Freudestrahlend schlug ich die Decke weg und hüpfte aus dem Bett. Zuerst warf ich einen hastigen Blick in den Spiegel, band meine strohblonden Haare zu einem Zopf, zog mich in windeseile um und rannte zufrieden zu meinem Vater und meinen zwei Geschwistern.
Bei uns in der kleinen Wohnung war es etwas kühl. Meine Füße waren kalt, denn ich hatte keine Socken an. Das störte mich nicht, daran war ich schon gewöhnt.
Vor Aufregung sprudelnd stolperte ich die Treppe runter und fiel auf den Boden. In der Hoffnung meine Familie habe es nicht gehört, rappelte ich mich auf und ging, als wäre nichts passiert, weiter. An der Tagesordnung war, dass ich mir jedes mal, wenn ich die Treppe runter ging, weh tat. Unsere Treppe hatte zwar nur drei Stufen, trotzdem fiel ich immer wieder hin.
Das war ich: Ein Tollpatsch.
Ich war so schrecklich aufgeregt, wie ein kleines Kind, das endlich mal auf einem Pony reiten darf. Bestimmt saßen sie schon am Esstisch und warteten auf mich. Wenn ich rein kommen würde, würden sie alle Happy Birthday schreien und mir ein Ständchen singen. Nur wegen mir, würden sie extra so früh aufstehen, nur um mir zum Geburtstag zu gratulieren. Ich war ihnen für alles dankbar.
Genau so war es auch: Als ich in die kleine Küche kam, sprangen sie von den Stühlen und sangen mir ein selbstgedichtetes Geburtstagslied.
Ich wusste, dass ich nichts bekommen würde. Wir konnten uns nichts leisten. Natürlich würde ich ein paar Bilder von Jannis und Vanessa bekommen. Von Vanessa bestimmt Einhörner und von Jannis Drachen. Er liebte Drachen. Sie liebte Einhörner. Und ich? Ich liebte Vögel, denn sie waren frei und konnten fliegen, wo auch immer sie hinwollten. Weit, ganz weit weg von allen Problemen. So wäre ich auch gerne. Sie schlugen die Flügel auf und flogen weg.
Manchmal beobachtete ich sie, aus meinem Zimmer. Ich hatte das Gefühl, ich wäre eine von ihnen und schlagartig fühlte ich mich leicht und unbeschwert. Ein Vogel zu sein ist toll.
Als ich mich an den Tisch setzte, bemerkte ich die Torte, die dort stand. Es war eine schlichte, selbstgebackene Geburtstagstorte, mit sechs Kerzen.
"Sky, es tut uns leid, aber wir hatten nur sechs. Du bist ja sechzehn, also passt das auch irgendwie", klärte Jannis, mein kleiner acht Jähriger Bruder mich, mit seinen kleinen, süßen, braunen Kulleraugen auf.
"Die Torte haben wir selber gebacken. Ist sie nicht hübsch?" Fragte Vanessa. Ihre schwarzen Haare standen ihr wirr um den Kopf. Ein Lachen musste ich mir verkneifen. Ich nahm sie in die Arme, hob sie hoch und wirbelte sie in der Luft herum. Sie war leicht, da sie erst fünf und ziemlich dünn, für ihr Alter und ihre Körpergröße war.
"Sehr hübsch sogar. Ich danke euch wirklich vielmals. Ihr seid einfach die besten, die man sich nur wünschen kann", sagte ich, nahm sie runter und hob Jannis hoch. "Ich hab euch so lieb." Dann gab es ein Gruppenkuscheln.
Ich liebte meine Familie. Ich liebte sie sehr. Sie war das einzige, was ich damals hatte. Wir waren zwar bettelarm, doch das machte mir nichts aus, denn wir hatten einander und das reichte uns vollkommen aus.
Nachdem wir alle zusammen gegessen haben, nahm ich meinen Schulranzen, gab meinem Vater, Jannis und Vanessa einen Kuss auf die Wange und lief los zur Schule.
Nach einer geschlagenen halben Stunde war ich endlich da. Wie jeden Tag wurde ich, als wäre ich aus einer anderen Welt, schief angeguckt. Nur weil ich nicht so angezogen war wie die anderen an meiner Schule, hieß das doch noch lange nicht, dass ich weniger Wert war als sie. Nicht jeder konnte reich sein. Nicht jeder konnte hübsch sein. Nicht jeder konnte beliebt sein. Trotzdem war man etwas Wert. Jeder war etwas Wert sogar ich.
In der Schule war ich recht gut. Ich konnte mich als schlau bezeichnen. Das gefiehl den anderen aus meiner Klasse nicht. Aber ich würde mich nie im Leben für andere irgendwie verstellen oder gar ändern, nur weil ich ihnen nicht gefalle, oder weil sie mich anders haben wollen. Wenn das so ist, sollten sie sich andere Freunde suchen, die ihren Wünschen entsprechen. Wenn jemandem etwas an mir nicht gefällt, soll er es mir gefälligst ins Gesicht sagen und kein Feigling sein. Leider tat das niemand bei uns. Jeder lästerte über jeden hinter dessen Rücken. Sogar beste Freundinnen lästerten und machten sich gegenseitig schlecht. Nur um "besser", das Ziel war die "Bessere" zu sein. jeder wollte die Hübscheste, Beliebteste und die Beste sein. Naja, so ist das Leben nun mal und es lässt sich auch nicht ohne die Unterstützung derer, die so sind, nicht ändern.
Nach der Schule ging ich gelangweilt nach Hause, stolperte über einen hohlen Ast und schürfte mir die Handflächen und die Knie auf.
Auf dem Boden liegend, wälzte ich mich in der Erde, hob meine blutenden Hände ans Gesicht und war kurz davor los zu heulen, denn meine Knie und Hände schmerzte höllisch. Bevor ich meine Wunden inspizieren konnte, entdeckte ich plötzlich etwas. Dieses etwas glitzerte hell in der Sonne. Es sah wunderschön aus. Was war es wohl? Es lag unter dem Ast, versteckt. Ich schob den Ast weg und hob den Schatz hoch. Meine Augen weiteten sich und meine Lippen ließen ein "Oh mein Gott" von sich. Unglaubwürdig betrachtete ich das Medaillon näher. Es hatte einen Drachen, diesen konnte man öffnen und dort lag ein lilander Stein, welcher aussah wie ein Diamant.
Ich glaubte und hoffte, dass er ein Vermögen kosten musste.
So unfassbar glücklich und aufgeregt, wie in diesem Moment, war ich noch nie. Ich glaubte, dass diese Kette unsere Armut beenden könnte und wir endlich ein tolles Leben führen könnten... Aber da irrte ich mich gewaltig, was ich leider erst zu spät erkannte.
Zuhause angekommen, zeigte ich das Medaillon meinem Vater, dieser betrachtete es genauso staunend wie ich, und meinte fast schon ärgerlich: "Woher hast du das?"
Mich schockierte es, das er so aufgebracht und doch etwas traurig klang. Oder bildete ich mir das nur ein.
Stotternd antwortete ich ihm: "Ähm ich-ich habe es unter e-einem Ast gefunden"
"Wo genau war das", wollte er wieder wissen.
"Wieso?"
"Antworte mir einfach." befahl er mir in einem Befehlston, dem man lieber brav befolgte.
"Unten, am Bach."
"An welchen Bach, Skylar? Sag mir an welchem Bach!" Schrie er mich laut an. Mir kamen Tränen in die Augen. Er hatte mich noch nie so angeschrien. Anscheinend bemerkte er meine Tränen, denn er hob meinen Kopf am Kinn hoch und sagte beschwichtigend: "Tut mir leid. Aber versteh doch: Es ist sehr wichtig, ich muss es wissen."
Ich nickte noch immer betroffen und sagte trotzdem: "Am Nechard."
Ich sah sein Staunen in den Augen, wie er sich von mir abwand und lautlos die Treppe zum Schlafzimmer hoch ging.
"Papa", wollte ich schreien, doch bekam keinen Ton raus. Wieso hatte er das Medaillon einfach mit genommen? Vielleicht wollte ich es ja selber behalten, konnte er doch nicht wissen. Doch andererseits, war es glasklar, dass ich vor hatte es zu verkaufen, das wusste er, und deshalb wollte er mir bestimmt die Mühe ersparen und es selber verkaufen.
Ich kümmerte mich nicht weiter um die Kette und vergass sie schnell.
Am Abend ging ich erschöpft, vom ganzen Haushalt, den Hausaufgaben und Jannis und Vanessa, schlafen. Sofort schlief ich ein und fing an etwas beunruhigendes zu träumen...
1. Traum
Ich hatte höhenangst und stand auf einem 12. Stöckigen Hochhaus.
Der kühle nächtliche Wind peitschte mir meine blonden Haare ins Gesicht. Ich strich sie mir sachte, aus dem Gesicht, hinter die Ohren.
Ich wollte wissen was da unten vor sich ging. denn ich konnte markerschütternde Schreie hören. Diese Schreie ordnete ich in die Kategorie Kampf und Überleben ein.
Anscheinend kämpfte dort unten jemand. Das machte mir etwas angst, denn ich wollte noch nicht umgebracht werden. Ich wollte überhaupt noch nicht sterben.
Es stieg Hitze hier hoch. Unerträgliche Hitze. Das trieb mich noch mehr an, hinunter zu schauen. Also tat ich das auch.
Vorsichtig ging ich an den Rand des Hochhauses. Ich hielt mich krampfhaft am Geländer fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und runter zu fallen, und sah mit vorsichtigen Blicken ganz langsam hinunter.
Mir stockte der Atem und mein Magen verkrampfte sich. Am liebsten hätte ich hinuntergewürgt, doch mein Magen war leer.
Es sah alles so real aus. Die ganze Welt sah so real aus. Die Menschen und die Drachen sahen so real aus.
Überall war Feuer. Die ganze Stadt brannte und war zerstört. Bäume waren umgekippt und versperrten die Straßen. Ach, was rede ich von Straßen, die gab es nicht mehr.
Die Luft war schwül und brachte meine Kehle zum austrocknen.
Kämpfende Menschen gegen kämpfende Drachen. Drachen? Das fand ich seltsam.
Ich schloss meine Augen, machte sie nochmal auf, doch nichts war verändert. Die Stadt brannte, lag in Trümmern vor mir und Leute und Drachen kämpften brutal gegeneinander. Überall spritze Blut. Egal wo ich hinsah, ich sah nur Blut, Blut, Blut. Ich wollte weinen, konnte aber nicht. Meine Tränen wollten einfach nicht laufen, sie blieben aus.
Zum Glück war ich hier Oben in Sicherheit.
Nicht nur dieser ganze Horror schien real, auch meine Angst war real.
Wenn sich schon nichts veränderte, wenn ich die Augen schloss, dann musste ich eben weg sehen. Das tat ich auch. Ich sah in eine Nische, zwischen der Treppe, die nach unten führte und dem Geländer des Hochhauses. Bevor ich mich wieder umdrehen konnte, um das Chaos in der Stadt nochmals unglaubwürdig und mit weit aufgerissenen Augen im negativen Sinne zu bestaunen, sah ich etwas funkeln. Dieses etwas funkelte im Licht der Drachenfeuer. Es sah wunderschön aus. Was war es wohl? Es lag unter dem Ast, versteckt. Ein Ast auf einem Hochhaus? Mitten in einer Apokalypse? Ich dachte immer, das in einer Apokalypse sowas ausgestorben wäre.
Auf allen Vieren krabbelte ich zum Ast, schob diesen weg und hob den Schatz hoch. Meine Augen weiteten sich und meine Lippen ließen ein "Oh mein Gott" von sich. Unglaubwürdig betrachtete ich das Medaillon näher. Es hatte einen Drachen, diesen konnte man öffnen und dort lag ein lilander Stein, welcher aussah wie ein Diamant. Das war mein
Medaillon.
"Was geschieht hier?" Flüsterte ich.
"Ich weiß es nicht", sagte eine beruhigende Männerstimme hinter mir. Noch bevor ich mich umdrehen konnte, um zu sehen wer es war, wurde ich aus meinem Traum in die Realität zurück gerissen.
Schweißgebadet wachte ich auf. Zügig sprang ich aus dem Bett, zog mich an und rannte runter. Zu meinem Entsetzen fiel ich noch nicht einmal hin. Weltrekord! Ich war so stolz auf mich. Doch dann passierte das Unglück schon: Ich lief in die Küche, stolperte über das Auto meines kleinen Bruders, fiel und riss die Tischdecke mit mir. Das ganze Geschirr platschte auf den Boden und es gab einen riesigen Krach, sodass mein Vater, Vanessa und Jannis in die Küche gerannt kamen.
Ich war den Tränen nahe.
Die drei knieten sich zu mir hin, um meine Wunde zu untersuchen. Mir waren mein verletzter Ellenbogen und die Hand völlig egal. Meine Gedanken kreisten um den Traum und wie ich Geld auftreiben würde, um neues Geschirr zu kaufen.
"Tu-tut mir L-eid", schluchzte ich. "D-d-das wollte ich echt nicht." jetzt brach der Tränendamm zusammen und die Tränen flossen in Strömen auf den billigen Laminat voller Scherben.
Mein Vater nahm mich liebevoll in den Arm, streichelte mir behutsam über den Kopf und meinte: "Sky, es ist doch nichts passiert. Das Geschirr ist mir egal, Hauptsache dir geht es gut", ihm kullerte auch eine Träne aus dem Auge und tropfte auf meine Nasenspitze.
"Jetzt tut es mir leid", er lächelte mich sanft an. Ich fing an zu lachen, Vanessa und Jannis stimmten mir bei, zuletzt fing Vater an zu lachen. So saßen wir lachend, von Geschirrscherben umzingelt, auf dem Boden und umarmten einander. Wir waren zwar arm, doch das machte nicht viel aus, trotzdem waren wir glücklich, wir Armen hatten auch das gute Recht glücklich zu sein.
Nachdem wir spielend und tanzend die Scherben weggeräumt und meine Wunde verarztet hatten, bat ich meine Geschwister hochzugehen, damit sie spielen konnten und ich meinem Vater in aller Ruhe von dem Traum, den ich letzte Nacht geträumt hatte, erzählen konnte.
Seinem Gesicht zu urteilen, schien er verwirrt, verärgert und enttäuscht zu sein.
"Was ist?" fragte ich.
"Ach nichts, es hat mich nur fasziniert... Dein Traum meine ich, das mit den Häusern", gab er zu.
"Meinst du nicht eher die Drachen, das Feuer und das Medaillon?" wunderte ich mich.
"Ja ja, das habe ich doch gemeint", nervös tippte er auf dem Tisch herum. "Ok, ich gehe jetzt mal raus...einkaufen."
"Soll ich dir helfen?"
"Nein, pass lieber auf die Kinder auf."
Das tat ich auch.
"Wieder da", hörte ich meinen Vater die Treppe hoch schreien.
Vannessa, Jannis und ich rannten zu unserem Vater, fast unten angekommen wunderte ich mich: "Wo ist das Gekaufte?"
Vater fing an zu stottern, anscheinend wusste er nicht so recht, was er sagen sollte.
"Ich dachte du wolltest einkaufen", sagte ich.
"Ja...", er sah nach links. "Aber leider gab es nichts im Angebot." Das sagte alles. Keine Angebote, kein Essen. Daran waren wir alle schon gewöhnt. Dann mussten wir eben in das Kirchenhaus gehen, da gab es nähmlich Produkte, welche man kostenlos mitnehmen konnte. Extra für Arme Leute. Wie wir. Für Arme wie uns.
Mit einem Schulterzucken ließ ich meinen Vater stehen und stürmte die Treppe nach oben. Heute war Schulfrei, was ein Glück!
Oben angekommen setze ich mich auf mein Bett, denn mir war etwas übel geworden. Tief durchatmend schlug ich die Hände an mein Gesicht und blieb für einen Moment so sitzen, bis ich etwas in der Sonne, die sorglos in mein Zimmer strahlte, glitzern sah. In der Ecke meines Schreibtisches lag etwas, das sehr wertvoll aussah. Erst jetzt erkannte ich dieses etwas. Es war das Medaillon. Mein Medaillon.
Die Übelkeit verschwand und ich rannte auf das Medaillon zu. Doch bevor ich es überhaupt in die Hand nehmen konnte, blieb ich abruppt vor ihm stehen. Wieso war es dort, in meinem Zimmer? Mir kam mein Vater in Gedanken, der mich jedes mal, wenn ich mir auf irgendeiner Art weh tat, in den Arm nahm. Damals dachte ich, dass er es sein musste, der mir das Medaillon zurückbrachte, um mich aufzumuntern. Doch das war komplett falsch. Heute weiß ich wieso. Damals leider noch nicht. Leider. Mein Vater versuchte genau das Gegenteil: Er wollte mir den wertvollen Schatz wegnehmen. Wegnehmen ist zu hart gesagt, er wollte mich nur vor dem Unheil beschützen, welches mich erwartete. Heute kann ich verstehen wieso. Damals nicht. Heute und Damals, ganz verschiedene Zeiten.
Ich beschloß, das mit dem Medaillon meinem Vater erstmals nicht zu sagen. Es könnte sein, dass es Jannis oder Vanessa mir gebracht haben. Wenn das so gewesen war, dann würde mein Vater mir meinen Schatz wieder einfach wegnehmen. Endgültig. Das wollte ich nicht. Ich war fest entschloßen meinen Schatz zu behalten, koste es was es wolle. Woher ich diesen Willen hatte wusste ich nicht, noch nicht.
Ich machte eine Katzenwäsche, ging dann raus, um im Garten zu sitzen. Wir hatten so wunderschönes Wetter. Jannis und Vanessa wollten nicht mitkommen. Gut so! Denn manchmal nervten sie mich. Familienliebe hin oder her. Rumgezicke und streitereien mussten auch mal sein. Das ist völlig normal.
Es war viel zu heiß, also ging ich wieder rein in mein Zimmer und wollte mir meine quitsch gelbe Hotpans anziehen.
Bevor ich mich umzog, nahm ich mein Medaillon und zog es mir um den Hals, um Draußen damit angeben zu können, denn das Medaillon sah teuer und modisch aus. Plötzlich fiel mir der lilande Stein aus dem Schmuck. Hektisch bügte ich mich, um den Stein aufzuheben. Er glitzerte wunderschön und war hell lila.
Langsam stand ich auf. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Stein wie ein Herz geformt war. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Schockiert ging ich auf meinen Jahrhundert alten Spiegel zu. Um den runden Spiegel, der an der Wand hing, waren liebevoll geschnitzte Holzornamente. Oben, ganz oben war ein ausgeschnitztes Herz.
Ich steckte den Stein, aus dem Medaillon in das ausgeschnitzte Herz, vom Spiegel.
Plötzlich erhellte ein heller Lichtstrahl mein ganzes Zimmer. Ich musste meine Augen zukneifen, um nicht blind zu werden. Das Licht war so hell. Es blendete mich. Ich hielt mir schuützend meinen Arm vors Gesicht. Dann war es vorbei. Das Licht erlosch. Langsam ließ ich meinen Arm sinken und öffnete meine Augen. Ich erstarrte. Mein Spiegelbild war weg. Was sollte das?
Ich hob meine Hand, winkte meinem Spiegelbild, das nicht da war. Doch nichts geschah.
Ein Mädchen tauchte im Spiegel auf.
"Bitte hilf mir", flehte sie mich an. "Ich brauche hilfe", sie faltete die Hände zum beten und sagte beschwörerisch: "Der Drachenspiegel ruft dich."
Ich konnte nichts sagen. Mir blieb jegliches Wort im Mund stecken. Ein kalter Lufthauch durchströmte mein Zimmer und ließ mich noch mehr zittern. Ich umklammerte das Medaillon noch fester, sodass meine Knöchel schon weiß hervorragten. Kalter Angstschweiß ran mir die Stirn zu meiner Nasenspitze hinunter. Kennt ihr das Gefühl, wenn man vor Angst erstarrt und sich nicht mehr bewegen kann? Dieses Gefühl hatte ich. Ich war vor Angst erstarrt.
Eine weile stand ich breitbeinig, zitternd vor angst, mit schwitzenden Händen, die Worte, welche nicht ausgesprochen wurden, im Mund stehen und starrte fest entschlossen nicht wegzusehen, da etwas passieren konnte, in den Spiegel, zum Mädchen. Dann traute ich mich, mich doch zu bewegen.
Zögernd tippte ich das Spiegelbild, welches sicher nicht ich war, an. Mit einem Schlag wurde ich in eine andere Welt gerissen. In eine ganz andere Welt. In eine Welt, in die ich nicht gehörte, in der ich nichts zu suchen hatte, in der ich besser nicht hätte sein sollen, in der die Liebe meines Lebens mein größter Feind sein sollte.
In eine gefährliche Welt.
Ich lag auf einem Moos-Boden. Allein. Niemand war in der Nähe. Dachte ich jedenfalls. Doch dort war immer jemand in der Nähe. Jemand der mich beobachtete. Immer. Ich war nie allein. Nie.
Mit mühe richtete ich mich auf. Mir war schlecht, ich fühlte mich kraftlos. Das musste ein Traum sein, dachte ich, ein ganz schlimmer Traum. Doch ich wusste, das es nicht so war, ich wusste es einfach. Ich spürte es.
Ich sah nach oben. Der wolkenlose Himmel war von einem zarten grün. Mit meinen Augen, suchte ich die endlos scheinende Grüne nach einer Sonne ab. Doch ich fand keine. Hier herrschten wohl keine physikalischen Gesetze. Immer wieder fragte ich mich, wie man ohne Sonne, Mond und Sterne leben konnte.
Mein Blick glitt über die Landschaft. Ganz weit hinten, an Felsen und Bergen, die wie Drachen geformt waren, war dichter Nebel. Die Welt sah anders aus, trostlos und kalt, doch sie hatte auch etwas mystisches an sich.
Meine Füße fühlten sich nass an, also blickte ich zu Boden und musste feststellen, dass ich noch immer barfuß war und auf einsickerndem Moos stand. Ich sickerte ein! Als wenn das noch nicht genug wäre, hielten mich Ranken fest.
"Ich hasse Blumen", schrie ich. Jep, das war wahr. Denn ab da hasste ich Blumen wie die Pest.
In diesem Moment war ich mir sicher, ich würde sterben. Einfach vom Boden verschlungen und schon war mein, noch junges Leben hinüber.
Noch bevor ich mich von meinem Leben als Aussenseiter verabschieden konnte, wurde ich ruckartig aus dem Moos gezogen.
Geschockt, von der Erkenntnis, dass mich jemand rettete, schrie ich lauter als jeder Blauwal. Irgendetwas hielt mir den Mund zu und dann flüsterte jemand ein "Psst".
Das Ding, das mir den Mund zu hielt, brachte mich noch lauter zum schreien.
"Ein Schweif", brüllte ich, so gut es mir mit einem Schweif vor dem Mund möglich war. "Los lassen!"
"Reg dich ab", sagte eine mir bekannte Stimme. "Wenn ich dich jetzt loslasse, fälltst du."
"Fallen?" fragte ich unglaubwürdig. "Wieso sollte ich fallen?" Dann sah ich es. Wir gingen nicht, wir rannten nicht, wir joggten nicht, wir saßen auch nicht, nein! Wir flogen hoch durch die Lüfte!
Natürlich bekam ich keine Antwort auf meine Frage. Von Neugierde getrieben, drehte ich den Kopf, denn ich wollte sehen, wer mein Retter war. Mitten in der Bewegung hielt ich inne, denn wir landeten schon. Landen hört sich an wie auf einem Flugzeug. Aber ich hatte die Ehre mit einem Drachen zu fliegen. Mein Lebensretter war ein Drache.
"Wer bist du?" fragte ich, während ich den pickstenden Heu aus meinem Bein entfernte.
"Wayne. Und du?" Der Drache strahlte mich an und hielt mir seine Klaue entgegen. "Irgendwie kommst du mir bekannt vor."
"Äh, ich bin Skylar. Du kannst doch sicher verstehen, warum ich dir nicht die Hand schütteln will, oder?" Dabei zeigte ich auf seine Pranke, die mit einer des Bärens nicht zu vergleichen war. "Und mir kommt deine Stimme bekannt vor." Es entstand eine peinliche Pause, in der niemand ein Wort sagte.
Nach einer Weile durchbrach Waynes Stimme die Pause: "Ich hasse Redepausen."
"Schön für dich", war das einzige was ich dazu zu sagen hatte, denn ich hatte keine Lust mich mit einem Drachen über Redepausen zu unterhalten.
"Die anderen haben recht, ihr seid unfreundlich."
"Du spinnst doch! Wir sind nicht unfreundlich! Wer sagt den bitteschön, dass wir unfreundlich sind?" Gaffte ich ihn etwas zu laut an.
"Psst", er hielt sich seine Klaue an den Mund. "Sei doch bitte mal für eine Minute leise!"
"Wieso flüstern wir überhaupt?" In diesem Augenblick kam ein heftiger Windstoß, der alles weg fegte, was ihm im Weg stand. Die Blätter auf den Bäumen flogen davon, das Heu, auf dem ich gesessen hatte, war nicht mehr da. Ich kniff die Augen zusammen. Dann bebbte die Erde und ich flog für einen Bruchteil einer Sekunde im Grün der Luft. Es gab einen Platsch und ich saß wieder zusammengekauert auf dem Boden. Wayne schubste mich hinter einen Baum und flüsterte mir ins Ohr: "Versteck dich und bleib dort. Ich komme und hole dich später ab."
"Später" war in ungefähr einer Stunde. Die Zeit verging nur schleppend. Während ich wartete, grübelte ich nach, wie und wann ich jemals wieder nach Hause komme und was meine Familie wohl macht. Und dann schlief ich ein und fand mich in einem Traum, der mit der Realität verschwamm, schon wieder.
2. Traum
Ich hockte, die Arme um die Knie geschlungen da und schaute einem Kampf zu. Einem Kampf, indem Wayne mit sich selbst kämpfte.
"Hör zu", sprach Wayne an mich gerichtet. "Es ist wichtig, es geht um uns."
"Um uns?" fragte ich erstaunt und versuchte aufzustehen, doch irgendetwas hinderte mich daran.
"Ja, um uns", ich hörte ihn schwer atmen. Ich konnte ihn nicht ansehen. Es tat zu sehr weh ihm zuzusehen, wie er in einem unendlichen Kampf mit sich selbst kämpft und ich ihm nicht helfen konnte. Es gibt kein entkommen. Niemals!
"Ich wollte nicht, das es so weit kommt", bei den Worten wurde er immer leiser. Automatisch drehte ich meinen Kopf zu ihm und erschauderte.
"Wayne!" schrie ich ihm zu und streckte meine Hand nach ihm aus. Er tat das gleiche, während er sich auflöste. Er wurde zu Nebel und flog hoch hinauf in das Grüne des weiten Himmels. Sein Ich bildete eine Wolke. Ich würde ihn nie wieder sehen, denn er war weg. Gestorben, ausgerottet, aus dem Leben geschieden, sein Licht war für immer erloschen. Sein warmes, wärmendes, wunderschönes Licht, die Ausstrahlung, die er auf mich hatte. Seine gutmütigkeit, der zärtliche, liebevolle Blick in den Augen, wenn er mich ansah. Für immer fort. Er würde nie wieder kommen. Nie! Das wusste ich. Er auch.
3. Kapitel:
Wayne kam. Er ließ sich neben mich nieder, hob mich auf seinen Rücken, befahl mir mich gefälligst fest zuhalten und flog los.
In der Grüne fragte ich: "Wohin bringst du mich?" Er antwortete mir nicht. "Hallo! Wo fliegen wir hin?" Ich bekam noch immer keine Antwort. "Verdammt", ich schlug mit meiner Faust auf seinen Rücken ein. "Wohin fliegen wir?"
Nun setzte er zum Landen an. Unten angekommen drehte er sich heftig zu mir und ich konnte direkt in seine feuerroten Augen schauen, vorhin waren sie noch dunkel grün.
"Halt. Einfach. Mal. Die. Klappe!" ordnete er mir mit zusammen gebissenen Zähnen an. "Ist es dir nicht genug, dass du fast gestorben wärst?"
Ich zuckte zusammen und fragte kleinlaut: "Gestorben?" Jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun. Erst jetzt wurde mir die ganze Situation bewusst: Ich wurde in einen Spiegel gerissen, jetzt saß ich mit einem Drachen, der mich mit einem Schlag, seiner riesigen Grabscher töten könnte, auf dem Boden.
"Ja gestorben. Herr Gott nochmal", Wayne setzte sich auf den Boden und klopfte auf den Platz neben sich. "Weißt du denn überhaupt gar nichts?
Mir wurde kalt, der Wind peitschte mir, als würde er mich für irgendetwas bestrafen, mit voller Wucht gegen den Rücken und ließ mich erzittern. "Wissen, was den wissen?" fragte ich, während ich mich mutig zu meinem Retter setzte.
"Ich werde dir jetzt etwas erzählen. Anscheinend ist es deine Bestimmung hier zu sein, denn sonst wärst du ja nicht hier."
"Logisch", sprach ich in Gedanken zu mir selbst.
Von da an änderte sich mein Leben schlagartig.
"Vor zwanzig Jahren, war unsere Welt noch bunt und fröhlich. Wir tanzten, wir sangen und hatten einfach Spaß am Leben. Doch dann eines Tages drangen Menschen in unser Reich ein, mit deinem Medaillon, das du um den Hals gebunden hast", erzählte er und zeigte auf meinen Besitz. "Es gab einen heftigen Krieg zwischen Mensch und Drache. Unsere Reiche sind bis heute verfeindet."
Ich hielt das Medaillon mit beiden Händen fest umschlungen, als hätte ich angst, jemand könnte es mir wegnehmen.
"Wir Drachen haben Kräfte. Da ihr Menschen einfach bei uns eingedrungen seid und urplötzlich einen Krieg begonnen habt, verfluchte mein Vater deinen Vater. Der Fluch wird noch Generationen weitervererbt. Jetzt seid du und deine beiden Geschwister auch verflucht", er wollte noch weiterreden, doch ich unterbrach ihn: "Wieso meinen Vater?"
Ohne über die Unhöflichkeit nach zudenken, die ich ihm gebracht habe, fuhr er unbeirrt fort und beantwortete meine Frage: "Weil dein Vater der Anführer war. Nur wegen ihm ist eine Arme von Menschen hierher gekommen und wollte uns ausrotten und vernichten."
"Woher weißt du das?"
"Dein Nachname. Außerdem siehst du ihm sehr ähnlich."
"Nein, das stimmt doch alles nicht!" protestierte ich empört.
"Oh doch, und ob das stimmt!"
"Ich werde ihn fragen, wenn ich wieder zu Hause bin", erst nach dem ich den Satz zuende gesprochen hatte, wurde mir bewusst wie lächerlich das klang. Wenn ich überhaupt jemals nach Hause komme.
"Wenn du überhaupt jemals nach Hause kommst. Also kann ich jetzt fortfahren?" fragte er und ich nickte traurig. "Dieser Krieg dauerte fünf Jahre. Fünf gewaltsame Jahre, in denen Lebewesen gegeneinander kämpften und versuchten den jeweils anderen auszurotten und zu vernichten.
Keiner gewann den Kampf. Beide Seiten kehrten zurück und schworen sich, nichts mit dem jeweils anderen Reich jemals zutun zuhaben", gespannt hörte ich ihm zu. "Nun bist du hier und du siehst nicht so aus, als wolltest du uns umbringen. Du könntest wahrscheinlich noch nicht mal einer Fliege etwas zu leide tun."
"Stimmt", meinte ich. "Will ich auch nicht. Aber wieso bin ich dann hier?"
"Ich denke mal, dass du den Fluch brechen sollst."
"ICH?" kreischte ich, aber hielt mir dann den Mund zu, da es zu gefährlich war als Mensch, umgeben von Drachen in einem Drachenland zu kreischen.
"Pst", er hielt mir seine Klaue vor den Mund. Ich hatte erwartet, dass es weh tun würde, doch das tat es nicht. Ganz im Gegenteil: seine Klaue kitzelte mich. "Drachen sehen Menschen nicht gerne. Wenn sie dich erwischen bist du dran. Und ich auch. Du dürftest eigentlich nicht hier sein und ich dürfte dir eigentlich nicht helfen, aber..."
"Wieso tust du es dann?" Quetschte ich ihn selbstbewusst, wie noch nie zuvor, aus.
"Ich will nicht, das wir uns hassen. Wir alle sollten uns lieber vertragen, und nachdenken. Ich denke nicht, dass die Menschen einfach so, aus heiterem Himmel zu uns kamen, um uns Drachen umzubringen. Etwas musste vorgefallen sein. Etwas sehr schlimmes. Hört sich echt schnulzig an. Wie aus so einem Teenie-Hieghschool-Schnulzen-Film mit einem glücklichen Happy End", sagte er lachend und ich stimmte mit in sein Lachen ein. Er hatte definitiv ein süßes Lachen.
Es war schön, mal wieder lachen zu können. Ich war zwar noch nicht lange hier, denn noch lange genug um höchst deprimiert durch die Gegend zu laufen und mein Zuhause zu vermissen.
"Ich habe da mal eine Frage", äußerte ich mich, nachdem unser Lachflash vorbei war.
"Frag ruhig", sagte Wayne.
Ich lächelte ganz kurz, fragte dann aber: "Wie komme ich wieder nach Hause. Komme ich überhaupt irgendwann mal nach Hause?"
"Hm", man sah ihm an, dass er kräftig nachgrübelte. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn auch noch Qualm aus seinen Ohren käme. "Es tut mir leid", mein Herz zog sich krampfhaft zusammen. "Ehrlich gesagt, weiß ich es selber nicht. Das hat bei uns noch niemand versucht."
Ich begann zu weinen. Ich weinte schrecklich. Mein Tränendamm brach schon wieder, das zweite mal Heute.
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2012
Alle Rechte vorbehalten