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Die ereignisreiche erste Schulwoche lag hinter ihnen und die zweite begann.
Es war Montag, der erste September, 6:59 Uhr. In einer Viertelstunde würde der Unterricht beginnen und Grace legte geistesabwesend ihr Schulzeug bereit. Das Radio, das sie am Sonntag mitgebracht hatte, sendete Werbespots. Doch sie hörte gar nicht richtig hin, sondern sah nervös auf ihren Wecker.
Wann kommt Sophie denn endlich aus dem Bad?


Sie war so rastlos, dass sie den Drang hatte, im Zimmer auf und ab zu laufen. Sie wollte unbedingt los, musste aber auf Sophie warten. Doch sie hielt das Warten einfach nicht aus. Der Grund für ihre Unruhe war ein Mädchen, das sie unbedingt noch vor der ersten Stunde sehen wollte. Schon das ganze Wochenende hatten sich ihre Gedanken immer wieder um dieses bestimmte Mädchen gedreht. Und jedes Mal hatte ihr Herz schneller geschlagen. So wie jetzt auch.
Und wenn ich sie dann sehe, schau ich weg, damit keiner merkt, wie verknallt ich bin.


Einerseits war Grace begierig darauf, ihrem Schwarm zu begegnen. Auf der anderen Seite tat sie immer so, als gäbe es das andere Mädchen nicht. Sie wollte nicht, dass jemand etwas davon bemerkte, dass sie auf sie stand.
Grace rief sich die erste Begegnung mit der Unbekannten ins Gedächtnis. Es war der letzte Mittwoch gewesen und sie waren auf dem Schulflur aneinander vorbeigelaufen. Es war nur ein Augenblick gewesen. Aber der hatte genügt. Zwar hatte es schon vorher Mädchen gegeben, die für sie interessant waren. Aber dieses Mal hatte es sie voll erwischt. Sie war bis über beide Ohren verliebt. Dabei kannte sie nicht einmal den Namen ihres Schwarms oder wusste, in welche Klasse das Mädchen ging. Grace hatte sich schon überlegt, wie sie an diese Informationen kommen könnte. Doch sie befürchtete, dass das Fragen provozieren könnte, die sie nicht beantworten wollte. Und so tappte sie vorerst im Dunkeln, was all das anging. Und das machte sie fast wahnsinnig.
Sie schämte sich nicht dafür, dass sie bisexuell war. Allerdings wussten weder ihre Familie noch ihre Freundinnen etwas davon. Sie hatte nie den geeigneten Augenblick dafür gefunden, irgendjemanden etwas davon zu erzählen.

Grace sah auf die Uhr. Es war 7:01 Uhr. Im Radio wurden jetzt die Nachrichten verlesen. Doch Grace achtete nicht darauf.
Warum mache ich mir eigentlich so einen Stress? Vielleicht ist es sowieso besser, nicht zu früh loszugehen. Es hat ja keinen Sinn, jetzt schon zum Unterricht zu gehen und dann verpasse ich sie womöglich noch.


Sie verstand selbst nicht wirklich, warum sie so darauf versessen war, wenigstens einen kurzen Blick auf die Unbekannte zu werfen. Vielleicht, weil die erste Stunde langweilig werden würde und sie ein bisschen vor sich hinträumen wollte. Aber das konnte sie auch so. Denn sie hatte sich bei den drei Gelegenheiten, an denen sie dem Mädchen begegnet war, soviel wie nur möglich eingeprägt.
Ihr war zuerst die Körpergröße von geschätzten ein Meter dreiundsiebzig aufgefallen und dann die schulterlangen, dunkelblonden Haare. Grace dachte daran, wie ihre Finger durch dieses Haar streifen könnten. Sie erinnerte sich an das verschmitzte Lächeln und an den Nasenring, den die Andere im rechten Nasenflügel trug. Letzteres trug dazu bei, ihr ein freches, verwegenes Aussehen zu verleihen. Doch Grace erinnerte sich auch lebhaft an die ihrer Meinung nach fantastische Figur ihrer Traumfrau. Ihr wurde warm, als sie daran dachte.

Sophie kam aus dem Bad und riss Grace so aus ihren Gedanken. Sie war noch etwas verschlafen und legte schweigend einen Block und einen Stift parat. Grace wusste, dass ihre Freundin morgens eine Weile brauchte, bis sie richtig wach war. Genauso wie sie selbst. In der Hinsicht waren sie sich ähnlich. Beide waren Morgenmuffel.
Grace band sich die Schuhe zu und kämmte sich anschließend noch mal die Haare.
Man kann ja nie wissen. Ich will schließlich nicht aussehen wie der Struwwelpeter, wenn ich ihr doch begegnen sollte. Ob Sophie merkt, wie unruhig ich heute bin? Wenn ich nur wüsste, ob ich es ihr erzählen kann. Vielleicht könnte sie mir irgendwie helfen und einen Rat geben. Aber ich will auch nicht mit der Tür ins Haus fallen. Erstmal muss ich checken, wie sie überhaupt zum Thema Homosexualität steht. Und dann kann ich sie immer noch um einen Tipp bitten. Nur, wie stell ich das an, ohne dass es komisch rüberkommt?



Die Beiden holten Mia und Paula ab und die Vier machten sich, wie schon in der Vorwoche, zusammen auf den Weg vom Internatstrakt zu ihrem Klassenzimmer. Inzwischen kannte sich Grace auch schon ein wenig im Schulkomplex aus - auch ohne Lageplan. So konnte sie sich auf das Gespräch der anderen konzentrieren, wobei sie wieder einmal darüber erstaunt war, wie fröhlich die beiden Anderen schon am frühen Morgen waren. Sie und Sophie hatten auch schon mal darüber gesprochen und gemerkt, dass sie es beide nicht verstanden. Irgendwie fanden sie es beruhigend, dass sie beide eine Weile brauchten, bis sie richtig aufnahmefähig waren. Sie waren sich einig, dass sie es nicht ausgehalten hätten, mit jemandem zusammenzuwohnen, der morgens schon voller Energie steckte, während man selbst schon froh war, aufgestanden zu sein.

„Denkst du, dass wir dann ein Nickerchen halten könnten?“
„Mal schauen. Ich bin auch irgendwie noch müde.“
Das war eine weitere der bislang wenigen Gemeinsamkeiten, die sie hatten. Beide hielten gern ein kleines Schläfchen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Dass sie in der zweiten Reihe saßen, machte das allerdings etwas schwieriger.
Oh mein Gott, da ist sie.


Graces Schwarm stand mit einem Mädchen vor dem Speisesaal und unterhielt sich mit ihr. Grace sah starr in Richtung langer Gang.
Immer schön geradeaus schauen und sich nichts anmerken lassen.


Sie konzentrierte sich mit aller Macht auf das Gespräch mit Sophie.
Ich könnte mich echt ohrfeigen. Erst mache ich mich total fertig und hab Angst, ich könnte sie verpassen. Und dann schaue ich weg und versuche so zu tun, als gäbe es sie gar nicht. Warum kriege ich es einfach nicht hin, sie mal anzusprechen?


Sie musste wegen dieser Frage lächeln und seufzte innerlich.
Klar, als würde ich es je schaffen, sie einfach so anzusprechen… Eher bekomme ich kein Wort raus oder werde rot oder beides.



Während der ersten Stunde dachte Grace über die erneute Begegnung mit der Unbekannten nach. Sie spielte in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durch, wie sie beide ein Gespräch beginnen könnten.
Grace lief vor ihr und ließ irgendetwas fallen. Dann würden sich beide danach bücken und ein Blick in Graces Augen würde genügen, damit sich die Andere in sie verliebte.
Oder sie schrieb ihr einen Brief, in der sie ihr ihre Liebe gestand.
Oder sie würde einfach zu ihr hingehen und sie ansprechen.
Oder, als Erweiterung, zu ihr gehen und sie umarmen und küssen.
Bei diesem Gedanken musste Grace lächeln. Nicht nur wegen des Bildes, wie sie und ihre Traumfrau sich küssten. Vor allem wegen der Unmöglichkeit, dass so etwas je passieren würde.

Doch trotz allem gab sie noch nicht die Hoffnung auf, dass sich irgendwann und irgendwie die richtige Gelegenheit dafür bot, dass sie miteinander sprachen.
Und vielleicht habe ich bis dahin auch die Courage, sie anzusprechen. Wobei der richtige Spruch natürlich auch nicht schlecht wäre.



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Tag der Veröffentlichung: 23.10.2010

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