Alfred Bekker
Ragnar der Wikinger 3
Ein CassiopeiaPress E-Book
© by Author
© der Digitalausgabe 2013 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
www.AlfredBekker.de
Der Wind wehte Ragnar durch das rote Haar. Der Wikingerjunge stand im Bug des Drachenschiffs. Mit der Rechten hielt er sich an dem Hals des Drachenkopf fest. Den Daumen der Rechten klemmte er hinter dem breiten Ledergürtel, den er um sein Wollwams trug. Eine Handaxt und ein langes Messer steckten hinter diesem Gürtel. Diese Axt war das Abschiedsgeschenk seines Vaters gewesen. Als er vor gut einem Jahr nach Haithabu gegangen war, um bei Björn Olavson alles über den Handel und die Seefahrt zu lernen – und vor allem über den Schiffsbau, denn Björn Olavson war einer der berühmtesten Schiffsbauer. Ob lange Draken für den Einsatz im Krieg oder die dickbauchigen Knorren, die besser als Transportschiff geeignet waren – niemand baute bessere Langschiffe als Björn Olavson. Und so war es Ragnar eine Ehre gewesen, bei ihm dieses Handwerk erlernen zu können.
Und jetzt war er zurück zu einem Besuch in Holmgard, dem Ort, in er geboren wurde und wo das Langhaus seines Vaters stand.
Eine lange Schiffsreise lag hinter Ragnar. Von Haithabu, der Wikingersiedlung an der Schlei aus waren sie über die Ostsee bis nach Gotland gefahren. Auf dieser Insel gab es einen großen Markt. Das Drachenschiff ODINS WELLENREITER, mit dem Ragnar gesegelt war, hatte dort für ein paar Tage angelegt. Store der Geizige hieß dieser Kapitän. Er war Ragnars Onkel und als er im Hafen von Haithabu angelegt hatte, war das für Ragnar eine günstige Gelegenheit gewesen, seiner Heimat mal wieder einen Besuch abzustatten.
Von Gotland aus war die ODINS WELLENREITER dann auf den Flüssen weitergefahren, die ins Innere Russlands führten, dem Land der Rus, was ein anderes Wort für Ruderer war.
In der Tat ruderten die Wikinger ihre Schiffe hier zumeist, wenn der Wind nicht aus der richtigen Richtung kam oder die Strömung zu stark war, dass selbst ein vom Wind prall gestrafftes Segel sie nicht gegen die Strömung flussaufwärts vorwärts kommen ließ.
Über mehrere große Seen, die durch Flüsse miteinander verbunden waren, erreichten sie schließlich den Ort, den die Wikinger, die sich hier niedergelassen hatten, Holmgard nannten.
An den Landungsstegen im Flusshafen von Holmgard, hatte sich inzwischen eine ziemliche Menge von Leuten versammelt. Viele Wikinger – aber auch slawische Pelzhändler, die ebenfalls am Ort lebten und hofften, dass ihnen der Kapitän der ODINS WELLENREITER die Pelze abkaufen würden. Hermelinfelle, Pelze von Bären, Bibern und allem was sonst noch kostbar und warm war, wurde in Holmgard verkauft. Hier kosteten die Waren nur einen Bruchteil von dem, was man für diese Pelze in Haithabu oder in England erzielen konnte.
Store der Geizige war allerdings ein gefürchteter Verhandlungspartner.
Er hatte seinen Beinamen schließlich nicht ohne Grund bekommen.
Der Kapitän der ODINS WELLENREITER trat neben Ragnar und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Da du bei Björn Olavson aus Haithabu gelernt hast, wie man Schiffe baut, kannst du dich ja in Holmgard sicher bald mit deiner eigenen Werft selbstständig machen und deine Tricks an deine Gehilfen weitergeben!“, meinte er. Store lachte dröhnend. „Dein Vater wird sich freuen! Er bekommt dann Schiffe, die sicher annähernd genauso gut wie die von Björn Olavson sind und braucht dafür wahrscheinlich nur einen Vorzugspreis zu bezahlen.“
„Ganz so weit bin ich noch nicht“, erwiderte Ragnar.
„Heißt das, du hast bei Björn Olavson nichts gelernt und er hat all seine Geheimnisse für sich behalten?“, fragte Store etwas verwirrt. Der Kapitän runzelte die Stirn und zog dabei die sehr buschigen Augenbrauen zusammen.
Aber Ragnar schüttelte energisch den Kopf. So wollte er auf gar keinen Fall verstanden werden, denn das wäre einer Beleidigung von Björn Olavson gleichgekommen. „Man lernt die Geheimnisse des Schiffsbaus nicht so schnell“, sagte Ragnar. „Ich habe zwar vieles bei Björn gelernt, aber letztlich macht die Erfahrung den Unterschied. Björn sieht einen Baumstamm an und weiß, wie er ihn am besten in das Schiff einbaut...“
„Ja, ich weiß“, nickte Store. „Das macht ihm keiner nach. Ich selbst fahre auch immer am liebsten mit Schiffen, die aus seiner Werft kommen. Da kann man sich wenigstens sicher sein, dass sie einem nicht bei der kleinsten Welle kentern...“
Im Moment brauchte keiner der Männer an Bord zu rudern, da der Wind gerade günstig kam. So konnte die ODINS WELLENREITER bis zu den Landungsstegen von Holmgard die Kraft des Windes nutzen.
Rechtzeitig, bevor der Bug des Drachenschiffs gegen den Steg stieß, wurden die Taue des Segels gelöst, sodass es schlaff vom Quermast hing und im Wind flatterte. So ging die Kraft des Windes ins Leere und das Schiff verlangsamte dadurch seine Fahrt.
Der letzte Schwung reichte gerade aus, um bis zum Steg zu kommen, der auf Holzpfählen stand, die tief im sumpfigen Boden des Flusses versenkt worden waren.
Es war Ragnars Aufgabe, mit einem Tau in der Hand von Bord zu springen und dieses Tau dann um einen Holzpflock zu schlingen.
Für Ragnar war das keine Schwierigkeit. Er sprang und landete behände auf dem Steg.
Im nächsten Moment hatte er das Tau festgezurrt.
Am Ufer und auf dem Steg drängten sich die Leute. Es waren viele Männer darunter, die hofften, für ein paar Münzen beim Entladen des Schiffes helfen zu dürfen.
Store hatte jetzt alle Hände voll zu tun, denn das Schiff war randvoll. So voll, dass es eigentlich besser gewesen wäre, die Ladung nicht mit einem schlanken Draken, sondern mit einem breiter gebauten Knorr zu transportieren. Vor allem Ballen mit Stoff waren an Bord, aus dem die Frauen der Wikinger von Holmgard Gewänder nähen würden. Darunter waren auch gefärbte Stoffe in leuchtendem Rot oder Blau, was in Holmgard selten zu sehen war, da sich hier niemand auf das Färben von Stoffen verstand.
Store hatte nun gemeint, dass er sein Schiff ruhig so voll wie möglich laden könnte, da Stoff schließlich nicht besonders schwer war! Ganz anders als, wenn er zum Beispiel Fässer mit Met geladen hätte!
Allerdings hatte Store der Geizige nicht bedacht, dass sich die Stoffballen während der Seefahrt mit Wasser vollsaugen würden. Schließlich spritzte immer wieder Gischt über die Reling ins Innere des Schiffes und außerdem hatte es auch mehrfach sehr heftig geregnet.
Und so waren die Stoffballen nun mit Wasser vollgesogen und um ein Vielfaches schwerer, als sie es ursprünglich gewesen wären.
„Ende gut, alles gut“, atmete deshalb der Steuermann auf, als sie in Holmgard angelegt hatten. „Njörd war uns gnädig!“
Der Gott des Meeres und des guten Handels musste tatsächlich auf ihrer Seite gewesen sein und die ODINS WELLENREITER mit besonderem Wohlwollen betrachtet haben. Anders war es für die Männer an Bord einfach nicht erklärlich, dass sie mehrere äußerst kritische Situationen überstanden hatten, in denen das Schiff von Store dem Geizigen um ein Haar gekentert wäre.
Eigentlich hätte Store einen Teil der Ladung über Bord werfen müssen, aber Store hätte seinen Beinamen zu Unrecht getragen, wenn er dem nachgegeben hätte. Nein, so etwas kam für Ragnars Onkel einfach nicht in Frage!
„Du siehst, man kann die Götter herausfordern und trotzdem feststellen, dass sie einem am Ende helfen!“, hörte Ragnar den Kapitän noch zu einem seiner Männer sagen.
Dem Jungen war das jetzt ziemlich gleichgültig.
Er suchte in der Menge seine Familie – und fand sie schließlich auch.
Ragnar Einarson Rothaar, so nannte er sich vollständig.
Er war der Sohn von Einar Einarson, einem der reichsten Wikinger von Holmgard, der vor allem mit dem Handel von Pelzen viel Silber angehäuft hatte.
Ragnar drängelte sich zwischen den Leuten auf dem Steg hindurch und erreichte schließlich festen Boden.
Und dann standen plötzlich seine Eltern vor ihm.
„Ragnar!“, rief seiner Mutter Solveig Thorbjörnstochter uns schloss ihren Sohn wenig später in die Arme, erfreut darüber ihn nach all der Zeit wiederzusehen. „Wir hatten gar nicht mit dir gerechnet!“, stieß sie hervor, strahlte dabei aber über das ganze Gesicht. Ihre blauen Augen funkelten richtig.
„Ich werde auch nicht lange bleiben können, denn ich nehme an, dass sich Store ziemlich bald schon wieder auf den Rückweg machen wird!“, meinte Ragnar.
„Du musst uns nachher alles genau erzählen“, forderte Solveig Thorbjörnstochter. „Aber im Moment freue ich mich einfach unheimlich, dich hier vor mir stehen zu sehen!“ Sie sag ihn von oben bis unten an und schüttelte dann fassungslos den Kopf. „Meine Güte – groß bist du geworden, Ragnar! Ein Jahr macht mehr aus, als man denkt.“
„Nur weil du mich nicht jeden Tag siehst“, lächelte Ragnar. „Deswegen kommt es dir anders vor.“
„Ja, ja, das mag ja wohl sein...“, murmelte sie, immer noch von der Freude überwältigt, ihren Sohn wiederzusehen. „Jedenfalls bin ich froh, dass du wieder in Holmgard bist. Wir haben ja allerhand aufregendes über dich gehört.“
„Wenn du damit meine unfreiwillige Reise nach Irland meinst...“
Ragnar war vor ein paar Monaten von einem Wikinger, der unter dem Namen Holgar der Rachsüchtige bekannt gewesen war, in die Wikingerfestung Dublin nach Irland entführt worden, später aber mithilfe von Björn Olavson wieder in Freiheit gelangt und nach Haithabu zurückgekehrt.
„Die Geschichte ist mit den Händlern aus Haithabu auch bis zu uns nach Holmgard gelangt“, berichtete Solveig Thorbjörnstochter.
„Habt ihr nicht den Runenstab mit dem Wahrheitszauber bekommen?“, fragte Ragnar. „Ich hatte ihn Orm Silberzähler mitgegeben und er hat bei den Göttern Thor und Odin geschworen, dass er ihn euch überbringt!“
Orm Silberzähler war ein anderer Händler, der regelmäßig die Ostsee zwischen Haithabu und dem Land der Rus befuhr. In Haithabu legte er nicht nur der Geschäfte wegen an, sondern auch, um bei Björn Olavson sein Schiff reparieren zu lassen, wenn Wind, Wellen und das Meer dafür gesorgt hatten, dass hier und da Schäden auftraten.
Solveig Thorbjörnstochter nahm ein mit Ruinen beschriftetes Stück Holz aus ihrer Schürzentasche. „Hier ist er“, sagte sie. „Darauf steht, dass du gerettet wurdest und wohlbehalten nach Haithabu zurückgekehrt bist... Wie bist du überhaupt in diese schlimme Lage geraten?“
Ragnar seufzte. „Das werde ich euch später ausführlich berichten“, sagte er.
Dann begrüßte auch Ragnars Vater seinen Sohn sehr herzlich und sagte schließlich: „Wie ich sehe, trägst du die Axt noch an deinem Gürtel!“
„Sie hat mir gute Dienste getan!“
Einar Einarson legte Ragnar eine Hand auf die Schulter. „Wirklich groß bist du geworden! Wenn du so weiter wächst, wirst du mich bald überragen!“
An diesem Abend wurde im Langhaus von Einar Einarson Ragnars Rückkehr gefeiert. Das Met floss in Strömen, es gab einen schmackhaften Braten und man dankte den Göttern für die glückliche Heimkehr von Einars und Solveigs Sohn. Zuerst dem einäugigen Odin, der auf seinem achtbeinigen Pferd Sleipnir daher ritt und jeden Tag die Raben Hugin und Munin aussandte, die ihm von den Ereignissen der Welt berichteten. Odin war auch der Gott der Schlachten und da in Irland Krieg gewesen war, als Ragnar dort gefangen gehalten wurde, hatte man einen besonderen Grund, Odin dankbar zu sein. Schließlich war Ragnar unverletzt zurückgekehrt. Dann dankten sie dem Donnergott Thor, der mit seinem von Ziegen gezogenen Wagen über den Himmel fuhr und seinen Hammer schleuderte, der immer wieder zu ihm zurückkehrte. Die Funken unter den Wagenrädern waren die Blitze am Himmel. Zum Schluss dankte man Njörd, dem Gott des Meeres, der Seefahrt und des Handels.
„Wir sollten auch dem Christengott danken!“, schlug ein Mann mit graublondem Bart vor. Er war Ragnar schon gleich zu Anfang aufgefallen, weil ihm der kleine Finger der rechten Hand fehlte und er außerdem um den Hals ein goldenes Kreuz trug – das Zeichen der Christen. Das im Süden des Landes der Rus bereits fast alle Wikinger zum Christentum übergetreten waren, hatte Ragnar schon gehört und selbst in Haithabu gab es unter den Nordmännern bereits Christen. Der Mann mit dem fehlendem Finger hob das Horn mit Met. „Auf Jesus Christus, der die Welt durch seinen Tod gerettet hat – und offenbar auch ein Auge auf dich hatte, Ragnar!“, sagte er und die anderen Anwesenden in Einar Einarsons Langhaus stimmten fröhlich mit ein. Der Beistand von einem weiteren Gott konnte schließlich nicht schaden!
Ragnar sah auch seinen Vater des Met-Horn heben. „Wollen wir hoffen, dass mehr Götter auch mehr helfen!“, sagte er und erntete dafür zustimmende Bemerkungen der anderen.
Ragnar musste daraufhin ausführlich von seinen Erlebnissen in Haithabu und natürlich vor allem auch von seiner Entführung nach Irland erzählen, wo er die Schlacht der Iren gegen die Wikinger von Dublin miterlebt hatte. Zeitweilig wurde es ganz ruhig im Langhaus. Wenn es um spannende Geschichten über ferne Länder ging, dann weckte das sofort das Interesse der Wikinger. Schließlich war es ja gut möglich, dass auch einer von denen, die hier gemütlich im Langhaus um das Herdfeuer saßen und sich von Solveig Thorbjörnstochter bewirten ließen, eines Tages mal in jenes ferne Land gelangten, von dem Ragnar berichtete. Ein Land, das man nicht umsonst die grüne Insel nannte, weil es größtenteils von Wiesen bedeckt war – und wo es fast jeden Tag einmal regnete.
„Besser als diese strengen Winter hier in Russland!“, meinte einer der Gefolgsleute von Ragnars Vater. „Wenn wir zu den slawischen Pelzjägern gehen, gefriert einem ja im Winter oft der Atem im Bart! Da hätte ich gegen eine Insel, auf der man seine Rinder offenbar einfach nur sich selbst überlassen und irgendwann zu schlachten braucht, wenn sie fett genug sind, nichts einzuwenden!“
Ein allgemeines Gelächter ertönte daraufhin.
Während Ragnar lebhaft von der Zeit berichtete, die er in Irland verbracht hatte, fragte er sich die ganze Zeit über, wer wohl der Mann mit dem fehlenden Finger sein mochte. Dass er Ragnar mit seinem Namen angesprochen hatte, war nicht weiter verwunderlich, schließlich war der Wikingerjunge als Sohn von Einar Einarson und nach der lebhaften Schilderung seiner Erlebnisse auch dem letzten unter den Anwesenden bekannt.
Schließlich gab es ja auch aus Anlass seiner Rückkehr den Festbraten.
Und doch kam Ragnar die ganze Sache etwas seltsam vor.
Der Mann mit dem fehlenden Finger sah ihn bisweilen so an, als würde er ihn kennen. Aber umgekehrt war das ganz bestimmt nicht der Fall. Jedenfalls konnte sich Ragnar nicht daran erinnern, ihn schon jemals zuvor gesehen zu haben, so sehr er sich auch zu entsinnen versuchte.
Dann war es schließlich der Mann selber, der das Geheimnis lüftete.
„Du bist für dein Alter ja schon weit gereist“, stellte er fest. „Weiter als die meisten anderen. Mich hat es noch weiter fort verschlagen als dich...“
„So?“
„Hast du schon mal von Thorvald Einfingerfehlt aus Miklagard gehört?“
„Der einzige Thorvald, von dem ich gehört habe, ist mein Oheim, der vor vielen Jahren über die Flüsse Russlands in den Süden fuhr und nie zurückkehrte.“
Ein Oheim war der Bruder der Mutter – ein Onkel hingegen der Bruder des Vaters. Oft sagte man stattdessen auch Mutterbruder oder Vaterbruder. Dementsprechend waren Tanten immer entweder Vaterschwestern oder Mutterschwestern.
Thorvald Einfingerfehlt lächelte. „Du wirst dich an deinen davongeruderten Mutterbruder wohl kaum erinnern...“
„Nein. Ich war noch ein Säugling, als das geschah. Jedenfalls wurde mir das so erzählt.“
„Das ist er“, erklärte Solveig Thorbjörnstochter. „Thorvald Einfingerfehlt ist mein Bruder – und er war wirklich lange fort. Vor ein paar Tagen ist er mit drei Schiffen zurückgekehrt – und es scheint ihm beileibe nicht schlecht zu gehen, wenn man die kostbare Handelsware und all das Silber sich ansieht, das er mitgebracht hat!“
„Er hängt sich sogar Goldschmuck um – wie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alfred Bekker CassiopeiaPress
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2014
ISBN: 978-3-7309-9929-5
Alle Rechte vorbehalten