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Verdammt! Da ist man EINMAL auf die Pünktlichkeit der Bahn wirklich angewiesen, und natürlich lässt sie einen ausgerechnet dann im Stich!
Ich versuche mich selbst zu beruhigen. Noch ist schließlich nichts verloren. Leichter gesagt als getan - ich stehe in Würzburg auf dem Bahnsteig, weil der Zug aufgrund eines „Personenschadens“ nicht wie geplant weiterfahren kann, und mir rennt die Zeit davon. In dreieinhalb Stunden habe ich in München ein Vorstellungsgespräch!
Eigentlich hatte ich genügend Zeit einkalkuliert, um vorher im Hotel einzuchecken, mich noch mal frisch zu machen und dann pünktlich zum Termin zu erscheinen.
Tja, aus dieser Planung wird nun wohl nichts. Egal, ich bin ja flexibel - Hauptsache, ich bin um vier Uhr dort. Von mir aus auch zerzaust und mit komplettem Gepäck. Toller erster Eindruck!
Wenn hier nur endlich mal was passieren würde! Irgendwann wird’s mir zu bunt, ich schnappe mir den nächstbesten vorbeieilenden Bahnangestellten, und mithilfe eines verzweifelt-bittenden Gesichtsausdrucks, netten Lächelns und Augenaufschlags nötige ich ihn dazu, mir zu helfen. Manchmal ist es doch von Vorteil eine Frau zu sein. Besonders wenn man noch dazu klein, jung und nicht gerade unattraktiv ist. Selbige Kombination löst bei männlichen Wesen im Allgemeinen das so genannte „Helfer- und Beschützersyndrom“ aus. In Notfällen wie diesem nutze ich die Tatsache schamlos aus, ich gestehe. Aber auch nur dann, ehrlich!
Also, der gute Mann telefoniert kurz und setzt mich anschließend in einen ICE, mit dem ich gegen halb vier in München sein müsste.
Es gelingt mir sogar, noch einen freien Platz zu ergattern. Völlig erschöpft lasse ich mich nieder und bin in den darauf folgenden zehn Minuten erst mal damit beschäftigt, meine strapazierten Nerven zu beruhigen. In diesem Fall können mich nur noch Entspannungsmusik und Atemübungen retten.
Schließlich bin ich wieder in der Lage, meine Umgebung bewusst wahrzunehmen und stelle fest, dass es sich bei meinem Gegenüber um ein recht ansehnliches Exemplar der Gattung Mann handelt: Groß, dunkelhaarig, schöne Augen, ein fein geschnittenes Gesicht, ein sensibler Mund - genau meine Kragenweite! Sieh mal an, die Zugfahrt könnte tatsächlich noch ganz interessant werden. Wer weiß, wofür die Verspätung, der Zugwechsel und die ganze Aufregung letztendlich gut waren.
Auf dem Tisch vor ihm liegt ein Agatha-Christie-Roman. Er selbst blättert in einer Mappe, liest mal hier, mal da, streicht Sachen an.
Es gelingt mir, einen Blick auf seine Unterlagen zu erhaschen. Neugriechisch. So so. Ein Student? Auf jeden Fall nicht ungebildet - macht ihn noch interessanter.
Verstohlen beobachte ich ihn.
Ab und zu sieht er mich an, zunächst nur ganz selten, für den Bruchteil einer Sekunde.
Irgendwann beginnt er damit, immer öfter aus dem Fenster zu schauen. Schließlich klappt er seine Mappe zu und widmet seine gesamte Aufmerksamkeit der draußen vorbeihuschenden, stets bergiger werdenden Landschaft. Dachte ich zumindest!
Bis sich in mir plötzlich der leise Verdacht regt, dass er das Fensterglas lediglich als Spiegel missbraucht, um mit mir Blickkontakt aufzunehmen!
Zunächst bin ich mir nicht sicher, ob ich mir das alles nicht bloß einrede. Ist es tatsächlich möglich, dass dieser unglaublich attraktive Typ mir indirekt unentwegt in die Augen sieht??
Erst als er beginnt seine Augen von der Scheibe zu lösen und mir mitten ins Gesicht zu sehen, weicht meine Unsicherheit einem immer stärker werdenden Flattern in der Magengegend.
Schon wieder werde ich aufgeregt, diesmal jedoch aus weit angenehmeren Gründen.
Natürlich ist dies nicht mein erster Flirt, Gott bewahre!
Im Gegenteil, ich flirte gern, liebe das Spiel mit den Blicken, das Prickeln, das Knistern zwischen zwei Menschen, die sich eigentlich ganz fremd sind.
Aber so etwas wie an diesem Tag ist mir zuvor noch nie geschehen.
Sie kennen sicherlich das Gefühl, dass ein Blickkontakt einen Moment zu lange gedauert hat, und dass genau dieser Moment bedeutungsvoll ist.
Doch sind Sie schon einmal darüber hinausgegangen? Nicht nur ein paar Sekunden sondern Minuten!
Haben Sie jemals einem wildfremden Menschen, den Sie überaus anziehend finden aber überhaupt nicht kennen, länger als eine Viertelstunde ohne Pause in die Augen geschaut?
Ich höre Sie förmlich sagen: „Aber das wird doch irgendwann langweilig!“
Lassen Sie sich gesagt sein: Das wird es nicht! Es ist ein Erlebnis von unglaublich hoher Intensität, Spannung und Nähe zugleich.
Am Anfang studiere ich sein Gesicht in allen Einzelheiten. Dann kommt der Zeitpunkt, da mein Blick ausweichen will, ein Lächeln schleicht sich in meine Mundwinkel. Alles Verlegenheitsreaktionen!
Ich reiße mich zusammen, und allmählich erfasst mich so etwas wie ein Sog. Als würden sich zwischen unseren Augenpaaren plötzlich unsichtbare Fäden spinnen. Und schließlich ist es soweit: ich kann gar nicht mehr wegsehen. Mit einem Mal ist jegliche Verlegenheit wie fortgeblasen. Ich registriere die kleinsten Bewegungen bei ihm, jedes Muskelzucken, jedes Zwinkern, jeden Zentimeter Veränderung seiner Kopfhaltung,


sehe die Bewegungen seines Kehlkopfes, wenn er schluckt. Ab und an befeuchtet er mit der Zungenspitze seine Lippen. Alles um uns herum verblasst, ist nicht mehr existent. Inmitten dieses überfüllten Zuges sitzen wir abgeschottet wie in einer Oase der Zweisamkeit. Es gibt nur noch ihn und mich.
Irgendwann ist es nicht mehr allein die äußere Schale, die Oberfläche, die ich sehe. Mein Blick geht tiefer in ihn hinein, ganz tief in sein Innerstes. Wir halten uns aneinander fest, berühren uns, sind uns so nah, ohne auch nur den geringsten Hautkontakt zu haben.
Ich bin mir sicher, dass seine Gedanken genauso wandern wie meine und sich ähnliches ausmalen!
Von kurzen Unterbrechungen einmal abgesehen – als zum Beispiel der Schaffner kommt oder ich mir im Bordrestaurant einen Kaffee hole – treiben wir das Spiel weiter, bis wir in den Münchener Hauptbahnhof einfahren.
Wir steigen beide aus.
Der Moment des Abschieds ist gekommen.
Doch wie sagt man Lebwohl zu jemandem, mit dem man so gut wie kein Wort gewechselt hat?
Von dem man eigentlich gar nichts weiß und zugleich doch so viel?
Jetzt sind wir beide plötzlich wieder verlegen.
„Viel Glück.“, sagt er nur. Ich weiß, dass er das Vorstellungsgespräch meint. Vorsichtshalber hatte ich von unterwegs angerufen, um eine eventuelle Verspätung lieber rechtzeitig anzukündigen.
„Danke.“, sage ich.
Und wir stehen immer noch auf dem Bahnsteig, sehen uns an. Dabei habe ich allen Grund, mich jetzt zu beeilen!
Auf einmal zieht er die rechte Hand aus der Tasche und drückt mir etwas in meine Rechte.
Im ersten Moment rechne ich mit einem Zettel. Doch es fühlt sich kugelig an.
„Für nachher.“, ist alles, was er sagt.
„Danke.“, wiederhole ich lediglich.
Sanft berührt er mit einem Finger meine Wange. Es ist fast nur ein Hauch. Ebenso sanft berühre ich seinen Handrücken.
Noch ein letzter Blick, dann drehe ich mich um und gehe.
Alles in mir schreit förmlich: Kehr um!
Geh zurück und gib ihm einen Abschiedskuss. Auf die Wange. Genauso gehaucht wie die anderen Berührungen. Trau dich, verdammt, trau dich doch!
Aber ich kehre nicht um. Ich gehe immer weiter, fühle mich euphorisch und melancholisch zugleich. So, als hätte ich etwas gewonnen, das mir keiner mehr nehmen kann und im selben Moment etwas Kostbares verloren.
Weiter, immer weiter. Schließlich habe ich ja gleich ein Vorstellungsgespräch! Auf das ich innerlich gerade so überhaupt gar nicht eingestellt bin!
Ich reiße mich zusammen, nehme mir ein Taxi.
Auf der Fahrt durch die Münchener Innenstadt untersuche ich die Kugel, die er mir gegeben hat. Es ist eine Praline – mit Nougatfüllung, wie sich später herausstellt – eingewickelt in goldenes Papier. Die Kugel macht den Eindruck, als sei sie bereits einmal ausgepackt worden. Vorsichtig löse ich das Papier ein wenig und linse hinein. Tatsächlich!
Da steckt ein ganz klein zusammengefalteter Zettel. Ich nehme ihn heraus, rechne nun doch noch mit seiner Telefonnummer. Aber ich irre mich.
Dort steht lediglich:
„Süße Erinnerung an ein Spiel ohne Worte ☺"
Eigentlich ein wunderschöner Abschluss. Und dennoch fühle ich ein Ziehen tief in mir drin.
Vielleicht weil es endgültig ist.
Vielleicht weil ich ihm auch gern etwas gegeben hätte...
Noch heute bereue ich, dass der Abschiedskuss nur Idee geblieben ist. Warum habe ich mich nicht getraut?
Es ist müßig, darüber nachzugrübeln.
Das Vorstellungsgespräch verläuft erfolgreich. Anderthalb Stunden später sitze ich in einem Straßencafé.
Ich beiße ein Stück von der Praline ab und lasse es auf der Zunge zergehen. Himmlisch! Für einen Moment bin ich vollkommen glücklich.
In zwei Wochen werde ich Bescheid erhalten, ob ich die Stelle bekomme. Mein Gefühl sagt mir, dass meine Chancen sehr gut sind.
Falls es stimmt, werde ich im kommenden Sommer nach München ziehen. Und wer weiß, ob mir der Fremde aus dem Zug dort nicht irgendwann einmal über den Weg laufen wird?

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Tag der Veröffentlichung: 06.09.2008

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