Sommersemester. Mehr als 30° im Schatten. Es ist brüllend heiß im Seminarraum. Und dann noch Nietzsche... In die allgemeine Trägheit fällt der folgende Satz:
"Ja es gibt Freunde, aber der Irrtum, die Täuschung über dich führen sie dir zu; und Schweigen müssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben; denn fast immer beruhen solche menschlichen Beziehungen darauf, dass irgend ein paar Dinge nie gesagt werden, ja, dass an sie nie gerührt wird: kommen diese Steinchen aber ins Rollen, so folgt die Freundschaft hintendrein und zerbricht."
Boah... Ein Hammer-Satz. Weißt du noch, Wolf, wie wir uns damals im Philosophie-Seminar über gerade diese Setzung Nietzsches noch mehr in Hitze geredet haben? O ich erinnere mich noch genau an meine Antwort von damals. Wie schrecklich fand ich da den von uns doch so geschätzten Nietzsche, wie eindeutig seine Absage an die bedingungslose Aufrichtigkeit zwischen zwei Menschen! Wem gegenüber, so argumentierte ich, wenn nicht einem Freund, einem Menschen, den man liebt, den man kennt, dessen So-Sein man doch akzeptiert, kann man denn wirklich aufrichtig sein? Kann es denn wirklich keine völlige Aufrichtigkeit zwischen zwei Menschen geben?
Und ich sehe noch, wie du damals die linke Augenbraue hochgezogen hast, wie du es immer tatest, wenn jemand etwas zu „Romantisches“ sagte, wie du es nanntest. Mit bestechender Logik wiesest du uns darauf hin, dass unserem Philo-Gott zufolge jeder von uns gute Gründe habe, jeden unserer Freunde, wie groß, wie außergewöhnlich er auch sei, gering zu schätzen. Du meintest im gleichen Atemzug, das sei sicherlich erschütternd, werfe es doch alle schönen Vorstellungen des deutschen Idealismus über Bord: Wie bitte? Marquis Posa und Karlos nichts anderes als zwei zugegebenermaßen charmante Heuchler? Und dann holtest du aus und erklärtest, das menschliche Miteinander sei ohne Verdrängung und Verschweigen schlichtweg nicht möglich, derselbe Abwehrmechanismus, den wir anwendeten, um uns vor der eigenen schonungslosen Selbsterkenntnis zu schützen. Ein Akt der „Barmherzigkeit“ gegen uns und andere sozusagen, fügtest du hinzu, mit diesem feinen Lächeln, das dich immer so umwerfend macht. Und du erklärtest, kategorisch wie nur einer, wir könnten völlige Aufrichtigkeit nicht ertragen, weder gegen uns selber noch gegen einen Freund. Punkt. Fertig. Causa finita.
Nun, ich habe es dann ziemlich bald begriffen, dass an dem, was du so wortgewandt und logisch exakt abgeleitet hattest, Wahres war.
Wir könnten es wohl nur schwerlich verzeihen, wenn wir wüssten, was unser Freund wirklich über uns denkt. Es muss und darf sicherlich nicht heißen, dass wir beide, Wolf, uns all die Jahre etwas vorgemacht, uns gar belogen hätten, falsch miteinander gewesen wären.
Nein, in meinen Augen bedeutet es schlichtweg, dass wir über unsere Fehler, unsere Macken, unser kleinen Selbstgefälligkeiten mit sanftem Blick hinwegsehen. Warum? Weil wir uns so viel zu sagen haben. So viele Dinge miteinander teilen. Weil du mein bester Freund bist. Und seit dem dritten Semester mein Mann. Weil wir uns lieben. Wie würde Nietzsche das alles kommentieren?
Er würde lächeln. Freundschaftlich lächeln. Menschlich. Allzu menschlich. Ganz bestimmt... Und mir ist immer noch warm.
Texte: cover@wikicommons
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2011
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