tropfen

Der Kopf-Abhacker

Ungebetene Gäste

Die Konkurrenten

Der einzige Mordzeuge

Kalt wie Eis

Unter Mordverdacht

Die Tote am Strand

Eine böse Überraschung

Saras Flucht

Der Verräter

Millys erster Mord

Ein Freund des Inspektors

Der Killer in den Bergen

Mörder mit Hut

Der Name des Mörders

Eine Kugel für den Kurier

Die Frau, die zuviel wusste

Sie fanden eine Leiche

Der Hollywood-Killer

Der Mörder irrte

Todesfahrt

Der Leibwächter

Der Fall Rosener

Irischer Mord

Eine Leiche im Kofferraum

Tod im See

Tot und teuer

Den Tod vor Augen

Der Klinik-Mörder

Blumen auf das Grab

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© by Alfred Bekker

© der Digitalausgabe 2014 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich (Westf.)

www.alfredbekker.de

postmaster@alfredbekker.de

 

 

Eis in den Bergen

Kurz-Krimi

Eine Villa in der Münchener Rauheckstraße, ein Ferienhaus mit Aussicht auf einen idyllischen Bergsee, nur eine halbe Stunde von der Großstadt entfernt... Dr. Anton F. Seidl fand, dass er es in den letzten Jahren zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Und das, obwohl er keinesfalls Schönheitschirurg oder Zahnarzt war - sondern Tiermediziner. Und die standen normalerweise vom Einkommen her an unterster Stelle der medizinischen Zunft, es sei denn, sie hatten sich auf das Kurieren kleinerer Wehwehchen von millionenschweren Rennpferden spezialisiert. Aber zu diesen Kreisen hatten Seidl die Beziehungen gefehlt.

Er atmete tief durch, blickte über den mustergültig gepflegten Garten seiner Villa.

Hier war kein Grashalm an der falschen Stelle. Ein Gärtner kam regelmäßig dreimal die Woche, um alles in Ordnung zu halten und darüber hinaus die zahlreichen und häufig wechselnden gärtnerischen Sonderwünsche von Frau Seidl zu erfüllen.

Alles, was du hier siehst, wird dir vielleicht schon bald buchstäblich unter den Fingern zerrinnen!, ging es Seidl grimmig durch den Kopf. Der Puls schlug ihm bis zum Hals. Nein, du hast einfach zu lange dafür gekämpft, um jetzt aufzugeben! Jetzt musst du dir etwas überlegen, dich vielleicht sogar mit sehr harten Bandagen durchzukämpfen.

Seidl zuckte zusammen, als ihn von hinten eine Hand an der Schulter berührte.

"Was ist?", drang die Stimme seiner zweiten Ehefrau Veronika in sein Bewusstsein.

Seidl drehte sich ruckartig zu ihr herum. Sie war Anfang dreißig, er Anfang fünfzig. Ihr Gesicht war feingeschnitten mit hohen Wangenknochen. Das dunkle Haar fiel ihr bis weit über die Schultern. Zwei feste Brüste pressten sich gegen den enganliegenden Stoff ihres Pullovers. Manchmal musste er aufpassen, um sie nicht mit 'Franziska' anzureden - dem Namen seiner ersten Frau. Im Grunde war Veronika eine Art verjüngte Ausgabe seiner ersten Frau.

"Es ist nichts", behauptete Seidl.

"Du schwitzt ja!"

"Ja, mein Gott..."

"Mei, du siehst ja ganz blass aus!"

Eine der wenigen Dinge, die Seidl an seiner zweiten Frau störten war, dass sie unentwegt "mei" zu sagen pflegte. Während er selbst sich den niederbayrischen Dialekt, mit dem er aufgewachsen war, mühsam abgewöhnt hatte und spätestens seit seinem Studium in Hamburg nur noch 'nach der Schrift' redete, konnte Veronika ihre sprachliche Herkunft einfach nicht verleugnen.

"Mei, warum sagst denn nix? Hängt das vielleicht mit dem Reporter zusammen, der vorhin hier war?"

Seidl lächelte breit. "Das war nur ein Wichtigtuer!", meinte er. "Der ist nur auf Skandale aus."

"Skandale? Mei, was will er denn dann von dir?"

"Ach, du kennst das doch. Da ist irgendwo mal wieder hormonverseuchtes Fleisch aufgetaucht und jetzt wollte dieser Kerl meine Meinung dazu wissen."

"Das war alles?"

"Ja, verdammt nochmal."

"Geh, Anton! Nun hab dich doch net so! Man wird ja wohl mal nachfragen dürfen."

Seidl atmete tief durch. "Mir geht es heute nicht besonders gut. Muss wohl am Fön liegen. Ich glaube, ich lege mich ein bisschen hin. Nachher habe ich nämlich noch einen wichtigen Termin..."

"Wollten wir heut' Abend net in die Oper?"

"Ja schon, aber..."

"Das wird also nix!"

"Nicht traurig sein. Geh ruhig allein hin oder nimm deine Freundin Karin mit, damit die Karte nicht verfällt!"

Seidl ging an ihr vorbei, trat dann durch die Terrassentür ins Haus.

In seinem Hirn arbeitete es fieberhaft.

Ich lasse mir meine Existenz nicht zerstören!, hämmerte es in ihm. Um keinen Preis...


*


Zwei Stunden später wählte Seidl vom Anschluss im Schlafzimmer aus eine Handynummer, die er von einer Visitenkarte ablas.

Es war die Karte des Journalisten.

"Hier Tom Dremmler", meldete sich eine sonore Stimme.

Tom Dremmler, freier Mitarbeiter verschiedener Boulevardblätter und neuerdings Erpresser, so ging es Seidl zynisch durch den Kopf. Aber in dem Job bist du ein Anfänger, Dremmler! Also sieh dich vor!

"Ich bin's, Dr. Seidl", meldete sich der Veterinär.

"Sie haben sich die Sache also überlegt!", stellte Dremmler fest. Er lachte heiser. Seine Stimme war rau vom übermäßigen Alkoholgenuss. Auf den Parties, die er besuchte, nahm er beinahe jedes volle Glas mit, das ihm hingehalten wurde. Seine Leberwerte mussten entsprechend sein. Und die Zahl der abgestorbenen Hirnzellen hatte mit Sicherheit jenen Wert überschritten, der ihn noch hätte hoffen lassen können, dass aus ihm eines Tages doch noch ein seriöser Feuilletonist wurde.

"Hören Sie, Dremmler..."

"Ich will eine Million! Darüber lasse ich auch nicht mit mir handeln. Andernfalls können Sie auf den Titelseiten Ihren Namen und Ihr Bild sehen. Vielleicht mit folgender Überschrift: DER HORMON-DOKTOR ENTLARVT! NEUER SKANDAL IN DER SCHWEINEMAST!"

"Woher soll ich eine Million nehmen?"

"Beleihen Sie Ihre Villa oder verkaufen Sie Ihr Ferienhaus in den Bergen..."

"Sie sind gut informiert."

"Vergessen Sie das nie, Dr. Seidl. Vergessen Sie das nie...."

"Angenommen ich zahle Ihnen eine Million. Wer garantiert mir, dass Sie nicht weitere Forderungen stellen."

"Was haben Sie nur für eine schlechte Meinung von mir."

"Ja wohl nicht ganz unbegründet, oder?"

"Seidl, Sie können von Glück sagen, wenn Sie aus dieser Sache mit einigermaßen heiler Haut herauskommen. Jahrelang sind Sie von Bauernhof zu Bauernhof gereist und haben Ihre illegalen Medikamentencocktails verkauft. Eine Art Dealer für Junkie-Schweine..." Er kicherte. "Ich kann alles belegen. Ich habe Unterlagen, Fotos, Proben..."

"Ich muss dieses Beweismaterial haben, wenn ich Ihnen eine derart große Summe zahle."

"Dann legen Sie noch eine halbe Million drauf und wir sind handelseinig."

"Sie sind unverschämt."

"Ich kann rechnen, Dr. Seidl. Sie haben mit Ihren Wundermitteln in den letzten Jahren ein Mehrfaches davon eingenommen. Alles, was ich verlange ist ein gerechter Anteil."

Innerlich kochte Seidl.

Alles in ihm krampfte sich zusammen. Er bemerkte, dass seine Hand zu zittern begann. Wenn er jetzt vor mir stünde!, durchzuckte es ihn. Er hätte dann für nichts garantieren können... Durch regelmäßiges Atmen versuchte er, sich wieder zu beruhigen.

Er musste einen kühlen Kopf bewahren.

Eiskalt reagieren.

Nur dann hatte er eine Chance, den Hals aus der Schlinge zu ziehen.

"Ich bin mit Ihren Bedingungen einverstanden", brachte er schließlich über die Lippen.

"Freut mich, das zu hören."

"Aber Sie dürfen mich nie wieder in meiner Villa an der Rauheckstraße besuchen! Haben Sie gehört?"

"Sorry, Doc." Tom Dremmler lachte heiser, hustete dann. Vermutlich Raucherhusten, diagnostizierte Seidl.

"Wir müssen uns treffen. Sie bringen die Beweismittel mit und ich..."

"Die anderthalb Millionen", schnitt Dremmler ihm das Wort ab.

"In bar, nehme ich an."

"Wäre mir lieb."

"Samstag in einer Woche. Vorher kriege ich das mit meiner Bank nicht zurecht."

"Gut. Aber keinen Tag länger."

"Nun zum Treffpunkt. Mein Ferienhaus in Kayserstein kennen Sie ja bereits."

"Ja."

"Kommen Sie nächsten Samstag gegen 17.00 Uhr dort hin. Dort sind wir ungestört."

"Einverstanden."


*


Dr. Anton Seidl fuhr die schmale, in Serpentinen den Berghang hinaufführende Straße mit geradezu halsbrecherischem Tempo entlang. Es war Samstag Mittag. Veronika hatte etwas herumgemeckert, als er ihr offenbart hatte, dass er das Wochenende im Ferienhaus verbringen wollte. Schließlich war er sogar das Risiko eingegangen, ihr anzubieten, ihn doch zu begleiten. Das hatte sie während ihrer bislang vierjährigen Ehe nur ein einziges Mal getan und sich dabei schrecklich gelangweilt. Bergwandern und die stundenlange Angelei im nahegelegenen See - das war alles nicht ihr Fall. Ihrer dialektbeladenen, sich eher erdverbunden anhörenden Sprache zum Trotz war sie doch ganz eindeutig eine Stadtpflanze und kein Landei.

Aber Anton Seidl brauchte ab und zu diese Einsamkeit und Ruhe hier oben.

Er erinnerte sich noch ganz genau, wie er das Haus zum ersten Mal gesehen hatte. Er war auf dem Weg zu einem Kunden gewesen, dessen Viehbestand er mit einem Koffer voller wachstumsfördernder Mittel versorgt hatte. Für viele der Bergbauern war die Situation prekär. Mit den großen Agrarfabriken andernorts konnten sie nicht mithalten, weder im Preis noch in der Menge. So mussten die Tiere eben schneller wachsen und dabei immer noch nach Möglichkeit den Eindruck machen, als ob sie unter glücklichen Umständen ihr kurzes leben gefristet hatten. Verluste waren tabu. Es wurde gespritzt, was das Zeug hielt, beziehungsweise der Koffer des Hormon-Dealers hergab.

Von einem seiner Kunden, dem Wendinger-Klaus, dem einer der größten Höfe in der Umgebung gehörte, hatte Seidl seinerzeit den Tipp bekommen, sich das Haus mal anzusehen. Es hatte kurz vor der Zwangsversteigerung gestanden. Den Preis, den Seidl dafür hatte ausgeben müssen, war geradezu lächerlich, wenn man bedachte, dass die Gegend touristisch gut erschlossen war.

Seidl hing seinen Gedanken nach, blickte zwischendurch immer wieder nervös auf die Uhr.

Er hatte einen Plan.

Einen Plan, der mit Tom Dremmlers Tod enden würde. Aber bevor er das Ferienhaus erreichte, gab es noch einiges, was Seidl vorzubereiten hatte.

Plötzlich musste Seidl mit aller Gewalt in die Bremse seines champagnerfarbenen Mercedes SLK treten. Die Reifen quietschten. Von der Seite ergoss sich ein Strom von hunderten von Schafleibern auf die Fahrbahn. Sie blökten durcheinander. Einige wichen vor dem SLK erschrocken zurück und stießen dabei ihre Artgenossen um. Ein Chaos entstand. Mittendrin, wie ein Fels in der Brandung stand der Schäfer mit hochrotem Kopf und wütendem Gesicht.

Er nahm seinen Filzhut ab, knitterte ihn in der Faust zusammen und brüllte Seidl wütend an. Da der Tierarzt das Verdeck seines SLK auf Grund des sonnigen Frühlingswetters zurückgeklappt hatte, konnte er jedes Wort verstehen. Und das, obwohl ein Hirtenhund andauernd dazwischen bellte.

"Mei, was fällt Ihnen ein! Kruzifix noch einmal! Wie kann einer nur so narrisch sein und net aufpassen, was über die Straße herüberkommt!"

"Hätten Sie nicht aufpassen können!", rief Seidl zurück.

Er kannte den Hirten.

Corbinian Anzengruber hieß er und war in der gesamten Gegend als eine Art Faktotum bekannt. Allerdings auch als Verbreiter von Neuigkeiten und Gerüchten.

Das hat mir gerade noch gefehlt, dass mir der über den Weg läuft!, ging es Seidl ärgerlich durch den Kopf. Dieser Quasselkopf würde überall herumerzählen, dass der allseits bekannte Tierarzt mal wieder in der Gegend war und das Wochenende in seinem Ferienhaus verbrachte.

Einige Sekunden lang dachte Seidl darüber nach, ob er das ganze Unternehmen nicht abblasen sollte.

Er dachte an die Polizei, an die Fragen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn...

Nein, du stehst das jetzt durch!, forderte er sich dann selbst auf. So etwas wie absolute Sicherheit gibt es nicht, Anton Seidl! Auch für dich nicht! Du musst das Risiko eingehen, wenn du nicht sehenden Auges in den Abgrund springen willst!

"Geht das nicht ein bisschen schneller?", schrie Seidl dem Hirten dann entgegen.

Dann hupte er, worauf die Schafe aufgeregt blökten und der Hirtenhund sich in seiner bis dahin unumstrittenen Autorität bedroht fühlte.

"Ja, ist dieser großkopferte Herr Veterinär jetzt vielleicht vollkommen narrisch geworden?", brüllte der Anzengruber jetzt zurück. "Macht mir die Tiere auch noch verrückt!"

"Ich hab's eilig!"

"Mei, das dauert halt ein bisserl!"

Fast eine Viertelstunde dauerte es, bis alle Tiere endlich über die Straße gelangt waren.

Seidl ließ den Motor des SLK aufheulen und brauste davon. Wenig später erreichte er das schmucke Holzblockhaus. Er parkte den SLK und stieg aus.

Tief sog er die klare Bergluft in sich auf. Man hatte eine fantastische Aussicht von hier aus. Reste des Morgennebels hingen noch über dem leuchtend blauen See, auf den man von hier aus eine vollkommen freie Sicht hatte.

Ein Ort wie aus dem Paradies, dachte Seidl. Aus meinem Paradies. Und davon wird mir niemand etwas wegnehmen.

Er sah kurz auf die Uhr (er wusste selbst nicht mehr, zum wievielten Mal an diesem Tag schon) und griff dann zum Handy.


*


"Wo soll ich das Zeug hinbringen?", fragte der Eismann, der seinen Lieferwagen etwa eine Stunde später vor Seidls Ferienhaus geparkt hatte. Er wollte sich schon mit einer Eisstange in der Hand an Seidl vorbei zum Haus hinbewegen, aber Seidl schüttelte den Kopf.

Im Haus konnte er das Eis nicht gebrauchen.

"Dort hinein!", forderte er und deutete dabei auf den Kofferraum seines SLK.

Der Eismann sah ihn ziemlich verdutzt an.

"Ist das Ihr Ernst?"

"Mein voller!"

Zur Bekräftigung öffnete Seidl den Kofferraum. Der Eismann kam herbei und lud die Stange dort ab. Er wischte sich anschließend mit dem Ärmel über die Stirn. "Die anderen auch in den Kofferraum?", vergewisserte er sich.

Seidl nickte kühl.

"Ja."

Insgesamt drei, dicke, quaderförmige Stangen Eis brachte der Eismann dann noch in den Kofferraum des SLK.

"Sie werden sich den Wagen damit verderben", prophezeite der Eismann.

"Das lassen Sie mal meine Sorge sein", erwiderte Seidl kühl.

Der Eismann hob beschwichtigend die Hände. "Ist ja schon gut, ich wollte Ihnen wirklich net reinreden, Herr Doktor..."

"Dann lassen Sie es bitte auch!"

"Mei, muss man denn da gleich so grantelig werden? Ich hab's ja nur gut gemeint."

Seidl schloss den Kofferraum und bezahlte dann. Der Eismann blickte nachdenklich auf den SLK. "Sie haben 'ne Riesenparty vor sich, was?"

Seidls Lächeln war dünn. Sein Mund wirkte in diesem Moment fast wie ein Strich. "Ja, so könnte man es bezeichnen..."

"Warum haben Sie keine Getränke bei uns bestellt? Sie hätten dann Rabatt gekriegt."

"Auf Wiedersehen."

Augenblicke später fuhr der Eismann davon. Seidl sah dem Lieferwagen nach, bis er so weit die Serpentinen hinuntergefahren war, dass man ihn vorübergehend nicht mehr sehen konnte. Später, das wusste Seidl, würde er wieder auftauchen und man konnte seinen Weg dann noch eine ganze Weile beobachten.

Seidl griff zum Handy.

Er wählte die Nummer von Tom Dremmler.

"Hier ist Seidl."

"Nanu, wir waren doch erst später verabredet", wunderte sich der Journalist.

"Ich weiß. Aber es hat sich einiges geändert. Wir müssen den Termin etwas vorverlegen. Und der Treffpunkt ist auch nicht mehr derselbe."

"Wenn Sie glauben, Sie können mit mir irgendwelche Tricks versuchen, dann..."

"Das würde ich mir nie erlauben!", versuchte Seidl den Erpresser zu beschwichtigen.

"Sie wissen, was dann passiert."

"Natürlich."

"Also?"

"Sie fahren nicht erst heute Abend um fünf zu mir in die Berge, sondern jetzt. Kurz vor Kayserstein befindet sich ein Parkplatz mit hervorragender Aussicht. Liegt etwas abseits. Aber wenn Sie nach dem Hinweisschild 'Kayserstein 7 Kilometer' die nächste links nehmen, kommen Sie direkt dort hin."

"Gibt es kein Hinweisschild?"

"Nein."

"Ich glaube nicht, dass ich schonmal dort war."

"Wenn Sie Schwierigkeiten mit dem Weg haben, rufen Sie meine Handynummer an. Fragen Sie auf keinen Fall irgend jemanden. Ich bin in der Gegend bekannt wie ein bunter Hund."

Dremmler lachte.

"Ich weiß."

"Kommen Sie zum Treffpunkt. Ich werde Ihnen die anderthalb Millionen übergeben, sofern Sie das belastende Material bei sich haben. Aber beeilen Sie sich!"

"Gut", kam es nach einigem Zögern von der anderen Seite der Leitung.

Seidl triumphierte innerlich.


*


Anton Seidl war als erster auf dem Parkplatz. Er sah ungeduldig auf die Uhr. Das Eis machte ihm sorgen. Wenn Dremmler zu spät kam, wäre es geschmolzen. Aber das Eis spielte in dem Mordplan, den er sich zurechtgelegt hatte, eine entscheidende Rolle. Es gibt keinen anderen Weg, sagte er zu sich selbst. Du hast es oft genug hin und her überlegt. Du oder er, das ist die Alternative. Nein, die Sache musste beendet werden. Ein für allemal. Seidl zog sich seine dünnen Lederhandschuhe an. Ein Motorengeräusch brauste auf. Das war Dremmler. Er parkte seinen roten Ford und stieg aus. Dremmler strich sich das etwas zu lange, fettig wirkende Haar zurück. Der Fotoapparat baumelte ihm am Hals. Er ging auf Seidl zu und kam gleich zur Sache. "Wo ist das Geld?", fragte Dremmler.

Seidl ging ein paar Schritte auf ihn zu. "Hören Sie, Dremmler...", begann er. Er hatte Dremmler fast erreicht, da erstarrte der Tierarzt mitten in der Bewegung. Er blickte abwärts in Höhe seines Bauches und bemerkte den blanken Lauf eines Kleinkaliber-Revolvers in Dremmlers rechter Hand. Der Reporter hatte die Waffe blitzschnell unter seiner Jacke hervorgezogen.

Offenbar war er misstrauisch geworden.

"Bleiben Sie, wo Sie sind", sagte der Reporter.

"Dremmler, was soll das? Wir wollten uns doch einigen!"

"Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, Herr Dr. Seidl!" erklärte er mit hochrotem Kopf, wobei er das 'Herr Dr. Seidl' eigenartig betonte. "Ich weiß, dass Sie mit allen Wassern gewaschen sind und Ihnen kein Trick zu schmutzig wäre..."

Seidl lächelte schwach. "Dremmler..."

"Keine Tricks! Ich will das Geld."

"Es ist im Wagen!"

"Dann holen wir es jetzt..." Dremmler bedeutete Seidl mit einem Handzeichen, sich umzudrehen. Mit Dremmlers Waffe im Rücken ging er dann vor dem Reporter her und fragte sich, was er tun konnte. Seidl hatte kein Geld für Dremmler und außerdem drohte sein ganzer Plan den Bach hinunter zu gehen. Seidl öffnete den Kofferraum seines Wagens. Dremmler stand hinter ihm und sah auf die Eisstangen.

"Was soll das?", murmelte er.

Jetzt oder nie!, dachte Seidl. Diesen Moment der Überraschung nutzte er und wirbelte herum. Der Handkantenschlag traf Dremmlers Kehle und ließ ihn augenblicklich in sich zusammensacken. Die Waffe hielt Dremmler fest umklammert, aber er kam nicht mehr dazu, sie abzudrücken. Seidl sah zufrieden auf den Reporter herab. Er war tot. Ein zynisches Lächeln umspielte Seidls Lippen. Einer wie er, der sich seit Jahren mit Karate fit hielt, brauchte keine Waffe. Zumindest nicht, wenn er nahe genug an seinen Gegner herankam.

Jetzt durfte er keine Zeit verlieren.

Er durchsuchte den Wagen, fand eine Tasche, in der sich Fotomaterial und andere Unterlagen befanden.

Seidl sah es kurz durch.

Dremmler muss mich geradezu beschattet haben, durchfuhr es ihn dabei.

In Zukunft musste er vorsichtiger sein, um etwas Ähnliches zu verhindern.

Seidl nahm das Material an sich, verstaute es im Handschuhfach seines SLK.

Und wenn der Hund noch mehr gesammelt und irgendwo anders deponiert hat?, überlegte er. Er musste davon ausgehen. Aber er würde deswegen nichts unternehmen. Mochte das Zeug irgendwo in Frieden auf einer Festplatte schlummern. Wenn Seidl anfing, danach zu suchen, würde er sich nur in Verdacht bringen.

Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie bitte Ihren Strafverteidiger!, dachte Seidl.

Es gab jetzt kein Zurück mehr.

Und das Risiko, dass das doch etwas von dem belastenden Datenmaterial an die Oberfläche gespült wurde, war vertretbar.

Wenig später packte Seidl Dremmlers Leiche und trug sie zu dessen Wagen.

Dann setzte er den Toten ans Steuer. Nun schob er den Ford an den Rand des Parkplatzes. Dort ging ein Hang recht steil hinab. Seidl schob den Wagen so weit es ging dorthin und zog die Bremse. Anschließend holte Seidl aus seinem Wagen die erste Eisstange. Er legte sie so unter die Vorderräder von Dremmlers Sportwagen, dass das Eis wie ein Bremsklotz wirkte. Die beiden anderen Stangen platzierte er ähnlich. Dann löste er sehr vorsichtig die Handbremse und lächelte. Das Eis würde schmelzen und der Wagen in die Tiefe rasen. Etwas weiter unterhalb kam ein Plateau und dann ging die Felswand fast senkrecht in die Tiefe. Der Wagen würde vielleicht explodieren und wenn nicht, dann würde man die Verletzung an Dremmlers Kehle als Unfallfolge deuten. Schließlich konnte die Kehle auch durch das Lenkrad eingedrückt worden sein.

Wahrscheinlich konnte man in der Umgebung den Aufprall weithin hören.

Gut so, dachte Seidl.

Denn wenn es so weit war, würde er sich viele Kilometer entfernt befinden und dafür sorgen, dass sich genügend Zeugen an ihn erinnerten... Seidl stieg in den Wagen und brauste davon.


*


Seidl überlegte, was er tun sollte. Vielleicht war es das Beste, jetzt einfach nach Hause zu fahren. Nach München. Warum sich länger als unbedingt notwendig in der Gegend aufhalten, zumal er in seinem Ferienhaus kein richtiges Alibi hatte.

Er war innerlich stark aufgewühlt, überlegte hundertmal, ob er nicht irgendeinen Fehler gemacht, irgend etwas übersehen hatte.

Ganz ruhig bleiben!, forderte er sich selbst auf. Du kannst jetzt nichts weiter tun, als abwarten, dass es irgendwo einen lauten Knall gibt. Nichts wird in deine Richtung deuten. Fahr nach München. Veronika wird fragen, warum ich so früh zurückkehre, sie wird sich etwas wundern und ich werde irgendeine Ausrede erfinden. Es wäre das erste Mal, dass sie an irgend etwas zweifelt.

Seidl drehte leise das Radio an, während er mit - wie üblich überhöhter Geschwindigkeit - die schmale Bergstraße entlangbrauste.

Er blickte kurz in Richtung des Sees. Das Sonnenlicht spiegelte sich darin, ließ ihn leuchtend blau erscheinen. Dahinter die schneebedeckten Gipfel. Eine Postkartenkulisse.

Dann erreichte er die Tankstelle vom Krainacher. Eine kleine, freie Tankstelle, die sowohl von ihrer tatsächlichen Lage als auch von ihrer wirtschaftlichen Situation her nahe am Abgrund stand.

Die Tankanzeige zeigte an, dass der SLK eigentlich noch nicht wieder neuen Kraftstoff brauchte, aber Seidl kam der Gedanke, dass ein Besuch beim Krainacher eine gute Gelegenheit war, sich in Erinnerung zu bringen.

Für den Fall, dass es doch Ermittlungen gab, die ihn in den Kreis der Verdächtigen mit einbezogen.

Er fuhr vor die Zapfsäule, stieg aus, tankte den SLK bis oben hin voll.

Dann ging er zum Krainacher herein, der mit ölverschmierter Latzhose hinter der Kasse stand. Seidl nahm noch eine Zeitung, damit die Rechnung nicht so lächerlich gering blieb.

"Servus, Herr Doktor!", sagte der Krainacher. "Sie sind schon wieder auf dem Rückweg?"

Natürlich hatte der Krainacher mitbekommen, in welcher Fahrtrichtung Seidl unterwegs war. Schließlich bestand seine Hauptbeschäftigung darin, aus dem Tankstellenfenster auf die Straße zu blicken.

"Ja, ja", murmelte Seidl.

"Aber am Wetter kanns net liegen! Das ist doch heute ausgezeichnet für die Jahreszeit!"

"Ich brauche den Sonntag noch, um meine Steuersachen zu ordnen."

"Mei, da woaß i, wovon Sie red'n!", nickte der Krainacher mitfühlend. "Wenn Sie mich fragen, dann nimmt die Bürokratie auch wirklich überhand! Finden's net auch?"

"Sicher."

In diesem Moment fuhr ein Traktor vor eine der Zapfsäulen. Der Fahrer stieg ab, tankte nach.

Seidl verabschiedete sich vom Krainacher und ging hinaus.

Den Traktorfahrer kannte er. Es war der Bernrieder-Bauer.

"Servus! Gut, dass ich Sie treffe!", rief der Bernrieder und kam auf ihn zu. "Meine Mathilda steht kurz vom Kalben und ich hab das Gefühl, da stimmt was net..."

"Sie wissen, dass ich..."

"Ja, i woaß! Sie sind mehr für den medikamentösen Aspekt der Tiermedizin zuständig!" Seidl zuckte zusammen. Der Krainacher sprach das aus, als handelte sich um eine ganz normale Dienstleistung. Schon Jahrelang sorgte Seidl dafür, dass das Vieh des Krainachers etwas schneller wuchs, als die Natur das eigentlich vorgesehen hatte.

"Ich würde Sie net fragen, wenn der Huber da wär!"

'Der Huber', das war der hiesige Tierarzt. Ein Mann mit Prinzipien und ein Tierarzt im klassischen Sinn. Dafür aber auch ein vergleichsweise armer Hund!, ging es Seidl durch den Kopf.

"Ich sehe mir Ihre Mathilda an!", versprach Seidl.

Warum nicht?, überlegte er. Eigentlich müsste ich dem Krainacher dankbar sein - bietet er mir doch ein perfektes Alibi an.


*


Seidl blieb den ganzen Nachmittag auf dem Krainacher-Hof. Mit der Kuh Mathilda war alles in Ordnung - es waren die Nerven des Bauern, die blank lagen. Aber Seidl sorgte dafür, das sein Aufenthalt auf dem Hof sich etwas in die Länge zog.

Zwischendurch war in der Ferne ein lauter Knall zu hören. Dann, kurze Zeit später ein weiterer.

Seidl horchte auf.

Einige der Kühe wurden unruhig.

"Was war das denn?", fragte Seidl.

"Mei, das muss aus dem Nachbartal kommen. Da wird seit kurzem nämlich Basalt abgebaut! Wir haben alle dagegen protestiert und sogar beim Landrat vorgesprochen, aber da war nix zu machen!"

"Auch am Samstag?"

"Die holen sich einfach eine Sondergenehmigung!"

Seidl nickte verständnisvoll.

Hauptsache, er erinnert sich später noch an die Explosion, denn der Tierarzt war sicher, dass dieser Knall nichts mit dem Basaltabbau in der Nähe zu tun hatte.

Später saß Seidl noch bei einer Brotzeit in der guten Stube des Krainachers. Ich habe es geschafft!, dachte der Tierarzt. Das Alibi ist perfekt.


*


Es wurde spät und Seidl entschied sich dafür, doch nicht nach München zurückzukehren. Wozu auch? Ihm konnte nichts passieren, die gesamte Familie des Krainachers konnte bezeugen, dass er zu dem Zeitpunkt, da Dremmlers Ford in die Tiefe gestürzt war, sich auf dem Hof befunden hatte. Jetzt wollte er in der Nähe bleiben, um besser beobachten zu können, was sich tat...

Auf dem Rückweg zum Ferienhaus fror Seidl ganz erbärmlich, obwohl er sich den Mantel angezogen hatte.

Es war verflucht kalt geworden.

Schon während seines Auenthalts auf dem Krainacher Hof war ihm der eisige Wind aufgefallen, der plötzlich von den Bergen blies.

Er kehrte erst spät in sein Haus in den Bergen zurück und war ziemlich überrascht, als jemand vor der Haustür auf ihn wartete. "Ich bin Kriminalhauptkommissar Niedermayer ", sagte der etwas beleibte Mann und zeigte Seidl seine Marke. "Ich habe es schon einmal versucht, aber da waren Sie nicht zu Hause..."

"Kommen Sie herein", sagte Seidl und rieb sich die Hände. Es war ziemlich kalt geworden. "Was ist denn passiert?"

"Kennen Sie Herrn Tom Dremmler?"

"Warten Sie, ich mache die Heizung an..."

"Er ist hier in der Nähe ermordet worden."

"Ermordet?", fragte Seidl. Etwas musste schief gelaufen sein und er fragte sich verzweifelt, was es wohl war. Der Kommissar nickte. "Von Ihnen, Herr Seidl. Sie hatten einen genialen Plan. Eigentlich hätte man von dem Eis keinerlei Spuren finden dürfen und wir hätten dann auch niemals bei den Eislieferanten der Umgebung nachgefragt, wer sich heute vier große Stangen hat liefern lassen... Wir wären nie auf Sie gekommen, Herr Seidl, wenn Sie das Wetter hier in den Bergen in Ihre Überlegungen mit einbezogen hätten. Drastische Temperaturschwankungen sind hier nichts Ungewöhnliches und heute hat es so einen Temperatursturz gegeben. Das Eis ist noch immer nicht geschmolzen... Sie sind übrigens verhaftet!"


ENDE



Tod in Tanger

Die deutsche Studentin Elsa reist nach der für sie schmerzlichen elterlichen Scheidung nach Tanger, um Abstand zu gewinnen. Dort lernt sie den 38jährigen Robert kennen, einen attraktiven, indes einigermaßen undurchsichtigen Mann scheinbar dänischer Herkunft, in den sie sich verliebt und in dessen Villa sie bald darauf einzieht. Zunächst glaubt sie ihm bedingungslos und vertraut ihm etliches aus ihrer bedrückenden Vergangenheit an, doch als sie bemerkt, dass Robert Schminkutensilien benutzt und über mehrere Pässe verfügt, beginnt sie, sich über den Charakter von Roberts sogenannte Geschäften Gedanken zu machen. Wenig später begibt sich Robert auf eine seiner sogenannten Geschäftsreisen nach Spanien und Frankreich, und Elsa bleibt zusammen mit dem arabischen Hausdiener in der Villa zurück.

Es stellt sich heraus, dass Robert als professioneller Auftragsmörder tätig ist - eine unangenehme Entdeckung, die auch Elsa nicht erspart bleibt. Robert kann sie nun nicht mehr am Leben lassen…

 

 

1.

Das erste Mal traf Elsa mit Robert Jensen im Postamt von Tanger zusammen.

Alles in allem war es nur eine sehr kurze Begegnung. Robert hatte sie fast umgerannt und schien sehr in Eile zu sein.

„Pardon!“, zischte es zwischen seinen dünnen Lippen hindurch.

„Macht nichts“, erwiderte Elsa. Sie sagte das instinktiv und ohne viel nachzudenken auf Deutsch, obwohl sie ja eigentlich nicht so ohne weiteres davon ausgehen konnte, dass ihr Gegenüber sie auch verstand.

Dann wechselten sie einen kurzen Blick miteinander. Elsa sah in hellblaue Augen.

Der Mann war blond, und sein Haar lichtete sich an manchen Stellen bereits. Dennoch, sein Alter war schwer zu schätzen. Zwischen 25 und 40 schien alles möglich.

Aber da waren diese Augen, die einfach zu einem älteren Mann besser zu passen schienen.

Bei dem Zusammenprall war ihm der Pass heruntergefallen. Er bückte sich, um das Dokument wieder an sich zu nehmen; aber es gelang Elsa noch, einen Blick darauf zu werfen. Es war ein dänischer Pass, soviel konnte sie sehen.

Er nahm das Dokument und steckte es sofort in die Innentasche seines hellbraunen Sommerjacketts. Dann ging er an Elsa vorbei. Sie sah ihm nach, aber er drehte sich nicht zu ihr um, sondern wandte sich geradewegs zu einem der Schalter.

Dort hörte sie ihn in - soweit sie das beurteilen konnte - ziemlich fließendem Französisch reden. Sie verstand kaum etwas davon. Nur einzelne Wörter, die keinen Sinn ergaben. Das nächste Mal, dass sie ihm begegnete, war am darauffolgenden Abend.

Der Muezzin hatte sein Abendgebet bereits per Lautsprecher über die Stadt gerufen und es war dunkel. Vom Meer her stiegen Nebel auf. Es wurde feucht und auch ziemlich kalt.

Sie zog sich ihre dünne Jacke enger um die Schultern und schlug den Kragen etwas hoch, aber diese feuchte Kühle ging durch alles hindurch. Es schien kein Mittel dagegen zu geben.

Sie wusste, dass es kaum wärmer sein würde, wenn sie sich in ihrem Hotel in die Decke rollte. Die Heizung war außer Betrieb. Da stand noch ein Elektro-Heizkörper - aber das schwache Stromnetz im Haus hatte schon Mühe, einen Haarföhn zu verkraften.

Elsa ließ sich in dem abendlichen Tanger treiben und sah den Menschen zu, die durch die Straßen drängten.

Wenn man mit dem Schiff hierher kam, dann sah die Stadt von weitem fast wie ein Ameisenhaufen aus. Ein Ameisenhaufen, der an einem Hang klebte.

Und sie war jetzt mitten drin. Inzwischen wusste sie, dass sie die aggressiven Straßenhändler und angeblichen Fremdenführer nicht beachten durfte.

„Voulez-vous visiter ma shop?“

Sie schüttelte sie ab, wie lästige Fliegen. Sie wollte nichts kaufen. Weder eine Lederjacke, noch einen Teppich oder eine 'original-marokkanische Handarbeit'.

Vielleicht sogar 'Made in Taiwan', dachte sie.

Aber wie dem auch immer war, sie hatte kein Geld für so etwas. Sie schlenderte an der Strandpromenade entlang. Eine Weile blieb ihr Blick an einem Mann hängen, der einen Eselskarren lenkte.

Das Meer war ruhig. Nebelschwaden hingen tief über der schier endlosen Wasserfläche.

Eine Filmkulisse!, dachte sie plötzlich. Es ist wie in einem Film.

Kurz entschlossen ging sie noch etwas an den Strand. Sie zog sich die Schuhe aus und ließ das kalte Salzwasser um ihre Füße herumspielen. Sie lief ein Stück über den nassen Sand und träumte vor sich hin. Das Meer rauschte. Die Straße etwas weiter oberhalb rauschte auch, aber hier unten am Strand war das Meer lauter. Sie sah sich um.

Kein Mensch war um diese Zeit noch hier. Sie sah nur Dunkelheit und Nebel und das Meer... Und etwas weiter entfernt, als schwarze, düstere Schemen, die Verkaufsbuden und Strandrestaurants, die aber um diese Jahreszeit noch allesamt geschlossen waren. Auch tagsüber. Es waren einfach noch nicht genug Touristen da, als dass es sich gelohnt hätte, sie zu öffnen.

Das Mondlicht kam jetzt fahl durch den Nebel und tauchte alles in ein seltsames Licht. Plötzlich mischte sich das Meeresrauschen mit Stimmen, die bald näherkamen. Im ersten Moment erschrak Elsa, dann lauschte sie. Es waren arabische Stimmen. Männerstimmen.

Sie stand wie erstarrt da, als die Gestalten aus der Dunkelheit ins fahle Mondlicht traten. Sie hörte sie reden, aber natürlich verstand sie kein Wort.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte.

Es waren drei junge Männer. Vielleicht 20, vielleicht 25 Jahre alt. Von der traditionellen Kleidung der Marokkaner schienen sie wenig zu halten. Sie trugen Jeans und dunkle Lederjacken. Und wäre da nicht der dunkle Teint ihrer Haut gewesen, man hätte sie nicht von Gleichaltrigen irgendwo in Westeuropa unterscheiden können.

Elsa erinnerte sich an den Eseltreiber, den sie kurz zuvor noch gesehen hatte. Alles das im selben Land zur selben Zeit...

Die Männer musterten sie auf eine Art und Weise, die ihr unangenehm war.

Sie blickte sich um. Aber da schien nirgendwo eine Menschenseele zu sein. Niemand außer diesen drei Typen.

Die Männer lachten.

Elsa hatte die instinktive Ahnung, dass es in ihrem Gespräch um sie ging. Mochte sein, dass sich ihr Gefühl manchmal täuschte, hier war sie sich ziemlich sicher.

Sie wollte gehen.

Einfach weg.

Sie fühlte sich in dieser Lage nicht wohl, wandte sich um und lief ein paar Schritte. Dann geschah das, was sie die ganze Zeit über schon befürchtet hatte. Sie sprachen sie an. Erst auf Französisch, dann kurz danach auf Englisch. Schließlich auf Deutsch.

„Woher kommst du?“, fragte einer von ihnen.

Sie blieb stehen und wandte sich zu ihnen um. Die drei kamen näher.

„Deutschland? Germany? Holland? Woher?“

„Deutschland“, sagte sie. Und ihre eigene Stimme klang ihr fremd.

„Deutschland - gut. Mein Bruder lebt dort. In Düsseldorf. Kennst du Düsseldorf?“

„Ja.“

„Ich war auch schon in Deutschland. In Hamburg. Und in Stuttgart. Mein Vater war beim Zirkus.“

Sie wandte sich erneut zum Gehen. Aber sie kam nicht weit. Ein paar Schritte nur.

„Hey, bleib hier!“

Sie sah in ein etwas ärgerliches Gesicht.

„Ich kann etwas Deutsch. Ich will mich nur unterhalten“, erklärte er. Die beiden anderen sahen gespannt zu. Einer grinste ziemlich frech.

„Nur etwas unterhalten“, meinte er. „Nichts verkaufen!“

„Das sagen alle!“, entfuhr es ihr - eine Spur unfreundlicher, als sie geplant hatte. Aber nun war es einmal heraus.

„Deutschland gut“, sagte er davon unbeeindruckt. „Gut im Fußball und gute Autos.“ Er schien gut Wetter machen zu wollen. Dann veränderte sich sein Gesicht ein wenig. „Bist du allein hier?“

Sie zögerte mit der Antwort.

Sie öffnete zwar den Mund, aber es kam nichts über ihre Lippen. Sie wollte keinen Fehler machen. Auf keinen Fall.

„Es ist niemand hier“, stellte er fest. „Hast du einen Mann?“

Daher wehte also der Wind. Er wollte die Besitzverhältnisse abklären und von ihr wissen, ob er bei ihr landen konnte - ohne dabei in die Rechte eines anderen einzugreifen.

„Nein“, sagte sie. „Ich meine, also...“ Sie stammelte etwas zusammen und wusste sofort, dass ihre Antwort ein Fehler gewesen war. Sie hatte es einfach so gesagt, ohne darüber nachzudenken.

Er lächelte, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht.

Der junge Mann kam einen Schritt näher.

„Nicht verheiratet?“, fragte er.

Es schien sehr wichtig für ihn zu sein, sonst hätte er sich nicht noch einmal vergewissert.

Er trat einen weiteren Schritt an sie heran, und ehe sie zurückweichen konnte, hatte er sie am Arm gepackt.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte er. Aber sie hatte Angst. Sie zitterte sogar. Sie machte ihren Arm frei und wich erneut ein paar Schritte zurück. Die drei folgten ihr.

„Nur etwas reden...“

„Lasst mich in Ruhe!“

„Wir sind ein gastfreundliches Land! Und wir sind zu jedem freundlich, der zu uns freundlich ist...“

Das war schon eine Art Drohung

„Ihr sollt mich zufrieden lassen!“

Sie begann zu laufen. Keuchend hetzte sie vorwärts, während die drei ihr folgten.

Sie spielten mit ihr. Mit ihr und ihrer Furcht. Sie ließ die Schuhe fallen, die sie in der Hand gehalten hatte, und setzte zu einem Spurt an. Sie rannte, so schnell ihre Beine sie zu tragen vermochten.

Die Männer lachten und kamen hinter ihr her.

Elsa wusste kaum, wohin sie rannte. Sie lief einfach in die Dunkelheit hinein, weg vom Meer, weg vom Strand, dorthin, wo Menschen waren.

Möglichst viele Menschen. In der Masse wäre sie vielleicht sicher.

In dem weichen Sand stolperte sie über etwas. Treibholz vielleicht, dass die Flut herangespült und die Ebbe nicht wieder mitgenommen hatte. Es lag einiges davon hier am Strand. Sie fiel zu Boden.

Sie fühlte den Sand, der in ihre Kleider drang.

Hinter ihr waren die drei Verfolger zu hören. Sie trugen Turnschuhe und kamen schnell heran. Verzweifelt versuchte sie, wieder auf die Beine zu kommen.

Sie betrachten mich als Freiwild!, schoss es ihr durch den Kopf.

Die Kerle schienen sich vollkommen sicher zu fühlen. Hier am Strand, wo es dunkel war und wo kein Mensch wartete...

Das Rauschen des Meeres und der Lärm der Straße, die am Meer entlangführte, betäubten gemeinsam die Ohren. Auf der Strandpromenade würde niemand etwas hören, wenn die drei jetzt über sie herfielen.

Da sah Elsa eine Gestalt aus der Dunkelheit treten. Sie kam aus genau der Richtung, in die sie wollte. Sie kam von der Straße; dorther, wo das Leben war und die Menschen...

Zuerst erschrak sie, aber dann fiel das Mondlicht so, dass sie ein Gesicht sehen konnte. Es war der Däne, der sie auf der Post fast umgerannt hatte.

Er stand da und schien die Situation sofort zu erfassen. Seine Züge waren ruhig und gelassen. Sie waren sogar kalt. Völlig kalt.

Sie blickte zu ihm auf, dann zurück zum Wasser, dorthin, wo die drei Männer waren.

Dann stand sie auf. Sie stand wie angewurzelt da - und dasselbe galt für die drei, die hinter ihr hergelaufen waren.

Sie blickten stirnrunzelnd auf den Mann, der aus der Dunkelheit getreten war und dessen Absicht es ganz offensichtlich zu sein schien, ihnen den Weg zu verstellen.

Elsa setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, bis sie hinter dem Dänen stand. Sie atmete tief durch.

Die drei versuchten es mit dem Dänen auf Englisch, schließlich war nicht zu übersehen, dass er Europäer war. Aber der Mann antwortete auf Arabisch.

Elsa verstand kein Wort. Aber es schien nicht gerade freundlich zu ein, was er ihnen zu sagen hatte. In Augen der drei Marokkaner blitzte es giftig.

Der Däne blieb so kalt wie zu Anfang. Aber er war aufmerksam. Kein Detail in den Bewegungen seiner Gegner schien ihm zu entgehen. Er durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick.

Ein paarmal ging der Wortwechsel hin und her.

Und dann blitzte plötzlich ein Messer im Mondlicht. Die Typen grinsten. Ein zweites Messer wurde gezogen. Ein Springmesser. Gefährlich schnellte die Klinge aus dem Griff heraus, so wie die lange Zunge eines Leguans, der seine Beute blitzschnell erlegt und verspeist.

Leichte Beute - dafür schienen die drei den Dänen auch zu halten. Das Zahlenverhältnis sprach für sie, außerdem wirkte der Däne in seinem eleganten Jackett nicht wie ein geübter Straßenkämpfer, der bereit war, sich mit seinen Gegnern im Dreck zu wälzen.

Das erste Messer schnellte drohend vor, die beiden anderen Männer hielten sich noch zurück. Sie schienen erst einmal abwarten zu wollen. Aber in ihren Gesichter stand ein zuversichtliches Grinsen.

Der Däne packte den rechten Arm seines Gegenübers und drehte ihn brutal herum. Mit einem Schrei ließ er das Messer in den Sand fallen.

Schon Sekundenbruchteile später befand sich der Marokkaner im Würgegriff des Dänen.

Die beiden anderen drängte er mit ein paar unfreundlichen Sätzen auf Arabisch zurück. Sie zögerten, und schienen erst etwas verunsichert und nicht recht schlüssig darüber, wie sie sich verhalten sollten, aber dann entfernten sie sich schnell.

Mit einem rauen Stoß beförderte der Däne den Angreifer dann in den Sand. Mit ungläubigen, weit aufgerissenen Augen machte er sich davon.

Das Messer blieb im Sand liegen.

Elsa hatte die ganze Zeit über wie angewurzelt dagestanden.

„Mein Gott!“, entfuhr es ihr.

Der Däne sah sie an.

Sein Gesicht wirkte entspannt und gelassen. Immer noch schien er ein wenig unterkühlt zu sein.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

Sie nickte.

„Ja.“

„Dann ist es ja gut...“

„Ja... Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn Sie nicht gewesen wären!“

Sie wussten beide, was geschehen wäre.

Aber das war im Moment nicht so wichtig.

Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass er akzentfreies Deutsch gesprochen hatte. Bestes Hochdeutsch. Keinerlei landschaftlicher Einschlag festzustellen. Jedenfalls nicht für Elsa.

Sein Pass war der eines Dänen, aber er hätte auch als Deutscher durchgehen können. Ohne weiteres. Er wäre nirgends als Fremder aufgefallen.

Sie dachte daran, dass sie ihn auch Arabisch und Französisch hatte sprechen hören. Er musste sehr sprachbegabt sein.

„Kommen Sie mit?“

Er runzelte die Stirn.

„Wohin?“

„Zur Polizei.“

„Was wollen Sie dort?“

Sie blickte ihn verständnislos an.

„Aber... Ich meine, diese Typen...“

„Glauben Sie mir, Sie werden mehr Probleme bekommen, als die.“

„Aber es geht doch um... Gerechtigkeit. Ich meine, da kann doch nicht einfach jemand hergehen und einen... „

Er zuckte mit den Schultern und schien ziemlich ungerührt zu sein.

„Hat irgend jemand behauptet, dass es in der Welt gerecht zugeht?“

„Nein, natürlich nicht...“

„Sie können selbstverständlich tun und lassen, was Sie wollen, aber ich gebe Ihnen den Rat, nicht zur Polizei zu gehen. Fehlt Ihnen denn was?“

„Nein...“

„Sind Sie verletzt? Ist irgend etwas Ernsthaftes passiert?“

„Nein, Sie sind ja gerade noch rechtzeitig dazwischen gekommen!“

„Dann sollten sie die Sache auf sich beruhen lassen! Glauben Sie mir. Ich lebe schon eine ganze Weile hier...“

„Aber Sie haben doch alles gesehen! Wenn Ihre Aussage...“

„Sie stellen sich das falsch vor!“, meinte er. „Dies ist ein sehr bürokratisches Land. Und eines, in dem Beziehungen eine wichtige Rolle spielen. Vor allem verwandtschaftliche. Wissen Sie was passiert, wenn Sie einen Polizisten nach dem Weg fragen?“

„Nein.“

„Er wird Sie an einen Fremdenführer vermitteln. An irgendeinen entfernten Vetter. Dieser Fremdenführer macht das natürlich nicht umsonst. Er gibt dem Polizisten was, der die Sache vermittelt, hat und bringt Sie dann an Ihr Ziel. Aber nicht auf direktem Wege. Er geht davon aus, dass Sie sich hier nicht auskennen und wird Sie erst einmal an ein paar Geschäften vorbeibringen, mit deren Besitzern er entweder verwandt oder befreundet ist und von denen er vermutlich auch etwas dafür bekommt, dass er Touristen zu ihnen ins Geschäft lockt.“ Er lächelte jetzt ein wenig. „So funktioniert das Leben hier. Das gilt für alle Bereiche. Begreifen Sie jetzt, weshalb ich es nicht für sinnvoll halte, zur Polizei zu gehen?“

„Ich weiß nicht...“

„Eine ordnungsliebende Deutsche, die es gewohnt ist, dass alle Beamten unbestechlich sind und alles gut organisiert ist!“

„Machen Sie sich nicht über mich lustig!“

„Das tue ich nicht. Ganz bestimmt nicht.“

„Wie heißen Sie?“ Es interessierte Elsa auf einmal, was das für ein Mann war, der hier vor ihr stand. Es hatte sie schon gestern in der Post interessiert, aber da war es ihr nicht so bewusst gewesen.

„Ich heiße...“ Er schien einen Moment zu zögern, bevor er weitersprach. Elsa konnte sich dieses Zögern nicht erklären. Sie dachte auch nicht weiter darüber nach. Später, viel später sollte es ihr verständlich werden.

„Jensen“, sagte er. „Robert Jensen.“

Er war Däne, sie hatte seinen Pass gesehen. Und sein Name klang wie ein dänischer Name jedenfalls soweit sie das beurteilen konnte. Es war ein Allerweltsname. Dieser Name konnte ebenso gut einem Deutschen, einem Holländer oder einem Belgier flämischer Zunge gehören. Nicht zu vergessen die anderen skandinavischen Länder.

Sie maß dieser Tatsache kaum eine Bedeutung bei, sie dachte einfach so darüber nach.

„Und Sie?“, fragte er dann. „Wie ist Ihr Name?“

Man konnte wirklich keinen Akzent hören. Nicht einmal eine gewisse Unsicherheit in der Auswahl von Wörtern.

„Elsa“, sagte sie. „Elsa Karrendorf.“

„Woher kommen Sie in Deutschland?“

„Osnabrück.“

„Nicht gerade eine Weltstadt. Aber ich war schon einmal dort.“

„Sie sprechen gut Deutsch.“

„Danke.“

„Sie scheinen überhaupt recht sprachbegabt zu sein... Französisch, Arabisch...“

„Ja, es ist besser, man versteht, was die Leute sagen. Sie bescheißen einen dann nicht so leicht. Jedenfalls ist das meine Erfahrung.“

„Fremdsprachen waren mir immer ein Gräuel.“

„Das ist schade.“

„Ein bisschen Englisch in der Schule. Es ist gerade genug hängengeblieben, dass ich mich durchschlagen kann...“

„Na ja, es gibt so viele deutsche Touristen... Man liest jetzt auch hier Schilder mit der Aufschrift 'Man spricht Deutsch' und 'Dortmunder Kronen'!“

„Ja!“ Sie lachte. „Und 'Wiener Schnitzel'!“

Er lachte jetzt auch und entblößte dabei zwei Reihen makelloser Zähne.

Dann fragte Sie: „Woher kommen Sie - in Dänemark?“

Er runzelte etwas die Stirn. Dann schmunzelte er etwas.

„Mein Deutsch scheint doch nicht so gut zu sein, wenn man gleich hört...“

„Nein, ich habe gestern auf der Post Ihren Pass gesehen.“

„Ich verstehe...“

„Also, woher?“

„Kleines Nest. Kennen Sie bestimmt nicht. Und ich war auch schon lange nicht mehr dort. Schon sehr lange... Wahrscheinlich würde ich es gar nicht wiedererkennen.“

Sie stand vor ihm und fühlte sich plötzlich etwas verlegen. Ein paar Augenblicke lang hielt das unangenehme Schweigen an.

Dann meinte er plötzlich: „Soll ich Sie zu Ihrem Hotel bringen?“

Sie nickte. Er vermittelte ihr das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit; ein Gefühl, nachdem sie gerade jetzt, nach diesem unangenehmen Vorfall, ein großes Verlangen hatte.

Also sagte sie: „Ja.“

Sie sagte es schnell und ohne auch nur einen Moment zu zögern, denn sie hatte das Gefühl, dass sie diesem Mann vertrauen konnte.

„Gut, dann gehen wir.“

„Ja, aber ich will erst noch zum Wasser zurück.“

„Warum?“

„Meine Schuhe - ich habe sie verloren, als ich vor den Dreien davongerannt bin...“

„Sehen wir mal nach. Aber ich glaube nicht, dass wir sie wiederfinden.“

Sie fanden sie doch wieder. Gegen alle Wahrscheinlichkeit. Sie lagen im Sand, und Elsa hob sie auf, schüttelte sie aus und streifte sie über ihre nackten Füße.

Es waren billige Textilschuhe. Einer hatte bereits ein Loch an der Seite.

Unwillkürlich kamen ihr die Schuhe ins Blickfeld, die Robert Jensen trug. Es waren Leder-Slipper. Und wie alles andere, was er trug, nur vom Besten.

Er trug diese Dinge wie selbstverständlich. Sie waren nichts Besonderes für ihn.

Jensen machte den Eindruck, Geld zu besitzen. Genug jedenfalls, um ein gutes Leben führen zu können.

„Was machen Sie beruflich?“, fragte sie plötzlich.

„Lass das 'Sie' weg“, meinte er. „Ich bin Robert. Okay?“

„Gut, wie du willst...Robert.“

Sie gingen durch den weichen, feinen Sand, und sie hoffte, dass er noch ihre Frage beantwortete, aber er kam nicht mehr darauf zurück. Und sie wollte nicht aufdringlich sein und nachhaken.

Sie hatte schließlich kein Recht, ihn in ein Kreuzverhör zu ziehen. Er musste selbst wissen, auf welche Fragen er ihr antwortete und auf welche nicht. Vielleicht wollte er es ihr nicht sagen, vielleicht hatte er auch nur nicht mehr daran gedacht...

Sie kamen zur Straße, die an der Küste entlangführte. Palmen wuchsen zu beiden Seiten. Viele von ihnen waren höher als die Häuser, die auf der dem Meer abgewandten Seite standen. Hupende Autos drängten sich auf dem Asphalt. Hier und da gab es Eselskarren, die den Betrieb aufhielten.

„In welchem Hotel wohnst du?“, fragte er.

„Hotel Massilia.“

„Kenne ich nicht.“

„Es ist halt sehr preiswert.“

„Verstehe...“

„Die Dusche ist zwar kalt, aber sonst ist es ganz nett. Ich bin nicht sehr anspruchsvoll...“

Sie gingen jetzt durch enge, leere Seitengassen. Die Kinder, die sonst in schwärmen umherliefen und sich unweigerlich auf jeden Touristen stürzten, um ihn anzubetteln und ihm die Kasbah, die Altstadt zu zeigen, waren jetzt wohl schon im Bett.

Schließlich erreichten sie das Hotel.

„Nochmals vielen Dank!“, sagte sie ein wenig unbeholfen.

„Keine Ursache“, meinte er.

„Robert...“, sie öffnete den Mund, aber sie schien nach den richtigen Wörtern zu suchen.

„Ja?“

„Vielleicht sehen wir uns mal wieder.“

„Warum nicht!“

Sie nickte und lächelte.

„Schön.“

„Ich werde dich morgen abholen“, sagte er.

Sie schaute ihn überrascht an. Aber dann nickte sie erfreut.

„Gut.“

Sie fühlte ein eigenartiges Prickeln. Robert Jensen drehte sich von ihr fort und ging die Straße hinunter. Sie sah ihm nach, aber er blickte nicht zurück.

Sie musste ihre Gefühle erst ordnen. Alles, was an diesem Abend geschehen war, schien ihr auf einmal seltsam nebulös. Wie aus einem Traum, aus dem sie gerade erwachte und den sie nun langsam vergessen konnte.

Ihr gesamtes Inneres schien durcheinandergewirbelt zu sein. Sie wusste nur, dass dieser Mann sie interessierte. Sie konnte nicht sagen weshalb. Es war einfach so. Und sie hatte nicht die Absicht, sich dieser Regung entgegenzustellen. Nein, ganz im Gegenteil. Sie freute sich darauf, ihn wiederzusehen.



2.

Robert hielt sein Versprechen und tauchte im Frühstücksraum des Hotel Massilia auf, als sie vor ihrem Milchkaffee und dem Weißbrot saß. Sie war gerade damit beschäftigt, sich die Marmelade auf das Brot zu streichen.

Es war Kakteenmarmelade, und sie empfand sie als ziemlich bitter. Aber es gab hier nichts anderes.

Er setzte sich zu ihr an den Tisch.

„Guten Morgen, Elsa.“

„Guten Morgen...“

„Gut geschlafen?“

„Es ging.“

„Na ja, verständlich - nach dem, was gestern Abend geschehen ist. Du solltest die Sache so schnell wie möglich vergessen.“

„Ich versuche es. Ehrlich. Aber das ist leichter gesagt als getan. Ich habe einen ziemlichen Schrecken gekriegt...“

„Wenn wundert's?“

„Ich meine, man hat solche Dinge so oft im Kino oder im Fernsehen gesehen, aber wenn es einem dann selbst passiert. Das ist dann doch etwas ganz anderes.“

„Natürlich.“

„Möchtest du auch etwas frühstücken, Robert?“

„Nein, danke. Ich habe schon.“

Sie musterte sein Gesicht, während sie sich das Brot in den Mund schob und abbiss. In seiner Gegenwart fühlte sie sich sicher, vielleicht war das ihre wichtigste Empfindung ihm gegenüber.

Sie fand ihn auch sonst als anziehend, aber dieses Gefühl war beherrschend.

Bei einem Mann war für sie schon immer das Wichtigste gewesen, dass er ihr ein Gefühl von Sicherheit gab. Und dass er wusste, was er wollte und was zu tun war. Ein Mann, der vorausblickte, der Gefahren kommen sah, lange vor allen anderen.

Sie sah in sein Gesicht und dachte: Ja, er weiß was er will. Dies war das Gesicht eines entschlossenen Charakters, der keinen Moment zweifelt. Jedenfalls nicht an sich. Am Rest der Welt vielleicht, aber nie an sich selbst und seiner Kraft, seiner Intelligenz und seiner Überlegenheit.

Elsa war ganz anders.

Sie zweifelte ständig an sich, an ihrem Aussehen, ihrer Figur, ihrem Charakter, ihren Fähigkeiten, ihrer Intelligenz..., an allem, was sie betraf. Alles schien perfekt und schön und gut und überlegen zu sein, nur sie nicht.

Sie wusste nicht, woher das kam, und sie mochte auch nicht darüber nachdenken. Schon gar nicht in diesem Augenblick. Nein, in diesem Augenblick, als sie Robert gegenübersaß schon gar nicht.

„Was machst du?“, fragte er plötzlich.

Seine tiefe, ruhige Stimme... Ja, es war nicht nur das Gesicht, das ihr Sicherheit vermittelte. Es war auch diese Stimme. Ein Mann, der eine solche Stimme hatte, die kein bisschen unsicher klang, der musste sich seiner Sache einfach sicher sein, der konnte keine Zweifel haben.

Diese zersetzenden Zweifel. Sie verscheuchte diesen Gedanken erst einmal erfolgreich. Sie wusste ohnehin, wohin das führte. Geradewegs in eine Depression hinein.

Sie wusste es, weil sie es schon so oft erlebt hatte. Und sie war dumm genug, es immer wieder mitzumachen.

Ihr Arzt hatte ihr geraten, in eine psychologische Beratung zu gehen, aber sie hatte das empört von sich gewiesen.

Roberts Stimme drang wie ein blitzendes Messer durch ihre trüben Gedanken und durchtrennte den Nebel, der in ihrem Inneren herrschte.

„Was ich mache? Wie meinst du das?“

„Beruflich meine ich.“

„Ach so.“

„Also?“

„Ich studiere.“

„Was?“

„Germanistik und Kunst.“

„Interessant.“

Der Klang seiner Stimme hätte jedem anderen verraten, dass er es nicht besonders interessant fand. Aber sie hörte das nicht. Sie hatte einfach keine Ohren dafür.

„Auf Lehramt?“, fragte er.

„Ja. Erst habe ich ein Magisterstudium begonnen, aber jetzt bin ich umgestiegen.“

„Warum?“

„Man muss ja schließlich irgendwann auch einmal damit anfangen, sein eigenes Geld zu verdienen.“

„Ja, das ist richtig.“

„Und was machst du, Robert?“

Sie hörte ihre Stimme seinen Namen sagen, und auf einmal klang das, was über ihre Lippen kam, ihr selbst fremd. Sie blickte auf, direkt in seine hellblauen Augen. Und sie dachte: stell ihn dir mit grauen Haaren vor, dann könnte er dein Vater sein.

Aber er hatte keine grauen Haare.

Und er war auch nicht ihr Vater. Es war einfach ein Gedanke gewesen, der sie angeflogen und nicht wieder losgelassen hatte. Dieser Gedanke sollte sie noch eine ganze Weile lang verfolgen.

„Na?“, fragte sie. Er hatte nicht sofort geantwortet. Und an seinem unbewegten Gesicht war nicht zu erkennen, worin der Grund dafür lag.

Vielleicht war es auch nur Einbildung.

Vielleicht war sie einfach zu ungeduldig.

„Geschäfte“, sagte er unverbindlich.

„Müssen ganz gut laufen, deine Geschäfte“, meinte sie und er runzelte unwillkürlich die Stirn.

„Wie kommst du darauf?“

„Nun, die Sachen, die du trägst, sind nicht gerade billig. Die Uhr da an deinem Handgelenk... Ich vermute es einfach. Du siehst aus wie jemand, der Erfolg hat und der nicht jeden Pfennig umdrehen muss, bevor er ihn ausgibt.“

Er lächelte.

„Ja, das trifft es wohl...“, murmelte er nachdenklich. Sie hoffte, dass er noch etwas Näheres dazu sagen würde.

Aber es kam nichts mehr.

Stattdessen fragte er, als er sah, dass Elsa aufgegessen hatte: „Was machen wir heute?“

„Ich weiß nicht...“

„Mein Auto steht vor der Tür. Wir können etwas in der Umgebung herumfahren!“

Sie zuckte erst mit den Schultern. Dann nickte sie.

„Okay.“

Er lächelte und zeigte dabei seine Zähne.

„Gut, dann los!“ Robert fuhr einen Landrover.

„Wow!“, staunte Elsa. „Ich habe schon immer davon geträumt, mal in so einem Ding zu sitzen!“

„Na, nun sitzt du ja drin!“

„Gehört er dir? Oder ist der Wagen geliehen?“

Schon als es über ihre Lippen gekommen war, wusste sie die Antwort. Es war eine dumme Frage. Eine, die sich im Grunde erübrigte. Sein Gesichtsausdruck in diesem Moment sagte ihr genau das.

Jemand wie Robert brauchte sich keinen Wagen zu leihen. Es war zumindest mehr als unwahrscheinlich.

„Er gehört mir“, sagte er.

Sie fuhren los.

„Wohin geht's?“

Sie hatten nicht darüber gesprochen.

Und Elsa wunderte sich über sich selbst.

Da stieg sie zu einem Mann ins Auto, den sie kaum kannte und ließ sich von ihm irgendwohin fahren.

Es zeigte, wie sehr sie ihm vertraute. Von Anfang an, ohne einen wirklich fassbaren Grund dafür zu haben. Und dann kam es ihr erneut in den Sinn: Wenn er graue Haare hätte, könnte er mein Vater sein...

Vielleicht war das der Grund.

Sie dachte nur ganz kurz darüber nach. Einen Sekundenbruchteil lang vielleicht. Dann scheuchte sie den Gedanken beiseite. Sie wollte hier nicht weitergrübeln.

Sie wusste, wohin das führte. Ihr Vater... Nein, das war ein eigenes Kapitel, und sie hatte jetzt einfach keine Lust, darin zu lesen.

„Also wohin, Robert?“, hörte sie sich selbst sagen.

„Einfach ein bisschen in der Gegend herum, dachte ich. Einverstanden?“

„Meinetwegen.“

„Seit wann bist du in Tanger?“

„Seit vorgestern.“

„Bist du schon aus der Stadt heraus gewesen?“

„Nein.“

„Hab ich mir gedacht...“

„Ich war in der Kasbah und auf dem Markt.“

„Natürlich, da führen sie einen immer zuerst hin.“

„Ich hatte einen offiziellen Führer. Einen mit Ausweis. Die sind gleich am Hafen gewesen.“

„Ja, wie die Hyänen stürzen die sich auf neu angekommene Touristen. Trotzdem: Wenn du an einen offiziellen Führer gerätst, ist das Risiko nicht so groß, an einen Halsabschneider zu geraten.“

„Meiner war ganz nett. Und es war ein offizieller Führer. Er hat mich auch zum Hotel gebracht. Ich habe ihm gesagt, was ich mir leisten kann, und er hat mich hingebracht.“

„Hat er dir auch ein Taxi besorgt?“

„Ja, hat er.“

„Und dir den Geldumtausch besorgt?“

„Ja, hat er auch. Aber woher...?“

„Vielleicht waren das alles seine Cousins: Der Hotelbesitzer, der Taxifahrer...“

„Und wenn schon!“

Sie lachten beide.

„Was suchst du hier in Marokko?“

„Ich habe keine Ahnung.“

Robert gegenüber war sie völlig offen. Es schien, als könnte sie nichts vor ihm verbergen, als würde sich alles in ihr ihm gegenüber von selbst öffnen. Es beängstigte sie ein wenig. Aber sie fühlte sich gut dabei. Und das war doch alles, worauf es im Moment ankam.

Nein, sie beschloss, keine Zweifel zuzulassen, nicht an sich selbst und schon gar nicht an dem Mann, der neben ihr saß.

„Ich wollte mal was anderes sehen“, sagte sie. „Einfach mal was anderes. Sonne, verstehst du?“

„Ich weiß nicht...“

„Bei uns zu Hause gibt es zu dieser Jahreszeit oft noch Schneeschauer... Das ist so trostlos. Irgendwie...“ Sie suchte nach Wörtern, nach Wörtern, die passten und das ausdrückten, was sie empfand. Und dabei stellte sie fest, dass sie selbst sich darüber kaum im klaren war. Im Grunde genommen hatte sie nur sehr oberflächlich darüber nachgedacht. Und dann war es auf einmal heraus: „Abstand...“, murmelte sie.

Sie sah zu ihm hinüber.

Er saß ruhig am Steuer. Seine Stirn hatte sich ein klein wenig in Falten gelegt. Er hob die Augenbrauen.

„Abstand?“ fragte er.

„Ja.“

„Abstand wovon?“

„Ich weiß nicht, ob dich das interessiert...“

„Doch, es interessiert mich, Elsa. Weil du mich interessierst.“

Das hatte er nett gesagt, fand sie. Und es ging ihr ganz warm den Rücken hinunter.

„Es ist eine sehr persönliche Sache“, sagte sie. „Und sehr unangenehm...“

Sie wurde sich schnell darüber klar, dass er daraus nicht schlau werden konnte. Sie redete einfach so, wie ihre Gedanken kamen, aber wie sollte er das verstehen.

Er sah kurz zu ihr hinüber.

„Eine Liebesgeschichte?“

„Nein.“

„Was dann?“

„Meine Eltern...“

Sie schluckte.

„Was ist mit ihnen?“

„Sie haben sich gerade scheiden lassen. Jetzt, nach so vielen Jahren...“

Sie sah es ihm an, was er dachte. So etwas passiert doch jeden Tag. Jeden Tag dutzendmal, hundertmal, tausendmal... Kein Mensch regte sich über so etwas auf.

„Es hat mich sehr mitgenommen“, fügte sie hinzu, als müsste sie etwas erklären.

„Ich verstehe...“

Er verstand es nicht, davon war sie überzeugt. Aber er tat immerhin so, und das war nett.

„Ich habe immer gedacht, das zwischen meinen Eltern alles in Ordnung wäre“, sprudelte es aus ihr heraus. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie sich früher viel gestritten haben. Ich meine, in anderen Ehen gibt es Gewalt und Alkohol und so etwas - und die werden nicht geschieden...“

„Wie alt bist du?“, fragte er.

„22. Warum?“

„Du bist eine erwachsene Frau.“

Sie glaubte zu verstehen, was er meinte.

„Ja schon, aber...“

„Und deine Eltern sind ebenfalls erwachsene Menschen, nicht wahr?“

„Ich weiß. Mein Verstand weiß das. Mein Gefühl glaubt es nicht. Verstehst

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Alfred Bekker, CassiopeiaPress
Bildmaterialien: Alfred Bekker
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2014
ISBN: 978-3-7368-2070-8

Alle Rechte vorbehalten

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