Auch am nächsten Tag hatte Grace keine Lust, aufzustehen. Doch sie wollte nicht schon am ersten regulären Schultag zu spät kommen. Also stand sie auf und machte sich für den Tag fertig. Sie brauchte, wie schon am Vortag, eine Weile, bis sie Zoe dazu brachte, aufzustehen. Sie fing langsam an zu verstehen, warum sie Zoe so selten vor der ersten Stunde auf dem Schulflur gesehen hatte. Sie hatte wahrscheinlich mit schöner Regelmäßigkeit verschlafen. Und Manuela Hopfen hatte es entweder nicht für nötig erachtet, ihre Mitbewohnerin - und angebliche Freundin - zu wecken oder sie war nicht hartnäckig genug gewesen. Auf jeden Fall konnten sich zumindest ein paar Lehrer über die Beziehung der beiden freuen. Zoe würde von nun an nie wieder die erste Stunde schwänzen.
Nachdem sie sich angezogen hatten, legten beide ihre Schulsachen für den Tag zurecht. Grace legte auch das in schwarzes Leder gebundene Notizbuch zu ihrem Hefter. Kurz darauf kamen Sophie und Monique und holten die beiden ab. Auf dem Weg zu ihren Klassenzimmern kamen sie auch an Manuela vorbei, die vor den Glaskästen neben dem Speisesaal stand. Sie sah Grace und Zoe, die Händchen hielten, mit einem undeutbaren Blick an. Nachdem sie ein paar Schritte gelaufen waren, fragte Grace leise:
„Hat sie sich während der Ferien bei dir gemeldet?“
„Nur einmal kurz. War aber eigentlich eine belanglose SMS.“
Vor dem Klassenzimmer der ‚HW03' gab Grace Zoe noch einen Abschiedskuss. Dann ging Zoe weiter zu ihrem Klassenzimmer. Kurz nach ihnen kam auch Manuela.
Grace hatte einige Schwierigkeiten, sich wieder an den Unterricht zu gewöhnen. Die Lehrer stiegen gleich voll in den Stoff ein, als wäre die letzte Stunde erst eine Woche zuvor gewesen und nicht sieben.
Bis in die dritte Stunde hinein hatte Grace keine Ahnung, was sie eigentlich in das Buch reinschreiben sollte.
„Super. Erst habe ich die Idee dazu und dann fällt mir nichts ein
.“
Sie dachte daran, dass es eine Nachricht an Zoe sein sollte. Es sollte etwas mit ihnen beiden zu tun haben. Und plötzlich wusste sie, was sie schreiben könnte. So begann sie damit, den Text des Liedes ‚All the things she said' aufzuschreiben. Sie schrieb noch in der vierten Stunde daran, weil sie sich Mühe gab, damit es schön aussah. Zum Schluss unterstrich sie noch einige Zeilen als besondere Nachricht an Zoe.
Am nächsten Tag nahm Zoe das Buch an sich. Als Grace in der Frühstückspause ins Zimmer kam, nahm Zoe, die schon da war, sie in die Arme und küsste sie.
„Ich liebe dich auch.“, meinte sie dann.
Grace lächelte. Sie war gespannt, was Zoe wohl als erstes in das Tagebuch schreiben würde. Doch musste sie sich noch bis zum nächsten Tag gedulden.
Sie öffnete es sofort, als sie am Donnerstag im Klassenzimmer saß. Sie traute ihren Augen nicht. Zoe hatte auf die dritte Seite Grace gemalt. Doch sie trug eine Schuluniform - weiße Bluse, karierter Rock, Kniestrümpfe. Es war alles komplett. Daneben standen die Worte ‚Du bist meine Lena'. Grace lächelte. Als sie umblätterte sah sie, dass Zoe auch sich selbst gemalt hatte. Sie trug auf dem Bild ebenfalls eine Schuluniform. Daneben stand die Frage ‚Bin ich deine Yulia?'.
In der Frühstückspause sagte Grace dann zu Zoe:
„Immer.“
Zoe schien erst nicht zu verstehen, was sie meinte. Doch dann fiel ihr scheinbar wieder ein, was sie neben die Bilder geschrieben hatte. Sie küsste Grace.
„Da bin ich aber froh.“
Grace überlegte in der zweiten Stunde eine Weile, was sie als Nächstes schreiben könnte. Dann fiel ihr ein Lied ein, dessen Text ziemlich gut auf sie und Zoe passte. Also begann sie gleich damit ‚I wanna kiss you“ von der Kelly Family aufzuschreiben. Sie brauchte auch hier mehr als zwei Unterrichtsstunden, um fertig zu werden. Zum Schluss unterstrich sie wieder ein paar Zeilen.
So vergingen die nächsten Wochen. Der Unterricht wurde nun immer schwieriger. Langsam beruhigten sich Graces und Zoes Mitschüler und starrten die beiden nicht mehr so an. Sogar Petra, Paula S. und Karl gaben Ruhe und tratschten nicht mehr so heftig und oft über sie.
Zwei Wochen nach Schulbeginn hatte Zoe mit Manuela Hopfen gesprochen. Ihr seltsames Verhalten hatte Zoe neugierig machen. Und so hatte sie ihre Freundin gefragt, was mit ihr los sei. Zu Zoes, Graces - und später auch Sophies und Moniques - Überraschung gestand Manuela Zoe, dass sie eifersüchtig auf Grace war. Manuela stand schon sehr lange heimlich auf Zoe, hatte aber immer geglaubt, dass diese heterosexuell sei und sich deshalb auch nie was anmerken lassen. Nach Zoes Auftritt bei der Abschlussfete hatte sie zwar gemerkt, dass diese doch lesbisch war. Aber gleichzeitig hatte sich mit dem Geständnis Manuelas Hoffnung zerschlagen, je mit ihr zusammen zu sein.
Grace hatte erst geglaubt, Zoe würde sie auf den Arm nehmen, als sie ihr von dem Gespräch zwischen ihr und Manuela berichtete. Sie hatte noch gedacht:
„Scheint doch ansteckend zu sein
.“
Manuela hatte Zoe das Versprechen abgerungen, es niemanden zu erzählen. Dieses Versprechen musste auch Grace abgeben. Ebenso wie Sophie und Monique. Grace hatte ihnen ausdrücklich eingeschärft, niemandem was davon zu erzählen. Und sich gegenüber Manuela auch nichts anmerken zu lassen.
Doch die drei verstanden nun, was hinter der ‚Beziehung‘ Manuelas mit Markus Trebe steckte. Ob es Zufall war oder Manuela nach ihrem Geständnis nachgedacht hatte: Nur wenige Tage, nachdem sie Zoe gesagt hatte, dass sie auf sie stand, trennte sie sich von Markus.
Entgegen Graces leiser Befürchtung kamen sie und Zoe gut damit zurecht, dass sie zusammen wohnten. Von viertel acht am Morgen bis dreiviertel drei am Nachmittag sahen sie sich sowieso nur in den Pausen. Die beiden und Sophie und Monique unternahmen hin und wieder etwas zusammen: Gingen zusammen einkaufen, sahen sich einen Film im Fernsehen oder auf DVD an oder spielten Karten und unterhielten sich.
Alles hätte so schön sein können. Wäre da nicht Graces Eifersucht gewesen. Seit Ende September hatte sie argwöhnisch beobachtet, dass sich Zoe immer besser mit einem Mädchen aus dem ersten Lehrjahr der Landwirte verstand. Das Mädchen hieß Sandra, hatte mittellanges flachsfarbenes Haar und sah nicht wie eine typische Bäuerin aus. Grace fragte sich immer wieder, was so ein Mädchen bei den Landwirten machte. Es kam vor, dass Zoe in einer Pause nicht ins Zimmer kam, weil sie mit anderen aus ihrer Klasse oder aus dem ersten Lehrjahr, darunter immer Sandra, sprach.
Grace machte es fast wahnsinnig. Sie wusste nicht, ob Zoe vielleicht mehr von Sandra wollte als nur Freundschaft. Sie hatte so große Angst, Zoe wieder zu verlieren, dass sie überall Gefahren für ihre Beziehung sah. So fing sie an, ihrer Freundin nachzuspionieren. Die Stundenpläne für die Klassen standen immer auf einem Blatt. So wusste Grace genau, wann Zoe welche Stunden hatte und auch, wann sie eine Freistunde hatte. Und Grace beobachtete aus dem Fenster ihres Zimmers, wenn Zoe mit Sandra und anderen Landwirten in den Schulgarten oder woanders hinging. Es war nicht so, als würde Zoe Grace anlügen. Sie hatte ihr erzählt, dass sie mit den Neuen in den Garten gingen, um ihnen die einzelnen Pflanzen zu zeigen und über den Unterricht zu reden. Doch Grace bewachte vom Fenster aus jeden Schritt, den Zoe tat. Sie wollte wissen, ob sich Zoe Sandra gegenüber anders verhielt als den anderen neuen Schülern.
Am Donnerstag, dem siebten Oktober, kam es zum Eklat. Sie saßen am Tisch und aßen Abendbrot. Grace hatte schon den ganzen Nachmittag kaum ein Wort gesagt. Und nun reichte es Zoe offensichtlich.
„Was ist los mit dir? Seit der Unterricht vorbei ist, kriegst du den Mund nicht auf. Bist du sauer, weil ich zu spät vom Unterricht gekommen bin?“
Grace erwiderte erst gar nichts. Sie überlegte, wie weit sie gehen konnte.
„Grace, rede endlich mit mir!“, verlangte Zoe mit Nachdruck.
„Warst du denn beim Unterricht?“
Zoe blinzelte.
„Wie meinst du das?“
„So wie ich es gesagt habe. Ich fände es nicht schlimm, wenn du mal zu spät vom Unterricht kommst. Wenn du auch dort warst.“
„Woher willst du wissen, ob ich Unterricht hatte oder nicht?“, fragte Zoe verwirrt.
Doch dann dämmerte ihr offenbar, woher Grace das wusste.
„Spionierst du mir etwa nach? Liest meine Stundenpläne und überprüfst, wo ich bin?“
Sie war mehr als sauer, das hörte man. Grace wusste, sie war einen Schritt zu weit gegangen.
„Die Stundenpläne sind schließlich kein Staatsgeheimnis. Und wenn es nicht so wichtig ist, warum hast du mir dann nicht gesagt, dass du frei hast und wo du hingehst?“
„Weil es eben nicht wichtig ist. Und weil ich nicht gedacht hätte, dass ich dir darüber Rechenschaft ablegen muss, wo ich hingehe.“
Zoe wurde lauter.
„Ich finde schon, dass das nötig ist, wenn du mit irgendwelchen blonden Tussen im Schulgarten verschwindest.“, erwiderte Grace ebenso erregt.
„Geht es dir darum? Wegen Sandra? Du machst so einen Aufstand wegen ihr
?“
„Du scheinst dich ja blendend mit ihr zu verstehen. Seit Wochen seid ihr unzertrennlich.“
„Ja, okay. Ich hab mich ein paar Mal mit ihr getroffen. Aber da waren wir doch nie alleine. Andere aus ihrer und meiner Klasse waren immer dabei. Wir haben über den Unterricht gesprochen. Ich will nichts von ihr.“
„Und warum erzählst du mir dann nichts darüber? Wieso sagst du mir nicht, wo du hingehst und was du machst?“
„Weil ich keine zwölf mehr bin und du nicht meine Mutter! Wir sind zusammen, aber das heißt nicht, dass wir dem anderen immer sagen müssen, wo wir sind und mit wem wir was zusammen machen.“
„Nein, du musst mir nicht sagen, was du tust und mit wem du was unternimmst. Aber wenn es so harmlos ist, hättest du mir ja auch sagen können, was ihr macht. Was soll ich denn denken, wenn du dich quasi heimlich mit ihr triffst? Glaubst du, ich hätte dir verboten, dich mit Sandra zu treffen?“
„Ich hab mich doch nicht mit ihr getroffen. Wir waren immer mehrere. Und wir haben was für die Schule gemacht.“
Zoe sah Grace an.
„Warum vertraust du mir einfach nicht?“
„Weil ich nicht weiß, ob ich das kann.“
Zoe sah wirklich schockiert aus.
„Das ist nicht dein Ernst. Du hältst es tatsächlich für möglich, dass ich dich betrüge?“
„Ich will dich einfach nicht verlieren. Das wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte.“
Grace unterdrückte mit aller Macht ihre Tränen. Sie hasste es, wegen Zoe weinen zu müssen. Und sie wollte nicht, dass Zoe nur wegen der Tränen einlenkte.
„Dann eng mich nicht ein. Ich liebe dich. Das hab ich oft genug gesagt. Verdammt noch mal, ich hab es der gesamten Schule gesagt! Wenn du mir nicht glaubst, kann ich dir auch nicht helfen.“
Zoe stand auf, nahm ihre Jacke und ihren Schlüssel und verließ das Zimmer. Grace war so überrascht, dass sie gar nichts tat, sondern nur dasaß und ihr nachblickte. Vom Fenster aus sah sie, wie Zoe in ihren Wagen stieg und wegfuhr.
„Echt prima gemacht
…“
Sie hätte sich am liebsten in den Hintern gebissen.
Grace wollte warten, bis Zoe nach Hause kam. Aber als die nach zehn Uhr immer noch nicht zurückgekommen war, machte sie sich langsam Sorgen. Zoe hatte sich auch nicht gemeldet, um wenigstens Bescheid zu sagen, dass es ihr gut ging. So ging Grace schließlich ins Bett, schaltete aber ihr Handy nicht aus. Nur für den Fall, dass Zoe sie doch erreichen wollte.
Als Grace am nächsten Morgen von ihrem Wecker geweckt wurde, sah sie, dass Zoe neben ihr lag. Sie war irgendwann in der Nacht heimgekommen, ohne dass Grace es gemerkt hatte. Grace stand auf und machte sich für den Tag fertig. Sie überlegte die ganze Zeit, was sie zu Zoe sagen sollte. Vielleicht hatte sie sich wieder beruhigt und die ganze Sache war vergessen.
Als es Zeit war, dass Zoe aufstehen musste, legte sich Grace wieder neben sie. Sie strich Zoe durch das kurze Haar und küsste sie dann.
„Wach auf Schatz. Du musst aufstehen.“
Zoe drehte den Kopf. Grace küsste ihre Wange.
„Es ist Freitag. Noch ein paar Stunden, dann ist Wochenende.“
Zoe öffnete die Augen. Grace lächelte.
„Guten Morgen.“, sagte sie zärtlich.
„Morgen.“, nuschelte Zoe.
Grace war sich nicht sicher, ob es einfach nur verschlafen klang oder unfreundlich. Sie entschied, ersteres anzunehmen.
Zoe stand auf, nahm sich ein paar Sachen und ging ins Bad. Grace legte ihre Schulsachen zurecht und zog sich ihre Schuhe an. Zoe kam wieder aus dem Bad und holte ebenfalls ihre Sachen und das Tagebuch aus ihrem Schreibtischschränkchen. Sie gab Grace wortlos das Tagebuch.
„Bist du immer noch sauer auf mich?“, fragte Grace unsicher.
„Wir müssen los. Der Unterricht geht gleich los.“, entgegnete Zoe tonlos und zog ihre Schuhe an.
Grace sah sie einen Moment sprachlos an.
„Okay.“, sagte sie dann leise.
Sie nahm ihre Sachen. Zoe schloss die Tür auf und beide verließen das Zimmer. Grace schloss ab und ging hinter Zoe, die nicht auf sie wartete, den Gang entlang. Gerade als sie das Treppenhaus betrat, kamen Sophie und Monique hinunter. Sie blieben einen Moment überrascht stehen.
„Kommen wir zu spät?“, fragte Sophie.
„Wo ist Zoe?“, fragte Monique, ehe Grace Gelegenheit hatte, zu antworten.
„Nein, ihr seid nicht zu spät und Zoe ist schon vorgegangen.“
Die beiden mussten spüren, dass etwas nicht stimmte. Sie sahen Grace fragend an, sagten aber nichts. Grace ging die Treppe hinunter und die beiden folgten ihr.
„Was ist denn bei den beiden los?
“, fragte sich Sophie, als sie Grace zum Klassenzimmer folgten.
Sie hatte es in den letzten sieben Wochen noch nie erlebt, dass Zoe vor ihnen zum Unterricht gegangen war. Und Graces Schweigen sagte mehr als tausend Worte. Die beiden mussten sich gestritten haben. Und das wohl ziemlich heftig. Sophie überlegte, ob sie Grace danach fragen sollte. Aber sie nahm an, dass diese nicht darüber reden wollte.
„Ich dachte, das Drama ‚Zoe' wäre endlich beendet
.“
Auch sie stritt sich manchmal mit Monique. Aber niemals so sehr, dass sie nicht mehr miteinander sprachen. Und darauf lief es bei Grace und Zoe wahrscheinlich hinaus, wenn Zoe alleine zum Unterricht ging. Sophie hoffte, dass sich das zwischen den beiden wieder legte. Sie wusste, wie sehr Grace darunter leiden würde, sollte dieser Streit länger andauern.
Grace schlug das Tagebuch auf. Zoes letzter Eintrag war das Lied ‚Not like the other girls' von The Rasmus. Grace starrte auf die Zeilen, die unterstrichen waren.
„Ich werde immer an deiner Seite sein, Liebling
.“
Sie verfluchte sich. Zoe liebte sie. Und sie hatte sie mit ihren Verdächtigungen verletzt. Ihre unbändige Angst, Zoe zu verlieren führte vielleicht dazu, dass sie sie tatsächlich verlor. Grace liebte Zoe über alles. Sie wollte
ihr vertrauen. Nur, ob sie es auch tun konnte
, wusste sie nicht. Nicht, weil sie es wirklich für möglich hielt, dass Zoe sie betrog. Sondern weil sie nicht wusste, ob sie ihre Angst in den Griff bekam.
Sie wusste, Zoe würde es erst nach den Ferien lesen. Aber Grace wollte ihr trotzdem über das Tagebuch eine Nachricht, eine Entschuldigung schicken. So schrieb sie ‚Jealous Guy' von John Lennon auf. Am Ende der Stunde war sie auch mit schreiben fertig. Zum Schluss schrieb sie noch mit rotem Filzstift ‚Es tut mir leid' unter den Text.
Als sie zu ihrem Zimmer zurückging, hoffte Grace, dass Zoe sich inzwischen beruhigt hatte. Sie war als Erste da und so bereitete sie das Frühstück vor. Doch Zoe kam nicht. So aß Grace alleine ihre Schnitte und trank ihren Cappuccino. Ihr wurde klar, dass Zoe wirklich wütend auf sie sein musste. Kurz vor viertel neun klopfte es an die Tür. Grace bat den Besucher hinein und Sophie und Monique kamen ins Zimmer. Die beiden waren offensichtlich mehr als verwirrt, Grace alleine anzutreffen. Sie wollte sagen, dass Zoe schon vorgegangen war. Aber das wäre eine lausige Lüge gewesen. Der volle Kaffeebecher auf dem Tisch sprach Bände.
Auf dem Weg zum Unterricht fragte Sophie leise:
„Ist wirklich alles in Ordnung?“
Grace nickte nur.
„Wenn du reden willst oder so, bin ich für dich da. Das weißt du?“
„Ja, danke.“
Sie hoffte, dass sie kein Gespräch mit Sophie brauchte. Doch dass Zoe ihr seit dem Aufstehen aus dem Weg ging, war für sie kein gutes Zeichen.
In der darauf folgenden Pause wartete Grace wieder vergebens darauf, dass Zoe ins Zimmer kam. Sie überlegte, ob sie noch vor der Stunde Zoe suchen und mit ihr reden sollte. Aber die wollte
offenbar nicht mit ihr reden. Und sie wollte sich und ihr eine öffentliche Szene ersparen. Also ließ sie es bleiben.
In der letzten Stunde konnte sich Grace kaum konzentrieren. Sie überlegte immer wieder, wie es mit ihr und Zoe weitergehen sollte. Ihr war nun mehr als klar, dass Zoe nicht einfach vergessen wollte, was am Vorabend geschehen war.
Doch sie war nicht auf das vorbereitet, was sie nach dem Unterricht erwartete. Grace wunderte sich, dass Zoe immer noch nicht ins Zimmer kam. Sie schaute in Zoes Bettkasten. Ihre Reisetasche war fort. Mit einem bangen Gefühl blickte sie auf den Parkplatz hinaus. Zoes Wagen stand nicht mehr da. Sie konnte es kaum glauben. Zoe war tatsächlich schon nach Hause gefahren. Ohne ihr Bescheid zu sagen, ohne sich zu verabschieden. Grace war den Tränen nah. Sie wusste nicht, auf wen sie wütender war: Sich selbst oder Zoe.
Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus. Dann warf sie ihren Schlafanzug in ihre Reisetasche und steckte das Buch, das auf ihren Nachttisch lag in ihren Rucksack. Sie zog ihre Jacke an, nahm Reisetasche und Rucksack und verließ das Zimmer. Sie schloss ab und ging hinunter ins Erdgeschoss. Diesmal nahm sie nicht, wie sonst die Feuertreppe, sondern ging durch das Internat, um vorne raus zu gehen.
Grace ging an der Tür vorbei, die von der Schule zum Parkplatz führte, als Sophie rein kam. Sie blieb einen Moment überrascht stehen und rief Grace dann beim Namen. Diese drehte sich um.
„Wo willst du denn hin?“
„Ähm… Zoe hatte offenbar zeitig Schluss und wollte nicht auf mich warten. Sicher wartet viel Arbeit auf sie. Der Bauernhof… ihr Vater…“
Sie wusste, dass sie ihrer Freundin nichts vormachen konnte. Selbst wenn Sophie nicht geahnt hätte, dass zwischen ihnen etwas vorgefallen war, musste sie erkennen, dass Grace log.
„Oh Mann, der Streit zwischen ihnen muss ja heftig gewesen sein, wenn Zoe einfach so abhaut
.“
„Komm. Wir fahren dich nach Hause.“
„Nein. Ist nicht nötig. So schlimm ist Zug fahren auch nicht. Und ich will nicht, dass Monique wegen mir einen Umweg fahren muss.“
„Ach red nicht so einen Quatsch. Warte hier. Ich muss nur schnell was aus dem Zimmer holen. Dann fahren wir los.“
Sophie ging die Stufen zum Internat hoch. Vor der Glastür blieb sie einen Moment stehen.
„Wehe du haust ab.“
Dann betrat sie das Internat. Grace lächelte müde. Natürlich hatte sie keine große Lust, mit dem Zug nach Hause zu fahren. Allerdings befürchtete sie, dass Sophie Fragen stellen würde. Und die wollte sie einfach nicht beantworten. Aber vielleicht war ihre Freundin auch einfach nur für sie da.
Es dauerte nicht lange, bis Sophie zurückkam. Sie war nur leicht überrascht, dass Grace tatsächlich auf sie wartete. Sie hatte befürchtet, dass Grace doch einfach gegangen war. Es konnte gut sein, dass sie Angst hatte, Sophie könnte zu viele Fragen stellen. Doch Sophie hatte sich auf dem Weg zu ihrem Zimmer überlegt, was sie zu ihr sagen würde.
Zusammen gingen sie auf den Parkplatz und zu Moniques Auto. Plötzlich wurde Grace bewusst, dass sie doch nicht mitfahren konnte. Sie blieb stehen.
„Ähm… Sophie, ich muss dein Angebot doch ausschlagen.“
Sophie blieb ebenfalls stehen.
„Warum? Wenn du Angst hast, dass ich dir Löcher in den Bauch frage: Keine Sorge. Du musst mir nicht erzählen, was los ist. Ich stell keine Fragen. Aber wenn du reden willst oder so bin ich für dich da. Ich will nur, dass du das weißt.“
Grace schwieg einen Moment. Sie war froh, dass Sophie sie nicht ausfragen wollte und es verstand, wenn sie nicht reden wollte. Aber das war nicht der Grund, warum sie das Angebot doch ausschlagen wollte.
„Es ist etwas peinlich, das zuzugeben. Aber mir wird immer schlecht, wenn ich hinten mitfahre.“
Sophie blinzelte überrascht.
„Wirklich?“
„Ja. Ist wahrscheinlich so eine Reisekrankheitsgeschichte.“, log sie.
Krampfhaft versuchte Grace, die Übelkeit zu bekämpfen, die sie immer überfiel, wenn sie an den Unfall dachte, bei dem ihr Vater vor achteinhalb Jahren tödlich verunglückt war. Der Unfall, bei dem sie auf dem Rücksitz des Autos gelegen und sich dabei den Knöchel gebrochen hatte. Sophie wusste zwar von dem Unfall, aber nicht das andere. Nur Anna und Zoe wussten davon. Und Grace hatte keine Lust, die ganze Sache ausgerechnet jetzt zu erläutern. Sophie überlegte kurz.
„Dann sitzt du eben auf den Beifahrersitz.“
„Nein, das kann ich nicht verlangen.“, wehrte Grace gleich ab.
„Schon gut. So lange ist es ja nicht.“
Grace merkte, dass Sophie nicht locker lassen würde. Also lief sie weiter. Auch Sophie setzte sich wieder in Bewegung.
„Danke für alles. Ich hoffe, dass es nicht nötig ist, dass ich mich bei dir ausheulen muss. Vielleicht klärt sich ja heute noch alles.“
Sie erreichten das Auto. Monique sah sie erstaunt an und stieg aus.
„Macht es dir was aus, wenn wir Grace nach Hause fahren?“
Monique nickte, ohne eine Erklärung zu verlangen.
„Ja, ist kein Problem.“
Sophie öffnete die hintere rechte Tür, stellte Graces Tasche und ihren Rucksack auf den Rücksitz und setzte sich dann daneben. Monique sah ihre Freundin fragend an.
„Grace wird auf dem Rücksitz schlecht. Und wir wollen doch nicht, dass sie kotzen muss.“
„Sorry.“, meinte Grace zerknirscht.
„Kein Problem.“, wiederholte Monique lächelnd und stieg ein.
Auch Grace stieg ein. Alle schnallten sich an, Monique startete den Motor und sie fuhren los.
„Monique wird sicher inzwischen von Sophie wissen, welche Probleme ich mit Zoe hatte. Vielleicht stellt sie deshalb keine Fragen. Ich bin nur froh, dass Sophie keine Fragen stellt
.“
„Ich frage mich, was bei den beiden schon wieder los ist
.“, dachte Sophie und sah aus dem Fenster.
„Zoe macht Grace noch total fertig. Hoffentlich war es kein Fehler, dass ich mich da eingemischt habe. Ich dachte, ich würde Grace einen Gefallen tun. Aber scheinbar ist Zoe doch nicht die Richtige für sie
.“
Sophie blickte nach vorne. Grace sah ebenfalls aus dem Fenster und schien in Gedanken versunken zu sein. Keiner sprach. Das Radio war die einzige Geräuschquelle. Jeder schien mit den Gedanken irgendwo anders zu sein. Sophie lächelte in sich hinein. Wahrscheinlich dachten alle gerade fast dasselbe beziehungsweise an dieselbe Person. Ob diese Person sich auch so viele Gedanken um den heutigen Tag und um Grace machte?
Sophie hoffte, dass Grace Recht hatte und Zoe sich tatsächlich noch melden würde, damit die beiden über das sprechen konnten, was passiert war. Worum auch immer es sich handelte. Sophie hatte Grace versprochen, keine Fragen zu stellen. Und dieses Versprechen würde sie halten. Das bedeutete aber nicht, dass sie sich nicht selbst fragte, was eigentlich los war.
Monique hielt kurz vor Graces Wohnhaus. Grace und Sophie stiegen aus. Sophie gab Grace ihre Sachen und umarmte sie. Grace bedankte sich bei den beiden und verabschiedete sich dann. Sophie stieg wieder ein. Grace winkte den beiden noch einmal zu. Sophie und Monique winkten zurück und Monique fuhr los. Grace nahm ihre Tasche und ihren Rucksack und ging ins Haus.
„Hoffentlich ruft Zoe heute noch an
.“, dachte sie, als sie die Wohnungstür aufschloss.
Texte: Alle Charaktere gehören der Autorin. Erwähnte Marken, Lieder usw. gehören den rechmäßigen Besitzern.
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2012
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