Tom Percival und das Geheimnis von Saint Joseph
von Jo Zybell
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© der Digitalausgabe 2014 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Eynsford, Grafschaft Kent, Ostersonntag, 1754
Die Stimmen wurden lauter. Schritte drangen aus der Empfangshalle in den Keller herab. Viele Schritte. Eine Frau schrie hysterisch.
"Wo ist er?", rief ein Mann.
Und ein anderer: "Tilgt die Bestie von Gottes Erdboden aus!"
Die Männer standen unterhalb der Kellertreppe vor der offenen Tür zu einem dunklen Gewölbe - Lord James Madison, der Pfarrer, der Grafschaftsvogt und vier Bewaffnete des Vogtes. Zwei von ihnen trugen Fackeln. Ein ekelerregender Gestank drang aus dem offenen Gewölbe neben ihnen.
Oben wurde die Tür aufgerissen. Das Stimmengewirr schwoll schlagartig an. Getrampel und Gescharre vieler Füße hallte von den Kellerwänden wider. Fackelschein schob sich über die Wendeltreppe nach unten. Stufe für Stufe.
Holzpantoffeln wurden sichtbar, dahinter löchrige Stiefel und hochgeschnürte Sandalen. Dann der Anführer der aufgebrachten Menge. Ein junger Mann in den abgerissenen, groben Kleidern eines Bauern. Er trug eine Axt bei sich. "Dort unten! Dort unten steht der Teufel!"
Lord Madison zuckte zusammen und zog die Schultern hoch. Sein schmales Gesicht war weiß wie die gekalkte Wand des Treppenaufgangs. "Wollt ihr mich in die Hände des Pöbels fallen lassen?", flüsterte er. Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Atem flog. Der Pfarrer und der Grafschaftsvogt wichen seinem Blick aus und schwiegen.
Schreiend ergoss sich die Menschenmenge über die enge Treppe in den Vorraum des Keller herab. Die Bewaffneten des Grafschaftsvogtes kreuzten ihre Flinten mit aufgepflanzten Bajonetten vor der untersten Stufe der Wendeltreppe. Äxte, Mistgabeln und Knüppel schlugen die Bajonette herunter, die Bewaffneten wurden von der Menge überrannt.
Pfarrer William Gladestone und Sir Jeremy Wolfe, der Grafschaftsvogt, wichen zurück. Zwei Bauern griffen Lord Madison an. "Helft mir!", brüllte er. "Ihr könnt mich nicht dem Pöbel überlassen!" Er schlug um sich wie ein Ertrinkender.
Sie stießen ihn zu Boden - Bauern, Zimmerleute, Knechte, Männer und Frauen zugleich. Sie rissen ihm die Perücke vom Kopf, zogen ihm Samtrock und Weste aus, droschen mit Fäusten auf ihn ein. Gladestone und Sir Wolfe drückten sich an die Wand. Verstohlene Blick gingen hin und her zwischen ihnen.
Der Müller und der Schulmeister von Eynsford entwanden den Schergen des Grafschaftsvogtes die Fackeln. Vor der Tür des Kellergewölbes pressten sie sich ihre Kappen gegen Mund und Nase. Ihre Gesichter verzogen sich angewidert, Ekel und Entsetzen zerrte an ihren Nerven. Dann drangen sie in das dunkle Gewölbe ein. Drei Frauen und ein paar Männer folgten ihnen.
Für einen Moment wurde es totenstill. Bis gellende Schreie aus dem Gewölbe drangen. Schreie von Frauen und Männern. Langgezogene, gequälte Schreie. Schreie, wie sie Kreaturen in höchster Not ausstoßen.
Den Menschen vor der offenen Gewölbetür stockte der Atem. Einige schluckten, einige stöhnten, andere schlugen die Hände vors Gesicht. Dutzende von Augenpaaren richteten sich auf Lord Madison. Augenpaare voller Entsetzen, Augenpaare voller Hass.
Der Lord lag am Boden, drei Männer hielten ihn fest. Trotzig schob er den Unterkiefer vor und hielt den Blicken stand.
Der Müller und der Dorfschulmeister erschienen unter dem steinernen Türrahmen des Gewölbekellers. Der Müller, ein stämmiger Bursche mit fettem Gesicht, zitterte am ganzen Körper. Dem hochaufgeschossenen, dürren Dorfschulmeister bebte die Unterlippe. Die Frauen hinter ihnen schrien noch immer. "Sie sind da drin", krächzte der Müller. "Tot. Alle sieben..."
Wie ein Mann brüllte die Menge auf. Eine Mistgabel sauste auf Lord Madison herunter und traf ihn am Bauch. Er krümmte sich zusammen, sein seidenes Rüschenhemd färbte sich rot. Seine Blicke suchten den Pfarrer und den Grafschaftsvogt. "Helft mir...", stöhnte er.
Die nächststehenden Männer und Frauen stürzten sich auf ihn. Faustschläge gingen auf ihn nieder, Fingernägel kratzten seine Haut auf, ganze Büschel seines dünnen, grauen Haares wurden ihm herausgerissen.
"Lasst ab von ihm", rief Pfarrer Gladestone. "Die Rache ist mein, spricht der Herr! Lasst ab von ihm...!" Niemand hörte ihn.
"Tötet diese Bestie!" Zwei Männer rissen Lord Madison auf die Beine. Er blutete aus vielen Wunden. "Weg mit dem Teufel!" Sie zerrten ihn zur Treppe.
Für Sekunden sah er den Pfarrer und den Grafschaftsvogt an. "Ich verfluche euch..." Madisons Stimme war nur noch ein Krächzen. "Ihr und eure Kinder - seid verflucht..." Er hob den Arm und deutete auf Gladestone und Wolfe. "Diese Männer..." Jemand schmetterte ihm die flache Axtklinge auf den Mund. Seine Stimme erstickte in röchelndem Gurgeln. Seine Lippen platzten auf, Blut spritzte, drei Schneidezähne fielen auf die Treppe. Dann stieß ihn die Menge hinauf in die Eingangshalle seines Hauses.
Die Schergen des Grafschaftsvogtes hoben ihre Flinten. Fragend blickten sie sich nach Sir Wolfe um. Der schüttelte müde den Kopf. "Der Mob ist entfesselt", sagte er, "wir müssten einige töten, um ihn zu bändigen. Es reicht wenn einer stirbt..."
Ein paar Minuten später standen Pfarrer Gladestone und der Grafschaftsvogt hinter dem gusseisernen Tor vor Madisons Grundstück. Es war dunkel. Sie sahen Männer und Frauen am Ufer des kleinen Sees und über den gepflegten Rasen laufen. Sie trugen Äste, Reisigbüschel, Holzscheite und Baumstämme in das zweistöckige, schlossartige Haus hinein.
Sir Jeremy Wolfe, der Grafschaftsvogt, hatte seine bewaffneten Männer nach Eynsford hineingeschickt. Sie sollten Verstärkung holen. Sir Wolfe wusste, dass die Verstärkung zu spät kommen würde. Und Pfarrer Gladestone wusste es ebenso.
Über dem Eingangsportal des Herrenhauses, im zweiten Geschoss, wurden zwei Fensterflügel aufgerissen. Die Gestalt Lord Madisons erschien in der Fensteröffnung. Hinter ihm Männer und Frauen. Die Leute tobten. Einige hieben mit Fäusten und Knüppeln auf den Lord ein.
"Raus mit ihm!", brüllte jemand. Kopfüber wurde der Lord über das Fenstersims nach draußen gestoßen. Gladestone und Wolfe hielten den Atem an.
Aber Madison stürzte nicht auf die Vortreppe seines Eingangsportals. Er scheuerte mit dem Rücken an der Hauswand entlang. Abrupt wurde sein Sturz gestoppt - der Pöbel hatte ihm lange Stricke um die Knöchel gebunden und irgendwo hinter den Fenstern befestigt. Die Stiefelsohlen knapp unter dem Fenstersims, die Hände neben dem Kopf gegen die Hauswand gestützt hing er zwischen Himmel und Erde und schrie wie ein Stier im Schlachthaus.
"Sie werden ihn töten", flüsterte der Pfarrer.
"Ja." Sir Wolfe legte die Hand an seinen Degen. "Sie werden ihn töten." Er wandte sich ab und schritt den Kutschweg nach Eynsford hinunter. Als würden seine Bewaffneten schneller hier sein, wenn er ihnen entgegen ging.
William Gladestone ging langsam in das Grundstück hinein. Das Gebrüll des Lords klang grausig. Das lange Haar des Mannes hing vom blutenden Schädel weg an der Hauswand herunter. Sein Körper krümmte sich, seine Hände klammerten sich im Stoff seiner Hose fest, und er versuchte sich an den Hosenbeinen entlang bis zu den Seilen um seine Knöchel hochzuziehen. Vergeblich.
Glas klirrte - die aufgebrachte Menschenmenge stieß die Fenster ein. Rauch quoll aus dem Haus. Die Meute sammelte sich vor dem Eingangsportal. Zwei Männer eilten zu den Rosenrabatten. Gladestone konnte nicht erkennen, wonach sie sich bückten - es war zu dunkel. Er wusste es trotzdem.
Andere suchten die Steine am Seeufer zusammen. Und bald flogen die ersten hinauf zu dem hilflos an den Beinen aufgehängten Lord. Sein Gebrüll hatte nichts Menschenähnliches mehr.
Schritt für Schritt näherte der Pfarrer sich der Vortreppe. Madison versuchte sich an der Hauswand abzustoßen, um den Steinen auszuweichen. Sie trafen ihn an den Schenkeln, im Bauch, auf der Brust, und die Menge quittierte jeden Treffer mit einer Hasstirade.
Flammen schlugen aus den Fenstern. Auch über Madison züngelte Feuer aus der Fensteröffnung und leckte die Hauswand ab. Feuerschein auch auf der Krone der alten Eiche hinter dem Haus.
Gladestone meinte die glühenden Augen des Lords zu sehen. Er sah nur schwarze Öffnungen über den herabhängenden Haaren. Aber er spürte den Blick des Sterbenden. Und er war der einzige, der das verwaschene Gebrüll aus seinem zerschlagenen Mund verstehen konnte: "Verflucht, verflucht, verflucht..."
*
London, Sommer 1998
Paula knipste das Licht nicht an. Ihre Hand tastete nach der Plastikschale auf ihrem Nachttisch. Sie setzte sich im Bett auf und holte ihr Gebiss aus der Schale. Sorgfältig drückte sie das Oberteil mit beiden Daumen am Gaumen fest. Danach setzte sie das Unterteil ein.
Sie schob sich aus dem Bett und ging zum Schrank. Sie brauchte kein Licht, sie brauchte keine Brille, um zu finden, was sie suchte: Die Jogginghose, ein Kopftuch, die lange Wollweste und ihre flachen, schwarzen Schuhe. Sie zog sich die Sachen über das Nachthemd.
Von ihrem Zimmer konnte sie ebenerdig über eine Veranda in den Garten gehen. Das war der Hauptgrund, aus dem sie sich für ein Zimmer im Erdgeschoss entschieden hatte. Mit dem kraftvollen, federnden Schritt einer Dreißigjährigen lief Paula über den gepflegten Rasen.
Mondloser Nachthimmel spannte sich über dem Anwesen und dem angrenzenden Wald aus. Es war kurz nach drei Uhr. Paula wusste es ohne auf ihre Armbanduhr blicken zu müssen.
Der Grasboden unter ihren Schuhen war weich. Es hatte bis gestern geregnet. Eine Ente quakte nicht weit von ihr im See. Schilfgras raschelte, Wasser plätscherte, Flügelschlag klatschte, zwei Schatten lösten sich von der dunklen Wasseroberfläche und schwirrten über die schwarze Wand des Waldes.
Kies knirschte unter ihren Sohlen, als Paula den Hauptweg zum Parkplatz betrat. Unter der alten Eiche reihten sich die Schatten der Wagen. Sie lief zu dem neuen Honda Civic. Paula wusste, dass der Wagen aufgetankt war.
Die Umrisse einer menschlichen Gestalt löste sich aus dem gewaltigen Stamm der Eiche und näherte sich. Eric. Er trug einen langen weiten Trenchcoat und eine Baseballkappe. Eine große Sonnenbrille verdeckte die obere Hälfte seines knochigen Gesichtes. Er stieg auf der Beifahrerseite ein und legte seine Krücken auf den Rücksitz. Der Wagen war nicht abgeschlossen.
Paula schaute sich noch einmal nach dem Haus um. Im gläsernen Treppenaufgang, der die beiden Flügel miteinander verband, brannte das Nachtlicht. Sonst war hier, auf der Rückfront, kein Fenster erleuchtet. Sie stieg ein und zog die Tür zu. Der Autoschlüssel steckte.
Sie steuerte den Wagen aus dem großen Anwesen hinaus und auf die Landstraße nach Norden. Zwanzig Minuten später fuhren sie die Auffahrt zur Autobahn hinauf. Paula fuhr nicht schnell. Sie hatten es nicht eilig.
Über die Autobahn ging es nach Nordwesten. Swanley, Sidcup, Mottingham, Catford und dann hoch nach Greenwich. Nur wenig Verkehr in beiden Fahrtrichtungen. Eric blickte starr geradeaus durch die Windschutzscheibe. Paula hätte nicht sagen können, ob er schlief oder wach war. Sie sprachen kein Wort miteinander.
Durch den Blackwall Tunnel unterquerten sie die Themse. Und danach ging es westlich in die Innenstadt hinein. Die Zeilen der Hausfassaden wurden länger, die Parkreihen am Straßenrand dichter.
Es war gegen fünf, als sie Spitalfields erreichten. Paula bog in die Commercial Street ein und hielt am Spitalfields Market.
Sie schaltete den Motor ab und lehnte sich in ihren Sitz. Wohl eine halbe Stunde oder länger saßen sie so. Schweigend, fast reglos.
Irgendwann holte Eric seine Krücken vom Rücksitz. Sie blickten sich an. Das Licht der Straßenbeleuchtung floss durch das Beifahrerfenster ins Innere des Wagens. Paula sah den Umriss ihre Kopfes in den dunklen Gläsern von Erics Sonnenbrille. Und die Fransen des Kopftuches. "Hörst du die ihn?", krächzte Eric schließlich. Seine Stimme klang wie das Reißen eines harten Kartons.
"Ja", antwortete Paula leise. "Ich höre seine Stimme. Blut muss fließen, sagt sie."
Eric nickte. "Viel Blut." Er packte seine Krücken, stieg aus und schlug die Tür zu. Paula sah ihm nach, bis die Dunkelheit über dem nächtlichen Spitalfields Market ihn verschluckte.
Sie startete den Motor und steuerte den Wagen vom Straßenrand weg. Der Morgen graute, während sie durch die Innenstadt fuhr...
*
Die fleischigen Finger flogen über die Tastatur.
Hier der zweite Teil der Story über den Kinderschänder von Walworth. Komme um 10.00 Uhr zur Redaktionssitzung. Viel Spaß. T.P.
Ein Mausklick, und die E-Mail-Adresse der Redaktion erschien in der oberen Spalte des Fensters. Und noch einmal vier Klicks, und die Datei mit der Story war als Anlage angefügt. "Weg mit dem Mist", murmelte Percival und schickte die E-Mail auf ihren rätselhaften Weg durch die Telefonleitung.
Er schaltete den Computer aus und streckte sich. Sein Blick fiel auf das Foto neben seinem Monitor. Das Schwarzweiß-Portrait einer jungen, blonden Frau in dunkelrotem Lederrahmen. Über die rechte Ecke gekritzelt eine handschriftliche Widmung: In Love, Suzanne...
Unter Hunderten von Fotos, die er in den Jahren mit ihr geschossen hatte, hatte er dieses ausgesucht. Wegen der Widmung. Und wegen des mädchenhaften Lächelns. So wollte er sie in Erinnerung behalten.
Vor dem Fenster seines Arbeitszimmers war es schon hell. Tom Percival war früh aufgestanden an diesem Tag. War es halbfünf gewesen? Oder erst vier? Er hatte verdammt schlecht geschlafen. Ein Albtraum hatte ihn geweckt.
Der massige Mann stieß sich mit den Beinen ab. Sein Bürosessel rollte vom Schreibtisch weg. Percival stand auf. Geräusche auf der Straße vor dem Haus. Das Fahrrad des Zeitungsjungen. Dann Schritte und das Klappern des Briefkastendeckels.
Percival schritt durch sein weitläufiges Arbeitszimmer, durchquerte sein kleines Schlafzimmer und ging in seine Küche. Ein runder Tisch in der Mitte, stabile Stahlrohrstühle mit geflochtener Sitzfläche, schlichte Hängeschränke - Buchenfurnier - ein großer, blauer Kühlschrank und eine Spüle, auf der sich Geschirr von drei Tagen stapelte.
Er griff nach einer der Flaschen auf dem Kühlschrank. Schottischer Malt-Whisky. Den hast du dir verdient, Tommy...
Bestialisch, hatte er den Artikel überschrieben. Nicht dass die Recherchen schwieriger gewesen wären, als die zu anderen Stories. Nur ekelhafter. Gestern war Percival dabeigewesen, als sie zwei aufgeschlitzte Kinderleichen unter der Garage des Verdächtigen ausgegraben hatten. War ihm mächtig unter die Haut gegangen.
Aber davon abgesehen gönnte er sich nach jeder abgeschlossenen Arbeit einen Drink. Und meistens auch zwischendurch. Gleichgültig zu welcher Tageszeit.
Er schlürfte seinen Whisky. Der verdammte Traum spuckte noch in seinen Hirnwindungen herum. Das Gefühl des Fallens, dieses widerliche Gefühl des bodenlosen Fallens...
Percival zündete sich eine filterlose Lucky Strike an. Mit der Zigarette zwischen den Lippen füllte er Wasser in die Kaffeemaschine und löffelte Kaffeepulver in den verdreckten Filter. Wieder Schritte draußen vor der Haustür. Glas klapperte gegen Stein. Der Milchmann.
Percival blies den Rauch gegen die Decke. Die Kaffeemaschine brodelte. Kaffeeduft breitete sich in der Küche aus. Percival leerte das Whiskyglas. Verfluchter Traum...
Sein Blick fiel auf den Kalender neben der Tür zum Schlafzimmer. 11.Juni. Unter dem Datum ein Spruch: Realität ist die Illusion, die man hat, wenn man nüchtern ist. Er musste grinsen. Ein irisches Sprichwort. Percival leerte sein Glas.
Seit zwei Tagen hatte er kein Blatt mehr vom Kalender abgerissen. Das heutige Datum lag ihm schon seit zwei Wochen wie ein Stein im Brustkorb. Er ging zum Kalender und riss zwei Blätter ab. 13. Juni. Suzannes Geburtstag. Man sieht nur, was man weiß. Friedrich Nietzsche, stand darunter.
"Blödsinn", murmelte Percival. Aber dann drängte sich wieder der verdammte Albtraum in sein Bewusstsein. Er bestieg den Aufzug eines Bürogebäudes, wollte nach oben fahren, zum Büro einer Versicherung - genau: Eine Lebensversicherung wollte er abschließen! Er sah den blanken Edelstahlboden des Aufzug, und kaum hatte er seinen Fuß auf ihn gesetzt, riss er durch, wie Staniolpapier. Percival stürzte in bodenlose Tiefen...
"Ich sah einen Edelstahlboden", murmelte Percival. Man sieht nur, was man weiß...
Er schüttelte sich, schaukelte in sein Arbeitszimmer und legte eine Scheibe in den CD-Player. Zurück in die Küche, Zigarette ausdrücken, Tasse aus dem Schrank. Er goss sich die dampfende, braune Brühe ein, holte die Milchflasche von der Vortreppe und ließ einen Schuss daraus in die Kaffeetasse schwappen. Anschließend häufte er zwei Teelöffel Zucker dazu. Zum Kaffee die nächste Zigarette.
Aus den beiden Boxen links und rechts der Tür strömte Beethovens Sechste Sinfonie in die Küche. Damals, bevor die Sache mit Suzanne passierte, hatte er auch solche bescheuerten Träume gehabt. Und in den Wochen, bevor sie ihn endgültig aus dem Amt gefeuert hatten genauso.
Lange her. Percival schlürfte seinen Kaffee. Die Musik verscheuchte die trüben Gedanken. Er krempelte die Ärmel hoch und ließ Wasser in die Spüle laufen. Innerhalb von einer halben Stunde hatte er den Abwasch bewältigt und die Küche auf Hochglanz gebracht.
Danach stieg er unter die Dusche. Der eiskalte Wasserstrahl belebte seinen Kreislauf und seinen müden Schädel. Er trocknete sich ab und stieg auf die Waage - 210 Pfund. Zuviel für einen Mann von hunderteinundneunzig Zentimeter Körpergröße. Aber immerhin zwei Pfund weniger, als letzte Woche noch.
Aus dem Spiegel blickte ihm das breite Gesicht eines Gemütsmenschen entgegen: Wulstige Lippen, breites Kinn, eine kleine Stupsnase, hohe gewölbte Stirn, dicke Augenlider, unter denen schmale, graue Augen hellwach in die Welt guckten.
Und das schelmische Grinsen um Mund und Augen. Angeblich hatte dieses Lächeln schon die Hebamme im Kreissaal in helles Entzücken versetzt. Und Percival glaubte die Legende, die ihm seine Mutter nicht oft genug erzählen konnte: Selbst wenn er sich mal wieder eine Kugel geben wollte, wich dieses Grinsen nicht aus seiner Visage.
Eine dichte Matte aus krausen, drahtigen Locken bedeckte seinen Quadratschädel. Einzelne, silberne Fäden durchzogen das schwarze Haar, und auch sonst sah Percival in der Regel so alt aus, wie er war: Zweiundvierzig.
Er stieg in seine schwarzen Cordhosen, schlüpfte in ein schwarzes T-Shirt und zog sein graues Sakko über. Prüfend klopfte er die Taschen ab - Zigaretten, Feuerzeug, Notizbuch, Stift, Diktiergerät, das Kreuz, Handy, alles da. Ohne Frühstück verließ er das Haus. Er sollte es bereuen.
*
Roushhour. Stoßstange an Stoßstange rasselten die Fahrzeuge vorbei. Benzin- und Dieselgestank erfüllte die Straße. Eric roch es kaum. Die Kälte kroch aus den Steinplatten des Bürgersteigs in seinen Körper. Er spürte es nicht.
Die Beine ausgestreckt lehnte er gegen die Hauswand. Daneben die Krücken. Die vielen Passanten machten einen Bogen um seine Beine und die Krücken. Nur wenige warfen eine Münze in die Zigarrenschachtel, die er neben seinen Turnschuhen aufgestellt hatte.
Er hatte ein Stück Pergamentpapier hinter die Zähne seines Kamms gespannt. Den Kamm an die Lippen gepresst blies er eine Melodie. Der Verkehrslärm war so laut, dass die Vorrüberhastenden sie nicht erkennen konnten.
Neben sich, im Treppenaufgang zu einem Mietshaus, hörte er die Haustür aufgehen. Er nahm den Kamm nicht von den Lippen. Aus den Augenwinkeln sah er die großen Hinterräder eines Kinderwagens in sein Blickfeld schweben. Dann die Lehne des Wagens, dann einen etwa zweijährigen Jungen, der ihn aus dem Sportwagen heraus neugierig betrachtete.
Eine junge Frau tauchte aus dem Treppenaufgang auf. Sie drückte den Griffbügel des Wagens hinunter, um ihn auf den Vorderrädern über die Stufenkanten auf den Bürgersteig zu befördern. Sie trug Jeans und ein helles Jackett. Ihr langes blondes Haar glänzte in der Morgensonne.
Auf dem Bürgersteig angekommen warf sie einen Blick auf Eric. Sie ließ den Kinderwagen los und kramte eine Münze aus ihrer Jeans. Klimpernd flog sie in Erics Zigarrenkiste. Er nickte, ohne seine leise Melodie zu unterbrechen.
Mit kleinen, raschen Schritten entfernte sie sich Richtung South Place. Dort bog sie mit dem Kinderwagen nach links in die Eldon Street ein.
Eric stand auf, schlug die Zigarrenkiste zu und steckte sie in die Außentasche seines Trenchcoats. Auf die Krücken gestützt folgte er der Frau...
*
Paula ließ sich Zeit. Sie fuhr ein wenig durch die Innenstadt und erreichte erst gegen sieben Parsons Green. Am South Park stellte sie den Honda Civic ab und schlenderte anschließend quer durch den Park. Wer sie zufällig beachtete, musste sie für eine etwas verschrobene Renterin halten, die unterwegs war, um im Park die Enten zu füttern. Oder für eine Frau, die überhaupt kein Ziel hatte.
Paula hatte ein Ziel.
Gegen Viertel vor acht erreichte sie das Viertel zwischen Park und Themse. Und fünf Minuten später ihr Ziel: Ein weitläufiges, von einem gusseisernen Zaun und einer hohen Hecke umgebenes Grundstück in der Dymock Street.
Scheinbar gemütlich schlenderte sie an Zaun und Hecke entlang. Vor dem elektrischen Rolltor zum Anwesen ging sie in die Hocke und nestelte am Schnürsenkel ihres rechten Schuhs herum. Dabei spähte sie zu dem großen Messingschild hoch, das an einem Klinkerpfosten befestigt war. Dort las sie ihn - den Namen...
"Ei, ei, ei..." Paula kicherte in sich hinein. "Ei, ei, Doktorchen - ich kenn dich..." Sie stand auf und ging weiter. "Ich komm zu dir, Doktorchen", kicherte sie. "Ei, ei, ei - ich komm zu dir..."
Noch ein paar Schritte weit schlenderte sie am Grundstück entlang. Dann drehte sie sich um und blickte die kurze Straße hinunter. Niemand zu sehen, kein Mensch, kein Auto. Die Häuser auf der anderen Straßenseite lagen weit ab von der Straße in ihren parkähnlichen Grundstücken. Hohe Hecken und dichtbelaubte Bäume verdeckten den Blick auf sie...
*
Aus dem Briefkasten zog Percival seine drei Zeitungen: THE TIMES, den DAILY STAR, und das Blatt seiner eigenen Firma: THE SUN. Dann die Artillery Row hinunter. Percival hatte seinen Wagen am Abend zuvor in der Redaktion stehen lassen. Er war nicht mehr ganz nüchtern gewesen.
Vorbei an dunkelgeklinkerten Häuserzeilen mit schwarzen, eisernen Balkongittern und kleinen, eingezäunten Vorgärten. Die Artillery Row war durchaus zu verwechseln mit anderen Straßen hier in Spitalfield oder in King's Cross. Georgian Stil nannten die Architekten diese steingewordene Langeweile. Percival liebte sie.
Es war kurz nach acht als er den Bishopsgate erreichte. Rasselnde Blechlawinen schoben sich über die vierspurige Straße nach Norden und Süden. Menschenmassen drängten sich an den Fußgängerüberwegen unter den Ampeln. Menschenmassen strömten auf der Liverpool Street die Treppe zur Underground hinunter.
Eine Frau mit einem Kinderwagen fiel ihm auf. Eine blonde Frau, nicht älter als dreißig. Sie trug Jeans und ein helles Jackett. "Warten Sie, Ma'am - ich fass mit an."
Er packte den Sportwagen vorn am Fußbrett und trug ihn gemeinsam mit der Frau die Treppe hinunter. Der knapp zweijährige Knirps musterte staunend sein Gesicht. Percival interessierte sich mehr für die Mutter - ein süßes Weib... Die Frau bedankte sich, schenkte ihm ein freundliches Lächeln und tauchte in der Menschenmenge am Bahnsteig unter.
Percival stellte sich im hinteren Bereich des Bahnsteigs auf. Ein Blick auf das digitale Hinweisschild - King's Cross, 8.16 Uhr. Nur noch ein paar Minuten. Glück gehabt.
In der Gegend des King's Cross lag das Wettbüro. Dort wollte er noch vorbeischauen, bevor er in die Redaktionssitzung ging.
Seine Augen wanderten über die schweigend wartende Menge. Dicht gedrängt stand sie an der Bahnsteigkante. Wie der Heringsschwarm vor dem Haifischmaul.
Ganz vorne, etwa zehn Schritte entfernt entdeckte er die blonde Mummy. Sie schnitt ihrem Balg Grimassen. Ein süßes Weib! Percival konnte den Kleinen im Kinderwagen wegen der Menschenmenge nicht sehen. Aber er hörte ihn krähen.
Hinter ihm ein melodiöses Summen. Percival blickte sich um: Zwischen Papierkorb und Bank lehnte ein Bettler gegen die Wand. Sonnenbrille, schwarze Baseballkappe über grauem Haar und in einen schmierigen Trenchcoat gehüllt. Ein Paar Krücken lag neben seinen ausgestreckten Beinen. Er blies God save the Queen auf einem mit Pergamentpapier bedecktem Kamm.
Ein Blinder, ein Obdachloser, oder ein Schwerbeschädigter - weiß der Teufel, jedenfalls tut er was für seinen Lebensunterhalt...
Percival kramte ein Zwanzig-Pence-Stück aus der Hosentasche und warf es in die leere Zigarrenschachtel des Mannes. Der schien es nicht mal zur Kenntnis zu nehmen.
Percival entfaltete den DAILY STAR. Mal sehen, was die Konkurrenz gedichtet hatte. Auf dem Titelbild eine nackte Nymphe in einem Korbsessel: Schwarzhaarig, gespreizte Beine, Schlafzimmerblick, Brüste wie Wassermelonen. Natürlich in Farbe.
Böse Zungen behaupteten, den Lesern der SUN sei es egal, wer dieses Scheißland regiert, solange die Frau auf der Titelseite nur große Titten hat. Und den Lesern des DAILY STAR sei es erst recht egal, wer dieses Scheißland regiert, solange ihr Titten größer und in Farbe sind.
Percival schlug die Seite mit dem Horoskop auf. Widder: Keine Experimente heute! Sie gehen auf dünnem Eis! Aber trösten Sie sich: Was uns nicht unmittelbar umbringt, macht uns stärker...
Sein Albtraum fiel ihm wieder ein. Ich hätt' mich mit dem Whisky ins Bett verkriechen sollen... Er blätterte den Sportteil auf. Die Pferderennen in Ascot standen vor der Tür. Er studierte die Namen der Pferde, die im Rennen um den Gold Cup an den Start gehen sollten.
Beiläufig registrierte er, dass das Summen hinter ihm aufgehört hatte. Und beiläufig, während des Umblätterns, sah er sich um: Der Bettler war verschwunden.
Aus der Tunnelröhre schwoll das Rauschen des Zuges an. Percival faltete die Zeitung zusammen. Ein Ruck ging durch die Menge. Die blonde Mummy blickte nach links in die Richtung, aus welcher der Zug sich näherte. Alles blickte nach links. Und drängte gleichzeitig an die Bahnsteigkante heran.
Percival hob den Kopf und schaute auf die Digitalanzeige über dem Bahnsteig. Es war der Zug nach King's Cross. Sogar pünktlich. Na also...
Das Rauschen wurde lauter. Wie ein überdimensionale Pfeil rutschte der Zug aus der Röhre. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Percival zuckte zusammen. Frauen kreischten, Männer brüllten, Bremsen zischten, und über allem schwebte ein spitzer, hoher Schrei, der nicht aufhören wollte. Percival hatte das Gefühl, Whisky und Kaffee in seinem Magen würden zu einem Eisklumpen gefrieren. Die Menge wogte hin und her wie Meeresbrandung, die gegen ein Hindernis geprallt war.
Etwas Fürchterliches musste passiert sein! Percival wusste nicht was, aber er wusste, dass so fürchterlich sein musste, wie sein nächtlicher Albtraum.
Mit den Ellenbogen arbeitete er sich durch die Menge. Jetzt erst hielt der Zug. Der spitze, hohe Schrei ging in ein krächzendes Wimmern über und verstummte schließlich ganz.
Die Menschen wichen zurück, bildeten einen dicht gedrängten Halbkreis vor einem der mittleren Waggons, schrien, krümmten sich, schlugen die Hände vors Gesicht, und einige drehten sich um und warfen sich gegen die Mauer aus Leibern hinter ihnen, um die Flucht zu ergreifen. Als würde dort, in dem menschenleeren Halbkreis vor dem Waggon, eine sprungbereite Raubkatze lauern.
Wie von selbst griff Percivals Rechte in die Innentasche seines Jacketts. Er arbeitete sich durch die vielen Körper und registrierte gleichzeitig, wie er sein Handy herausholte und den Code für die Nummer der SUN-Redaktion drückte. Bluster, der Chef selbst, war am Apparat. "Schick einen Fotografen zur Untergrundstation Liverpool Street..."
Er warf sich zwischen die letzte Reihe von Schultern vor dem menschenleeren Halbkreis. Kein Raubtier kauerte dort. Ein Kopf lag auf dem Steinboden. Direkt neben der offenen Waggontür. Menschen standen an der Tür im Zug und starrten fassungslos auf den blutverschmierten, mit Blondhaaren verklebten Klumpen.
Leere Augen starrten Percival an. Zwanzig Schritte weiter sah er einen verbogenen Griffbügel zwischen Zug und Bahnsteig aus der Fahrtrinne ragen. Die Überreste eines Kinderwagens...
"Jesus...", stöhnte er. Seine Knie zitterten, der Bahnsteig schien zu schwanken, sein Magen drehte sich um.
"Jesus?", bellte die Stimme des Chefredakteurs aus dem Handy. "Ich schick sofort einen Fotografen..."
Eric ging in die Knie und erbrach sich.
*
Milton blickte auf seine goldene Rolex: Zwanzig nach acht. Er faltete die TIMES zusammen und trank seinen Kaffee aus. Der Blick aus dem Terrassenfenster stimmte ihn friedlich. Der Himmel war klar. Die Morgensonne bedeckte den Rasen vor dem Haus. Kein Regentag also.
Er stand auf. An der langen Küchentheke vorbei ging er ins Treppenhaus. Aus der offenen Badezimmertür hörte er Wasser rauschen. "Nimmst du ein Bad, Darling?"
"Ja, Darling." Lydias Stimme aus dem Bad.
Milton ging zum Garderobenschränkchen und steckte die TIMES in seinen ledernen Arztkoffer. Er nahm seine Anzugjacke vom Bügel und schlüpfte hinein. "Es wird Zeit für mich in die Praxis zu gehen, Darling."
"Wann kommst du nach Hause, Darling?" Lydia erschien im Türrahmen des Badezimmers. Sie war nackt. Turbangleich hatte sie ein Handtuch um ihren Kopf gewickelt.
Milton betrachtete ihre schönen Körper und lächelte. "Wenn ich dich so sehe, frage ich mich, ob ich heute überhaupt zur Arbeit gehen soll..." Mit routiniertem Griff rückte er seinen Kravattenknoten zurecht. Prüfend betrachtete er sein silbergraues, perfekt frisiertes Haar.
Lydia tänzelte über die Marmorfliesen zur Garderobe und hängte sich an seinen Hals. "Bleib doch noch ein Weilchen", hauchte sie. "In zehn Minuten haben wir schon den schönsten Fick hingekriegt."
Sie setzte ein verführerisches Lächeln auf und schob ihren nackten Schenkel zwischen seine Beine. Ihre Hände glitten unter seine Anzugjacke und fuhren über seine ausgeprägten Brustmuskeln. Milton war ein durchtrainierter und athletisch gebauter Mann.
Das Glockenspiel über der Haustür ertönte. Eine steile Falte erschien zwischen Miltons dichten, schwarzen Brauen. Ein strenger Blick auf die Rolex. "Hast du nicht gesagt, das Hausmädchen kommt erst um zehn?"
"Doch." Lydia huschte ins Badezimmer zurück. "Vielleicht der Gärtner. Er wollte vor dem Wochenende noch einmal den Rasen mähen." Sie schloss die Badezimmertür hinter sich.
Milton ging zur Haustür und nahm den Hörer der Gegensprechanlage ab. "Ja? Wer ist da?" Niemand meldete sich. Dafür klopfte es jetzt an der Tür. Zaghaft und leise. Milton hängte den Hörer ein. Eine Mischung aus Ärger und Verblüffung flog über seine Miene. Er zog die Tür auf.
Eine alte Frau stand davor. Ein blaues Kopftuch rahmte ihr zerfurchtes Gesicht ein. Sie trug eine abgeschabte, dunkle Wollweste und blaue Jogginghosen. "Wie um alles in der Welt kommen sie auf mein Grundstück?!" Milton stemmte die Fäuste in die Hüften und blitzte die Alte an. Sie neigte den Kopf etwas zur Seite und lächelte blöde.
"Verdammt noch mal! Gehen Sie zum Sozialamt, wenn Sie Geld brauchen oder zur Heilsarmee!", blaffte Milton.
"Wer ist es?" Lydia hatte die Badezimmertür einen Spalt weit aufgezogen.
"Eine Bettlerin!", rief Milton. Die Badezimmertür schloss sich wieder. "Haben Sie verstanden?!" Er wollte die Tür zudrücken. Die Frau verdrehte die Augen, knickte in den Knien ein und sackte zusammen. "O Mist!" Milton konnte sie gerade noch auffangen. Sie war federleicht. "O Mist!" Er rümpfte die Nase - denn die Frau stank nach Urin, und ihr Schweiß schien Wochen alt zu sein. Er roch nach Schwefel und verfaultem Obst. Fluchend zog Milton die Alte ins Haus und legte sie vor der Treppe zum Obergeschoss auf den Läufer.
Für einen Moment stand er hilflos vor dem reglosen Körper. Er sah, dass die Fingergelenke der Frau geschwollen, und die Finger eigenartig verbogen und verkürzt erschienen. Rheuma. "Verdammter Mist", knurrte er.
Mit zwei Schritten war er am Garderobenschrank und griff zum Telefon. Hinter ihm fiel die Haustür donnernd ins Schloss. Milton fuhr herum. Die Alte stand vor der geschlossenen Haustür und starrte ihn an. Bewegte sich nicht - stand einfach nur und starrte. Milton ließ den Hörer sinken. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. "Was soll das...?"
Langsam kam sie auf ihn zu. "Ich kenn dich, Doktorchen", flüsterte sie.
"Verlassen Sie augenblicklich mein Haus, oder ich ruf die Polizei!" Mit großen, energischen Schritten wollte er an ihr vorbeilaufen, um die Haustür zu öffnen und sie rauszuschmeißen. Doch kaum war er auf ihrer Höhe, sprang sie ihn an.
Die Wucht ihres Angriffs riss ihn zu Boden. Die Verblüffung über ihre unerwartete Kraft lähmte Milton für Sekunden. Ihre Hände schlossen sich um seinen Hals - Hände wie Stahlklammern.
Die Badezimmertür wurde aufgerissen. Nackt und wie festgewachsen stand Lydia auf der Schwelle. Sie riss Mund und Augen auf und begann laut zu schreien...
*
Eve Priden war eine hochgewachsene, schlanke Enddreißigerin. Ihr schwarzes Haar trug sie zu einem dicken Zopf geflochten. Wie ein zusammengerollter, blauschwarzer Samtschal hing ihr der lange Zopf über die Schulter ihres weißen Arztmantels. Sie drückte das schnurlose Telefon gegen ihr Ohr und wirkte irgendwie verkrampft an diesem Vormittag.
"Hör' zu, Dennis - ich hab' dir erst in der letzten Woche zweihundert Pfund gegeben!" Eve trommelte mit den Fingerspitzen auf ihre Schreibtischplatte.
"Zweihundert Pfund!" Die junge Männerstimme am anderen Ende der Telefonleitung fiel in einen verächtlichen Tonfall. Und dann sofort wieder in einen weinerlichen. "Mumm - mein Auto ist kaputt, der Vermieter steigt mir aufs Dach, weil ich seit zwei Monaten nicht zahlen kann! Und wenn ich mein Bußgeld nicht bald an die Bullen rüberschiebe, fahr' ich für mindestens einen Monat ein! Ich brauch das Geld, du musst mir helfen..."
Eve Pridens Getrommel wurde schneller und heftiger. Mindestens alle zwei Wochen führte sie derartige Telefongespräche mit ihrem. Zur Zeit sogar jede Woche. "Was macht dein Studium, Dennis?"
"Prächtig, Mumm. Was ist jetzt mit dem Geld?" Dennis konnte unglaublich hartnäckig sein.
Eve Priden schwankte zwischen Schuldgefühlen und Wut. Die Schuldgefühle behielten die Oberhand. Wie meistens. "Dennis..." Ihre Stimme bekam einen flehenden Unterton. "Ich zahle dir jeden Monat dreihundert Pfund! Dein Vater überweist dir sogar vierhundert Pfund! Du hast genug Geld, um ohne Sorgen dein Studium finanzieren zu können!"
"Mom!" Eine Mischung aus Empörung und Mitleid schwang in der Stimme ihres Sohnes. Eve konnte förmlich sehen, wie Dennis die Augen verdrehte. "Vor fünfzehn Jahren, als du noch studiert hast - da konnte man vielleicht noch leben von siebenhundert Pfund. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie teuer London inzwischen geworden ist...!?"
"Bitte, Dennis..." Eve stand auf. Ihr bonzefarbenes Gesicht nahm einen flehenden Ausdruck an. Das schnurlose Telefon ans Ohr gepresst lief sie zum Fenster ihres Sprechzimmers. "Du weißt, dass ein Umzug hinter mir liegt, du weißt dass ich meine neue Praxis erst vor einem Monat eröffnet habe - die Leute von Eynsford denken bis jetzt noch nicht daran mir die Tür einzurennen..."
"Mom! Ich brauch das Geld!"
Plötzlich fiel Eve auf, wie sich die Rollen vertauscht hatten - sie bettelte, und er blieb hartnäckig. Dabei war Dennis es, der etwas von ihr wollte. Die Kiefermuskulatur unter ihren hochstehenden Wangenknochen pulsierten. Ein angriffslustiger Zug spielte plötzlich um ihre großen, braunen Augen.
"Tut mir leid, mein Sohn. Wend' dich an deinen Vater!" Ihre Stimme klang jetzt kühl und abweisend.
"Hey, Mom! Das kannst du nicht bringen...!"
"Ich muss Schluss machen, Dennis. Meine Patienten warten. Wär übrigens schön, wenn du mich mal besuchst..." Sie unterbrach die Verbindung. "...und nicht immer nur anrufst, wenn du Geld brauchst", flüsterte sie wie zu sich selbst.
Sie legte das Telefon in die Konsole auf dem Schreibtisch und drückte den Knopf der Sprechanlage. "Führen Sie den nächsten Patienten schon mal in Zimmer 2, Karen. Ich bin gleich soweit."
"Ist gut, Dr. Priden."
Eve holte eine Schachtel Kent aus ihrer Handtasche. Sie ging auf die Terrasse hinaus und ein Stück in den kleinen Garten hinein. Ihre Hand zitterte, als sie sich die Zigarette in den Mund steckte und anzündete. Diese frustrierenden Telefonate mit ihrem zwanzigjährigen Sohn...
Sie hatte ihn vor drei Monaten zuletzt gesehen. Kurz vor ihrem Umzug nach Eynsford. In einem Pub in Soho. Aus irgendeinem Grund hatte Dennis nicht gewollt, dass sie ihn in seiner Studentenbude besucht. Er hatte schlecht ausgesehen. Und fast nur von Geld gesprochen. Es war zum Kotzen...
Sie rauchte hastig. Manchmal fragte sie sich, ob Dennis überhaupt noch die Vorlesungen besuchte. Er studierte seit einem Jahr Politikwissenschaften. Und seit sie ihn vor drei Monaten in Soho gesehen hatte, fragte sie sich noch etwas anderes: Ob er das viele Geld etwa für Drogen brauchte...
Sie ging zurück auf die Terrasse und drückte ihre Zigarette im Aschenbecher auf dem Gartentisch aus. Am Waschbecken ihres Sprechzimmers putzte sie sich die Zähne. Ein Blick auf die Armbanduhr - gleich neun. Für elf Uhr hatte sie drei Termine in St. Joseph.
Es waren ihre ersten Hausbesuche in dem Pflegeheim am Ortsrand. Sie hoffte, es würden nicht ihre letzten sein. Eve war angewiesen auf jeden Patienten. Der Umzug aus Bristol hatte ihre Finanzreserven erschöpft, und die Praxis lief lange nicht so gut, wie ihr Vorgänger es ihr verheißen hatte. Schade. Eve hatte gehofft, die Leute in ihrer alten Heimat Eynsfords würden sie mit offeneren Armen wieder aufnehmen...
*
Lydias Schreie drangen in Miltons schwindendes Bewusstsein. Von weit her schienen die Schreie zu kommen. Das Gesicht über seinen Augen war nur noch ein verwaschener Fleck. Sein Hals schien in einem Schraubstock eingespannt zu sein. Er begriff nicht, wie die vom Rheuma zerfressenen Finger einer Greisin mit derartiger Kraft zupacken konnten.
Plötzlich lockerte sich der Schraubstock um seinen Hals, der verschwommene Fleck vor seinen Augen verschwand, blitzartig war die Alte aufgesprungen.
Pfeifend zog Milton die Luft ein. Er griff sich an den schmerzenden Hals und richtete sich auf. Sein Blick klärte sich, sein Hirn begann wieder zu arbeiten - Lydias Schreie drangen laut und gellend in sein Bewusstsein. Er fuhr herum.
Die Alte hatte sich auf die nackte Lydia gestürzt. Sie presste ihr die Hand auf den Mund und drängte sie ins Badezimmer hinein. Eine Eisschicht schien über Miltons Zwerchfell zu wachsen - wer war diese Greisin? War sie überhaupt ein Mensch...?
Er stand auf, Schwindel ließ ihn torkeln, mit ausgestreckten Armen wankte er auf die Alte und seine Frau zu. Die Hitze des Badezimmers umfing ihn, Schaum türmte sich in der Wanne, Kacheln und Spiegel waren beschlagen.
Milton packte die Alte an den Schultern, um sie von seiner Frau wegzureißen. Sie schien seine kräftigen Hände nicht einmal zu spüren. Er wurde einfach mitgezogen. Immer näher an die Wanne heran. Immer näher...
"Verfluchtes Weib", keuchte Milton. Er schlug der Alten die Faust in den Nacken, wieder und wieder. Lydia röchelte, strampelte, schlug um sich - es nützte ihr nichts. Die Alte drückte sie über den Wannenrand.
Milton umfasste den schmalen, gebrechlich wirkenden Körper mit beiden Armen und versuchte ihn von der Wanne wegzuzerren. Die Alte bewegte sich keinen Schritt. Im Gegenteil: Immer tiefer beugte sie sich über Lydias zappelnden Körper. Schon versanken ihre nackten Schultern im Schaum.
Entsetzen und Panik verkrampfte Miltons Nackenmuskulatur. Das Gefühl in einen Albtraum gestoßen worden zu sein, trieb ihm das Wasser in die Augen. Er klammerte sich am knochigen Körper der Fremden fest und stieß sich mit den Beinen von der Wanne ab.
Ein plötzlicher Schmerz im Hoden ließ ihn aufschreien. Die Alte hatte nach hinten ausgetreten und ihm die Ferse in den Schritt gerammt. Eine Welle von Übelkeit und pochendem Schmerz schoss aus seinen Lenden durch seinen ganzen Körper. Reflexartig gaben seine Arme die Alte frei. Er taumelte nach hinten weg und prallte mit dem Kopf gegen die Heizung.
Das Bild der in Wollweste und Jogginghosen gehüllten Gestalt vor der Badewanne und der nackten Beine seiner Frau verschwamm vor seinen Augen. Ein Bild aus einer anderen Welt. Ein Bild aus einem schlechtem Film. Milton schnappte nach Luft und kämpfte gegen die aufbrandende Ohnmacht an. Als er sich ächzend aufrichtete, sah er nur noch den gebeugten Rücken der Alten. Lydias Körper war im Schaum des Badewassers verschwunden.
Mit einem verzweifelten Aufschrei stürzte er sich erneut auf die Alte. Ihre Arme steckten bis zu den Ellenbogen im Wasser. Lydias Knie und Füße strampelten aus dem Schaum. Wasser spritzte, Wasser gurgelte und brodelte. Wie unbewegliche Stahlsäulen stemmten die Arme der Alten Lydias Oberkörper gegen den Wannengrund.
Milton brüllte, heulte, drosch auf die Frau ein. Warum reagierte sie nicht? Warum besaß sie diese übermenschliche Kraft? Er war zwei Köpfe größer, er wog sicher doppelt soviel wie sie, er ging wöchentlich ins Fitnessstudio, er joggte zweimal die Woche durch den Southpark, spielte fast jedes zweite Wochenende Squash - warum konnte er dieses Ungeheuer nicht überwältigen? Warum, warum, warum...?
Lydias Gestrampel wurde schwächer. Milton sah sich um - sein Rasiermesser auf der Konsole über dem Waschbecken! Schreiend ließ er von der Alten ab und stürzte zum Waschbecken...
*
Underground köpft Frau und zermalmt Kind... Percival drückte die Stoptaste. "Blödsinn..." Er spulte zurück und drückte den Aufnahmeknopf seines Diktiergeräts. Noch immer zitterte seine Hand. Blühendes Mutterglück von Underground zerfetzt... Wieder die Stoptaste. "Kacke..."
Er legte das Diktiergerät auf die Theke. "Noch einen Whisky", rief er dem Wirt am anderen Ende der Theke zu. Der Unfall in der Liverpool Station hatte ihn plattgemacht. Kein Gedanke mehr an die Pferderennen, an das Wettbüro, an die Redaktionssitzung.
Er schaute auf die Uhr über dem Eingang des Bistros - halbzehn. Nein - die Redaktionssitzung konnte er nicht einfach ausfallen lassen. Bluster würde ihm was erzählen. Schock hin, Schock her - die Story musste in den Computer.
Der Wirt knallte ihm das Glas auf den Tresen. "Alles in Ordnung, Sir?" Der junge, farbige Mann musterte ihn besorgt. Percival nahm an, dass er bleich war, Percival nahm an dass seine Wangenmuskulatur zuckte, und als er sich über seine breite Stirn strich, spürte er klebrigen, kalten Schweiß.
"Schon gut", winkte er ab. "Nichts Besonderes." Seine fleischige Pranke schloss sich um das Whiskyglas. "Hab' ja Medizin." Er grinste schwach und kippte den Whisky herunter.
Der Wirt schien nicht überzeugt. Er nickte aber langsam und wandte sich ab. Percival fummelte eine Lucky Strike aus der Schachtel neben seinem Diktiergerät. Er fixierte seine Hände, während er sie anzündete - das Zittern hatte nachgelassen. Verdammt, so ein Whisky wirkt Wunder...
Wieder ein Blick auf die Uhr. Schon nach halbzehn. Er musste in die Redaktionssitzung. Obwohl alles in ihm nach seinem Bett verlangte. "Bringen Sie mir noch einen!", rief er. "Einen Doppelten."
"Sind Sie sicher, Sir?" Der Wirt beäugte ihn skeptisch.
"Ja, verdammt", knurrte Percival. "Und einen Kaffee bringen Sie mir auch." Er griff nach seinem Diktiergerät. "Und dann bestellen Sie mir bitte ein Taxi..."
Rein mit der Aufnahmetaste, ein tiefer Zug aus der Filterlosen, Percival führte das Gerät an die Lippen. Geköpfte Mutter, zerquetschtes Kind, begann er sein Diktat. Der Wirt stellte ihm den Whisky hin.
Blutiges Drama an der Liverpool Station. Eben noch scherzte die hübsche blonde Mutter mit ihrem Sohn, eben noch quäkte das gesunde Kleinkind fröhlich und munter - und Sekunden später: Beide tot...
Das Gesicht des schokoladenfarbenen Mannes nahm die Farbe schmutziger Erde an, als er den Kaffee neben das Whiskyglas stellte. Er blieb einfach stehen und hörte zu.
Eine geschockte Augenzeugin unter Tränen: "Der Zug fuhr ein. Ich sah den Knaben lachen. Plötzlich, wie von Geisterhand bewegt, rollte der Kinderwagen auf die Bahnsteigkante zu! Wie der Kleine schrie, als der Wagen auf die Gleise fiel! Die Mutter stürzte hinterher. Auch sie schrie! Wie sie schrie... Und dann der Zug - o Gott! Niemals werde ich ihr Schreien vergessen..."
Und ein andere Augenzeuge: "Eine Bewegung ging plötzlich durch die Menge. Jemand rempelte mich von hinten an, als der Zug einfuhr. Der Kinderwagen hatte einen Stoß erhalten, ich schwörs, es war Mord, ich schwörs..."
Der Wirt machte große Augen. "Sind Sie... Schriftsteller? Schreiben Sie... einen Thriller?"
"Kacke...", stöhnte Percival und kippte den Whisky herunter.
*
Milton griff das Rasiermesser. Tränen verschleierten seinen Blick. Er zitterte am ganzen Körper. Wie ein steinernes Monument die über die Wanne gebeugte Gestalt der Alten - ihre von der Wollweste bedeckten Arme ragten aus dem Wasser. Milton sah Lydias Hände - sie klammerten sich um den Oberarm der unheimlichen Frau. Ihre nackten Beine hingen über dem Wannenrand und zuckten nur noch.
Es konnte nicht die Wirklichkeit sein, es musste ein böser Traum sein, es musste. Es musste die Stimme eines Fremden sein, die Milton schreien hörte. Und die Hand, die das Rasiermesser hielt - das konnte unmöglich seine Hand sein.
Er stolperte vom Waschbecken weg auf die Alte zu, hob das Rasiermesser und ließ es auf die vermummte Gestalt herabsausen. Als hätte sie Augen im Hinterkopf fuhr die Alte herum und riss den linken Arm hoch.
Ihr Gesicht war kein menschliches Gesicht - eine kantige, steinerne Fratze, von unzähligen Falten zerfurcht. Die wässrig blauen Augen schienen sich in Miltons Stirn zu bohren. Sie zeigte kein Anzeichen des Erschreckens, kein Anzeichen von Schmerz, als ihr das Rasiermesser in den Unterarm fuhr.
Der feuchte Wollstoff der Weste klaffte auseinander, Blut spritzte. Sie ließ Lydia los und rammte Milton die nasse Faust ins Gesicht. Er taumelte zurück, das Rasiermesser entglitt seiner Hand, wieder prallte er gegen die Heizung.
Milton hörte Lydias gurgelndes Keuchen, er hörte das Wasser auf die Bodenkacheln klatschen, er hörte ein knirschendes Geräusch, und endlich gelang es ihm die Augen zu öffnen. Lydias Beine hingen schlaff über den Wannenrand. Sie bewegte sich nicht mehr.
Die Alte richtete sich auf. Langsam, wie in Trance. Ein heiserer Seufzer drang aus ihrem verwelkten Mund. Ihr linker Arm war mit blutigem Schaum bedeckt. Sie zog die Rechte aus dem Wasser. Das nasse Rasiermesser in ihrer Faust triefte von mit Wasser verdünntem Blut.
"Lydia...", flüsterte Milton. "O Gott... Lydia..." Er presste sich zitternd gegen die Heizung.
Der Fußtritt der Alten traf ihn schneller, als er denken konnte. Seine Eingeweide brannten, stöhnend krümmte er sich zusammen. Er spürte die schneidende Klinge auf seiner Kopfhaut. Wieder und wieder. Und er spürte den nassen, warmen Vorhang aus Blut sich über seine Augen in sein Gesicht ergießen. Sein Bewusstsein taumelte in eine dunkle Grube...
Als er wieder zu sich kam, blinzelte er in das grelle Deckenlicht des Badezimmers. Der dunkle Türrahmen glitt an ihm vorbei, und über ihm tauchte die Stuckdecke des Treppenhauses auf, dann das Geländer, dann die Unterkante des Garderobenschränkchens. Er spürte eiserne Griffe um seine Knöchel, und begriff, dass er auf dem Rücken lag. Die Alte hatte ihn aus dem Bad in das Treppenhaus gezogen.
Ein Tritt in die Nieren stieß sein Bewusstsein erneut an den Rand eines dunklen Abgrundes. Als er die Augen wieder öffnete, berührten seine Fingerspitzen die Marmorfliesen des Bodens. Sein Körper war ein einziger, brennender Schmerz. Der Boden schwebte eine Handbreit unter ihm. Eine große Blutlache hatte sich dort, unter seinem Kopf gesammelt.
Milton kniff die Augen zusammen, riss sie auf und starrte auf ein paar schwarze Frauenschuhe. Blutspritzer auf dem Leder und auf den blau angeschwollenen, nackten Knöcheln. Milton sah krumme, dürre Beine, die in blauen Jogginghosen steckten.
Er presste das Kinn auf die Brust. Sein verschwommener Blick wanderte über eine Wollweste bis zum Knoten eines blauen Kopftuches hinauf. Und verharrte schließlich in der zerklüfteten Landschaft eines versteinerten Gesichtes.
Kalte Augen starrten auf ihn hinunter. Augen eines Phantoms. Augen voller Hass. Milton riss seinen Blick von diesen Augen los. Über dem Kopf der Alten ruhte ein großer, bauchiger Gegenstand. Milton kniff die Lider zusammen, solange bis er für Augenblicke klar sehen konnte.
Es war die Bodenvase aus dem Wohnzimmer. Die bauchige Bodenvase aus schwerem Steingut. Zwischen beiden Händen hielt die Alte sie über ihrem Kopf fest.
Milton sah noch, wie die Gestalt der Frau sich streckte und leicht nach hinten beugte, als sie ausholte. Dann wurde sein Bewusstsein endgültig ins Nichts geschleudert...
*
Sie saßen um einen Monitor im Büro des Chefredakteurs. Percival trank Kaffee und rauchte eine nach der anderen.
Geköpfte Mutter, zerquetschtes Kind, las Mike Bluster der Chefredakteur. "Genauso machen wirs." Seine hohe Fistelstimme vibrierte vor Erregung. "Deine Story, Tom."
Percival nickte und zog an seiner Zigarette. "Klar."
"Verkriech dich in dein Büro und bring sie zu Ende." Bluster rieb sich die Hände. "Genau in dem Stil."
"Kein Problem." Percival hob die Kaffeetasse und schlürfte die längst abgestandene, lauwarme Brühe. Äußerlich ganz der abgebrühte Storyjäger. Aber auf seiner inneren Bühne lag ein von blutigem Blondhaar verhüllter Kopf. Und daneben ragte der verbogene Griffbügel eines Kinderwagens aus dem Gleisbett der Underground.
Percival hätte nicht sagen können, welcher von beiden Gegenständen seine Nerven heftiger quälte. Er sehnte sich nach einem Whisky.
"Bleib aber auch an dem Kindermörder dran", sagte Bluster.
"Ich geh heute mal bei Scotland Yard vorbei." Percivals Stimme klang vollkommen gelassen. "Die Pappnasen haben sicher ein paar Neuigkeiten zu verbergen."
"Mach das. Und wenn du mit der Story über den Unfall fertig bist, sieh zu, dass du die Familie der geköpften Frau besuchst. Unsere Leser brauchen was zum Mitleiden."
Bluster feixte und klopfte Percival auf die massige Schulter. "Du hast einfach einen Riecher für die heißen Stories. Gut, dass du nicht Pfarrer geworden bist." Percival registrierte die Blicke der Kollegen. Sie heuchelten Anerkennung und konnten ihren Neid doch nur mühsam verbergen.
Bluster wandte sich dem Redakteur fürs Politische zu. "Was bringen wir über Nordirland...?"
Percival schaltete ab. Er rauchte seine Zigarette zu Ende und trank seinen Kaffee aus. Dann stand er auf und steuerte sein Büro an. Seine Kniegelenke schienen mit Kartoffelpüree gefüllt zu sein. Keine Experimente heute! Sie gehen auf dünnem Eis...
In seinem Büro ließ er seinen schweren Körper in seinen Schreibtischsessel fallen. Er schloss für einen Moment die Augen. Dieses widerliche Gefühl des Fallens...
Percival schüttelte sich und schaltete seinen Computer ein...
*
Erst gegen zwölf verließ der letzte Patient Eves Praxis. Erfreulich viel Betrieb an diesem Vormittag. Die Trauer und Bitterkeit, die sich nach dem Gespräch mit Dennis in ihrer Kehle festgesetzt hatte, verzog sich langsam.
"Wann haben Sie heute Nachmittag den ersten Patienten bestellt, Karen?“, fragte sie ihre Arzthelferin durch die offene Sprechzimmertür, während sie sich am Waschbecken die Hände wusch.
"Für zwei Uhr." Die etwa zwanzig Jahre alte Blondine erschien hinter der Tür. Eve hatte bewusst eine junge Kraft angestellt. Ein Mädchen, das sie selbst noch prägen konnte. Älterer und erfahrenere Arzhelferinnen hatten natürlich ihre Vorteile. Aber sie wussten oft alles besser, als der eigene Chef. Und teurer waren sie auch.
"Ich werd wohl nicht pünktlich sein können." Eve trocknete sich die Hände ab. "Für den ersten Besuch in Saint Joseph will ich mir ein bisschen Zeit nehmen." Sie zog sich ihren weißen Arztmantel aus. Darunter trug sie eine kleinkarierte enge Stretchhose und eine graue Seidenbluse.
Karen nickte langsam. Es kam Eve vor, als würde das fröhliche Lachen, das sie in dem jungen Gesicht Karens so schätzte, einem Ernst weichen, den sie so nicht kannte an ihrer Arzthelferin. Sie schlüpfte in ihr dunkelgraues Jackett.
Karen wandte sich ab und verschwand wieder an ihrem Arbeitsplatz hinter dem Empfangstresen. Eve wurde den Eindruck nicht los, dass die junge Frau ihr etwas hatte sagen wollen.
Zwei Minuten setzte sich hinter das Steuer ihres schwarzen Rovers und fuhr aus dem Ort.
St. Joseph lag etwa zwei Kilometer außerhalb von Eynsford am Waldrand nicht weit von der Landstraße entfernt. Ein idyllischer Ort für ein Altenheim. Ein großer See breitete sich im parkähnlichen Garten aus. Schilf stand an manchen Uferstellen, an anderen Parkbänke und Picknick-Tische, von wo aus die Senioren Enten füttern oder die Seerosen betrachten konnten. Soweit sie nicht bettlägrig waren.
Der Rasen war gepflegt, die Kieswege sorgfältig und mit System angelegt. Selbst Gehbehinderte konnten den See ohne lange Fußmärsche erreichen. Hinter dem Gebäude erstreckte sich im Schatten einer gewaltigen Eiche ein kleiner Parkplatz. Die Eiche war angeblich achthundertfünfzig Jahre alt.
Eve parkte ihren Rover unter der Eiche und stieg aus. Das Gebäude selbst war nicht ganz nach ihrem Geschmack. Eine symmetrische Konstruktion eines Londoner Architekten. Viel Glas, viel Aluminium, aber auch viele Veranden und Balkone. Die zwei identischen Flügel des dreistöckigen Gebäudes waren durch einen schmalen, gläsernen Zwischenbau verbunden, in dem Liftschächte und Treppenhaus verliefen.
Als die Baugrube Ende der siebziger Jahre ausgehoben wurde, hatte Eve Eynsford verlassen. Sie war damals achtzehn gewesen. Ihr Vater war drei Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und ihre Mutter war mit einem anderen Mann nach Wales gezogen.
Während des Medizinstudiums in London gab es nicht viele Gründe, um in Eynsford vorbeizuschauen. Und anlässlich der wenigen Besuche bei alten Freunden und Verwandten hatte es Eve nie hier hinaus zum neuen Altenheim gezogen.
Eve benutzte die Treppe. Im zweiten Obergeschoss fand sie den leitenden Pfleger. Sie stellte sich vor. "Freut mich", sagte der hölzern wirkende Mann. "Ich heiße Baisley, Alister Baisley."
Baisley war ein kleiner, hagerer Mann von etwa fünfzig Jahren. Eve wusste, dass er auch die Geschäfte des Altenheimes führte. Alles an ihm machte einen kühlen, gleichgültigen Eindruck auf Eve - seine monotone Stimme, sein ausdrucksloses Gesicht, sein schlaffer Händedruck, seine herunterhängenden Schultern.
"Hier habe ich schon die Krankenblätter ihrer vier Patienten herausgesucht." Baisley reichte ihr vier Hängeordner. "Vielleicht schauen Sie zuerst bei Mrs. Smith vorbei. Sie wurde erst vor zwei Wochen von ihren Angehörigen zu uns gebracht. Diabetes, Bluthochdruck und zeitweise ziemlich verwirrt." Er zuckte mit den Schultern. "Mrs. Smith verkraftet die Umstellung noch nicht."
Eve nickte und bedankte sich. Sie warf einen Blick auf die Krankenakten. Ellen Smith wohnte in Zimmer 214 im selben Stockwerk. Eve verließ das Stationszimmer und trat auf den Gang hinaus. Sie meinte Baisleys Blicke in ihrem Nacken zu spüren. Eigenartiger Mann...
Sie orientierte sich an den Zimmernummer und lief nach links den Gang hinunter. Eine Pflegerin und ein alter Mann gingen vor ihr. Der Mann war in einen bordeaux-roten Morgenmantel gehüllt. Er bewegte sich zittrig und unsicher an Krücken fort. Die Pflegerin hielt ihn am Arm fest. Vor der Tür mit der Nummer 211 blieben sie stehen. Die Pflegerin öffnete die Tür.
Der Mann entdeckte Eve. Sein verwittertes Gesicht hellte sich auf. "Ah, Rosalin! Hast du den Truthahn eingefroren?"
"Das ist nicht ihre Frau, Mr. Parson", flüsterte die Pflegerin ihm zu. "Das ist Frau
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alfred Bekker CassiopeiaPress
Bildmaterialien: Steve Mayer
Tag der Veröffentlichung: 30.04.2014
ISBN: 978-3-7368-0661-0
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