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Nicole Cassedy

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Herz über Kopf

 

 

Jillian & Ethan

 

 

Für P., weil du mich zu dieser Geschichte inspiriert hast.

Danke, dass du mich mit deiner Art zum Lachen bringst.

Aber vor allem dir möchte ich dieses Buch widmen, Sabrina. Du bist nicht nur eine tolle Freundin, Leserin und Ratgeberin, sondern du hast mich erst dazu gebracht dieses Buch auch in die Tat umzusetzen. Danke dir für alles. Deine Freundschaft, deine Ehrlichkeit und einfach das du für mich da bist.

1. Jillian

Nachdenklich zeichnete ich Muster auf die Arbeitsfläche, während ich einfach nur vor mich hin starrte und darauf wartete, dass das Läuten der Türglocke erklang, welches neue Kundschaft ankündigte. Doch heute war ein ruhiger Tag. Zu ruhig für meinen Geschmack. Somit gab es nichts, womit ich mich hätte ablenken können, stattdessen kreisten meine Gedanken. Seufzend legte ich meinen Kopf auf die Tischplatte und streckte die Arme vor mir aus. Es war so ein typischer Montag. Die Leute liefen geschäftig an unserem kleinen Café vorbei, doch keiner der Menschen verirrte sich herein. Sie wirkten alle gestresst und viel zu abgelenkt, um irgendetwas anderes zu beachten, als rechtzeitig zur Arbeit zu kommen.

»Erde an Jill«, hörte ich jemanden. Unterstrichen wurden die Worte durch ein wildes Schnipsen der Finger, die direkt vor meinem Gesicht auftauchten. Müde drehte ich meinen Kopf zur Seite und blickte meine Arbeitskollegin und zugleich beste Freundin, an.

»Hmm ...«, grummelte ich nur unverständlich vor mich hin.

»Wo warst du nur wieder mit deinen Gedanken?«, tadelte sie mich streng. Die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Was ist denn in letzter Zeit los mit dir? Mensch, Jill, so kenne ich dich gar nicht. Wo ist meine feurige, lebensfrohe, lustige, temperamentvolle, beste Freundin abgeblieben, hm?«

»Die hat gerade Sendepause«, zischte ich schlecht gelaunt. Ich hatte letzte Nacht kaum geschlafen und mich nur hin und her gewälzt. Irgendwann hatte ich es aufgegeben, noch etwas Schlaf zu finden, und war deshalb früher aufgestanden. Dass mich Alexandra, oder auch einfach nur Lexi, jetzt mit einem Verhör in die Mangel nahm, nervte einfach.

»Das ist doch nicht wirklich der Grund. Nun komm, sag mal ehrlich, was mit dir los ist, Jillian!«, ließ Lexi nicht locker und sah mich dabei eindringlich an. Mit fest aufeinandergepressten Lippen wandte ich mein Gesicht von ihr ab. Ich war nicht in der Stimmung, mich ihren Fragen zu stellen, mich von ihr ausquetschen zu lassen.

»Nichts ist los, Lexi. Lass es einfach gut sein!«

»Bullshit. Irgendetwas beschäftigt dich doch. Raus mit der Sprache!«

Seufzend drehte ich mich nun doch zu ihr um, richtete mich auf.

»Du kannst manchmal eine richtige Nervensäge sein«, murrte ich.

»Du liebst mich trotzdem.« Breit grinste sie mich an. »Also, ich höre!«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich hab die letzte Nacht schlecht geschlafen.«

»Es ist doch nicht nur wegen letzter Nacht.«

War ja klar, dass mir echt nichts erspart blieb.

»Na schön. Wenn du es genau wissen willst. Ich bin deprimiert, okay?«, gestand ich. »Es ist frustrierend die ganzen glücklichen Pärchen zu sehen und selbst zu wissen, dass ich alleine bin.« Mit den Schultern zuckend, blickte ich sie an.

Wissend grinste sie, als würde sie mehr wissen als ich, und legte mir freundschaftlich einen Arm um die Schultern. »Du bist eindeutig untervögelt, Süße. Du brauchst ganz dringend einen Mann, dann geht es dir gleich viel besser.«

Wie bitte?

Ungläubig sah ich meine Kollegin an. Ich glaubte mich verhört zu haben. Mit offenem Mund starrte ich sie sprachlos an. Unfähig auf diese Dreistigkeit irgendetwas zu erwidern.

Hinter der Theke räusperte sich jemand. Ein älterer Herr, der hinter vorgehaltener Hand hüstelte und uns mit einem amüsierten Blick bedachte.

»Ich würde gerne zahlen, wenn es den Damen nichts ausmacht«, sprach er uns höflich an und hatte ein charmantes Lächeln auf den Lippen. Neugierig musterte er mich von oben bis unten und schenkte mir ein anerkennendes Schmunzeln.

»Das macht dann für das Frühstück fünf Euro, bitte.«

Er zückte einen zehn Euro Schein aus seinem Geldbeutel und schob ihn mir über den Tisch.

»Den Rest können sie behalten, junge Frau«, erwiderte er noch, als ich Anstalten machte, ihm sein Wechselgeld herauszugeben. »Und was das Problem mit den Männern angeht..., ich bin mir sicher, dass sie schon bald den Richtigen finden werden.«

Damit verabschiedete er sich von uns und verließ den Laden. Wütend blitze ich Alexandra an und ballte die Hände zu Fäusten.

»Warum sagst du es nicht gleich noch ein wenig lauter?«, zischte ich sie verärgert an. »Schrei es doch gleich von den Dächern der Stadt, dass ich schon ewig keinen Mann mehr ins Bett bekommen habe. Dass ich wie eine Nonne lebe, die einfach keine Ahnung hat, wie man es in einer Beziehung richtig macht.«

»Ach, Süße«, versuchte sie, mich zu beschwichtigen.

»Nichts Süße«, wehrte ich ab. »Es ist ja nicht so, dass ich nicht selber weiß, wie öde mein Leben ist. Da brauchst du nicht auf meinem nicht vorhandenen Sexualleben herum trampeln und mir sagen, was ich brauche und was nicht. Dass weiß ich selber, okay?«

Wütend stieß ich mich vom Arbeitstresen ab und lief nach hinten. Bloß weg von ihr, sonst erwürgte ich sie noch wegen ihres schlechten Taktgefühls. Es war so frustrierend, weil ich doch eigentlich wusste, dass sie Recht hatte. Ich war schon seit langem mit keinem Mann mehr zusammen gewesen. Drei Jahre war eine lange Zeit. Auch für mich. Aber es war nun mal nicht leicht, einen Mann zu finden, der einen interessierte, bei dem man den Wunsch hatte, ihn ein wenig näher kennenzulernen. Ich meine, ich treffe Männer, und es kommt auch oft zum ersten Date. Danach hatte ich aber eher das Gefühl, dass das Interesse einfach verflog und mich Langeweile Heim suchte. Am Ende ließ ich es einfach im Sand verlaufen. Es war das Einfachste.

»Ist doch alles beschissen!«, fluchte ich .

»Sei nicht mehr sauer, Jill«, flüsterte Alexandra und umarmte mich von hinten. Sanft drückte sie mich an sich. »Es tut mir leid, ich hab es nicht so gemeint.«

»Stimmt schon. Du hast ja Recht«, murmelte ich . »Ich schätze ich bin momentan einfach keine gute Gesellschaft.«

»Weißt du was? Wir gehen heute Abend aus und amüsieren uns«, schlug sie mit einem Zwinkern vor. »Der Bruder von Stefan hat einen Club vor ein paar Wochen eröffnet. Mein Bruder war schon dort. Er hat mir erzählt, dass viele Promis in dem neuen Laden abtanzen und die Stimmung soll super sein, weil auch dieser berühmte DJ Benji dort auflegt«, schwärmte sie und nickte mir aufgeregt zu. »Lass uns hingehen, Spaß haben und Kerle aufreißen. Na los, Jill, was meinst du, wollen wir?«

»Hmmm.» Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, bin mir nicht sicher, ob ich Lust habe.«

»Ach komm schon, Jill. Das wird ein super Abend!« , bettelte Lexi und setzte einen verschwörerischen Blick auf.

»Eigentlich kannst du nicht ablehnen, weil ich uns auf die Gästeliste habe setzen lassen.«

»Nee, das hast du nicht!« Ich dachte, mich verhört zu haben.

»Doch, denn sonst denkst du wieder nach, und am Ende sagst du ab.«

Da hatte sie auch wieder recht. Sinnend kaute ich auf meiner Lippe herum. Ob ich mir einen Ruck gebe und ihr die Freude mache? Na ja, sie ist meine beste Freundin … Ich lächelte. »Okay. Ich komme mit.«

»Wirklich?« Lexi strahlte, aber, ich konnte nur hoffen, dass ich meinen Entschluss nicht bereuen würde. Bei meinem Talent war es nicht auszuschließen, dass ich wieder einen meiner peinlichen Aussetzer habe und mir irgendwas Verrücktes passierte.

 

 

2. Ethan

Ich schloss gerade den letzten Umzugskarton, bevor ich mich erhob. Erschöpft, aber zufrieden, fuhr ich mir durch die Haare. Schweiß benetzte meine Stirn, ran mir die Schläfen hinunter. Ich war total verschwitzt. Hitze hatte sich bereits in den Räumen gestaut, ließ die ganze Arbeit noch anstrengender wirken. Das T-Shirt klebte mir bereits wie eine zweite Haut am Körper. Der Umzug hatte mir viel abverlangt, doch es war ein gutes Gefühl. Lächelnd sah ich mich um. Adrian lief geschäftig herum, sammelte die einzelnen Kartons ein, als er mich dabei fast über den Haufen rannte. Leicht stieß er mit mir zusammen, drängte mich gegen die Wand, als er an mir vorbei wollte.

»Hey, pass auf!«, rief ich im scherzenden Ton hinterher, obwohl er bereits zur Tür hinaus war. Verwundert blickte ich ihm nach. Der hat es ja ziemlich eilig! Er wirkte heute irgendwie anders, trug eine mürrische Miene zur Schau. Kopfschüttelnd sah ich mich um, kontrollierte, was noch in die Umzugskartons gehörte. Polternd kam Adrian die Treppe hinauf gerannt. Sein Ausdruck war pures Missfallen.

»Ist das der letzte Karton?«, wollte er wissen und griff bereits danach.

»Ja«, bestätigte ich knapp und drehte mich zu meinem Kollegen um, der seitlich von mir stand. Seine Augen wirkten trüb, während er mir diesen eigentümlichen Blick zuwarf. Irgendetwas passte ihm nicht. Ist er sauer?

»Was ist dein Problem?«, fragte ich. »Schon den ganzen Tag hast du so schlechte Laune.«

»Mein Problem ist, dass mein bester Freund von seiner Ex verarscht wurde und sie damit auch noch ungestraft davonkommt«, brummte er. Seine Schultern spannten sich an, während er noch immer den Karton in den Händen hielt.

»Okay.« Misstrauisch zog ich eine Augenbraue hoch. Ich war mir nicht sicher, ob das der einzige Grund war, dass er missgestimmt war. Da steckte vermutlich noch etwas anderes dahinter. So gut kannte ich ihn.

Deshalb winkte ich ab. »Lass gut sein, Alter. Die Sache ist für mich gegessen. Ich mach einen Schlussstrich unter die Geschichte und hab nicht vor, mir darüber noch Gedanken zu machen. Weder über diese Frau, noch darüber, was passiert ist.«

Er nickte. »Geht klar.«

Noch immer sah er mich an, als würde ihm etwas auf der Seele brennen.

»Kumpel, irgendwas hast du noch. Also, hau raus!«

Nachdenklich kratzte er sich das Kinn. »Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich es finden soll, dass du das wirklich durchziehst, Ethan … Ich meine, ich kann verstehen, dass du aus der Wohnung willst, aber nicht, dass du so weit wegziehst.«

Ich konnte mir ein Stöhnen nicht verkneifen. »Fang du jetzt nicht auch noch damit an.« Genervt verdrehte ich die Augen. »Lass es einfach gut sein, Adrian!«

Damit überließ ich es ihm, sich den letzten Karton zu schnappen und nach unten in den Transporter zu packen. Ich verließ das Zimmer und kontrollierte auch die anderen Räume der Wohnung, ob ich auch nichts liegengelassen hatte. Wenigstens hielt Lena sich an meinem Wunsch, sich von der Wohnung fernzuhalten, während ich dabei war, meine Klamotten und meine persönlichen Sachen einzusammeln.

Ich griff nach meiner Musikanlage, die ordentlich zusammengeschnürt in der Ecke stand, verstaute sie in einem der letzten Kartons, packte meine Konsole und die kleine DVD-Sammlung dazu. Viel war es eigentlich nicht, was ich noch mitnehmen würde, ehe ich meinem alten Leben endgültig den Rücken kehrte. Es war an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Ich sah aus dem Fenster und ließ mein Blick in die Ferne schweifen. Tief atmete ich durch. So viele Erinnerungen hingen an den Wänden. Schöne Momente, die mit einem einzigen Schlag zerstört wurden. Ich hätte nie gedacht, dass mir das einmal passieren würde. Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten, als ich an den Verrat dachte. Ein Verrat, der ausgerechnet in unserem Schlafzimmer begangen wurde.

Zorn stieg in mir auf. Heiß brodelte er durch meinen Körper. Zitternd rang ich um Fassung.

Es war vorbei. Besser so. Für sie, aber vor allem für mich. Mit solch einer Frau wollte ich nicht länger zusammenleben. Ich konnte sie nicht einmal mehr ansehen, ohne dass ich mich bei ihrem Anblick ekelte. So viele Bilder fluteten mein Hirn. Ich musste mich zusammenreißen, nicht auf etwas einzuschlagen. Bewusst atmend, stand ich im Flur, versuchte, mich zu beruhigen, statt mich von meinem Zorn leiten zu lassen. Zu viele Gefühle, mit denen ich klarkommen musste, Ich hörte hinter mir Schritte die Treppe hoch kommen und rechnete mit Adrian, doch es war meine Mutter die zur Tür hereinkam. Ihre Miene wirkte bedrückt.

»Hallo, mein Schatz.«

Lächelnd kam sie auf mich zu, drückte mir einen Kuss auf die Wange.

»Hey, Mom.«

Sanft nahm ich sie zur Begrüßung in den Arm. Mit ihr hatte ich heute nicht mehr gerechnet. Nicht nachdem sie gestern geweint hatte. Es tat mir leid, dass meine Mutter wegen der Geschichte solchen Kummer hatte. Aber diesmal konnte ich keine Rücksicht auf sie nehmen.

»Bist du sicher, dass du die richtige Entscheidung triffst, Ethan?«, wollte sie wissen. »Du weißt, du musst das nicht tun. Für alles findet man eine Lösung. Eine mit der alle leben können.«

Noch immer versuchte sie, mich umzustimmen, obwohl es längst zu spät war. Was Beziehungen betraf, dachte sie eher konservativ. Liebevoll strich sie mir mit ihrer Hand über die Wange. Die Bartstoppeln machten ein schabendes Geräusch. Ich hatte keine Lust mich zu rasieren, vernachlässigte es in letzter Zeit öfter.

Abwehrend hob ich die Hände.

»Bitte Mum«, murmelte ich, »dass hatte ich dir doch lang und breit erklärt. Ich kann nicht bleiben, weil ich keine Lust habe, mich länger verarschen zu lassen. Es ist endgültig Schluss damit!«

»Aber ...«

»Nein!«, unterbrach ich sie. »Diese Beziehung mit Lena war in dem Moment beendet, als sie mit diesem Kerl ins Bett gestiegen ist. In unser Bett, wenn ich das hinzufügen darf. Ich hätte ihr vieles verziehen, aber nicht das!«

Bekümmert sah sie mich an. Ihr blondes, langes Haar war bereits leicht ergraut und zu einem Zopf zusammen geflochten, welchen sie auf der linken Seite trug.

»Ich verstehe dich doch, mein Schatz«, flüsterte sie. Ihre Stimme kam wie ein Hauchen über die Lippen. »Und es tut mir weh, dich so unglücklich zu sehen. Ich hätte mir so für dich gewünscht, dass es mit euch beiden klappt. Ich hab sie gemocht, weißt du. Sie war so ein nettes Mädchen. Wie hätte man ahnen können, dass sie sich so verhalten würde?«

Hilflos zuckte sie mit den Schultern. Niedergeschlagen schweifte ihr Blick zur Wand, wo noch Fotos aus glücklichen Tagen an der Wand hingen. Bilder von Lena und mir, letzten Sommer im Garten meiner Eltern.

»Ich hätte mir für dich nicht nur gewünscht, dass du die richtige Frau findest, sondern dass du auch in meiner Nähe bleibst. Ich weiß, du bist erwachsen, Ethan. Aber es ist immer schwer für eine Mutter, ihr Kind gehen zu lassen. Du ziehst praktisch ans andere Ende der Stadt.«
Schwer seufzte sie. In ihren grünen Augen schimmerten Tränen.

»Bitte, Mom, nicht weinen. Ich bin doch nicht aus der Welt.«

Liebevoll schlang ich meine Arme um ihren Rücken, hielt sie fest an mich gedrückt. Auch für mich war es ein schwerer Schritt.

»Ach, Junge, ich hätte es mir so für dich gewünscht«, wiederholte sie.

»Manchmal sollte es einfach nicht sein«, gab ich zurück.

»Pass einfach auf dich auf, Ethan!«, bat sie mich. »Wir kommen dich so bald wie möglich besuchen. Dein Vater und ich.«

Stumm nickte ich, bevor ich sie losließ.

Ich griff nach den letzten Sachen, die ich noch zusammen gepackt hatte und verließ die Wohnung,.

»Bereit?«, wollte Adrian wissen, der bereits hinterm Steuer saß und auf mich wartete.

»Ja«, erwiderte ich und ließ die Luft aus meinen Lungen entweichen, »lass uns fahren.«

Wehmütig blickte ich noch einmal zum Wohnhaus zurück, wo meine Mutter stand, und mir hinterher winkte. Sie hatte dabei einen Gesichtsausdruck, als würde es ein Abschied für immer sein. Dabei war das ja nicht so. Trotzdem zog sich mein Herz bei ihrem Anblick schmerzhaft zusammen.

3. Ethan

Schweigsam fuhren wir über die Autobahn nach Harsefeld. Ich hatte zwar eigentlich nie vorgehabt, aus der Stadt auf ein Dorf zu ziehen, wo weit und breit nur Wiesen, Äcker und Wald waren, aber ich suchte meine Ruhe. Mittlerweile sehnte ich mich danach. Ich brauchte einen Ort, wo ich abschalten konnte, wo mich niemand kannte, um die Trennung zu verarbeiten. Ich dachte, ich hätte Lena alles gegeben, aber anscheinend war es ihr nicht genug. Eigentlich hätte ich die Anzeichen bemerkten müssen. Wir hatten uns in den letzten Wochen immer weiter voneinander entfernt. Lena und ich hatten nur noch nebeneinander hergelebt. Nicht mehr als ein flüchtiger Kuss oder eine kurze Berührung. Wir distanzierten uns immer mehr voneinander. Mein Herz war mir herausgerissen worden. Doch neben dem Schmerz verspürte ich auch unglaubliche Wut. Ich war wütend auf sie und auf mich. Fünf Jahre, die diese Frau einfach weggeworfen hatte. Zornig biss ich die Zähne zusammen, wenn ich daran dachte. Ich hatte wirklich gedacht, es wäre nur eine vorübergehende Phase gewesen, etwas, das sich schon wieder einrenken würde, aber dann, es war so demütigend gewesen. Nichtsahnend war ich in unsere gemeinsame Wohnung gekommen. Ich hatte das Stöhnen und Keuchen bereits im Flur gehört. Und dann der Schock. Sie hatte nackt unter ihm gelegen, während er mit schnellen Stößen in sie eindrang. Brüllend hatte ich ihn an der Schulter gepackt und von ihr hinunter gezerrt. Wütend verpasste ich dem Kerl einen Schlag ins Gesicht, und es war ein Wunder, dass ich dem Wichser nur einen verpasst hatte, statt ihn richtig zu verprügeln. Um Beherrschung ringend, ballte ich die Hände auf den Oberschenkeln zusammen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass Adrian mir einen kurzen Blick zuwarf, als wollte er irgendetwas sagen, aber er sagte nichts.

»Was ist?« Misstrauisch sah ich ihn von der Seite an, ehe ich meinen Blick abwandte und auf die Straße blickte. Am Horizont ging bereits die Sonne unter und tauchte den Himmel in violetten Tönen.

»Was hast du nun vor, jetzt, wo du dich von Lena getrennt hast und aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen bist?«

»Keine Ahnung«, erwiderte ich achselzuckend. »Ich hab mir noch keine Gedanken darüber gemacht.«

»Verstehe«, nickte Adrian, ehe er sich wieder ganz auf die Straße konzentrierte.

»Ich denke, ich werde mich erst mal um das Haus kümmern. Da muss einiges gemacht werden. Das Grundstück soll begradigt werden. Es ist verwildert, voller Hügel und Gestrüpp. Die Auffahrt und der Garten werden ebenso komplett neu gestaltet. Und wenn ich schon bei Veränderungen bin… Ich sollte mir auch Gedanken um die Firma machen. Wenn Klaus bald zurücktreten wird, werde ich seine Nachfolge antreten«, überlegte ich laut.

»Klingt nach einem Plan.« Adrian nickte anerkennend. »Schätze es ist gut, wenn du ein Ziel verfolgst.«

Adrian seufzte, hielt einen Moment inne, dann fuhr er fort: »Auch wenn du nicht mehr darüber sprechen willst. Ich fand, dass Lena und du nicht zusammengepasst habt. Ihr beide seid grundverschieden. Äußerlich wirktet ihr wie das perfekte Paar, aber irgendwie war das nicht so.«

Er nickte zu seinen Worten.

»So hast du uns gesehen, warum?«, fragte ich verwundert.

»Du warst eher der ruhige Typ, jemand der lieber in ein schickes Restaurant geht, oder sich einen Filmabend mit seinem Mädchen macht. Aber Lena wollte doch lieber mit ihren Freundinnen auf Partys gehen. Sie war einfach keine Frau, die zu dir passt, Mann. Sei froh, dass du sie los bist.«

Leicht boxte er mir gegen die Schulter, so als wollte er seine Worte mit dieser Geste unterstreichen.

»Mag sein«, musste ich ihm widerwillig zustimmen. Im Grund weiß ich selbst nicht, warum ich mit dieser Frau zusammen geblieben bin. Eigentlich hatten wir nie zusammen gepasst, wenn ich so darüber nachdachte. Es gab sicher einiges, was ich an Lena gemocht hatte, ja. Einige Dinge hatten mich an ihr gestört, aber ich hatte drüber hinweggesehen, weil ich sie geliebt habe.

»Grüble nicht mehr.« Mit einem aufmunterndem Lächeln blickte mein Freund mich an. »Denk positiv. Du bist wieder frei und auf dem Markt und schaust dich nach einer hübschen Frau um. Das wäre doch die perfekte Mischung. Arbeit und Vergnügen.«

Bei den Gedankengängen konnte ich nur die Augen verdrehen.

»Ich bin nicht nach ständig wechselnden Bekanntschaften aus wie du Adrian«, gab ich zurück. »Ich schau mich nach der Richtigen um. Du weißt doch: Masse ist nicht gleich Klasse.«

»Du und deine schlauen Sprüche.« Adrian lachte kopfschüttelnd. »Du hast keine Ahnung, was dir entgeht. Aber … Der Genießer schweigt.«

»Sicher.«

Das war typisch Adrian. Er vergaß, dass ich nicht wie er war. Ich würde warten, bis mir die eine besondere Frau über den Weg läuft, weil ich der Meinung war, dass eine Beziehung mit einem geliebten Menschen einen mehr und intensiver fühlen ließ, als bedeutungslose Nummern. Mit Lena war es die ersten Jahre so gewesen, bevor unsere Beziehung einen Riss bekam. Woran es lag? Vermutlich daran, dass sich unsere Prioritäten gewandelt hatten. Wo Lena Spaß suchte, brauchte ich Ruhe. Irgendwann machten wir kaum noch was zusammen.

Adrians Räuspern riss mich aus meinen Gedanken.

»Manchmal verstehe ich dich echt nicht, Ethan.«

»Tja, Adrian. Dass kann ich nur zurück geben. Ich frage mich öfters, wie es sein kann, dass wir Freunde sind.« »Vermutlich weil wir die Einzigen sind, die sich gegenseitig auf Dauer ertragen können.«




4. Jillian

Nervös zupfte ich an dem blauen Kleid herum und versuchte, es immer wieder in die Länge zu ziehen, weil ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, dass es nicht genug bedeckte. Alexandra hatte mich regelrecht dazu genötigt, diesen sündigen Fetzen Stoff anzuziehen. Sie meinte, wer Männer aufreißen will, der muss auch sexy sein. Nun fragte ich mich, was mich dazu geritten hatte, auf sie zu hören.

»Hör auf«, zischte Lexi neben mir und schlug mir auf die Hand. »Du siehst heiß aus, Süße. Glaub mir. Die Männer werden gar nicht mehr ihre Augen von dir abwenden können. Sie werden dich für die pure Sünde halten.« Sie grinste. »Und nun komm, wir sind schon spät dran!« Nach den letzten Worten packte sie mich am Arm und zog mich mit. Während sie auf ihren Pumps eine super Figur machte, stolperte ich neben ihr her, statt elegant auszusehen. Verfluchte High-Heels!, dachte ich ärgerlich, während ich auf meine schwarzen Schuhe sah, für die man schon fast einen Waffenschein bräuchte. Ich konnte es noch immer nicht glauben, mein Körper steckte in einem blauen, schulterfreien Kleid, dass mir nicht einmal ganz über die Hälfte meiner Oberschenkel reichte. Dazu trug ich passend zu den High Heels einen schwarzen Blazer. Abgerundet wurde mein Aussehen durch silbernen Hals- und Ohrschmuck. Alexandra hatte ganze Arbeit geleistet. Dass musste man schon sagen. Meine Haare hatte sie zu Locken eingedreht und nach hinten fest gesteckt. Und obwohl ich auf Make-Up verzichten wollte, hatte sie mich dennoch dezent geschminkt. Alles in allem sah ich umwerfend aus, fand ich. Und entsprechend super würde ich mich fühlen, wenn nicht immer das gottverdammte Kleid zu weit hochrutschen würde. Mist! Schon wieder fummelte ich am Saum.

»Wo genau gehen wir überhaupt hin?«, wollte ich mürrisch wissen, während ich immer noch meine Mühe hatte ihr auf den hohen Schuhen zu folgen, ohne dabei umzuknicken und mir wohl möglich noch etwas zu brechen.

»Wir gehen auf die Reeperbahn«, erwiderte sie gut gelaunt und zerrte mich weiter voran. »Ich dachte du wüsstest, wo das Dance Floor ist.«

In dem Moment wich mir sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Fassungslos starrte ich sie von der Seite an, während ich die Information erst einmal verdauen musste. Zwei Mal schluckte ich, doch der gefühlte Kloß in meinem Hals wollte sich nicht lösen.

»Wir gehen auf die Reeperbahn«, krächzte ich.

Sie nickte energisch. »Genau. Das hab ich doch gerade gesagt!« Heilige Scheiße. Ich war noch nie besonderes begeistert von der Hamburger Partymile gewesen. Zu viele zwielichtige Gestalten, die da nachts herumliefen.

»Du überrascht mich immer wieder, Lexie«, murmelte ich, weil es in dem Moment das Einzige war, was mir auf die schnelle einfiel, um mein Unbehagen irgendwie zu verdrängen.

»Manchmal muss man nur die richtigen Leute kennen«, erwiderte sie grinsend und schenkte mir ein umwerfendes Lächeln.

»Mhm ... scheint so«, murmelte ich.

»Das wird der Hammer, Jill«, schwärmte sie. »Ich sag´s dir. Du wirst deine Probleme heute Nacht vergessen und vielleicht noch fantastischen Sex mit einem heißen Kerl haben.«

»Ich will dir ja die Freude nicht nehmen, dich in mein Liebesleben einzumischen, aber du weißt, ich mache mir nichts aus One-Night-Stands. Ich will lieber jemanden kennen lernen, mit dem ich mir vorstellen kann eine Beziehung einzugehen, statt ihn direkt ins Bett zu locken«, bremste ich meine Freundin aus.

»Warum nimmst du nicht beides, Jill. Einen Mann und guten Sex«, erwiderte sie ein bisschen zu laut. Ihre Stimme hallte von den Wänden der Häuser wider, was dazu führte, dass sich einige Passanten neugierig zu uns umdrehten. Ein Kerl, der wohl nicht viel älter als wir sein konnte, betrachtete uns von der anderen Straßenseite. Seine Augen lagen dabei auf mir. Sein Blick taxierte meinen Körper. Anerkennend blitzten seine Augen auf, als er mir ein breites Lächeln schenkte. Mit der Zunge fuhr er sich leicht über die Lippen. Schnell wandte ich den Blick ab und klammerte mich an Lexis Arm.

»Hättest du das nicht noch lauter sagen können«, zischte ich aufgebracht. »Es hat noch nicht die ganze Straße gehört!«

»Entspann dich, Jill. Niemand kennt uns. Wen interessiert es, dass man uns gehört hat? Du solltest endlich mal lockerer werden. Du mutierst geradewegs zur Langweilerin. Wo ist die ausgelassene und verrückte Jill hin? Die, die sich auch mal etwas getraut hat?«

»Schätze die hat sich rar gemacht.« Achselzucken sah ich meine beste Freundin an. Ungläubig erwiderte sie meinen Blick, ehe sie den Kopf schüttelte.

»Wir sollten dir ganz dringend etwas zu Trinken besorgen. Komm. Es ist nicht mehr weit bis zum Club. Nur noch die Straße entlang und dann links um die Ecke.«

Damit legte sie wieder an Tempo zu, nachdem wir eben erst langsamer geworden waren.


Kaum waren wir um die Hausecke gebogen, blieb Alexandra wie angewurzelt stehen, sodass ich geradewegs in sie hinein lief und mit ihr zusammenprallte.

»Mensch, Jill. Pass doch auf!«, Sie verdrehte mit amüsiertem Schmunzeln die Augen. »Manchmal bist du ein kleiner Tollpatsch.«

Entschuldigend hob ich die Schultern. »War keine Absicht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du stehen bleibst.«

»Schon klar«, beschwichtigend hob sie die Hände. »Ich dachte einen Augenblick, mein Portemonnaie vergessen zu haben, aber alles okay. Hauptsache, wir packen uns nachher nicht im Club hin.«

»Bloß nicht, Lexi«, sagte ich lachend, und sie stimmte in mein Lachen ein. Wenn das passieren würde … O je.

Gutgelaunt gingen wir weiter, Stimmengewirr erfüllte die Straße. Alexandra stupste mich an und deutete zum Eingang. »Da ist ja schon ordentlich was los.«

Vor der Tür wartete eine lange Menschenschlange. Neugierig ließ ich meine Augen schweifen. Zwei Scheinwerfer erhellten das große Tor, über dem in goldener, verschnörkelter Schrift Dance Floor prangte. Ein roter Teppich lag vor der Tür und gab einem das Gefühl, als würde man wie ein Prominenter über den Teppich gehen. Alles wirkte so imposant und edel, dass ich doch etwas große Augen bekam. Nervosität erfasste mich, wenn ich nur daran dachte, dass wir jeden Moment durch die Absperrung in den Club gehen würden.

»Let´s get the Party«, jubelte Alexandra übermütig und hackte sich bei mir unter. Zielstrebig ging sie mit mir gemeinsam auf den Eingang zu. Sie wirkte dabei so cool und locker, so als würde sie dazugehören. »Stopp, Ladys!«

Direkt vor der Absperrung hielt uns der Türsteher auf. Mit einem Arm hinderte er uns am Weitergehen. Mit schmalen Augen musterte er uns. Er war großgewachsen, breitschultrig und trug einen finsteren Blick zur Schau. In seinem schwarzen Anzug und mit den dunklen Haaren und Augen wirkte er ziemlich gefährlich.

»Wir stehen auf der Gästeliste, Ali. Jillian Sommer und Alexandra Morris«, erwiderte sie ernst. Mit wachsamen Augen und ohne uns aus seinem Blick zu entlassen, griff er nach dem Klemmbrett und blätterte durch die verschiedenen Namen. Es dauerte gefühlt eine halbe Ewigkeit, bis er uns mit einem kurzen Nicken passieren ließ.

»Woher kennst du den Türsteher?«, verwundert sah ich zu ihr.

»Tu ich gar nicht. Stefan, der uns das hier möglich gemacht hat, nannte mir den Namen, war aber nur so am Rande erwähnt. «

5. Jillian

Der Bass wummerte durch den gesamten Club und vibrierte in meinem Körper. Beschwingt bewegte ich mich zum Takt der Musik, ließ mich von den Klängen treiben, während ich an der Bar darauf wartete, dass der Barkeeper sich zu mir umdrehte, damit ich meine Bestellung aufgeben konnte. Ich hob meine Hand, signalisierte ihm, dass ich etwas von ihm wollte. Mit einem kurzen Kopfnicken wandte er sich zu mir, ehe er sich daran machte die Getränke für die Mädels zu mixen, die ihm gegenüberstanden und sich kichernd mit ihm unterhielten. Und während er arbeitete, flirtete er mit ihnen, sorgte so für ein besseres Trinkgeld. Grinsend beobachtete ich das Schauspiel. Sie waren noch sehr jung, aber das schien ihn nicht zu stören. Es funktionierte so ähnlich wie in unserem Café. Je besser der Draht zu den Kunden war, desto mehr Trinkgeld sprang dabei für uns heraus. Und ich verstand ihn. Er flirtete, aber dafür vernachlässigte er seine Arbeit nicht. Ein kurzes Lächeln, dann überreichte er den Mädels ihre Getränke und kam auf mich zu. Seine Augen wirkten bei der schwachen Beleuchtung wie dunkle Saphire, während er mich mit seinen Blick fixierte, mich gefangen nahm, sodass ich selbst auch nicht mehr in der Lage war, einfach weg zu sehen. Selbst die Blicke der anderen Männer wurden mir plötzlich egal. Ich wollte diesen Abend genießen, auch wenn ich mich dagegen gesträubt hatte, heute auszugehen. Aber Alexandra hatte Recht. Ich sollte mein Leben genießen, mich amüsieren und einfach den Dingen ihren Lauf lassen. Es konnte doch trotzdem ein guter Abend werden, auch ohne dass ich einen Kerl abschleppen musste.

»Was darf es sein?«, hörte ich ihn über die Musik hinweg fragen.

»Ich hätte gerne einen Tequila Sunrise.«

»Kommt sofort«, sagte er grinsend, ehe er sich von der Theke entfernte. Aufmerksam sah ich ihm dabei zu, wie er nach dem goldenen Tequila griff und etwas davon in den Shaker goss. Anschließend warf er ein paar Eiswürfel dazu, welche dafür sorgen würden, dass sich der Alkohol mit den Säften besser verband. Mit geübten Griffen goss er den Orangensaft, Zitronensaft und den Granatapfelsirup dazu, bevor er den Deckel auf den Shaker drückte und diesen mehrmals kräftig schüttelte. Immer wieder warf er mir dabei einen kurzen Blick zu und schenkte mir ein charmantes Lächeln, so als würde er auch mit mir flirten, doch ich würde darauf nicht eingehen, auch wenn er wirklich süß war. Er holte aus dem oberen Regal ein Cocktailglas, goss alles hinein und schmückte es noch mit Ananas-, Orangenstückchen und einem Papierschirmchen aus und stellte es vor mir auf die Theke. Nachdem ich bezahlt hatte, wandte er sich mit einem Zwinkern von mir ab. Schmunzelnd nahm ich das Glas in die Hand. Langsam entfernte ich mich von der Bar, drängelte mich an den Leuten vorbei, um mich auf die Suche nach Lexi zu machen. Ich hatte sie wohl in der Menge verloren. Doch wie ich sie kannte, würde sie nicht weit sein. Vermutlich stand sie irgendwo am Rande der Tanzfläche und hielt Ausschau nach mir. Obwohl wir uns eigentlich einig waren, uns erst mal an der Bar etwas zu trinken zu holen. Aber es war einfach zu voll, um sich nicht in dem Gewühle zu verlieren. Zumal, wo der Club ohnehin nur schwach beleuchtet wurde. Kleine Neoleuchten an der Decke und auf dem Fußboden spendeten Licht, sorgten für eine gemütliche Atmosphäre. Ausgelassen tanzten die Leute und unterhielten sich lachend, als ich in dem Augenblick Alexandra erblickte. Hektisch winkte sie mir zu, als auch sie meinen Blick traf und mich erkannte. Gerade wollte ich auf sie zulaufen, als ich über meine eigenen Füße stolperte. Leicht kam ich auf den hohen Pumps ins Straucheln.

Mühsam kämpfte ich um mein Gleichgewicht, doch da rutschte mir das kalte Cocktailglas aus der Hand. Der Inhalt schwappte über, ergoss sich großzügig auf dem Hemd meines Gegenübers, der mir in diesem Moment entgegen kam. Scheppernd zerbrach das Glas neben mir auf dem Boden. Einzelne Glasscherben flogen in verschiedenen Richtungen, während ich nach vorne stolperte und mit Schwung gegen den Unbekannten stieß. Der Aufprall riss mich regelrecht von den Füßen, sodass ich auf die Knie gefallen wäre, wenn mich nicht starke Hände an meinen Armen festgehalten hätten. Mit der Wange prallte ich gegen eine harte Brust. Meine Hände klammerten sich Halt suchend fest, in der Hoffnung meinen peinlichen Auftritt irgendwie noch abmildern zu können.

»Scheiße!«, fluchte ich ungehalten. »Aua.«

Gequält rieb ich mir über die Wange, die vom Aufprall ziemlich schmerzte, während ich es gekonnt ignorierte nach oben zu schauen. Ich hatte nicht nur einen perfekten Auftritt hingelegt, sondern mich mit Sicherheit bis auf die Knochen blamiert. Noch immer hing ich an dem Fremden, der auch keine Anstalten machte, mich weg zu schieben.

»Alles okay, mit dir, Süße?«, hörte ich über mir eine tiefe Stimme sagen, welche mir ziemlich bekannt vorkam. Wie gelähmt starrte ich vor mich hin, bemerkte erst jetzt den orangeroten Fleck auf dem weißen Hemd, der unweigerlich von meinem Cocktail zeugte.

O Mann, wie peinlich!, dachte ich beschämt. Gequält schloss ich die Augen und wünschte mir, dass ich in diesem Augenblick tief in einem Erdloch versank, doch nichts geschah. Noch immer lehnte ich an dem Fremden, befand mich in einer unangenehmen Lage. Hitze kroch mir hinauf und ließ mein Gesicht glühen. Mit Sicherheit war ich gerade dunkelrot angelaufen. Beschämt sah ich nun doch nach oben und blickte in ein paar haselnussbraune Augen.

»Jill?«, kam es überrascht. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an, während seine Hände noch immer meine Arme umklammerten. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Er kam mir bekannt vor, doch für einen kurzen Augenblick wollte mir nicht einfallen, woher ich ihn kannte. Doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

»Adam?«, frage ich fassungslos. Hörbar schluckte ich, als mir das Ausmaß meiner seltsamen Situation klar wurde. Nach diesem Abend würde ich ihm und auch anderen Menschen nie wieder unter die Augen treten können. Da war ich mir sicher. »Was machst du hier?«

»Das Gleiche könnte ich dich auch fragen, Süße.«

Grinsend half er mir in eine aufrechte Haltung. »Ich wusste gar nicht, dass du dich so sehr freust mich wieder zu sehen, dass du mir sogar in die Arme springst.«

»Das ist nicht witzig!«, zischte ich böse und stieß ihm eine Hand gegen die Brust. Dabei ignorierte ich den Fleck gekonnt. Mit dunklen Augen musterte er mich, dann schob er sein Gesicht dicht vor meines.

»Nein, aber es war verdammt heiß. Mir wäre fast einer abgegangen!«, raunte er mir ins Ohr. Sein heißer Atem strich über mein Ohrläppchen und ließ mich erschaudern.

»Du bist so ein Schwein!«, knurrte ich und stieß ihn von mir, kaum dass ich mir sicher war, nun wieder einen sicheren Stand zu haben. »Du hast dich kein Stück verändert, Adam. Du bist noch immer ein genauso großes Arschloch, wie du es schon früher warst. Wahrscheinlich sind wir deswegen nicht mehr miteinander ausgegangen.«

Wütend wandte ich mich von ihm ab, bereit die Flucht zu ergreifen, doch im letzten Moment packte er meinen Arm und wirbelte mich zu ihm herum. Fest zog er mich zu sich heran, sodass wir nur noch wenige Millimeter voreinander standen. »Du bist dafür draufgängerischer geworden, Jill. Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt. Du bist noch schöner, als damals. Und so anmutig. Nicht mehr diese verklemmte, schüchterne Frau. Das gefällt mir!«

»Du bist ein eingebildetes Arschloch!«, zischte ich und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. »Lass mich los!«

Gefährlich blitzen seine Augen im schwachen Licht der Scheinwerfer auf, als er noch näher kam. Ein bedrohliches Lächeln auf den Lippen.

»Ich werde dich schon davon überzeugen, dass du zu mir gehörst, meine Hübsche«, knurrte er dunkel. »Doch für den Anfang sollte das genügen.«

Noch bevor ich fragen konnte, was er damit meinte, packte er mich bereits und drückte seine Lippen auf meine. Hart traf sein Mund auf meinen, raubte mir den Atem und holte mich fast von den Füßen. Sein Griff war fest und verhinderte, dass ich mich von ihm lösen konnte. Heiß strich sein Atem über mein Gesicht. Zuerst war es ein grober Kuss, wild und ungezügelt, doch langsam löste die Leidenschaft ihn ab. Ich bekam weiche Knie, ließ mich gegen ihn fallen. Schloss die Augen und gab mich dem Moment ganz hin. Für den Augenblick vergaß ich sogar, wer er wirklich war. Seine Zunge schob sich in meinen Mund, umspielte meine. Forderte sie zu einem Tanz auf. Stöhnend klammerte ich mich Halt suchend an seinem Hemd fest. Ich vergaß sogar, wo wir uns befanden.

»Genau so will ich dich. Ungezügelt und wild«, raunte er dicht an meinen Lippen. Seine Worte waren wie eine kalte Dusche. Erschrocken riss ich die Augen auf, sah sein arrogantes Grinsen. Triumphierend blickte er mich aus seinen braunen Augen an. Wütend riss ich mich von ihm los. Und noch bevor ich wusste, was ich eigentlich tat, holte ich bereits aus und schlug ihm kräftig mit der flachen Hand ins Gesicht.

»Das war dafür, dass du mich ohne Erlaubnis geküsst hast.« Schnaubend drehte ich mich um, schob mich mit erhobenen Kopf an den anderen Gästen vorbei. Ich wollte bloß weg von ihm. Ihn nach so langer Zeit wieder zu sehen, war ein Schock und zugleich löste er ein seltsames Gefühl in mir aus. Doch ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich sah nicht mehr zurück, ließ ihn einfach stehen. Dabei ignorierte ich meine rechte Hand, welche nach dem Schlag höllisch brannte. Doch das war es mir wert. Sein Gesicht war eine Genugtuung. Es war ein unglaubliches Gefühl. So losgelöst. Ich fühlte mich gut. Und ich war stolz auf mich, weil ich mir nichts von diesem Arschloch gefallen ließ.

»Was war denn das gerade eben?«, wollte Alexandra wissen, kaum, dass ich sie erreicht hatte. Erstaunt und ungläubig sah sie mich an. »Hab ich etwas verpasst?«


»Nein! Lass uns lieber feiern. Deswegen sind wir doch hier!«

»Was für eine Party … Gott, mein Kopf!«, grummelte ich gequält. Mein Kopf hämmerte wie verrückt und in meinem Magen tanzten kleine Männchen Samba, zumindest fühlte sich das genauso an. Seufzend fuhr ich mir mit den Händen über das Gesicht. Meine Augen fühlten sich verquollen an, weil ich gestern Nacht eindeutig zu tief ins Glas geschaut habe und zudem auch keine Kraft mehr hatte, mich noch abzuschminken. Müde öffnete ich die Augenlider, nur um sie im nächsten Moment zusammen zukneifen und vor Schmerzen aufzustöhnen. Das Sonnenlicht traf mich mitten ins Gesicht und ließ meine Augen brennen.

»Scheiße!«, fluchte ich ungehalten. »Nie wieder Alkohol!« Stöhnend schloss ich ergeben die Lider. Der Abend war wohl ein voller Erfolg. Wenn man sich am nächsten Tag scheiße und wie durchgekaut fühlte, dann hatte man in der Nacht alles richtig gemacht, oder? Ich bezweifelte es zwar, aber dafür ging ich auch nicht oft aus. Ich verkroch mich die meiste Zeit lieber in meinem kleinen Häuschen und wagte nicht einmal einen Blick nach draußen. Ein Glück hatte ich heute frei, ich würde es ansonsten gar nicht überleben mit diesem mörderischen Kater zur Arbeit zu gehen. Ja, schon klar. Eigentlich heißt es ja, wer trinken kann, der kann auch arbeiten. Aber bei mir? Fehlanzeige. Ich fühlte mich wie tot. Als hätte mich ein Laster überfahren, nur um noch mal zurückzusetzen und noch mal drüber zu fahren. Ich wusste nicht, wen ich nach diesem Abend mehr hasste. Alexandra oder doch eher mich, dass ich diesen Schwachsinn mitgemacht hatte. Ich war eindeutig zu alt dafür, um nach einer durchfeierten Nacht am nächsten Morgen quicklebendig zu sein. Aber dennoch war es ein abgefahrener Abend gewesen. Im Grunde bereute ich es nicht. Nur, Adam wieder gesehen zu haben. Er war genau die Art von Mann mit der man niemals alt werden konnte. Seufzend blieb ich noch einen Moment einfach so liegen und starrte an die Zimmerdecke. Ließ die Begegnung mit ihm vor meinem inneren Auge ablaufen, stellte es mir noch einmal vor. Er hatte es doch tatsächlich gewagt, seine Lippen auf meine zu drücken. Ich hatte es genießen wollen, doch ich wusste, dass Adam nur an meinem Körper und nicht an meiner Person interessiert war – damals wie heute. Sein Blick hatte alles gesagt. Immerhin hatte er nach dem Kuss keine Anstalten mehr gemacht, sich mir zu nähern, aber dennoch hatte ich seine Blicke die ganze Zeit auf mir gespürt. Noch immer war es, als würden mich seine Augen verfolgen und sein Blick mich einfach nicht loslassen. Ich musste über mich selbst den Kopf schütteln. Es war irgendwie total merkwürdig. Ich hatte Adam über ein Jahr nicht mehr gesehen. Und plötzlich tauchte er auf. Jetzt wo ich mich so einsam fühlte? Jetzt wo ich mir doch wünschte, ich hätte jemanden, der mit mir das Leben teilte? Manchmal fühlte ich mich einsam in diesem großen Haus. Nun wo meine Grandma in das Betreute Wohnen umgezogen ist und mir das Haus überlassen hatte. Bevor ich mir noch mehr den Kopf über letzte Nacht zerbrach, stand ich nun doch widerwillig auf. Murrend schlug ich die Decke zur Seite und kletterte, eher unbeholfen, aus dem Bett.



6. Ethan

Ein penetrantes Klingeln riss mich unbarmherzig aus dem Schlaf. Müde schielte ich auf die Ziffern der Uhr, die auf dem Nachttisch stand und fluchte. Es war gerade mal acht Uhr morgens.

»Wer zum Teufel ruft um diese Uhrzeit an?«, grummelte ich. Verärgert griff ich nach meinem Handy. Nicht einmal am Wochenende hatte man seine Ruhe. Verschlafen warf ich einen Blick aufs Display, ehe ich frustriert seufzte, als der Name meiner Ex darauf aufleuchtete. Was will sie schon wieder? Reicht es ihr nicht, mich zu kränken und zu verletzen? Unschlüssig starrte ich das Handy an. Überlegte, ob ich sie nicht einfach wegdrücken sollte. Es gab ohnehin nichts, was sie sagen oder tun konnte, um ihren Fehler wieder gut zu machen. Ich ließ es einfach klingeln, bis es verstummte. Doch ehe ich aufatmen konnte, fing es bereits erneut zu klingeln an. Genervt ging ich ran.

»Was willst du, Lena?«, knurrte ich ungehalten in den Hörer.

»Wie geht es dir?«, wollte sie wissen.

»Gut!«, erwiderte ich knapp. Lüge. Doch ich würde ihr nicht sagen, wie schlecht es mir ging. Wie sehr mich die ganze Sache quälte.

»Ich ... Wir müssen reden.«

»Es gibt nichts, was wir noch zu besprechen hätten!«, stellte ich klar. Meine Stimme war kalt. Ich hielt jede Emotion daraus zurück. Sie sollte ruhig spüren, dass sie meine Liebe verloren hatte. Dass sich mein Herz vor ihr verschloss.

»Schatz, bitte ...?«, fing sie an, doch sofort unterbrach ich sie. Ich glaubte, mich wirklich verhört zu haben. Was bildet sich diese Frau eigentlich ein?

»Nichts Schatz!«, zischte ich. Wütend biss ich die Zähne zusammen, um ihr nicht irgendwelche Flüche an den Kopf zu werfen. »Du hast es dir verwirkt, mich so zu nennen!«

»Bitte, Ethan. Ich weiß, dass ich Scheiße gebaut habe. Aber können wir nicht doch noch reden? Du fehlst mir. Die Wohnung ist ohne dich so leer. Ich hab eingesehen, dass ich einen Fehler gemacht habe. Bitte komm zurück. Ohne dich fühle ich mich so verdammt einsam«, redete sie in einem Schwall, doch ich ignorierte es. Genervt verdrehte ich die Augen und hielt mir das Handy vom Ohr, während sie ihren Monolog herunter ratterte, als würde es irgendetwas an dieser Situation ändern. Seufzend schüttelte ich den Kopf. Ja, nun fragte ich mich in der Tat, was ich die ganze Zeit an dieser Frau gefunden habe. Am Anfang hatte ich es gewusst. Ich hatte mich in sie verliebt. Ihr Lächeln, die verliebten Blicke. Wir hatten miteinander harmoniert. Aber jetzt? Da fragte ich mich eher, wie ich so blind gewesen sein konnte, ihre ganzen Fehler und Macken so lange zu ignorieren. Und jetzt kam sie an, nachdem sie mir fremdgegangen war. Hätte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Nicole Cassedy
Bildmaterialien: pixabay, and me
Cover: Nicole Cassedy
Lektorat: Nicole B.
Satz: Nicole Cassedy
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2019
ISBN: 978-3-7487-1622-8

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